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Die große Leere

von

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Prolog

Prolog
 

Der Rauch der Zigarette stieg in sich windenden Schwaden auf, lautlos, im blauen Licht duff reflektierend, im Licht der fernen Straßenbeleuchtung verpuffend. Ich war allein. Das war es wohl, kurz und schmerzlos. Eigentlich war ich das fast immer gewesen. Aber jetzt fiel es mir auf. Und es tat weh. Verdammte scheiße. Das war es doch, was ich immer versucht hatte zu vermeiden. Diesen ganzen verkackten Emotions-Mist. Verdammt. Ich nahm einen tiefen Zug. Er hatte geweint, das ganze Gesicht nass von Tränen, während er darum gerungen hatte, mir Schlaf vorzuheucheln. Und ich, um ihn geschlungen, das Fallenlassen nach dem Orgasmus vortäuschend, als ich ihn hielt.

Den Schlaf lügend, damit er gehen konnte.

Ein Laut, eine Geste, hätte alles zunichte Gemacht. Mund halten, Kinney, lass ihn gehen, warte, bis die Tür ins Schloss fällt, bevor du auch nur versuchst, dich zu bewegen oder gar zu denken. Nicht bewegen, nicht bewegen, nein, nein, nein. Scheiße. Ihn aufzuhalten, nein, das hätte ich mir nie verziehen. Er ist kein Scheiß-Albastros, der an meinem Hals hängt, mich aufrichtet, wenn ich es brauche, und dann artig in sein Eckchen verschwindet. Er ist ein eigenständiger Mensch. Das darf ich nicht infrage stelle, indem ich ihn bremse, egal, wie sehr es auch schmerzen mag. Er muss das tun. Ich weiß, dass er sich danach gesehnt hat, dass ich ihm sage, dass ich ihn brauche, dass ich ihn liebe, dass ich mit ihm leben will – aber das hätte ihn zerstört. Ein solches Talent darf nicht gebremst werden, auch nicht im Namen der Liebe. Wie hatte er es formuliert? Das sei keine Liebe, sondern nur Selbstopferung, geboren aus Angst.

Ich habe eine verfickte Scheiß-Angst. Verdammt, verdammt, verflucht. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich war immer ich, nur ich allein. Keine Entschuldigungen, keine Kompromisse, nur das, was ich will, die reine Wahrheit. Aber was zur Hölle ist die Wahrheit? Dass er gehen soll? Dass er bleiben soll? Ich fühle mich versucht, mit der verglimmenden Zigarette eine spontane Selbstentzündung zu inszenieren. Keine Antworten mehr, keine Fragen, die mich überfordern, weil es keine Lösungen gibt. Er müsste jetzt am Flughafen sein, steht in der Schlange, um an Bord zu gehen. Lass ihn ziehen. Lass ihn sein Leben entdecken, wachsen, leben. Er war so schrecklich jung, als er das erste Mal in deine Augen gesehen hatte und beschlossen hatte, dass er dich lieben wolle. Für was?

Wenn du ehrlich zu dir bist, war da nichts außer einem perfekt vermarktetem Aussehen, routinierten Sprüchen und tausendmal wiederholten Gesten.

Trotzdem hatte er es irgendwie geschafft, dahinter zu sehen. Er hatte dich gesehen. Zur Hölle. Du selbst wolltest diesen Anblick nicht haben. Nichts als Leere, Schwäche, Schmerz. Er sah es – aber er wollte dich trotzdem. Warum? Michael hat dich nie so durchschaut. Er kennt dich gut, gut genug, um dir Paroli zu bieten. Aber um deine Nöte und Sehnsüchte zu begreifen, dazu hatte er nie das Zeug. Er versteht dich intuitiv, aber nicht intellektuell. Anders als Justin. Der kleine Scheißer hat leider wirklich Hirn in der Birne. Aber was sieht er eigentlich? Ab einem gewissen Grad begreifst du es nicht und bist dir auch nicht sicher, ob du es auch willst.

Und es ist auch nicht wahr, du hast ihn nie behandelt wie irgendeinen deiner tausend – tausend? Ja, auf diese Zahl dürftest du inzwischen kommen – Tricks. Auch nicht in dieser Nacht, als du ihn unter der Straßenlaterne aufgerissen hattest. Natürlich war dir klar, dass er verflucht jung war. Dass er keine Ahnung hatte, aber tapfer so tat, als wüsste er Bescheid. Aber, oh Gott, du wirst nie das Gefühl vergessen, als du zum ersten Mal deine Lippen auf seine gepresst hast. Es durchschoss dich wie ein Pfeil, als seine Zunge schüchtern deine berührte, es raste dein Rückenmark hinunter und irgendetwas in dir, über das du keine Kontrolle hast, schrie nur ja! ja! ja! Du dachtest, es seien die Drogen. Fatale Fehleinschätzung.

Aber du hasst es, wenn dir die Kontrolle engleitet. Du blödes Arschloch. Du hast ihm weh getan, nicht nur aufgrund seiner jugendlichen Naivität, sondern weil du es wolltest. Weil du ihm zeigen wolltest, dass du nicht besessen werden kannst. Dass du frei bist, von ihm, von jedem hohlen Klischee. Aber du warst nie frei von dir selbst. Du warst in ihn verliebt, wahrscheinlich irgendwie schon ganz am Anfang, konntest nicht genug von ihm bekommen. Und hattest nichts Besseres zu tun, als dir – und ihm - immer wieder das Gegenteil zu beweisen. Immer dieser Gedanke an deine Eltern. Liebe ist nur eine Illusion für Hetero-Pärchen, um ihre Brut hoch zu ziehen. Sie klettet aneinander und übrig bleibt nur Überdruss, Langeweile, Spießertum – und zuletzt nur Hass. Aber ist das wahr? Du weißt es nicht. Alles, was du weißt, ist, dass der Gedanken an ihn ein Reißen in deiner Brust hinterlässt. Es ist schon lange keine Verliebtheit , mehr, es ist Nähe, Begehrten, Verständnis – es ist Liebe. Oh, Scheisse… Was fängt man mit sowas an?

Oh Gott, oh Gott, er ist weg… Es traf ihn erneut wie ein Hammerschlag. Reiß dich zusammen, Kinney, verhalte dich nicht wie eine liebeskranke Schwucke. Brian ließ dich hintenüber in die Kissen sacken. Überall roch es nach Justin, dieser betörende Geruch, der ihn schon in jener Nacht – wie lang her sie schon schien – in den Wahnsinn getrieben hatte. Er ließ sich nicht beschreiben, er raste nur sofort in sein Nervensystem und verwandelte sein Hirn in Watte. Sein Schwanz wurde steinhart. Oh nein… Er sah Justins sich windenden Körper vor sich, spürte seine Arme und Beine um dich geschlungen, seine unglaublich warme und heiße Enge und keuchte. Er stellte sich vor, wie Justins Zunge über seine Lippen fuhr, ihn kitzelte, tiefer drang, seine Mundhöhle erforschte… Schmink dir das ab, Kinney, er ist weg. Brian schlug die Augen auf. Er hielt das nach Justin duftende Kissen an sich geklammert. Oh Gott, was mach ich denn jetzt nur… Wenn mich jetzt einer sieht, muss ich mich wohl leider postwendend aufhängen. Aber das war schon lange keine Option mehr.

Sein erster Gedanke schlug vor, ins Popperz zu gehen und einen oder mehrere Tricks abschleppen. Nicht ohne sich vorher ordentlich zu besaufen und die eine oder andere chemische Substanz in sich ein zu füllen. Eine Gänsehaut überlief seinen Körper. Aber es war keine lustvolle Vorfreude – es war Ekel. Ekel vor den fremden Körpern, Ekel vor sich selbst. Er war immer einsam gewesen, sogar stolz darauf – aber nun…? Ein fremder Körper auf seinem versprach Betäubung, aber er wollte nicht taub sein. Er wollte fühlen, Justin, Justins Haut an seiner, weiß, wie Samt, Justins geschickte Finger auf sich, sein kochender Mund…. Okay, ich bin auf dem besten Wege zu Masochisten… er ist im Flieger, ist fort, Gott weiß, ob du ihn je wieder siehst. Und jetzt hast du nicht mal mehr Lust auf deine übliche Schmerztherapie. Das konnte ja heiter werden.

Brian rappelte sich wieder auf und drückte den glimmenden Zigarettenstummel aus. Das Leben ging weiter, ob es einem passte oder nicht. Was gab es zu tun? Kinnetic – den verdammten Namen hatte er erfunden, wie ein Brandzeichen – und Michael, der immer noch an den Folgen des Anschlags litt. Und Gus und seine Mütter… Er vermisste seinen Sohn jetzt schon. Verdammte schissige Lesben, glaubten die ernsthaft, man könnte vor Fanatikern und Vorurteilen davon laufen? Als wären die Menschen anderswo besser. Er gönnte es ihnen. Aber er glaubte es nicht.

Die Tage danach

Seufzend ließ Justin seine Duffle-Bag auf den Kantstein fallen. Ein Strom gelber Taxis zog hupend und drängelnd direkt neben ihm die breite Hauptstraße entlang, Menschenmassen schoben sich um ihn herum in die unterschiedlichsten Richtungen. Er ließ den Blick wandern: Große und Kleine, Reiche und Arme, Junge und Alte, Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und Herkunft, eilig, zögerlich, hoffnungsvoll und verloren. Und er war mitten unter ihnen, stand im Schatten der Häuserflucht mitten in New York und sein Herz raste.
 

Er war wirklich hier, er hatte es getan: Den Schritt nach draußen, den Schritt ins Ungewisse. Was würde geschehen, was würde aus ihm werden? Es gab Dinge, die konnte man nicht beeinflussen – aber dennoch musste man es doch versuchen, sein Leben zu steuern und nicht bloß ein Spielball zu bleiben. Selbst wenn man auf die Nase fiel dabei – so war das doch besser, als es niemals versucht zu haben, ewig über das was-wäre-wenn nachdenken zu müssen.
 

Er würde kämpfen, er würde wieder aufstehen, solange auch nur ein Funken Energie in ihm steckte, das schwor er sich. Und wer weiß? Vielleicht war das Schicksal oder zumindest diese Stadt ihm ja auch hold. Die Energie der um ihn herum tobenden Metropole durchfloss ihn und stimmte ihn euphorisch. Er atmete die schwere Luft tief ein, reckte den Kopf nach oben, straffte den Kiefer und bahnte seinen Weg vorwärts durch die Masse.
 

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Das Popperz war nicht umsonst nie eine wahre Konkurrenz für das Babylon gewesen. Aber das Babylon war eine Ruine, ausgebrannt und mit dem Mal der Angst und des Todes versehen. Auch hier wurde die Dunkelheit durch zuckende bunte Lichter durchbrochen, die auf nackten Muskelsträngen spiegelten, auch hier flossen Alkohol und Drogen durch die Blutbahnen der Feiernden, auch hier wurde sich nur mit Blicken und wenigen Worten über Sex verständigt – aber es war nicht das Babylon.
 

Emmet schwang die Hüften und ließ die langen Arme mit einer für einen so großen Mann erstaunlichen Anmut kreisen. Ein ausgesprochenen leckerer Latino hatte bereits angebissen und umtanzte ihn mit ein paar nicht zu verkennenden Macho-Gesten. Nicht übel, Emmet wusste Dominanz durchaus zu schätzen, sofern sie im Bette blieb. Im Alltagsleben ließ Emmet sich von nichts und niemandem sagen, wo es lang gehen sollte. Er vermisste die anderen und dachte mit Wehmut an die Zeiten zurück, in denen sie gemeinsam um die Blöcke gezogen waren: Er, Ted, Michael und Brian. Aber die Uhren ließen sich nicht zurückdrehen.
 

Michael hatte Mann und Kinder und musste sich noch immer von den psychischen und psychischen Verletzungen erholen, die diese bigotten Irren ihm zugefügt hatten. Ted und seine Geschichte war nicht einfach gewesen, aber sie hatten es geschafft, wieder Freunde zu werden. Aber mehr auch nicht. Ted ging in seiner Beschäftigung bei Kinnetic vollends auf, er war wieder jemand, der sich selbst mit Achtung begegnen konnte. Und immer noch hoffte er auf den Einen, Richtigen. Vielleicht war es ja wirklich dieser Blake, der ihn einst fast umgebracht hatte. Irgendetwas jenseits all dieses Schmerzes, den die beiden einander zugefügt hatten, schien sie über all die Jahre noch immer zu verbinden.

Und Brian… Schwer zu sagen. Sie waren nie wirklich Freunde gewesen, eher Weggefährten. Brian war… kompliziert. Trotz all der Päckchen, die sie alle ob ihrer Sexualität und – das sollte man wohl auch nicht vergessen – ihrer verqueren Persönlichkeit zu tragen hatten, war Brian wohl letztlich derjenige von ihnen, den es am härtesten getroffen hatte, trotz seines Charismas, seiner Körperlichkeit und seines beruflichen Erfolges. Brian war in seinem tiefsten Inneren immer gebrochen gewesen, das hatte Emmet von Anfang an immer gespürt, ohne es richtig fassen zu können. Eine glanzvolle Fassade, hinter der sich eine grässliche Finsternis verbarg. Aus diesem Grunde hatte er Brian nie für attraktiv halten können, hatte sich nie von ihm angezogen gefühlt. Oh, Brian hatte seine Qualitäten, auch wenn er sie zu verbergen suchte, auch vor sich selbst. Auch wenn er anderen Gutes tat, so konnte er nicht dazu stehen. Als müsste er daran glauben, das letztlich nicht zu sein, den Dank nicht zu verdienen. Nein, eine solche Person zog Emmet nicht wirklich an.
 

Da lieber die hohle und plumpe Annäherung seines Tanzpartners, die nichts weiter war, als das, was er sah und spürte, nicht als Oberfläche, keine lauernde Dunkelheit. Und selbst wenn, über ihn würde er es nie erfahren.
 

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Michael stand dick vermummelt in Winterjacke, Schal und Ohrenschützern in dem kleinen Vorgarten, der zu ihrem Haus gehörte. Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht, was angenehm war, seine Haut schmerzte immer noch im Nachhall der Verbrennungen, die er erlitten hatte.
 

Er ruckelte mit steifen Fingern am Postkasten, den der letzte Sturm halb umgeblasen hatte, und wünschte sich, handwerklich ein wenig geschickter zu sein. Ben hielt eine Vorlesung an der Uni, Hunter war in der Schule. Sie hatten gemeinsam beschlossen, dass Hunter auch weiterhin seine alte High School besuchen sollte, auch wenn seine HIV-Erkrankung dort publik geworden war. Es war schwer für den Jungen, aber dasselbe noch einmal an einer anderen Schule durchmachen zu müssen, wäre auch keine Alternative gewesen. Auch wenn es ihnen gelungen wäre, seine Krankheit zu verheimlichen, so hätten sie doch immer in der Angst leben müssen, dass es eine Tage doch wieder heraus kommen würde und alles von vorne beginnen würde.
 

Hunter blieb ein Außenseiter, doch gab es wider Erwarten doch einige Mitschüler, die ihn akzeptierten, neugierig auf ihn waren, ohne abfällig auf ihn herab zu sehen. Dennoch war jeder Tag ein Kampf gegen Ausgrenzung und Drangsale. Michael war stolz auf Hunter, dass er sich dem nun stellte, auch wenn es schmerzhaft war.
 

Ben ging es nach wie vor gesundheitlich gut, doch wusste Michael, dass er jeden Tag schätzen musste, den sie in Gesundheit und Frieden miteinander verbringen konnten. Das Leben mit zwei HIV-Positiven lehrte ihn, die Zeit, jeden Moment zu schätzen. Das Leben war nicht ewig, es passierte jetzt.
 

Lächelnd blickte er über die Straße, wo ihr Nachbar Monty mit seinen Kindern den Schnee zur Seite schippte. Die Kinder jauchzten, wenn ihr Vater die Schaufel zur Seite wuchtete und eine weiße Kaskade sich ergoss.
 

Ein schmerzhafter Stich ließ ihn an seine Tochter Jenny denken. Sein eigen Fleisch und Blut – und er war kein Teil ihres Lebens mehr. Nicht wirklich. Er war der Geburtstags- und Weihnachts-Papa, der Bonus, aber nicht die Basis. Das waren seine Mütter. Natürlich war auch Hunter sein Kind – aber er hatte ihn nie aufwachsen gesehen, ihn nie unschuldig und voller kindlicher Offenheit erlebt. Hunter hatte man Unsägliches angetan, und er, Michael, konnte das lindern. Das hoffte er zumindest. Es gab seinem Leben Sinn. Aber sein Baby in den Armen zu halten, zu sehen, wie sie laufen und sprechen lernte – was hätte er dafür gegeben.
 

Sobald es ihm wieder besser ging, würde er sein kleines Käferchen besuchen fliegen. Der Comic-Laden warf genug ab, dass er sich einen solchen Besuch regelmäßig leisten konnte, auch wenn er momentan einen Angestellten bezahlen musste, der die Stellung hielt, bis er wieder voll genesen war. Den Internet-Handel konnte er Gott sei Dank auch von zu Hause aus betreiben. Vielleicht sollte er das auch weiterhin so halten und nur täglich kurz im Laden vorbei schauen? Den größten Umsatz machte er auf jeden Fall am PC, wo sich die Sammler weltweit tummelten, was man von Pittsburgh nicht gerade behaupten konnte. Vielleicht konnte er Mel und Linds ja sogar davon überzeugen, dass Jenny auch für ein oder zwei Wochen bei ihm bleiben könne? Er vermisste sie so sehr.
 

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„Schatz, hat Gus sein Frühstücksbrot?“ „Arg, ich dachte, du…?“ „Nein. Nicht ich. Du warst dran mit Brot schmieren, meine Liebe, falls Ihre Hoheit das nicht als unter ihrer Würde erachtet…“ Melanie zog die Augenbrauen hoch, aber ihr Lächeln nahm der Bemerkung die Schärfe.
 

Lindsey atmete tief durch und lächelte zurück. Sie spürte die Aufregung in ihren Wangen pulsieren. Heute war ihr erster Arbeitstag. Es war ihr tatsächlich gelungen, binnen einer Woche nach ihrer Ankunft in Toronto ein Vorstellungsgespräch an Land zu ziehen, und nun war sie Lehrerin für Kunst an einer weiterführenden Schule. Sie freute sich darauf, mit den Heranwachsenden zu arbeiten, ihren Horizont zu öffnen, den Blick auf die Vielfalt des Lebens zu schärfen, ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, sich kreativ zu äußern.
 

Unwillkürlich müsste sie an Justin denken. Der Junge war schon ein ganz anderes Kaliber gewesen als ihre einstigen und vermutlich auch zukünftigen Schüler.
 

So einem Talent begegnet man wahrscheinlich nur einmal im Leben. Er hatte sich rasend entwickelt von seinen ersten, vom emotional ergriffenen Wesen eines Teenagers geprägten naturalistischen Zeichnungen. Sie fragte sich, was wohl aus jener etwas pornografischen Zeichnung des nackt schlummernden Brian geworden war, die er bei seiner ersten Ausstellung im GLC ausgestellt hatte. Sie war ja verkauft worden. Hing wahrscheinlich im Schlafzimmer irgendeines Brian-Fans und wurde bei Vollmond angeheult. Dann kamen schon rasch politisch provokante Plakate, Entwürfe für Werbungen unter Brians scharfem Auge. Dann die großflächigen abstrakten Leinwände, eine Dichte an Formen und Farben, die selbst Sam in den Schatten stellten. Und der Junge – Mann, verbesserte sie sich – war gerade mal Anfang Zwanzig. Er hatte viel erlebt, viel einstecken müssen, das hatte ihn wohl auch früh reifen lassen. Aber sie musste zugeben, dass sie, obgleich die Ältere, die Erfahrenere, niemals an ihn heran reichen würde. Justin war ihr haushoch überlegen. Jetzt schon. Ja, sie hatte richtig gehandelt, ihm ein Sprungbrett geschaffen – und er war gesprungen. Er war so jung, er hatte ein Recht darauf, das Leben voll auszukosten, Erfahrungen sammeln, sich zu entwickeln – auch wenn es weh tun mochte. Seine Kunst würde mit ihm wachsen. Justin war begnadet, hatte etwas Einzigartiges, das durfte nicht verschwendet werden. Verzeih mir… mein Peter Pan.
 

Sie verfrachtete Gus‘ Frühstücksbrote in eine hellblaue Plastikbox und stopfte diese in Gus Kindergartentasche. Melanie saß am Computer, rührte gedankenverloren in ihrem Kaffe und schaute ihre Emails durch. „Was Neues?“ „Mmm, Moment… Die Anwaltsvereinigung lädt mich vor, damit ich meinen Jura-Abschluss in Kanada gelten machen kann und endlich! hier auch arbeiten kann…“ „Das ist wundervoll“, lächelte Lindsay. „Oh, und hier ist eine Mail von Michael. Er fragt, ob er Jenny demnächst ein oder zwei Wochen haben könnte… mmm, nicht dass er auf krumme Gedanken kommt, Jenny einbehält und gegen uns verwende, dass wir jetzt in Kanada sind…“ „Ach Quatsch, Schatz, er hat seine Ansprüche nach amerikanischen Recht aufgegeben – und andernfalls tritt ihm Brian in den A… äh Allerwertesten.“ Sie schielte zu Gus hinüber, der aber versunken vor der morgendlichen Spongebob-Folge saß und von ihrem beinahe-Ausflug in die Fäkal-Sprache nichts mitbekommen hatte.
 

„Und was ist mit Gus? Er könnte ja auch mal zu seinem Papa?“ Melanie schnaufte durch die Nase. Zwar hatten Brian und sie inzwischen durchaus Berührungspunkte gefunden, aber ein Herz und eine Seele waren sie beileibe noch nicht. Und würden es wahrscheinlich auch nie werden, dazu waren sie sich in ihrem forschen Vorgehen wahrscheinlich zu ähnlich. Gemeinsam waren sie für jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, unausstehlich, gegeneinander gerichtet eine Katastrophe.
 

Lindsay musste schmunzeln. Ihre beiden Alphamännchen alias –weibchen…
 

„Gus bei Brian? Ich hab da so Horror-Vision, wie der alte Sack unseren Sohnemann auf dem Arm hält, während er sich in einer dunklen Seitengasse die Eier von irgendeinem Gehirn amputierten muskelbepackten Zementmischer abschlecken lässt.“ Unwillkürlich musste Lindsay lachen. „Ach, Melanie, das ist doch Blödsinn, das würde Brian niemals tun. Ich gebe zu, er hatte gewissen Anlaufschwierigkeiten, was seine Vaterpflichten angeht, aber darüber ist er inzwischen doch weit hinaus. Und er liebt Gus. Nicht zu vergessen, Gus liebt ihn. Wir dürfen ihm seinen Vater nicht vorenthalten, auch wenn er in Belangen emotionaler Reife manchmal ein arger Griff ins Kl… äh daneben gewesen ist. Gus braucht ihn. Und Brian hat es verdient, sein Vater sein zu dürfen.“ „Na gut, ich seh’s ja ein. Auch Michael hat ja – gelinde gesagt – den ein oder anderen Haken. Trotzdem ist er Jenny Vater. Und ich bin auch nicht ein derartiges Gefühlstrampel, dass ich das ignoriere. Vielleicht könnten wir ja…?“
 

Melanie stand auf und schlang ihre Arme um Lindsay. Ihre Brüste pressten aufeinander und beiden wurde heiß. „Was..?“ fragte Lindsay mit heiserer Stimme, die Nase in Melanies dichtem Haar versenkend. „Die Kinder fein zu ihren Papas abschieben und auf den Bahamas oder sonst wo richtig die S… die Puppen tanzen lassen?“
 

„Ich fahr zu Papa?“ wurde Gus plötzlich wieder munter. „Ja, Süßer“, lachte Melanie, während Lindsay sie glücklich summend an sich drückte. „Du und Jenny macht bald Urlaub bei Papa Brian und Papa Michael. Im Sommer, in ein paar Monaten nur.“ „Au ja, Papa!“ freute sich Gus und ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das die frappierende Ähnlichkeit zu seinem biologischen Vater zutage treten ließ. Brian, ohne den ganzen Mist, den er erlebt hat, müsste auch so aussehen, dachte Lindsay traurig. Manchmal, wenn er völlig gelöst war, hatte Brian denselben jungenhaft strahlenden Gesichtsausdruck. Aber das geschah so selten, dass Lindsay es sich an den Fingern abzählen konnte. Wenn nicht Drogen die Ursache gewesen waren, die eine Fälschung dieses Glück auf sein Gesicht gerufen hatten, dann waren es nur Gus und Justin gewesen, denen er es geschenkt hatte, allerding nur, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hatte.
 

Und Justin war fort, ebenso wie Gus. Kurz musste sie schlucken. Was hatte sie Brian angetan…? Aber es ging nicht immer nicht nur um Brian. Es ging vor allem um Gus und um Justin, ihre Zukunft, ihr Glück. Aber ging das nur auf Kosten von Brians Glück? Er war schließlich ihr Freund, und sie wusste, dass es kaum einen so selbstlosen Menschen gab wie Brian, wenn es um die Menschen ging, die er liebte. Aber was war der Preis?

Bilanz

Die Büros von Kinnetic waren lichtdurchflutet, nicht umsonst hatte der Chef persönlich einen Lichtdesigner zur Gestaltung der Räume herangerufen. Vermutlich denselben, der ihm auch bei der Gestaltung seines berüchtigten Schlafzimmers mit seiner wechselfarbigen Beleuchtung zur Seite gestanden hatte. Das berühmteste Lotterbett Pittsburghs, zumindest was die Schwulenkreise anging. Das Licht in der Werbeagentur hingegen war indirekt, klar, aber dezent. Obgleich die Räume kaum Fenster nach außen hatten, ihrer ehemaligen Funktion als der einer äußerst unhygienischen und sündigen Herrensauna entsprechend, empfand man es fast wie ein angenehmes, etwas duffe Tageslicht, fand Ted.
 

Er war früh dran heute, hatte schlecht geschlafen. Am Abend war er mit Blake Essen gewesen, ihr erstes richtiges Date. Sie kannten sich schon so lange, dennoch waren ihre Zusammentreffen bisher meist vom Geist der Katastrophe geprägt gewesen.

Gestern saßen sie sich erstmalig als freie Menschen gegenüber. Frei von Abhängigkeiten, frei von der Geißel der Drogen, die sie beinahe in den Abgrund gerissen hatten. Beide waren sie ganz kurz vor der Klippe gewesen, und nur ein Wunder hatte sie davor bewahrt hinabzustürzen und sich endgültig das Genick zu brechen. Zunächst war das Gespräch etwas angestrengt gewesen, zu viele unschöne Momente standen zwischen ihnen. Dennoch hatte irgendwann jene Wärme Überhand gewonnen, die sie vom ersten Moment an auf eine unsichtbare und merkwürdig schöne Art und Weise miteinander verbunden hatte. Sie hatten sich über nichts Weltbewegendes unterhalten, über das Wetter, die Oper, die Arbeit. Dennoch war da immer diese Intimität gewesen, als würden sie die ganze Zeit über ihre tiefsten Gefühle reden. Sie hatten sich etwas verschämt mit einem keuschen Kuss voneinander verabschiedet. Ted hatte sich die ganze Nacht in Erinnerung an den Abend gewälzt. Wie sollte es weiter gehen? Fühle nur er diese Nähe und Blake nur die Verbundenheit mit einem alten Schicksalsgenossen und Ex-Freund? Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
 

Im Büro des Geschäftsführers und Bosses brannte Licht. Immer noch oder schon wieder, fragte Ted sich. Vorsichtig schob er die milchige Glastür auf. Der Schreibtisch war nicht besetzt. Auf dem Sofa in der für lockere Geschäftskonversationen gedachten Sitzecke lag zusammengerollt eine Gestalt. Nicht schon wieder, dachte Ted. Brian hatte eine leichte Decke um sich gezogen, die er für Notfälle hier deponiert hatte, um ein kurzes Nickerchen halten zu können. Nur stellten sich diese Nickerchen in letzter Zeit als Nachtschlaf heraus. Und der Notfall als Dauerzustand. Seit Justin nach New Yirk gegangen war, lag Brian auf dem Sofa, nachdem er bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Ted schaute ihn an. Brians Züge hatten sich entspannt, seine Schulterblätter waren fast schützend zusammen gezogen, die Hände waren in die Decke gekrallt, als würde er etwas festhalten wollen. Plötzlich fühle Ted tiefes Mitleid mit Brian. Brian erschien immer wie der Fels in der Brandung, war souverän, hatte die Situation immer im Griff. Nun, fast immer. Ted zog den heruntergerutschten Zipfel der Decke hoch und wickelte ihn um Brian, ohne ihn zu wecken.
 

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„Hier, probier mal, ist ein Lieblings-Rezept von Vic. Eine abso-lu-te Kalorienbombe – aber zum steeeeerben lecker“, lachte Debbie. Jennifer klappte ihre Mundwinkel höflich nach oben und probierte vorsichtig. Die Fähigkeit, leere Kalorien ohne Rückwirkung auf ihre Figur zu verbrennen teilte sie glücklicherweise mit ihrem Sohn. Aber in ihrem Alter musste sie dennoch vorsichtig sein. Sie stocherte vorsichtig in dem grellen Sahnehaufen auf ihrem Teller herum. Schon früh hatte sie gelernt, Debbies Geschmack, was Inneneinrichtung und Speisen anging, zu ignorieren. Andernfalls hätte sie beizeiten all die Clowns-Masken, Porzellan-Kätzchen und mit verschmelzenden Farben gearbeiteten Wandbehänge in einem flammenden Inferno untergehen lassen, einfach, um die Menschheit vor ihnen zu beschützen. Justin musste das, bei seinem absolutem Stilgefühl, auch beizeiten hinbekommen haben, schließlich hatte er hier gewohnt, inmitten auch von Michaels Captain Astro-Wandputz. Jennifer mutmaßte, dass einer der Gründe, die sie zumindest nachvollziehen konnte, warum ihr Sohn dereinst in Brian verliebt hatte, auch der Umstand gewesen war, dass dieser wirklich Geschmack besaß.
 

„Nun erzähl schon, wie geht es Sonnenschein?“ bohrte Debbie.
 

Ein stolzes Lächeln machte sich auf Jennifers Gesicht breit.

„Oh, es geht ihm gut. Momentan hört er sich bei unterschiedlichen Galerien in New York um. Einige haben bereits ihr Interesse bekundet, schon allein wegen des Artikels im Art Forum. Lindsay war ihm wirklich eine große Hilfe, ich weiß gar nicht, wie ich ihr danken kann. Parallel jobbt er in einem Großhandel für Künstlerbedarf, mit dem Geld kommt er ganz gut über die Runden. Ich könnte ihm auch ein bisschen zuschießen, die Geschäfte laufen gut – aber davon will er nichts wissen. Er ist sehr stolz, was das angeht, da kommt sein Vater bei ihm durch. Craig war in dieser Hinsicht auch immer eisern – leider nicht nur in dieser.“
 

„Haben er und Justin noch Kontakt?“ fragte Debbie vorsichtig, während sie einen ordentlichen Haufen Sahne auf ihrem zweiten Kuchenstück auftürmte. „Nicht, dass ich wüsste. Craig hat seinen Sohn geliebt“, bemerkte sie bitter. „Bis … naja, das muss ich kaum sagen. Ich begreife einfach nicht, wie er ihn jetzt so ablehnen kann. Er ist doch immer noch derselbe Mensch. Sicherlich, es ist nicht einfach als Elternteil, damit klar zu kommen. Aber diese erbarmungslose Ablehnung… Ich weiß auch nicht.“
 

Debbie legte ihre Hand auf Jennifers. „Aber er hat dich. Und das weiß er auch.“ Jennifer lächelte als wüsste sie darum, sei aber glücklich, dass es ihr jemand bestätigte. „Ich danke dir“, sagte sie und sah Debbie direkt an, „für alles.“
 

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Das Telefon klingelte wie verrückt. Mehrere Leitungen blinkten. Cynthia rief ihm hektisch die Prioritätenlisten durch. Er nahm an, ließ seine Stimme je nach Bedarf in ein weiches Timbre, einen harten Tonfall oder in ein konziliantes Schmeicheln fallen. Wie hieß es so schön? Der Rubel rollte. Pech in der Liebe, Glück im Spiel. Und dies hier war sein Spiel. Von morgens um Sieben bis Mitternacht. Dann schnappte er sich seine hellgraue Kaschmir-Decke, rollte sich auf dem Sofa zusammen und schlief den Schlaf der Halb-tot-Gearbeiteten.
 

Er ließ sich inzwischen seine Wäsche von der Reinigung direkt in die Firma liefern. Sein Büro verfügte über einen Waschraum. Ted hatte mit einem neugierigen Blick erfassen können, dass Brian darin einen verdächtigen Großteil seiner nicht gerade kostengünstigen Pflegeprodukte deponiert hatte. Vielleicht hatte er ja auch noch einen zweiten Satz zu Hause. Wo immer das war. Das Loft? Dieser dekadente Schuppen, mit dem er Justin hatte beglücken wollen? Ted kannte Brians Bücher. Und er wusste um das Landhaus. Eins und eins hatte er auch noch zusammen zählen können.
 

Das Konferenzzimmer war voll. Brian war in seinem Element. Sein Charme blitze durch den Raum. Die Kunden waren gebannt. Besonders der Junior-Chef hing in ziemlich eindeutiger Weise an Brians Lippen. Brian lächelte ihn strahlend an. Und ignorierte ihn dann. Ted seufzte. Musste er jetzt wieder ran? Als Ersatzbefriedigung musste er wahrscheinlich herhalten, um das Runder noch rumzureißen. Als zweite… oder vielmehr eher dritte… oder vierte? Wahl. Er hatte es so satt, Brian Kinney Fick-Dummie zu sein. Brian verabschiedete sich strahlend und warf ihm einen scharfen Blick zu. Na ganz toll. Warum musste er eigentlich ran, wenn der große legendäre Sexgott nichts andres zu tun hatte, gleich die Gucci-Latschen in die Ecke zu kicken und auf dem Sofa zu entschlummern?
 

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Mmmm, so weich und fest und glatt… und gleichzeitig so hart, Muskelspiel unter der seidigen Oberfläch. Brian streckte die Zunge aus, um dieses unglaubliche Aroma zu schmecken, das nur Justin so absonderte. Ahhh…
 

Er schreckte hoch. Und hustete. Er hatte den Mund voller Fussel. Kurz sah er sich verwirrt um. Oh mein Gott, er hatte die Decke abgeleckt. Es war zwar ein Modell höchster Qualität, darauf hatte er schon geachtet – aber dennoch blieb es eine Decke und nicht Justins Haut.

Er fluchte leise. Wie erbärmlich war er doch geworden. Verdammter Mist. Seine Zähne knirschten. Justin war fort. Sie hatten darin überein gestimmt. Er musste gehen, auf seinen eigenen Füßen stehen, sich durchkämpfen, vorankommen. Und das würde er auch tun. Justin war stark. Und Justin war klug. Begabt. Er sah sich selbst in diesem Alter und seufzte. Er konnte von Glück sagen, dass er älter, erfahrener gewesen war, als sie sich trafen. Hätten sie von Anfang an auf gleicher Augenhöhe getroffen – der siebzehnjährige Brian und der siebzehnjährige Justin – der Junge hätte ihn nicht zweimal angeschaut, da war er sich sicher.
 

Brian hatte jahrelang an sich gearbeitet, an seinem Image, seinem Aussehen, seinem Auftreten, dass er gar nicht mehr entscheiden konnte, was nun Wahrheit war und was nun Trug. Was war echt in seinem Leben?
 

Gus, sein Sohn. Seine Mütter mochten noch so sehr darauf pochen, seine Eltern zu sein – er war es auch. Wenn auch nicht auf dem Papier – Gus war sein Fleisch und Blut. Melanie mochte seine soziale Mutter sein – aber auf einer ganz urtümlichen Ebene schien Gus zu wissen, wo seine Wurzeln waren. In ihm. In dieser merkwürdigen, cremigen Flüssigkeit, die aus ihm heraus schoss, wenn man ihn reizte. Die die Münder, die sie empfingen so gierig aufsaugten. Die er keuchend und seufzend und schreiend in Justins Arsch verströmt hatte, auch wenn sie letztlich im Latex landete. Aber er hatte es sich vorstellen können, wie…
 

Nein.
 

Lindsay. Seine Freundin. Seine Wendy. Die Mutter seines Sohnes. Die ihm ein Geschenk gemacht hatte, von dem er nie zu träumen gewagt hätte. Ein Leben. Ein Kind mit seinen Augen, das sich warm gegen ihn presste in einer bedingungslosen Liebe, deren Existenz er selbst fast vergessen hatte. Wenn er sich in kindlichem Überschwang so an seine Eltern gedrückt hatte, hatte er nur Reserviertheit und Zurückweisung erfahren. Niemals sollte Gus etwas Derartiges erfahren. Er, Brian, mochte zwar keine gr0ße Ahnung von Kindererziehung haben – aber das: Niemals!
 

Michael, sein Freund. Sie waren sich nah gewesen, aber doch immer getrennt durch Michaels Begehren. Er hatte es nie erwidert, doch viele Jahre lang gern damit gespielt. Michael kannte ihn zu gut, seine Schwäche, seine Einsamkeit, seine Leere. Aber wirklich verstanden hatte er ihn nie und würde es auch nie tun. Er musste Probleme immer dinglich, konkret sehen, darüber hinaus ging sein Begreifen nicht. Er war Michaels Held, trotz aller Misslichkeiten. Aber er war kein Held, das hatte Michael nie wirklich begriffen. Auch jetzt, wo sein Freund sich mit Ben verbunden hatte, sah er es nicht wirklich. Er war sein Beschützer gewesen, schon in der Schule, die treibende Kraft hinter ihren Unternehmungen. Aber er war kein Held, kein Rage. Er war ein Meister darin, den Menschen vorzugaukeln, was sie gerne sehen wollten, ihr Verlangen zu wecken. Der einzige, der das jemals vollauf begriffen hatte, war Justin.
 

Justin. Dieser kleine niedliche blonde Twink hatte eine Füllung aus Stahl und Lava. Er hatte ihn gesehen, wirklich gesehen – und hatte sich nicht schaudernd abgewandt. Er hatte ihn gesehen – und hatte ihn dennoch geliebt.
 

Auch ein junger Löwe blieb immer noch eine Raubkatze.
 

Er durfte nicht über Justin nachdenken, es war schon schlimm genug, dass er von ihm träumte. Jede verfickte Nacht. Auf der Coach bei Kinnetic war er schon schlimm genug, aber zu Hause, im Loft… überall schien sein Geruch zu sein, obwohl alles bereits mehrfach gereinigt worden war. Es war unmöglich, dort zu schlafen, ohne ständig das leere Rauschen mit seinen Lauten zu füllen, das Kissen zu umklammern, in der Gewissheit, dass er es sei… Oh Gott, das war so erbärmlich. Aber es würde gewiss aufhören. Justin war gegangen, das schuldete er sich, das schuldete er ihnen.

Im Atelier

Justin streckte sich gähnend nach hinten aus. Die Schicht im Kunstbedarfshandel war lang gewesen, er spürte die lange Steherei in den Knochen. Dennoch war er ausgesprochen zufrieden. Auf dem Anrufbeantworter war die Nachricht gewesen, auf die er so sehr gehofft hatte. Katlin’s, eine der führenden New Yorker Galerien, hatte ihm das Angebot unterbreitet, eine kleine Ausstellung seiner großformatig angelegten Werke an zusetzten. In der Feinmotorik hatte er nach der Attacke mit dem Baseballschläger noch immer Probleme, aber auf der Leinwand konnte er noch immer ausgezeichnet arbeiten. Außerdem war er ja auch kein Porträtmaler für Touristen, sondern jemand, der mit Farbe und Form eine andere Ebene anstrebte. Er konnte sich förmlich die neidvollen Blicke seiner ehemaligen Kommilitonen am PIFA vorstellen. Die drückten immer noch artig die Schulbank – und er war schon da, wo sie hin wollten. Aber man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Es gab immer noch viel, was schief gehen konnte. Nicht übermütig werden oder auf den eigenen Lorbeeren ausruhen, sondern immer auch den nächsten Schritt im Auge behalten, gewappnet sein, handeln…
 

Es war zunächst ein harter Brocken gewesen, von Galerie zu Galerie zu rennen, Hände zu schütteln, sich selbst ins Gespräch zu bringen. Phasenweise hatte er sein Äußeres verflucht und darüber nach gedacht, sein Haar wieder ratzekahl kurz zu schneiden, wie er es zur Zeit getragen hatte, als er mit Cody auf seiner ganz persönlichen Rachetour gewesen war. Sobald er seine Haare etwas länger trug, hielt ihn jeder für… niedlich. Bei dem Gedanken war ihm zunächst die Galle hoch gekommen. Dann hatte er beschlossen, diesen Kontrast zwischen seinem Äußeren und der Wucht seiner Bilder zu nützen. Es erwies sich als famoser Vermarktungstrick.
 

Zehn Arbeiten wollte Katlin’s von ihm haben – zwei lehnten bereits halbwegs fertig gegen die bröckelnde Wand seiner Bleibe. Von dem Geld, das er nach Hollywood und seinen ersten Galerie-Verkäufen in Pittsburgh angespart hatte, hatte er zumindest die ersten drei Monatsmieten der kleinen Atelierwohnung sowie eine rudimentäre Inneneinrichtung bezahlen können, doch allmählich musste wieder mehr Geld in die Kasse kommen, wenn er seine vier Wände halten und nebenher noch etwas vom Leben mitbekommen wollte. Der Lohn aus dem Kunstbedarfshandel deckte mit Ach und Krach die laufenden Kosten, aber immerhin bekam er durch den Job seine Materialien etwas günstiger.
 

New Yorker Mieten lagen in abartigen Höhen, selbst für so eine Bruchbude wie seine. Immerhin sah es hier etwas vertrauenserweckender aus als in seiner Pittsburgher Wohnung, wenn man von den typischen New Yorker Kakerlaken mal absah, mit denen er inzwischen schon fast auf Du und Du war.
 

Eine große Fensterfront vom Boden bis zur hohen Decke, die ihm für seine Arbeit das so wichtige Licht bot, eine kleine Kochnische mit zwei Herdplatten, einer Spüle und einem laut brummenden Kühlschrank, den er bei seinem Einzug garantiert zehnmal schaudernd mit allen zur Verfügung stehenden Putzmitteln ausgeschrubbt hatte. Nahe der Eingangstür, wo das Licht nicht mehr zum arbeiten reichte, hatte er ein schlichtes dunkelblaues Schlafsofa von Ikea aufgestellt, das für seine Bedürfnisse reichte. Neben der Küche ging ein kleines dunkles Bad ab, in dem sich eine leicht lädierte Dusche, aus der sogar manchmal halbwegs warmes Wasser kam, ein Waschbecken, die Toilette mit gesprungenem Deckel und ein Schränkchen für Waschutensilien drängten. Die Fliesen hatten auch schon bessere Zeiten gesehen, vermutlich in den 70ern, denn sie waren in einem leicht minzigem Türkiston gehalten, den man entweder für retro oder für grauenerregend halten konnte. Aber immerhin musste er die sanitären Anlagen mit niemandem teilen. Er dachte schaudernd an das Etagenklo in Pittsburgh.
 

Den Rest der Wohnung füllten ein paar Regale und Tapeziertische, auf denen Leinwände, Farbtöpfe, Pinsel, Paletten und Lappen ein wildes Durcheinander bildeten. Nicht dass er ein besonderes Faible für Unordnung gehabt hätte – aber wenn er malte, ordneten sich die Dinge nach ihrer eigenen Logik, da war für Pedanterie kein Platz.
 

Der Boden bestand aus einem dunkelrot-bräunlichem Linoleumüberzug, wahrscheinlich aus derselben Kulturepoche wie die Fliesen. Er war schon bei seinem Einzug total lädiert gewesen, so dass seine gelegentlichen Farbkleckser auch nicht weiter auffielen. Die Wände hatten eine nicht wirklich definierbare helle Farbe, die sich bereits in größeren Teilen gemeinsam mit dem Putz verabschiedet hatte. Insgesamt handelte es sich um ein irgendwann mehr oder eher weniger durchdacht zur Wohnung umgebautes Dachgeschoss eines älteren rot verklinkerten New Yorker Büro-Gebäudes. Die Lage war halbwegs zentral, die Nachbarschaft bestand größtenteils aus Studenten, die sich meist zu mehreren die kleinen Wohnungen teilten, um sich die Mieten leisten zu können. New York war ein Moloch, aber zumindest in dieser Straße konnte man auch bei Dunkelheit vor die Tür gehen, ohne postwendend um sein Bargeld erleichtert zu werden.
 

An der Ecke gab es einen kleinen rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelladen, was Justin sehr entgegen kam, da er beim Malen häufig die Zeit vergaß und dann plötzlich mitten in der Nacht von Heißhungerattacken geplagt wurde.
 

Gähnend schlurfte er zum Kühlschrank, musterte kritisch den Inhalt und schnappte sich den Eierkarton. Ein paar Spiegeleier könnten ihm jetzt ganz gut tun, dann ein kräftiger Kaffee und dann ab an die Arbeit. Den ganzen Tag im Laden hatte er bereits gegrübelt, wie er sein nächstes Gemälde anpacken sollte. Farben und Formen nahmen langsam Gestalt an, ein komplexes Muster an Bezügen im Raum, das erst konkret werden würde, wenn er es auf die Leinwand ließ. Wenn er malte, hörte die Zeit auf zu existieren. Meist kam er erst Stunden später wieder zu sich, wenn seine Energie restlos aufgebraucht war, und war dann selbst erstaunt, dass es beinahe schon wieder Morgen war und was in der Zwischenzeit auf der Leinwand Gestalt angenommen hatte. Diese Zeitlosigkeit hatte er bisher nur bei zwei Dingen empfunden: Wenn er sich seiner Kunst widmete… und wenn er mit Brian zusammen war.
 

Brian…
 

Es krampfte kurz in ihm zusammen. Nein, er durfte nicht an das denken, was er zurückgelassen hatte, sonst würde er es nicht schaffen, weiter vorwärts zu gehen. Nicht auf diesem Weg. Und einen anderen hatte er, trotz allen Schmerzes, damals auch nicht erkennen können. Jetzt zurückzublicken und alle Was-wäre-wenns durch zu deklinieren, würde ihn wahrscheinlich irre machen. Und es hatte keinen Sinn, die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen, was zählte, waren die Konsequenzen für das Hier und Jetzt.
 

Er war gegangen, um seinen Traum, ein Künstler zu werden, zu verfolgen. Das beinhaltete nicht nur zu malen, eine Galerie zu finden, in Kunstmagazinen besprochen zu werden, auf Kunstmessen gezeigt zu werden, Interessenten zu finden – das bedeutete vor allem auch, selbständig zu sein, er selbst zu sein, so zu leben, wie er es wollte, nicht wie andere es von ihm verlangten. Er hatte hart darum gekämpft. Und er könnte dies nicht tun, wenn er den Bruch nicht vollzogen hätte.
 

Eine Beziehung, die darauf baute, dass man sich selbst verriet um des anderen Willen – nein, das war keine Liebe. Das wäre ein Highway to Hell geworden. Irgendwann wäre der Punkt gekommen, an dem sie einander nicht mehr hätten verzeihen können, an dem aus Liebe Hass geworden wäre. Sie hatten die Wahrheit der Lüge, die Freiheit dem Zwang vorgezogen, das Ich dem Wir. Ein Wir hatte es noch nicht gegeben, ein gemeinsamer Marsch in dieselbe Richtung, der sie beide hätte erfüllen können. Dazu fehlte ihnen trotz aller Liebe die Grundlage.
 

Er würde seine Liebe zu Brian immer mit sich tragen. Er hatte ihm, als er fast noch ein Kind gewesen war, einen Teil von sich geschenkt, den man nie wieder zurücknehmen konnte, ohne dass er damals begriffen hätte, was da geschah. Er begriff es auch heute noch nicht gänzlich, vielleicht würde er es auch nie vollständig tun. Was auch immer die Zukunft brachte, auch wenn er Brian niemals wieder sehen würde – ein Teil von Justin würde immer nur Brian gehören. Und Brian war immer bei ihm, ganz wie er es ihm in ihrer ersten Nacht vorausgesagt hatte.
 

Manchmal, wenn er nach einer Phase stundenlanger Versunkenheit beim Malen wieder zu sich kam, konnte er fast Brians Hände fühlen, die sich von hinten auf seine Schultern legten. Er brauchte dann einige Augenblicke um zu begreifen, dass dort niemand war. Manchmal konnte er Brians Geruch in einem Luftzug wahrnehmen, als wäre er gerade vorüber gelaufen.
 

Dann war es an der Zeit, die Augen zu schließen, sich zu besinnen und wieder nach vorne zu blicken.

Elternplausch

Das Telefon klingelte mit schrillen Tönen aus Richtung Küche. Michael hetzte die Stufen der engen Holztreppe herab und schaute sich hilflos um. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, das schnurlose Telefon zu erfinden, schien keine Gedanken an die Vergesslichkeit seiner Mitmenschen verschwendet zu haben. Oder er hatte keine Ahnung davon, wie es war, wenn ein Telefon und ein Teenager sich unter demselben Dach befanden. Er folgte hektisch dem wütenden Klingeln, bis er den Hörer gut versteckt hinter einer halb leeren Cornflakes-Packung fand. Immerhin, nicht in den Cornflakes… So schusselig, wie Hunter trotz allen guten Willens manchmal seien konnte, hätte das auch der Fall sein können.
 

„Novotny-Bruckner“, meldete er sich.
 

„Hallo Michael, hier ist Melanie.“
 

Hätte er sich in Hinblick auf den aggressiven Tonfall des Telefonklingelns fast denken können. Die Mutter seiner Tochter gehörte nicht zu den friedfertigsten Zeitgenossen, davon konnte er ein Liedchen singen…
 

„Alles in Ordnung bei euch? Ist mit Käferchen alles okay?“
 

„Ja, alles bestens – aber nenn Jenny nicht immer Käferchen, sonst hätt‘ ich mir die Mühe mit dem Namen auch sparen können! Also hör zu, es geht um Folgendes…“
 

Michael wollte kurz dazwischenfahren und Melanie erklären, dass er gar nicht daran denke, sein Baby um seinen Spitznamen zu bringen und dass das gar nichts mit der Qualität ihres wirklichen Namens zu tun hatte, schluckte es dann aber doch herunter. Zum einen würde ein Kommentar seinerseits lediglich einen sinnlosen Streit provozieren zum anderen ließ Melanie ihn ja gar nicht zu Worte kommen. Genervt atmete er tief durch, versuchte zu lächeln, um der aufsteigenden Frustration entgegen zu wirken.
 

Melanie fuhr gnadenlos fort: „Nun ja, Jenny ist ja allmählich aus dem Gröbsten raus und da hatten wir überlegt… ob du vielleicht im Juli oder August Lust hättest, ein oder zwei Wochen mit ihr zu verbringen?“
 

„Was meinst du damit?“ Michael war erstaunt. Natürlich wollte er. Er hatte den beiden Frauen wegen eines derartigen Arrangements bereits mehrfach auf den Ohren gelegen. Er hatte damit gerechnet, dass er um jeden Moment mit seiner Tochter würde kämpfen müssen. Ab und an überkam es die Lesben und sie sahen ein, dass ein Kind vielleicht auch Zeit mit seinem Vater verdiente, selbst wenn er vor dem Gesetz als Elternteil nicht zählte – aber die Spielregeln wurden von den beiden Frauen gemacht. Besonders wenn dieser Vater sein Kind wirklich liebte, so wie Michael es tat. Es gab genug Väter, für die das kaum zutraf. Er musste an Brians Vater denken oder Justins. Nicht, dass die beiden nichts für ihre Söhne empfunden hatten. Aber ein liebevolles Verhältnis war etwas anderes.
 

„Naja, ein wenig Zeit als Vollzeit-Papa für dich. Windeln wechseln, alle paar Stunden füttern, Schlaflieder singen… die volle Packung Elternglück.“ Melanie kicherte wissend. „Nun, was sagst du?“
 

„Das… das wäre großartig, Mel! Jederzeit, ich arbeite momentan von zu Hause aus, da lässt sich das problemlos einrichten! Wann sagtest Du? Im Juli?“
 

„Ende Juli, Anfang August. Linds hat da Ferien und wir würden gerne für ein paar Tage wegfahren. Wenn man zwei kleine Kinder hat, bleibt wenig Zeit für einander. Oh, man sieht sich ständig, aber der Alltag hält einen ganz schön auf Trab, so dass kaum Raum bleibt, mal wirklich länger zusammen zu sein, ohne dass ständig die Pflicht ruft. Jetzt halt uns bitte nicht für Rabenmütter…“
 

Aha, daher wehte der Wind… Aber Michael konnte den Wunsch der Frauen schon verstehen. Ihm sollte es recht sein, wenn er so sein Käferchen zumindest zeitweise für sich bekam.
 

„Ach Quatsch, Mel, ihr beide seid großartige Eltern, das weiß ich doch, auch wenn es Zeiten gegeben hat, in denen wir einander unsere Eignung in dieser Hinsicht etwas infrage gestellt haben… Aber das ist Schnee von gestern. Wenn ihr beide Mal ein bisschen Erwachsenen-Zeit alleine braucht, um zu… reden, kann Jenny jederzeit gerne zu mir! Ben und Hunter werden ausflippen! Zwei Wochen sagtest du? Das ist fantastisch – ich hab da so eine Kinderbettwäsche in einem der Großhändler- Kataloge gesehen, mit lauter Baby-Superwomen-Bildern drauf! Total niedlich!...“
 

„Wenn du einen Comic-Nerd aus unserer Tochter machst, dreh ich dir den Hals um!“ schappte Melanie.
 

„So wie mich?“ fuhr Michael sie an. „Das hättest dir überlegen sollen, bevor du mich als Samenspender eingespannt hast!“ In ihm kochte es.
 

Kurz war es still in der Leitung.
 

„Es tut mir leid, Michael“, ruderte Melanie zurück. „Manchmal ist meine Zunge schneller als mein Verstand… Ich habe es nicht so gemeint. Ich habe dich damals wegen der Vaterschaft gefragt, weil du der Beste warst – und bist. Ich schätze dich wirklich, auch wenn dein Comic-Fetischismus mir manchmal auf den Wecker geht. Und wenn Jenny dir in dieser Hinsicht folgen sollte – natürlich wäre das okay für mich. Solange niemand von mir verlangt, mit euch beiden bei Halloween im Batman-Kostüm durch die Öffentlichkeit zu ziehen…“
 

Halbwegs versöhnt murmelte Michael: „Schon gut. Ich würde es ja auch verkraften, wenn Jenny sich zur rasenden Anwältin entwickelt, die alles verklagt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Solange es sie glücklich macht… Und solange sie nicht mich verklagt.“
 

Beide mussten sie lachen.
 

„Und wie läuft es bei euch sonst so?“ wechselte Michael das Thema.

„Ach, ganz gut. Linds gefällt ihre Arbeit als Lehrerin wirklich gut. Es ist toll, wie sie mit den Kindern und Jugendlichen umgeht! Und ich hab endlich meine Zulassung. Aktuell arbeite ich frei, erstelle Gutachten, recherchiere bei kniffeligen Fällen, die amerikanisches und kanadisches Recht betreffen. Das wirft zwar nicht so viel ab wie mein alter Job, aber ich bin frei in der Zeiteinteilung, so dass wir das mit der Kinderbetreuung gut hinbekommen. Linds arbeitet meist vormittags und Gus ist im Kindergarten, solange bin ich der Windelwechsler für Jenny. Nach Mittag holt Linds Gus ab und übernimmt, so dass ich dann arbeiten kann. Wir müssen ziemlich genau planen, aber momentan klappt es soweit prima.“
 

„Was wollt ihr eigentlich mit Gus machen, wenn ihr wegfahrt?“ fragte Michael.
 

„Wir dachten da an Brian. Da fällt mir ein – weißt du, wo wir ihn erreichen können? Linds hat es die letzten Abende im Loft versucht, hat auf den Anrufbeantworter geredet – aber bisher kein Ton. Der große Gönner hat Gus zwar ein abartig teures Handy auf seinen Namen geschenkt, so dass die beiden miteinander telefonieren können, ohne dass unsere Telefonrechnung explodiert – aber das soll ruhig zwischen den beiden bleiben. Und Brian auf dem Handy anzurufen erscheint uns erfahrungsgemäß recht sinnlos – entweder stört man ihn bei der Arbeit oder beim Ficken, wie ich ihn kenne. Warum ruft der Scheißkerl nicht zurück?“
 

Michael wurde etwas mulmig zumute. „Äh, nun ja, wahrscheinlich, weil er eure Nachricht nicht bekommen hat. Ruf lieber bei Kinnetic an und lass seine Sekretärin ihm eine Bitte auf Rückruf notieren.“
 

„Was soll das denn? Ich will schließlich keine Audienz beim Kaiser von China! Und was soll das heißen, er habe unsere Nachrichten nicht bekommen? Ist er heimlich umgezogen? Hat er sich einen hohen finsteren Turm in den Tiefen der Wälder bauen lassen, um den die Blitze krachen und die Wölfe heulen, wenn er sein Unwesen treibt? Ich kann‘s mir bildlich vorstellen: Igor! Wir brauchen Schwänze! Bring mir Schwänze, Igor!“ sie imitierte Brians Tonfall erschreckend gut.
 

Es war zwar gemein, aber Michael musste dennoch lachen. „Nein, das wohl nicht. Ich hab ihn in letzter Zeit kaum zu Gesichte bekommen. Aber ich hab‘ vor ein paar Tagen mit Ted gesprochen. Der meinte, dass Brian sich mehr oder weniger in der Firma verschanzt hat. Arbeitet wie ein Irrer und pennt wohl auch regelmäßig dort. Du weißt ja, wie das mit ihm ist: Keine halben Sachen.“ Er seufzte. Er und Brian hatten sich mit den Jahren immer weiter voneinander entfernt. Die alte Nähe ihrer Freundschaft war zwar immer noch da, aber hatte zu Teilen den Charakter einer nostalgischen Erinnerung angenommen. Er erinnerte sich an den Abend, als sie miteinander nach dem Bombenanschlag getanzt hatten. Das Leben würde weitergehen, und sie würden einander immer haben. Aber sie waren keine Teenager mehr, auch keine Twens auf der Suche nach Abenteuern. Er, Michael, war angekommen. Und auch Brian hatte sich verändert, auch wenn Michael den Charakter seines Wandels nicht richtig verstand. Brian blieb immer Brian – was auch beinhaltete, dass er zumeist blockte, sobald es um sein Innenleben ging.
 

„Justin?“ fragte Melanie ernst.
 

„Ich denke Mal. Was sonst? Wer wird schon aus den beiden schlau? Erst rennt Brian jahrelang vor ihm weg, dann macht er eine 180 Grad-Wendung und das nächste, was man sieht, sind die Staubwolken am Horizont, hinter dem Justin verschwindet. Völlig bescheuert.“
 

„Meinst du, die beiden haben noch Kontakt?“ fragte Melanie.
 

„Ich glaube es nicht. Wie schon gesagt: Keine halben Sachen. Und Justin hat da gewiss vom Meister gelernt. Brian verliert kein Wort über seinen Ex-Verlobten. Als ich vorsichtig nachgefragt habe, hat er die Schotten sofort dicht gemacht, gesagt, dass alles in Ordnung sei und ich meine Nase aus seinen Angelegenheiten halten solle. Was hätte man auch anderes erwartet. Und Justin erwähnt ihn auch nie, wenn er ab und an mailt. Erzählt von New York, seiner Wohnung, seiner Arbeit – aber über Brian – kein Ton, nicht mal eine Nachfrage.“
 

„Es stimmt schon, es ist ihre Angelegenheit… obwohl ich ihr Verhalten auch ganz schön merkwürdig finde. Und wer weiß schon, was in ihren Köpfen vorgeht? Wenn sie meinen, sie müssten getrennte Wege gehen, wer sind wir, darüber zu urteilen. Ich bin nun wirklich nicht die Vorsitzende des Brian-Kinney-Fanclubs, aber dass er den Kleinen wirklich geliebt hat, das muss ich ihm schon zugestehen. Schon ein merkwürdiges Bild, Mr. Super-Hengst, verliebt.“
 

„Ach Mel, wenn’s nur Verliebtheit gewesen wäre. Vielleicht am Anfang, da hat es Brian aber nicht geblickt – oder nicht blicken wollen. Ich hab’s gesehen, und es hat mich damals, bevor ich David kennen lernte und vielleicht auch noch danach, ganz schön angefressen. Ich konnt‘ es einfach nicht verstehen. Er konnte jeden haben – und dann hatte er diesen Narren gefressen an diesem kleinen aufdringlichen und besserwisserischen Jungen, der obendrein noch die Schulbank drückte. Irgendwann hab‘ auch ich erkennen müssen, dass an Justin mehr dran ist, als der erste Blick verrät.“
 

„Ja“, griff Melanie den Gedanken auf, „Justin ist stark. Er gibt niemals auf, gleichgültig wie häufig er auf die Nase fällt. Und diese Qualität hatte er bei Brian auch mehr als nötig. Und er ist ein Scheiß-Genie, was seine Malerei angeht, Ich hab mich eigentlich immer viel eher gefragt, was er in Brian gesehen hat… Aber wie gesagt: nicht die Vorsitzende des Brian-Fanclubs, nicht mal ruhendes Mitglied. Aber lassen wir das. Also, ich fasse zusammen: Brian hat sich, nachdem Justin einen auf Runaway-Bride gemacht hat, bei Kinnetic eingeigelt, arbeitet wie ein Besessener und will ums Verrecken mit keinem über seinen Kummer reden, von dem er vermutlich behauptet, dass er nicht existiere und er einzig und allein den Geboten rationalen Handelns folge… richtig?“
 

„Richtig“, seufzte Michael.
 

„Na, hoffentlich gerät Gus nicht zu sehr nach seinem Papa. Sonst sehe ich harte Zeiten auf uns zukommen.“

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„Peterson.“ Lindsay hatte sich den Telefonhörer auf die Schulter geklemmt, während sie das Gemüse fürs gemeinsame Abendessen klein schnippelte. Gus wuchs in letzter Zeit wie rasend und verdrückte unmögliche Mengen an Essen. Er überragte schon jetzt die anderen Kinder in seiner Kindergartengruppe um mindestens einen halben Kopf. Der Gemüseeintopf würde wahrscheinlich mit einem enttäuschten Blick aus den großen braunen Kulleraugen ihres Sohnes quittiert werden, aber sie weigerte sich, seine Ernährung seinem Wunsch entsprechend auf ausschließlich Spaghetti mit Ketchup umzustellen. Wenn er sich schon vorgenommen hatte, so ein langer Lulatsch wie sein Vater werden zu wollen, dann brauchte er reichlich Vitamine, um unterwegs nicht umzufallen. Sie selbst war ja auch nicht gerade winzig.
 

„Hallo Lindsay, hier ist Brian“, meldete sich ihr alter Freund in geschäftsmäßigem Ton. Sie könnte darauf wetten, dass er immer noch am gläsernen Schreibtisch in seinem spartanisch eingerichteten, bis auf das letzte Detail durch designten Büro saß und sie zwischen zwei seiner wahnwitzig wichtigen Geschäftstelefonaten eingeschoben hatte. Nun ja, sie hatte sich ja auch wie seine Geschäftskunden bei seiner Sekretärin anmelden müssen, um ihn überhaupt zu fassen zu bekommen. Bei dem Gedanken runzelte sie ärgerlich die Stirn. Sie war nicht die Vorstandsvorsitzende eines kriselnden Hundefutterunternehmens, das durch Brians geniale Sex-sells-Kampagnen wieder auf einen grünen Zweig gebracht werden wollte, sondern seine Freundin und die Mutter seines Sohnes. Sich artig in die Schlange zu stellen, bis der hohe Herr mal einen Termin frei hatte, behagte ihr gar nicht.
 

„Oh hallo Brian, schön, dass du zurück rufst“, sagte sie, den Ärger unterdrückend. Es hatte keinen Sinn, Brian jetzt schon einen zu verpuhlen. Wenn er sich verbarrikadiert hatte, wie Melanie es ihr nach dem Gespräch mit Michael berichtet hatte, würde ein Frontalangriff lediglich bewirken, dass er nur noch weiter auf Distanz ging. Und damit wäre keinem geholfen.
 

„Was kann ich für dich tun?“ Brians Tonfall blieb freundlich, aber er klang irgendwie nichtssagend. Er hörte sich wirklich so an, als würde er mit einem Kunden und nicht mit ihr sprechen. Hatte er sich wirklich wieder in sein emotionales Schneckenhaus zurückgezogen, nachdem sein Gefühlsausbruch Justin gegenüber in einer üblen Bruchlandung geendet war? Nach dem, was Mel erzählt hatte, war das wahrscheinlich wörtlich zu nehmen – nur das sein Schneckenhaus vollgestopft war mit Mies van der Rohe-Möbeln und am Eingang ein großes Schild hatte, auf dem „Kinnetic“ stand. Sie seufzte innerlich auf. Das hatte Brian wirklich nicht verdient – auch wenn irgendetwas in ihm da anderer Meinung zu sein schien, schließlich tat er sich das größtenteils selbst an. Aber darin war er ja leider immer schon ein Meister gewesen.
 

„Mmm, ja, warte kurz, ich muss mir kurz die Hände abwaschen, bin grad am Kochen, dein Sohn schlingt schneller alles runter, als ich „guten Appetit“ sagen kann… So, da bin ich wieder. Also, Mel und ich hatten mit Michael gesprochen…“ Sie konnte förmlich hören, wie Brian sich versteifte. Sein Atem ging flacher, als würden seine Muskeln unter plötzlicher Anspannung stehen. Er erwartete unangenehme Nachfragen zu seiner Verfassung und ging bereits in Abwehrhaltung. Den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Rasch fuhr sie fort: „Also, Jenny besucht ihren Papa Ende Juli für zwei Wochen, und da wollten wir dich fragen, ob du nicht Lust hättest, wenn Gus in der Zeit dich besuchen kommt…?“
 

„Wohin soll die Reise denn gehen?“ Aus Brians Stimme hörte sie einerseits Erleichterung darüber, dass sie nicht versucht hatte, in ihn zu dringen, zugleich aber auch Spott. Hatte sie wirklich geglaubt, dass Brian es nicht sofort bemerken würde, dass sie nicht nur hehre Ziele damit verfolgte, ihm ein wenig Zeit mit seinem Sprössling zu gönnen? Jetzt stand sie da wie eine Rabenmutter, die versuchte, den Nachwuchs abzuschieben, um sich ins Lotterleben stürzen zu können… Pah, in dieser Angelegenheit sollte Brian ruhig die Klappe halten! Wenn sie daran dachte, wie ausgesprochen mäßig er sich als Verantwortlicher für seinen Sohn anfänglich geschlagen hatte… war auf irgendeine Fick-Party abgehauen und hatte Gus einfach dem völlig verknallten Justin in die Arme gedrückt, der alles für ihn getan hätte – sogar sein Kind hüten, während er andere Kerle vögelte! Bei dem Gedanken an diesen Zwischenfall hätte sie Brian noch heute genüsslich den Hals umdrehen können. Aber das war lange her. Brian liebte seinen Sohn und hatte sich aufrichtig um ihn bemüht. Die beiden telefonierten regelmäßig über Gus‘ „Papafon“, wie ihr Sohn das verrückte Edelteil, das ein Handy darstellen sollte, nannte. Bestand wahrscheinlich aus reinem Mithril und dem Geweih des letzten Einhorns… und das für ein Kleinkind. Aber seinen Hintern nach Kanada geschwungen hatte Brian, anders als Michael, nie getan.
 

Sie hatte wohl zu lange ertappt geschwiegen, denn Brian setzte fort: „Ist schon gut Linds. Wenn man den ganzen Tag in Babyscheiße ersäuft, braucht man auch mal ne Auszeit, damit ihr eurer tiefen und wahren Liebe frönen könnt.“ Der letzte Satz hatte vor Sarkasmus nur so getrieft. Warum tat er das? Vor ein paar Monaten war er doch soweit gewesen, Justin vor aller Augen seine ewige Liebe zu schwören – und nun machte er sich über Gefühle dieser Art lustig, als seien sie eine Dummheit, die andere begingen und über der er hingegen weit stand? War er wieder da, wo er einst gewesen war, der Ich-glaube-nicht-an-die-Liebe-, der Liebe-ist-eine-Illusion-spießiger-Heten-und-solcher-Leute-die dasselbe-sein-wollen-aber-nur-billig-imitieren-Brian? Oder hatte ihm die Trennung mit Justin sogar noch mehr zugesetzt, als sie bisher erahnt hatten? Vorher hatte er kein Vertrauen in die Liebe gehabt, da hatte er Nichts zu verlieren gehabt. Aber nun, hatte er, nachdem er seine Gefühle einmal zugelassen hatte und in seinen Augen gescheitert war, resigniert? Waren seine Worte ein Zeichen von Verbitterung – und nicht von mangelnder Einsicht? Lindsay spürte tiefe Sorge um Brian in sich aufsteigen.
 

„Hallo, Lindsay? Hat dich die Brut aufgefressen? Hat ein Eisbär das Telefonkabel gekappt? Bin ich spontan ertaubt, jetzt wo das Alter mich in seinen blutigen Krallen hält?“
 

„Äh…“, kam Lindsay wieder zurück in die Gegenwart, „‘tschuldigung, Jenny hat grad so süß gegähnt, da war ich völlig weggetreten.“ Puh, kleine Notlüge.
 

„Ich muss gleich kotzen“, erwiderte Brian konsequent. „Wann hattet ihr denn vor, Sonnyboy zu seinem tatterigen Alten abzuschieben, damit der auch mal die Freuden des Elternglücks erleben kann, bevor er ins Gras beißt?“
 

„Letzte Juliwoche, erste Augustwoche.“
 

„Mist, das klappt nicht.“
 

„Was?“
 

„In dem Zeitraum liegen die Deadlines dreier unserer wichtigsten Kampagnen. Ich bin rund um die Uhr eingespannt, es tut mir leid.“
 

„Aber…“
 

„Nichts aber, Linds. Ich würde mich über einen Besuch von Gus sehr freuen. Aber nicht in diesem Zeitraum. Tut mir leid, wenn das mit eurer Zweiter-Honeymoon-Planung kollidiert, aber es lässt sich nicht ändern. Ich bin der Boss, ich muss da sein, wenn die Kampagnen laufen sollen. Und komm mir bitte nicht mit „er ist dein Sohn, du musst dir Zeit nehmen“ – es war euer Entschluss, nach Kanada zu gehen und ich respektiere das. Aber ich kann nicht einfach bei Fuß springen, wenn es euch mal in den Kram passt, dass ich Gus‘ Vater sein darf!“
 

Lindsay hörte die Wut in Brians Stimme. Das schlechte Gewissen stach sie. Er hatte ja nicht ganz unrecht.
 

„Hör zu Brian… es tut mir leid, ich…“
 

„Schon gut Linds, wir können ja demnächst etwas anderes ausmachen, vielleicht um Weihnachten rum. Ich muss jetzt auflegen, da ist ein Kunde in der anderen Leitung. Bis dann.“
 

„Aber Brian…“
 

Es war zu spät, er hatte bereits aufgelegt.

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Nach einigem hin und her einigten sich Lindsay und Melanie darauf, ihr Glück bei Lindsays Mutter zu versuchen. Diese war hellauf begeistert, ihren Enkel um sich haben zu dürfen. Sie hatte allerdings vorgehabt, in dem Zeitraum, um den es ging, Freundinnen in New York zu besuchen. Sie bot aber an, Gus mitzunehmen, um ihm die Stadt zu zeigen und ein wenig mit ihm angeben zu können, wie sie freudestrahlend betonte. Melanie konnte sich ausmalen, dass sie wohl kaum Thema in den Elegien ihrer Schwiegermutter sein würde und hoffte inständig, dass Gus sich verplapperte. Vor möglichst vielen Perlohrringen tragenden, Tee aus Porzellantassen schlürfenden alten Drachen, hoffte sie.
 

„Ist Anfang August nicht auch Justins Ausstellung?“ fragte Melanie.
 

Lindsay schaute in ihren Taschenkalender. „Du hast recht, am 6., hatte er geschrieben. Wir können Gus auf der Rückreise ja direkt in New York einsammeln und gehen dann gemeinsam zu Justins Eröffnung, was meinst du?“
 

„Finde ich gut. Ich mag den Kleinen, und ich weiß, dass du seine neusten Arbeiten sehr gerne sehen würdest. Er ist ja gewissermaßen dein Zögling, in künstlerischer Hinsicht zumindest. Den dreckigen Kram hat Brian zu verantworten. Und Gus würde sich bestimmt auch freuen, er fragt immer wieder nach seinem alten Babysitter.“
 

„Wenn Gus Glück hat, kann er eines Tages auch damit angeben, wer sein Babysitter gewesen ist“, grinste Lindsay.
 

„Er kann mit dir angeben, weil du seine Mutter bist“, lächelte Melanie sie an. Lindsay schlang von hinten ihre Arme um sie und drückte die Lippen auf ihren Hals.
 

„Und mit dir auch“, flüsterte sie in Melanies Ohr.

Sofaverhör

V. Sofaverhör
 

Die Klingel rasselte in ihrem etwas asthmatischen Tonfall und Justins Herz begann zu klopfen. Er drückte auf den Summer und betete, dass er funktionieren möge. Er hatte dem Hausverwalter wegen der ständigen Fehlfunktion schon genug auf den Ohren liegen müssen. Nicht, dass häufig jemand zu ihm wollte. Aber zumindest theoretisch erreichbar zu sein hatte durchaus etwas für sich. Er lauschte ins Treppenhaus und hörte dann von tief unten das Geräusch leichter Schritte, die die Stufen hinauf eilten. Nach einer Weile kam ein wohl vertrauter Lockenkopf in Sicht.
 

„Bist du denn des Wahnsinns? Sechster Stock und kein Lift!“ keuchte Daphne ihm lachend entgegen. Sie ließ ihre Tragetasche auf den Boden plumpsen, und Justin machte zwei Schritte auf sie zu, schlang seine Arme um sie und drückte sie, dass sie den Boden unter den Füßen verlor und halb in der Luft hing.
 

„Hey, willst du mir deine keusche Liebe beweisen – oder mich zu Mus verarbeiten?“ kiekste Daphne.
 

„Wer weiß, wer weiß… Hier oben hört keiner dein Schrein!“ grinste Justin.
 

„Blödbacke!“ rief sie und piekste Justin in die Seiten, wo er empfindlich kitzlig war. Er quietschte, ließ sie los und lachte.
 

„Himmel, ist es gut, dich zu sehen, Daph!“ er umarmte sie erneut, diesmal vorsichtiger, nahm dann ihre Tasche auf und zog sie an der Hand in seine Wohnung.
 

Er setzte die Tasche neben der Tür ab, ohne ihre Hand los zu lassen und machte eine raumgreifende Geste: „Mein Reich! Verirr dich bloß nicht in den Weiten der Zimmerfluchten… Und rede die Kakerlaken ja mit „Sir“ an, sonst sind sie beleidigt und beißen dich, wenn du schläfst, in die Zehen.“
 

„Ich werde mich vorsehen… Ist doch cool hier. Hat den verlebten Charme, der eines wahren Künstlers würdig ist…“
 

„Du meinst, es ist eine Bruchbude, ja, ich weiß.“
 

„Es ist deine Bruchbude, und sie ist super. Wenn ich an deine letzte Bruchbude denke… die war echt eklig. Da hatte man nicht mal mehr Angst vor dem Ungeziefer, weil die Wände selbst so aussahen, als würden sie zu Leben erwachen und einen auffressen wollen…“

„Ist nicht gerade ein feudaler Landsitz, aber ich kann hier wirklich gut arbeiten.“ Justin verzog das Gesicht bei den Worten „feudaler Landsitz“.
 

„Dann führ mich doch Mal herum, großer Wohnungsmieter! Oh, die Aussicht ist klasse!“

„Und das Licht erst! Nun ja, wenn du einen Schritt nach links machst, befindest Du dich in der High Tech-Küche, nur ein Schritt zu deiner Rechten befindet sich das fürstliche Himmelbett. Man sagt, der Vorbesitzer sei Prinz Ikea von Schweden höchstpersönlich gewesen! Vor dir siehst du den Arbeitsbereich – aber Vorsicht, da ist noch feuchte Farbe auf dem Boden, tritt da nicht rein. Und dieser geheimnisvolle Durchgang da drüben führt in die museale Nasszelle. Tja, das ist es eigentlich schon.“
 

„Ich bin schwer beeindruckt, Prinz Prahlschnalle! Du kannst meine Hand übrigens jetzt auch wieder loslassen, ich bin inzwischen ein großes Mädchen und verspreche, mich nicht zu verirren oder mit dem bösen Wolf abzuhauen, solange ich in der Wohnung bin… Es sei denn er ist heiß und reich und hetero, dann bin ich sowas von weg.“
 

„Oh!“ Justin wurde rot. „Tut mir leid“, murmelte er, „hatte wohl Tintenfisch zum Frühstück.“
 

„Schon gut“, sagte Daphne und schaute Justin prüfend an. Dann drehte sie sich um und drückte ihn von sich aus. Sie spürte, wie Justins Muskeln sich entspannten, als er sich an sich lehnte. Sie beschlich ein Verdacht. Wie lange war es her, dass jemand Justin berührt hatte? Er schien so… ausgehungert… nach Gesten der Zuneigung.
 

„Wofür war das denn?“ fragte Justin, als Daphne sich von ihm löste. „Einfach nur, weil es dich gibt, du Knalltüte“, sagte sie zärtlich, gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange und wuschelte sein sowieso schon zu Berge stehendes Haar. Er hatte es wieder länger wachsen lassen, was ihn deutlich jünger erscheinen ließ, als er es war. Sie erinnerte sich, wie verrückt Brian nach Justins Haaren gewesen war. Ihr Freund sah mit dieser Frisur auch immer ein wenig danach aus, als sei er gerade aus dem neusten Disney-Film gekippt.
 

„Nun, machen wir es uns doch erst mal gemütlich“, schlug Justin vor. Sie überließ ihm ihren Mantel, den er sorgsam über die Seite eines der Regale hängte. Von Kleiderhaken oder Garderobeständern schien er wohl bei seiner Inneneinrichtung nichts gehalten zu haben. Er wuchtete ihre Tasche neben das Sofa („Was hast du da drin? Deinen Lieblings-Ziegelstein?“), dann ließen sie sich aufs Sofa fallen. Daphne kickte ihre Schuhe von den Füßen und streckte alle Viere von sich. Der Flug von Chicago, wo sie inzwischen Medizin studierte, war zwar nicht lang gewesen, dennoch fühlte sie sich etwas geschlaucht.

„Willst du was trinken? Hab extra dein Lieblings-Bier besorgt. Oder möchtest du erst mal duschen?“ fragte Justin.
 

„Jetzt, wo ich meine Schuhe aus habe, fällt mir auf, dass ich wohl letzteres zunächst tun sollte. Ich muffe wahrscheinlich wie ein totes Bison – da kommt selbst dein Farb-Gestank nicht gegen an.“ Justin sagte dazu vorsichtshalber nichts. Sie raffte sich auf, wühlte in ihrer Tasche und verschwand dann im Bad.
 

Eine Viertelstunde später fühlte sie sich besser. Sie hatte einen dunkelroten Trainingsanzug aus Samt übergezogen, der bequem um sie schlabberte, und ein hellblaues Handtuch um den Kopf gewickelt, in das liebevoll in Schnörkelschrift „Justin“ gestickt war. Sie hatte es ihm vor Jahren geschenkt, als sie im Handarbeitsunterricht zu derart hausfraulichen Tätigkeiten genötigt worden war. Nun ja, beim Medizinstudium schadeten Kenntnisse mit der Nadel auch nicht, hatte sie feststellen können.
 

Justin hatte bereits das gekühlte Bier vors Sofa gestellt und einen Haufen Knabberzeug daneben aufgetürmt. Verfressen wie immer. Gott sei Dank waren sie beide ausgesprochen schlechte Futterverwerter.
 

„Mmm, hier fehlt doch was, hast du keine Glotze?“
 

„Ne, komm eh nie zum schauen, hab’s daher nicht vermisst. Nachrichten schau ich übers Internet.“
 

„Wo ist der Junge hin, der Nachmittage lang die hohlsten Seifenopern glotzen konnte?“
 

„Wo ist da Mädchen hin, das nie so rumlaufen wollte wie Paris Hilton?“ fragte Justin zurück und musterte vorwurfsvoll Daphnes modischen Anzug.
 

„Woher willst du denn das wissen?“ wunderte sich Daphne mit roten Ohren.
 

„Nachrichten“, grinste Justin breit.
 

„Soso, Nachrichten. Wahrscheinlich noch direkt vor den Meldungen aus Afghanistan, kommt ja immer das Wichtigste zuerst.“
 

„Erwischt!“ lachte Justin.
 

Sie öffneten die Bierflaschen und prosteten sich zu. „Auf New York!“ sagte Daphne. „Auf Paris Hilton!“ sagte Justin und beide lachten.
 

„Nun erzähl schon“, drängelte Justin, „wie geht’s dir als Frau Doktor in spe?“
 

Daphne nahm einen zünftigen Schluck aus der Flasche. Für eine so kleine Person hatte sie einen ordentlichen Zug drauf.
 

„Erst mal war’s mega-stressig. Ich musste einen Platz im Wohnheim finden, umziehen, mich einschreiben, meine Kurse buchen, Bücher ranschaffen und was noch alles… und zwar alles in einer Woche. Hatte ja nicht mehr damit gerechnet, dass ich noch einen der Stipendiums-Plätze ergattern würde, aber dann hat eine Woche vor Semesterbeginn jemand anderes abgesagt, und ich bin noch reingerutscht. Ich hab gesteppt vor Freude, aber dann ging‘s auch schon richtig los! Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, Studenten würden die ganze Zeit nur Koma-Saufen, durcheinander Ficken und lustige Drogenexperimente starten? Ich war schon heilfroh, wenn ich überhaupt zum Atmen kam und selbst da bin ich mir nicht so sicher!“
 

„Gerade trittst du den Beweis an, dass du offensichtlich auch ganz gut ohne Atmung auskommst“, bemerkte Justin grinsend in Hinblick auf Daphnes Redefluss.
 

„So bin ich eben, ein Wunder der Natur“, antwortete Daphne augenrollend.
 

„Naja, inzwischen hab ich mich ganz gut eingewöhnt. Hatte Glück mit meiner Mitbewohnerin, Barbie ist echt locker drauf!“
 

„Deine Mitbewohnerin heißt Barbie? Wer bist du denn dann, Skipper?“ prustete Justin.
 

„Nun mach dich nicht lustig, für die idiotischen Ideen seiner Eltern bei der Namensgebung kann man ja nichts… Aber eigentlich war der Name recht prophetisch, sie sieht echt ein bisschen Barbie-mäßig aus, die Typen stehen echt Schlange bei ihr!“
 

„Grauenhaft! Was für eine Verschwendung!“ Justin schüttelte sich gespielt.
 

„Hab dich nicht so, kann ja nicht jeder heiße Typ schwul sein! Ich will schließlich auch keinen Troll abbekommen!“
 

„Nun, für dich könnte man ja eine Ausnahme machen. Aber wirklich nur eine!“, warf Justin gnädig ein.
 

„Sehr großherzig von dir! Nun ja, das erste Semester war alles in allem zwar irre anstrengend – aber auf der anderen Seite aber auch total genial! Jeden Tag gab’s was Neues zu sehen, zu lernen, zu erfahren – mir rauscht jetzt noch der Kopf. Es war, als würde ich die ganze Zeit unter Strom stehen!“
 

Justin nuckelte an seinem Bier und nickte verstehend. Das Gefühl kannte er.
 

„Und ich denke darüber nach, ob ich mich nicht auf Fortpflanzungsmedizin spezialisieren sollte!“
 

„Du willst dein ganzes Leben lang jeden Tag in Mösen rumstochern? Mir wird übel. Dann werd doch lieber gleich lesbisch, soll einem angeblich viel Ärger ersparen.“
 

„Sei nicht immer so vulgär! Nein, ich will nicht „in Mösen rumstochern“, wenn ich dich zitieren darf. Ich will keine Gynäkologin werden. Mir geht es, wenn du so willst, um das Wunder des Lebens. Es ist unglaublich, wie Leben entsteht, wie es sich entwickelt. Wir wissen noch so wenig darüber, wie ein neuer Mensch entsteht! Und es geht mir auch darum, Leuten zu helfen, die dieses Wunder erleben wollen, denen die Natur aber bisher einen Strich durch die Rechnung gemacht hat!“ Daphnes Wangen röteten sich vor Aufregung.
 

Justin betrachtete sie nachdenklich. Daphne zeigte bei diesem Thema ein Feuer, das er so bei ihr noch nie gesehen hatte. Klar, sie hatte sich bisher für die eine oder andere Sache begeistern können – aber dieser heillose Enthusiasmus war neu.
 

„Das ist wirklich dein Ding, Daph“, sagte er ruhig.
 

Sie lächelte und strahlte dabei. „Ja, das ist.“
 

Justin stand auf und holte zwei neue Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Er weckte seinen Laptop aus dem Standby-Modus und schaltete eine Jazz-Kompilation an, die er vor ein paar Tagen hochgeladen hatte. Er war auf den Geschmack gekommen, die Musik entspannte ihn, störte ihn aber auch nicht beim Malen, half ihm vielmehr, sich zu versenken. Er reichte Daphne, die sich in der Sofaecke zusammengekuschelt hatte, eine der Flaschen und setzte sich wieder neben sie.
 

Daphne lächelte. „Jetzt hab ich dich aber die ganze Zeit mit meinem Kram voll gequasselt. Los, zeig mir deine neusten Geniestreiche!“
 

„Du bist doch das ganze Wochenende hier, lass uns mein bescheidenes Gekleckse doch lieber Morgen bei Licht anschauen…“
 

„Kommt nicht in Frage! Her damit, ich will was sehen! Vor mir wird nichts versteckt!“ Sie boxte ihm auffordernd in die Rippen.
 

„Aua, ich beuge mich deiner brutalen Art. Wie finanzierst du eigentlich noch mal genau dein Studium? Stipendium? Von wegen! So wie du um dich haust, machst du bestimmt gerade Karriere als Luxus-Domina!“
 

„Genau, Kleiner“, schniefte Daphne und setzte eine strenge Miene auf, „und jetzt sei gefälligst ein braver Junge, oder ich zeige Dir, wozu man deine Pinsel noch so alles benutzen kann…“ Sie zog drohend die Augenbrauen zusammen.
 

Justin brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Er grinste und sagte mit gespielter Furcht: „Alles, was meine Herrin befielt! - Und da behaupte einer, ich hätte eine dreckige Fantasie…“
 

„Stille Wasser sind tief“, erwiderte Daphne uns setzte eine Unschuldsmine auf.
 

Justin suchte nach einer der kleineren Leinwände, die er für die kommende Ausstellung bereits fertig gestellt hatte. Obwohl klein relativ war, sie maß ebenfalls mindesten eineinhalb Meter in der Höhe und zwei Meter in der Breite. Er wuchtete sie vorsichtig auf einen der Tapeziertische, die er als Arbeitsunterlage nutzte und richtete die Lampe auf sie aus.
 

Daphne war neben ihn getreten. Sie starrte auf das Bild.
 

„Jesus… Justin…“ flüsterte sie.
 

Justins Herz klopfte. Daphnes Reaktion ließ eine Welle des Glücks durch ihn strömen.
 

„Oh Gott, wirklich, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll… Ich hatte ja etwas Tolles erwartet, aber das…“ Sie wandte sich ernst blickend ihrem alten Freund zu. Er hielt den Kopf gesenkt, fast, als würde er sich schämen. Aber das Leuchten seines Gesichtes verriet zugleich, wie stolz er auf seine Arbeit war.
 

„Sind die anderen auch … so?“ Sie wies auf das abstrakte Gemälde, auf dem sich Farben und Formen in einer wilden ewigen Explosion zu umklammern schienen. Nichts Gegenständliches war zu sehen, dennoch zeigte es… alles.
 

Justin schüttelte den Kopf. „Nein, jedes Bild ist anders.“ Er schien sie nicht zu verstehen. Vielleicht war es nur Bescheidenheit.
 

„Wann ist die Ausstellungseröffnung?“
 

„Bald schon, am 6. August. Mel und Linds wollen mit Gus kommen.“
 

„Das ist schön! Was ist mit Brian?“ fragte sie vorsichtig.
 

Justin senkte nur erneut den Kopf und schüttelte ihn leicht verneinend.
 

„Es muss so sein. Bitte frag nicht Daph.“
 

Ihr brannten tausend Fragen auf der Seele. Über die Jahre war sie immer Zeugin Justins turbulenter Beziehung zu dem älteren Mann gewesen. Sie wusste, dass die beiden, allen anderen Behauptungen zum Trotz, in ihrem Inneren eng verbunden waren und dies wahrscheinlich auch immer bleiben würden. Sie wusste nicht ganz, was es war, denn sie hatte etwas Derartiges bisher nicht selber erlebt. Sie war auch nicht sicher, ob sie das wollte, angesichts des Leids, das Justin deswegen hatte ertragen müssen. Aber sie erinnerte sich auch daran, wie unglaublich glücklich ihr Freund andererseits auch immer wieder gewesen war. Zwei Seiten einer Medaille. Was auch immer da gerade vor sich ging – Justin würde mit ihr darüber sprechen, wenn er sie brauchte, weil er ihr vertraute wie sie ihm. Wenn er nicht darüber sprechen wollte – so würde sie das geduldig akzeptieren und ihn zu nichts zwingen.
 

Justin hob das Bild wieder zur Seite und deckte es vorsichtig ab. „Die anderen zeige ich dir Morgen, okay?“ Er wirkte plötzlich müde.
 

„Klar“, sagte Daphne nur. Sie setzten sich zurück aufs Sofa. „Und sonst so?“ versuchte sie ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Schon die Christopher Street unsicher gemacht?“ Sie grinste ihm verschwörerisch zu.
 

Er sah sie an, als wisse er gar nicht, von was sie rede, oder als sei ihr gerade ein drittes Auge gewachsen. „Was? Äh, nein, wozu?“ kam es aus ihm heraus gepurzelt.
 

„Wozu? Muss ich dir jetzt die Geschichte von den Bienchen und den Blümchen – oder vielmehr die von den Bienchen und den Bienchen erzählen? Glaub mir, in Hinsicht auf meine Karriereziele bin ich da schon recht gut drin!“ Justin wurde jetzt endgültig rot. Hatte sie es sich doch gedacht. „Gehst du überhaupt aus dem Haus, außer um zu arbeiten oder einzukaufen und machst mal so etwas Abartiges, wie – ich weiß nicht – mit anderen Menschen zu reden?“ „Daph…“, wich er aus, „ich stecke wirklich bis zum Scheitel in Arbeit, die Ausstellung ist schon so bald…“ „Und davor? Und danach? Oder willst du dir lieber eines Tages ein Ohr absäbeln, um dann als irres Genie in die Annalen der Kunstgeschichte einzugehen? Ach ja, das gab’s ja schon! Wie wär‘s dann mit deinem Schwanz, den scheinst du neuerdings wohl dann auch nicht mehr zu benutzten.“
 

Justin starrte sie entgeistert an. Seine Nasenflügel bebten. „Also, falls du damit andeuten willst, dass ich lebe wie ein Eunuch…!“ „Ach“, unterbrach sie ihn, „ich glaub dir gerne, dass ihr viel Spaß habt, du und Mr. Buttplug und Mr. Dildo und Mr. – so genau kenn ich mich da nun auch wieder nicht aus.“ Justin sah aus, als würde er gleich im Boden versinken. Das war wohl ein Volltreffer gewesen. „Natürlich habe ich… Bedürfnisse. Aber meine Kunst zehrt aus derselben Quelle wie… meine Lust…“, würgte er hervor. „Da bleibt einfach nicht viel übrig. Und ob ich mit irgendeinem namenlosen Arsch im Darkroom rummache oder mit Mr. Buttplug, da sehe ich keinen Unterschied. Außer vielleicht den, dass ich Mr. Buttplug mehr Vertrauen entgegen bringen kann und er nicht versucht, mir die Ohren voll zu quatschen oder mich mit Filzläusen anzustecken.“
 

Unwillkürlich musste Daphne kichern. „Aber was ist mit deinem Abenteuergeist? Raus gehen, die Welt entdecken – deswegen bist du doch nach New York gegangen, oder?“ „Aber das tue ich doch“, er zeigte auf die an der Wand lehnenden Leinwände. „Das tue ich doch“, wiederholte er ruhig und atmete tiefdurch. „Das, was du vorhin gesehen hast, das kann ich nur hier, nur… so. Das ist meine Welt. Und ich weiß die Vorteile der Stadt durchaus zu nutzen. Ich gehe in Museen, wenn Geld übrig ist, auch ins Kino oder ins Theater oder in ein Konzert. Ich genieße das wirklich sehr. Es ist, als könnte ich so meinen Akku wieder aufladen, bis es beim Malen wieder aus mir herausströmt. Das ist wohl… Inspiration, wenn du so willst. Nichts Rationales.“
 

„Wann hat dich das letzte Mal jemand umarmt?“ fragte Daphne und blickte Justin direkt in die Augen. Er zwinkerte, sah aber nicht weg.
 

„Vorhin, du, das weißt du doch.“
 

„Und davor?“
 

Justin schwieg.
 

„Komm her, du Trottel“, sagte sie und streckte ihre Arme aus. Zunächst war er

angespannt, dann lockerte er sich und lehnte gegen sie. Sein Kopf lag auf ihrem Bauch, während sie ruhig seine Haare streichelte. „Justin“, sagte sie zärtlich, „das geht so nicht, du gehst mir hier ein wie eine Topfpflanze, die kein Wasser bekommt. Inmitten von Abermillionen Leuten vereinsamst du. Du musst raus, Leute finden…“ „Ich habe Leute, ich muss niemanden finden“, murmelte er mit geschlossenen Augen. „Ja, du hast Leute. Aber nicht hier. Wenn du keine neuen kennenlernen möchtest, dann musst du dich wohl an die alten halten. Fahr doch mal wieder nach Pittsburgh und besuche deine Mutter, triff dich mit Debbie und Emmet…“ „Nein, nicht Pittsburgh, ich kann da jetzt noch nicht wieder hin“, wehrte er ab. „Na gut, dann lad sie ein. Was ist mit Lindsay und Melanie? Wollten die dich nicht besuchen kommen? Besuch sie doch auch, komm mal raus aus deinem Trott für ein paar Tage. Ich bin mir sicher, sie würden dich gerne bei sich haben.“ „Mmmhh…“, stimmte er ihr zu. Sie lagen da, eng beieinander, vertraut, nah. Irgendwann wurde Justins Atmung tiefer, er war eingeschlafen. Daphne betrachtete ihn noch lange nachdenklich und hörte nicht auf, beruhigend durch die weichen blonden Strähnen zu fahren.

Gefickt vom Leben

VI. Gefickt vom Leben
 

Michael konnte seine Augen einfach nicht abwenden. Ben hatte seine Arme von hinten um ihn geschlungen und drückte ihn an seine breite Brust. Michael konnte das Herz seines Ehemannes ruhig gegen sich schlagen spüren. Er konnte nicht anders, ein breites Lächeln stahl sich über sein ganzes Gesicht. Vor ihnen im Kinderbettchen lag Jenny, die kleinen Fäustchen geballt, und schlief, tief in die neue Superheldinnen-Bettwäsche gekuschelt. Über ihr im Dunkel des Kinderzimmers wippte ein Mobile, das Hunter für seine kleine Schwester im Handwerksunterricht in der Schule gesägt hatte. Es zeigte nur einfache Formen, einen Mond, ein Auto, ein Herz, und war etwas schief, aber das zählte nicht. Hunter hatte von sich aus etwas für einen anderen Menschen getan, hatte die offene Hand sozusagen nach Jenny ausgestreckt. Michael war stolz auf ihn. Eine kleine Geste – aber von großer Bedeutung für den so häufig, gerade von Familienmitgliedern, verletzten Jungen. Ein Stückchen Normalität.
 

Durch Michael floss etwas, der Augenblick hielt ihn völlig gebannt, er war… glücklich. Er wünschte sich, es könnte immer so bleiben. Er atmete Bens warmen Duft ein, hörte Jennys schlaftiefen Atem, blickte auf Hunters Mobile – und war glücklich. So glücklich, dass es nicht mehr besser sein konnte als jetzt. In diesem Augenblick. Sein Herz quoll über vor Liebe für seine Familie. Wenn doch Jenny immer bei ihnen bleiben könnte…
 

Brian mochte spotten, soviel er wollte. Er hatte ja keine Ahnung. Seine Unmengen Kröten auf der Bank war ein Nichts gegen das, was Michael besaß.
 

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„Schnell, schnell, nun mach doch, Emmet, beeil Dich!“ Debbie hüpfte beinahe vor Aufregung auf dem Sofa.
 

Emmet hastete durch den Raum, dass sein plüschbesetzter Bademantel nur so flatterte. Er schnappte sich das Telefon und raste zurück zur Coach. Debbie riss ihm den Hörer förmlich aus der Hand. „Den Ring! Ich will den Ring – bin ich noch rechtzeitig?“ brüllte sie in den Hörer. Die Leute vom Homeshopping-Kanal taten Emmet fast leid – andererseits konnte er sich durchaus vorstellen, dass Debbie ihrer üblichen Zielgruppe entsprach.
 

Die beiden hatten beschlossen, sich einen faulen Montagmorgen zu gönnen. Beide hatten sie das ganze Wochenende hindurch gearbeitet. Emmet hatte eine Taufe und eine kirchliche Hochzeit zu händeln gehabt, Debbie hatte sich zu einer Extraschicht im Diner breitschlagen lassen.
 

Nun standen ein großer Eimer Popcorn und eine Schale Schokoladenkekse vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch, sie hatten sich in ihre elegantesten Morgenmäntel und ihre extravagantesten Hauspantoffeln geschmissen und genossen das morgendliche Fernsehprogramm. Carl hatte vor einer Stunde kopfschüttelnd das Haus verlassen und war zur Arbeit gefahren, aber nicht ohne Debbie einen liebvollen Kuss zugeben und ihr etwas ins Ohr zu flüstern, das Debbie mit einem heiseren Lachen und einem „Komm du mir mal nachher nach Hause, dann werden wir ja sehen, du Tiger!“ quittiert hatte. Nun, Emmet würde es im Zweifelsfalle zumindest hören, wenn er sich nicht noch schnell eine aushäusige Abendbeschäftigung suchte.
 

Emmet räkelte sich auf seiner Seite den Sofas und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Kaffeebecher. Debbie musterte ihn. „Du siehst müde aus, Schatz“, sagte sie. „Ach Debbie, du weißt ja, die Arbeit ruft und the show must go in. Es ist kein einfacher Job, immer fabelhaft zu sein, aber man muss ja Ziele haben im Leben“, antwortete er und klimperte dabei unterstreichend übertrieben mit den Wimpern. „Ja, da hast du wohl recht, mein Hase! Aber heute gönnen wir uns mal was!“ Sie reichte ihm die Kekse und Emmet schnappte sich nach einigem Zieren den dicksten. „Da werd ich mir aber die Füße wundtanzen müssen beim nächsten Ball des Prinzen, damit das nicht direkt auf der Hüfte landet!“ quetschte er mit vollem Mund heraus. „Ach, Emmet, sieh mich an…“ „Debbie, du siehst großartig aus. Und außerdem hast du doch schon deinen Prinzen!“ „Was beweist, dass man weder dünn noch jung sein muss, um einen zu finden“, konterte Debbie und hielt ihm erneut die Kekse vor die Nase. „Mmm, einen noch“, mampfte Emmet und musste an George senken. Ihm wurde warm ums Herz. George war ein guter Mensch gewesen, er hatte ihn aufrichtig geliebt, trotz all der Unterschiede zwischen ihnen. George hatte nie auf ihn herab gesehen, war ihm immer mit Achtung begegnet – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die eine solche Haltung nur heuchelten. Die Heuchler waren die Schlimmsten. George war wahrhaftig gewesen. Emmet war sich sicher, dass George aus dem Himmel immer voller Liebe und Großherzigkeit auf ihn herabsah. Dieser Gedanke hatte ihm auch in seinen dunkelsten Stunden Trost gespendet.
 

„Und was ist bei dir? Mal wieder ein Traumprinz in Sicht? Oder trauerst du immer noch diesem Football-Arschloch hinterher?“ fragte Debbie und machte sich über das Popcorn her. „Nö, das Leben geht nun mal weiter. Versteh mich nicht falsch, ich hatte Drew sehr gern. Hab ich auch immer noch. Aber Reisende darf man nicht aufhalten. Und ich bin wirklich der letzte, der es ihm vorwerfen darf, dass er sich jetzt erst mal ordentlich austobt, nachdem er aus dem Schrank ist. Aber daneben stehen und zusehen und warten, dass er sich endlich für mich entscheidet, nicht mit mir – ich bin kein Teenager, das tu ich mir nicht an.“ Fix langte Emmet nach einem weiteren Keks. Er konnte ja heute Abend, wenn Carl drohte zurück zu kommen, ein oder zwei Stunden ins Fitness-Studio… „Du denkst an Justin?“ fragte Debbie. „Ist mir immer noch ein Rätsel, wie er Brian so lange ausgehalten hat.“
 

„Er hat ihn geliebt. Und auf seine verquere Art hat Brian ihn auch geliebt“, antwortete Debbie sanft. „Tolle Liebe, in der man ständig durch seine Rumfickerei nicht nur die eigene, sondern auch die Gesundheit, das Leben, der geliebten Person riskiert. Ich bin nun wirklich kein Kind von Traurigkeit“, Emmet wies mit der freien Hand über seinen schlanken durchtrainierten Körper, „aber durch die Betten zu springen und dabei die Gefahr nur für sich selbst zu tragen ist eine Sache. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich so Georgie, Ted oder Drew auch nur mit Filzläusen angesteckt hätte! Es geht auch um Vertrauen. Um Hingabe. Und die lässt sich nicht teilen, wenn man liebt. Auch nicht beim Sex.“ „Du bist ein guter Junge, Emmet“, sagte Debbie lächelnd und kniff ihm sanft in die Wange, „aber die Menschen sind unterschiedlich. Und soweit ich das mitbekommen habe, war Justin auch nicht gerade die Treue in Person.“ „Er war jung, er hatte, genau wie Drew das Recht, Dinge auszuprobieren. Aber ich bezweifle, dass er Brian wirklich in diesem Maße mit anderen teilen wollte. Ich glaube, einiges hat er nur um Brians willen getan – und das ist eine ganz falsche Grundlage! Brian war sein Erster, er hat ihn sich – verzeih den Ausdruck – zugeritten. Justins Welt drehte sich lange Zeit nur um Brians Bedürfnisse, die er zu seinen eigenen erklärt hat!“ „Ich weiß nicht, Sonnenschein hatte auch ganz schön Haare auf den Zähnen. Der Begriff von Beharrlichkeit bekommt bei ihm eine ganz neue Bedeutung. Er ist nicht immer nur nach Brians Pfeife gesprungen, gerade das hat Brian an ihm auch so fasziniert, denke ich. Und vergiss nicht, Brian war bereit, für ihn das alles aufzugeben. Und dann ist er abgehauen, der kleine Scheißer!“ „Nicht, dass ich das nicht verstehen könnte… Aber du hast recht, er hat Brian ganz schön gefickt.“ „Was?“, fuhr Debbie verdattert auf. Emmet musste kichern. „Im übertragenen Sinne Debbie… obwohl, wer weiß?“ „Justin toppt Brian? Wenn Schweine fliegen, vielleicht.“ Sie kicherte bei dem Gedanken. „Oh, ich weiß nicht, ein Vögelchen aus dem Darkroom hat mir gezwitschert, dass Justin bei anderen Kerlen ganz schön rangegangen ist.“ Das musste Debbie erst mal sacken lassen. „Aber Brian…? Niemals.“ „Wieso bist du dir da so sicher?“ „Weil Brian, bei aller Liebe, ein verdammter Kontrollfreak ist, der Zeit seines Lebens arge Probleme damit hatte, sich anderen zu öffnen, zu vertrauen und sich hinzugeben. Und genau das würde es für ihn bedeuten, wenn er mal die Beine breit machen würde.“ „Quatsch, Debbie. Du bist zwar die Königin unter den Schwulenmuttis, aber lass dir von einem Bottom, der ganz schön rumgekommen ist, sagen, dass beim Sex der Passive zu sein keinesfalls immer ein Liebesbeweis ist.“ „Ich bin auch nicht völlig vom Mars! Ich denke nur, dass es das für Brian, Mr. Oberhengst, wäre.“ Emmet rollte die Augen. „Ein weiteres Rätsel des Universums, das wir vielleicht nie lösen werden… Gib mir doch noch einen von diesen göttlichen Schokokeksen!“

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Ted war euphorisch. Auf dem Weg in die Firma, die gediegene braune Aktentasche unter den Arm geklemmt, pfiff er seine Lieblingsarie aus La Traviata. Seine – und Blakes. Sie hatten es in den letzten Wochen langsam angehen lassen. Sich hin und wieder getroffen, geredet, waren zusammen in Konzerte gegangen und sich Stück für Stück wieder näher gekommen. Außer einem Abschiedskuss war zwischen ihnen nichts gelaufen, aber Ted hatte gefühlt, wie aus der Zögerlichkeit tiefe Wärme für den anderen Mann wuchs, die nicht zurück gewiesen wurde. Und gestern Abend, als Ted sich auf die gewohnte Weise von Blake nach einem gemeinsamen Abendessen hatte verabschieden wollen, hatte dieser ihn erneut geküsst, und diesmal war es anders. Ihre Münder hatten sich getroffen, und diesmal war ein richtiger, ein tiefer, nicht enden wollender Kuss daraus entstanden. Ein Kuss zwischen Liebenden. Sie hatten sich aneinander geklammert, alle Befangenheit war von ihnen gefallen. Atemlos hatte Blake seine Nase gegen Teds gedrückt und in sein Ohr geflüstert: „Willst du mich?“ Und Ted wollte ihn. In mehr als nur einer Hinsicht. Ted Körper vibrierte noch immer von den Empfindungen der Nacht. Zum ersten Mal waren sie wirklich beieinander gewesen, keine Drogen, keine Schuldgefühle. Nur sie. Wenn das due Liebe war – dann war sie wundervoll.
 

Ted schloss die Eingangstür von Kinnetic auf und lief federnden Schrittes durch den breiten Flur. Er warf die Kaffeemaschine an, während er vor sich hin träumte, und füllte zwei Becher. Die Erfahrung hatte erwiesen, dass es weitaus gesünder war, einen heißen Kaffee in den Händen zu halten, wenn man den Boss morgens auf seinem Sofa wach rüttelte.

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Brian konnte ihn spüren. Tief in sich drin. Er keuchte, bäumte sich auf. In seinem Kopf herrschte nur weißes Rauschen. Oh, ja, ja, ja, gib mir mehr!... Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er wollte sie abschütteln. Waren sie im Darkroom? Auf irgendeiner Orgie? Egal, wer auch immer es war, der ihn da von der Seite betatschte, sollte sich verpissen… Er schlug abwehrend nach der Hand, die seinen Rausch störte. Sie zog sich kurz zurück. Dann war sie wieder da. Penetranter Pisser, konnte der nicht sehen, dass er beschäftigt war?
 

„Brian? Brian? Wach auf, es ist fast Sieben. Ich hab‘ dir einen Kaffee mitgebracht.“
 

Der starke Geruch des Heißgetränks drang in Brians Nase. Was zum Teufel ging hier vor? Er fasste nach Justin, aber da war nur noch Luft. Gequält schlug er die Augen auf. Ein strahlender Ted in akkurat gebügeltem Anzug blickte auf ihn herab und hielt ihm eine Kaffeetasse unter die Nase. „Was zum Geier willst du?“ raunzte Brian ihn an. Aber Ted ließ sich nicht beirren. Er war die Launen seines Bosses zu sehr gewohnt, um sie noch völlig ernst nehmen zu können. Brian musste man mit Samthandschuhen anfassen – aber dennoch mit eisernem Griff. „Los, hier, dein Kaffee, rein damit.“
 

Ächzend zog sich Brian vom Sofa hoch und entblößte dabei seinen Victoria’s Secret for men-Schlafanzug aus dunkelgrüner Seide. „Brian hat einen Schlafanzug?“ dachte Ted baff. Das musste eine Weltpremiere sein. Aber immerhin verband dieses Modell die für Brian wesentlichen Attribute sauteuer und dennoch irgendwie schlampig. Brians Morgenlatte war nicht zu übersehen. „Na, gut geschlafen, Boss?“ fragte Ted unschuldig mit einem amüsierten Unterton. „Bis du kamst, wie ein Lämmlein“, giftete Brian und kippte den Kaffee in sich rein. „Du hast in einer halben Stunde ein Treffen mit den Typen von dieser Boutique-Kette aus New Jersey“, erinnerte ihn Ted trocken. Auch Brians üblich muffelige Art und seine tyrannischen Allüren konnten ihm heute nicht den Tag verderben.
 

Auf nackten Füßen tapste Brian ins Bad und hielt seinen immer noch halbsteifen Schwanz mit einem erleichterten Seufzten über die Kloschüssel. Das hier war seine Firma, da wurde nicht im Sitzen gepinkelt. Es versuchte den Phantom-Justin abzuschütteln, der ihn immer noch aus der Welt der Träume zu sich rief.
 

Was zum Geier war das denn für ein Traum gewesen? Er hatte sich von Justin ficken lassen und war dabei ausgerastet wie der schlimmste dauerfiepende Bottom. Er war doch nicht Emmet, verfluchter Mist! Anscheinend war er auf dem besten Wege, endgültig seinen letzten Rest an Würde und Verstand zu verlieren. Das war bestimmt Schuld dieser miesen Lesben und ihrer Erpressungstour. Er hatte sich halb zu Tode gefreut, dass sie ihm Gus für ein paar Tage überlassen wollten. Nach seinem Schlüsselbeinbruch beim Liberty-Ride, nach der überstandenen Krebserkrankung hatte er sich geschworen, Gus der Vater zu sein, den er verdient hatte.
 

Bei dem Gedanken an seinen Sohn zog sich alles in ihm zusammen. Er liebte ihn, warum auch immer. Gus hatte nichts getan, nichts gesagt – aber er liebte ihn. War wahrscheinlich die Scheiß-Biologie, Vater-Hormone, Atavismus aus der tiefsten Steinzeit. Egal. Und dann verlangten sie von ihm, ausgerechnet in diesem Zeitraum, in dem die wichtigsten Aufträge liefen, endlich mal Papa zu sein. Waren sie auf den Gedanken gekommen, ihn erst mal zu fragen, bevor sie ihn vor vollendete Tatsachen stellten und ihn aussehen ließen wie den letzten Rabenvater? Hatten sie beim Mösenlecken wahrscheinlich kurzfristig vergessen. Aber wenn er Kohle rüber rücken sollte, da waren sie zeitlich immer ausgesprochen flexibel…
 

Gut, das war ungerecht. Aber manchmal fragte er sich, ob er die Rechte an Gus doch zu leichtfertig aufgegeben hatte. Nein, Gus wäre nie geboren worden, wenn Linds und Mel sich nicht ein Kind gewünscht hätten. Er war nur der Samenspender… oder?
 

Und – hau endlich ab Justin! Lass mich in Ruhe! Nimm deinen Scheiß-Schwanz aus meinem Arsch! Wie kommst du überhaupt dazu, ihn mir reinzustecken? Du bist der Bottom, schon vergessen? Nun ja, bis auf eine Ausnahme. Aber da war Justin ziemlich angeschlagen gewesen. Als er Brian fragend in die Augen gestarrt hatte, da hatte er aus einer Laune heraus ja gesagt? Aus einer Laune? Nicht nur. Justin hatte ihn gebraucht. Und ein kleiner Teil von ihm war neugierig gewesen. Was hatte Justin von ihm gelernt? Wie fühlte es sich an? Es war solange her gewesen…
 

Als junger Mann, hatte er sich zunächst manchmal nehmen lassen, aus Experimentiergeist größtenteils, aber auch, weil Erfahrenere es von ihm gefordert hatten und er keine Antwort gewusst hatte. Zumeist hatte es in erster Linie weh getan. Einige waren technisch so gut, dass es auch ihn kurzfristig erregt hatte. Aber es war seine Sache nicht gewesen. Er wollte die Kontrolle nicht abgeben, so… ausgeliefert sein.
 

Und Justin war gut gewesen. Er hatte die Zähne zusammen beißen müssen, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr ihm gefiel, was Justin mit ihm machte. Irgendwie hatte es ihn obendrein total angemacht, sich, dunkel, groß und kräftig, wie er war, unter diesem biegsamen, fragilen Blonden zu winden.
 

Sie hatten es nie wiederholt.
 

Justin hatte ihn zwar noch ein paar Mal herausgefordert, aber er hatte es nie wieder zugelassen. Er war der Top. Wenn Justin aktiv sein wollte, musste er sich das woanders holen. Brian musste an den King of Babylon-Wettbewerb denken. Oh ja, Justin hatte es sich geholt. Und das war nicht immer angenehm gewesen. Und er hatte andere Wege gefunden, Brian zu dominieren. Er hatte ihn geritten, bis ihm Hören und Sehen verging. Sein Schwanz mochte in Justins Arsch gewesen sein – aber Justin hatte das Kommando gehabt. Und es war geil gewesen.
 

Er seufzte und zog die Klospülung. Und nun fickte Justin ihn in seinen Träumen. Er war wirklich sowas von gefickt.
 

Scheiß-Leben.

Killertoiletten

VII. Killertoiletten
 

„Um Himmels willen, nun fahr doch endlich, du Depp!“ pöbelte Mel von der Rückbank stellvertretend für den Taxifahrer den Wagenbesitzer vor ihnen an. Um sie herum erschallte ein Hupkonzert, das selbst für New Yorker Verhältnisse ungewöhnlich war. „Ganz ruhig, Schatz“, versuchte Lindsey sie vom Vordersitz aus zu bremsen. „Wir haben noch eine Stunde Zeit, das schaffen wir locker, kein Grund, sich aufzuregen.“ „Ich reg mich doch gar nicht auf“, grummelte Mel, „aber wenn das hier nicht bald mal voran gehe, dann garantiere ich euch, dann werde ich mich wirklich aufregen.“ „Dann Gnade uns Gott…“ seufzte Justin mit einem unterdrückten Grinsen. „Na Gus, willst du mal sehen, wie Mami sich in Godzilla verwandelt?“ wandte er sich an den Jungen, der zwischen ihnen auf der Rückbank saß. „Dann wirft sie mit Autos und tritt Gebäude platt.“ „Mama kann sowas“, antwortete Gus ernst, wobei nicht ganz klar war, ob er das in kindlicher Gutgläubigkeit sagte oder, um sich einen Spaß mit ihnen zu machen. Gus war klug und hatte einen Sinn für Humor, der sich mit jedem Tag mehr bemerkbar machte. „Huch, unser blondes Kunstwunder wird frech… Ich kann mich noch erinnern, dir die Windeln gewechselt zu haben – als wäre es gestern gewesen… Und schon riskiert er eine dicke Lippe!“ foppte Melanie ihn zurück. Justin lächelte strahlend.
 

Seine Ausstellungeröffnung war großartig gelaufen. Er war fast gestorben vor Aufregung, hatte es aber geschafft, seinen Charme einigermaßen spielen zu lassen, während er zwischen New Yorker Kennern und Sammlern hin und her gereicht worden war. Hoffte er zumindest. Er hatte sich bemüht, sich alle Namen zu merken, doch musste rasch feststellen, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen war. Es war wie eine Woge gewesen, die über ihn hinweg schwappte. Umso froher war er gewesen, dass Melanie, Lindsay und Gus gekommen waren, um ihn anzufeuern und zu unterstützen. Lindsay hatte ihn auf die Wange geküsst und ihm ins Ohr geflüstert, wie stolz sie auf ihn sei. Auch Melanie zeigte offene Begeisterung, auch wenn sie es weit von sich wies, eine Kunstexpertin zu sein. Gus hatte ihn gedrückt und ihm schüchtern gesagt, dass er Justins Bilder sehr schön fände. Ein wohlerzogenes Kind. Justin musste Lächeln. Wie rasch Gus heranwuchs. Er sah noch das kleine leise krähende Bündel vor sich, das er bei seiner Geburt gewesen war. In jener Nacht… Er verdrängte den Gedanken.
 

Die Galerieleitung hatte ihn heute Morgen informiert, dass sie für seine Bilder eine ganze Reihe von Angeboten bekommen hätten. Sie würden jetzt mit den Interessenten über die Preise verhandeln und ihn dann informieren, dass er sein okay zu den Transaktionen geben könne. Sie hatten desweiteren durchblicken lassen, dass sie an einer längerfristigen Zusammenarbeit mit ihm interessiert seien. Justin musste tief durchatmen. Ein ständiger Vertrag mit einer der renommiertesten Galerien New Yorks – er musste sich kneifen, damit er glauben konnte, dass das die Wirklichkeit sein sollte. Vor seinem inneren Auge entstanden Visionen von Auftritten auf den großen Ausstellungen für aktuelle Kunst… die Art Miami-Basel, die Documenta… Aber er sollte besser nicht größenwahnsinnig werden, das konnte er sich für die Zeit aufheben, wenn er wirklich so erfolgreich geworden war, wie er es sich erträumte. Ein hartes Stück Arbeit lag vor ihm, das wusste er. Aber ein Anfang war gemacht und der war ihm auch nicht einfach so in den Schoß gefallen.
 

Nun wollte er sich aber endlich ein paar Tage Auszeit bei den Frauen und Gus in Kanada gönnen, wie Daphne es ihm nahe gelegt hatte. Es war vielleicht ganz gut, mal ein bisschen Abstand zu gewinnen, sich neu zu sortieren und mit seinen Freunden zusammen zu sein, bevor er sich erneut ins Gefecht stürzen würde. Er freute sich schon darauf, eine neue Stadt kennen zu lernen. Und ehrlich gesagt war New York im Hochsommer nicht gerade der angenehmste Ort auf Erden. Seine Kleidung klebte ihm schon jetzt am Leibe, dabei war es noch Vormittag, die richtige Hitze würde noch kommen. Er verfluchte sich, seine helle Sommerjacke angezogen zu haben, bevor sie ins Taxi stiegen. Im klimatisierten Flughafenbereich und im Flieger würde er ohne frieren, das wusste er – aber er hätte sie ja auch solange oben in seiner Reisetasche deponieren können.
 

Endlich löste sich das Verkehrschaos um sie herum auf. Der Taxifahrer gab sein bestes, sie durch den brausenden Verkehr in Richtung Flughafen zu befördern. Was wohl weniger an Melanies giftigen Bemerkungen als vielmehr an Gus‘ kulleraugigem Blick lag. Mit quietschenden Reifen bremste er schließlich im Haltebereich vor dem Terminal ab. Lindsay bezahlte hastig, während die anderen die Taschen aus dem Kofferraum klaubten. Sie sausten los. Glücklicherweise war der Eincheck-Schalter nahe und die Schlange kurz, so dass sie rasch ihre Bordkarten in der Hand hielten und das Gepäck los waren. Lindsey und Melanie hatten jede einen riesigen Koffer im Schlepptau gehabt, da sie zuvor zehn Tage auf den Bahamas genossen hatten. Sie waren braun gebrannt und wirkten glücklich und entspannt. Gus war von seiner Großmutter mit Geschenken überhäuft worden, so dass Justin, der nur seine Duffle Bag und eine kleine Tasche mit Handgepäck mit sich herumschleppte, seinen Koffer hinter sich her gezerrt hatte. Gus selbst hätte problemlos in dieses Ungetüm gepasst. Sie atmeten erleichtert auf und schauten auf die Uhr. Sie hatten noch zehn Minuten und standen bereits am Gate. Das war ja gerade nochmal gut gegangen. Melanie schaute auf ihre Bordkarten. „Mist, wir haben ja gar keine zusammenhängenden Plätze! Ich hab’s vergessen, danach zu fragen.“ „Ging wahrscheinlich nicht anders, wir waren ja spät dran“, warf Lindsay ein. Sie stellten fest, dass die beiden Frauen nebeneinander in der zweiten Reihe saßen. Gus und Justin hatte es zusammen ganz ans hintere Ende des Flugzeugs verschlagen. „Wir können ja tauschen, wenn wir an Bord sind“, schlug Justin vor. „Das wäre schön. Macht es dir auch nichts aus?“ fragte Lindsay. „Nein, kein Problem, wenn eine von euch neben Gus sitzen möchte“, winkte Justin ab.
 

„Ich muss aufs Klo“, sagte Gus. Lindsay nahm seine Hand und wollte mit ihm die Damentoilette ansteuern. Gus erkannte den Plan und machte eine Vollbremsung. „Nein“, stellte er klar, „ich will nicht aufs Mädchenklo!“ So reizend er auch auf den ersten Blick erschien – in ihm steckte auch eine gehörige Portion Dickköpfigkeit. Lindsay seufzte. Sie kannte ihren kleinen Sohn – er würde nicht locker lassen. Von wem er das wohl hatte… „Gus, entweder kommst du jetzt mit, oder du gehst nachher im Flugzeug. Aber das dauert noch eine Weile. Hältst du solange durch?“ Gus schüttelte vehement den Kopf. „Schon gut Linds“, half Justin, „ich geh‘ mit ihm“. Er wandte sich Gus zu. „Bereit fürs Männerklo, mein Großer?“ Gus nickte begeistert und legte seine Hand vertrauensvoll in Justins. „Aber beeilt euch, das Boarding läuft schon“, drängte Melanie. „Geht ihr doch schon mal vor. Geht einfach vorne rein und setzt euch auf eure Plätze. Gus und ich beeilen uns und kommen dann über den hinteren Zugang nach. Sobald der Vogel fliegt, tauschen wir die Plätze. Könnt ihr schon mal meine Tasche mit rein nehmen? Das Handy ist schon aus, okay?“ Lindsay zögerte kurz, stimmte dann aber zu. Sie nahm Justins Handgepäck. Justin steckte seine und Gus‘ Boardingkarte in die Jackentasche. „So, wir eilen wie der Wind… Komm Gus.“ Melanie schaute immer noch ein wenig zweifelnd. „Macht euch keine Sorgen“, lächelte Justin, „ich passe gut auf ihn auf. Ich versprech’s.“ Die beiden Frauen nickten und wandten sich zum Gehen. Justin lief mit dem stolz strahlenden Gus hinüber zur Männertoilette.
 

Justin half Gus, seine Kleidung wieder dorthin zu befördern, wo sie hin gehörte. Gus konnte zwar das meiste bereits selbständig erledigen, ein wenig Hilfe brauchte er aber dann doch, um wieder vorzeigbar auszusehen. Sie waren schnell gewesen. Es müssten immer noch mindestens fünf Minuten übrig sein, bevor das Boarding beendet war. Justin griff zur Klinke der Tür und wollte sie nach unten drücken. Perplex starrte er. Ein Zipfel seiner Stoffjacke hatte sich genau dort eingeklemmt, wo der Schließmechanismus war. Er drückte etwas kräftiger. Die Klinke senkte sich zwar ein kleines Stück, blockierte aber dann. Innerlich fluchend zog er die Jacke aus und zerrte. Es gab ein reißendes Geräusch, als der Stoff sich zerlegte. Ein Zipfel steckte immer noch im Türspalt. Justin drückte nochmal mit aller Gewalt gegen Klinke und Tür. Nichts tat sich. Es war eine massive Eisentür modernsten Designs, die mit Decke und Boden abschloss. Sie konnten nichts mal raus kriechen. Verdammter Mist. „Wer zum Teufel baut Toilettentüren, die jedem mittelalterlichen Verließ alle Ehre gemacht hätten?“ dachte er leicht verzweifelt. Gus stand dicht neben ihm. „Ist die Tür kaputt?“ fragte er etwas ängstlich klingend. „Scheint so“, musste Justin zugeben. „Aber wir müssen doch ins Flugzeug!“ rief Gus erschrocken. Justin beugte sich zu dem Kind herab und umarmte ihn beruhigend. „Ich weiß, Gus. Aber die doofe Tür ist wohl im Eimer. Wir warten jetzt ab, ob wir draußen wen hören, der wen holen kann, der uns hier raus holt. Ich versuch solange, die Tür auf zu bekommen, und du spitzt die Ohren, okay?“ Gus beruhigte sich etwas, war aber immer noch aufgeregt: „Aber das Flugzeug! Mama und Mama!“ „Es ist gut, Gus“, redete Justin auf ihn – und auch auf sich selbst – ein. „Auch wenn wir den Flieger verpassen, ist es nicht so schlimm. Wir sagen Mama und Mama dann Bescheid und nehmen einfach den nächsten. Nur wir beide. Das wird doch auch bestimmt sehr lustig!“ Gus schaute etwas zweifelnd. Justin verfluchte innerlich die Situation. Im Klo eingesperrt zu sein war nicht so lustig, wie es sich anhörte, stellte er fest.
 

Er nahm das Schloss unter die Lupe. Es war perfekt in das reduzierte Design integriert und bot rein gar keine Ansatzpunkte für Sabotage. Er versuchte es noch ein paar Mal mit Gewalt. Der verflixte Stofffetzten musste das Innenleben des Mechanismus völlig zerlegt haben. Die Tür hielt wie Pech und Schwefel. Justin schaute auf die Uhr. Sie waren bereits fünfzehn Minuten hier drin. Den Flieger konnten sie vergessen. Ob Linds und Mel gemerkt hatten, dass sie nicht an Bord waren? Ihre Plätze waren weit auseinander, sie würden es wohl erst in der Luft feststellen. Dummerweise lag der Waschraum, in dem sie sich befanden, an einem ziemlich toten Ende des Flughafens, es konnte dauern, bis sie jemand fand. „Mist“, sagte er halblaut.
 

„Das hab ich gehört! Mama Mel sagt immer Scheiße und Mama Lindsay sagt dann immer, dass es wenn schon „Mist“ heißt. Aber am besten soll man gar nicht fluchen, sagt sie.“ Justin hatte das dumme Gefühl, dass der Kleine ihn aufzog. „Ach, ich ärger mich nur, dass ich mein Handy nicht dabei habe, sonst könnten wir um Hilfe telefonieren.“ „Oh“, sagte Gus, griff in seine Jackentasche und förderte ein Gerät hervor, das entfernte Ähnlichkeiten mit einem Handy aufwies. Mit dem Handy von James Bond. „Was ist das denn?“ fragte Justin entgeistert. „Mein Papafon“, erklärte Gus stolz. Klar. Das war Brians Handschrift: seinem Sonnyboy das modernste, teuerste und edelste Handy zu spendieren, gleichgültig, ob das für ein Kind Sinn machte oder nicht. Ob Brian mal darüber nachgedacht hatte, was einem kleinen Jungen, der so ein Luxusteil arglos mit sich herum schleppte, alles passieren konnte? Justin ärgerte sich. Gleichzeitig war er erleichtert über dieses Göttergeschenk. Er ließ sich von der Auskunft zur Flughafenzentrale durchschalten und schilderte ihre missliche Lage. Zehn Minuten später erschienen ein paar Flughafen-Handwerker, weitere fünf Minuten später waren sie frei. Justin und Gus bedankten sich bei ihren maulfaulen Rettern, die sich schulterzuckend aus dem Staube machten. Justin hätte darauf wetten können, dass sie nicht die ersten Opfer dieser Killer-Toiletten gewesen waren. Von wegen „form follows function“. Justin raffte mit einem letzten Rest von Würde die kläglichen Fetzten seiner Jacke an sich.
 

Justin rief per Papafon auf dem Anschluss von Mel und Linds in Toronto an, schilderte ihrem Anrufbeantworter ihr Malheur und erklärte ihnen, dass sie mit dem nächsten Flieger nachkommen würden, wahrscheinlich schon in der Luft seien, wenn sie die Nachricht bekämen. Er wiederholte seine Nachricht noch zweimal jeweils auf dem Handyanschluss von Lindsay und Melanie, dann steuerte er mit Gus im Schlepptau den Schalter der Kanadischen Fluggesellschaft an, bei der sie ihre Tickets gebucht hatten. Er wies Gus an, so niedlich wie möglich aus der Wäsche zu schauen und tat selbst sein bestes. Gehörte schließlich zu seinen Königsdisziplinen. Der Frau von der Airline, in den mittleren Jahren und im adretten Kostüm ihrer Airline, schmolz binnen Sekunden das Herz bei ihrem Anblick.
 

„Ich werde tun, was ich kann für Sie und… ihren kleinen Bruder?“ flötete sie. „Neffen“, erwiderte Justin mit seinem schönsten Lächeln. „Oh, wirklich ein entzückender Junge! Sie können sich glücklich schätzen!“ „Das tue ich auch, ich bin dankbar über jeden Tag mit meiner Familie“, säuselte Justin. Die Frau bat sie, kurz Platz zu nehmen, während sie die Buchungslisten überprüfte, nicht bevor sie Gus einen Lutscher mit dem Logo ihrer Firma überreicht hatte. Als sie Justins Blick sah, überreichte sie ihm lachend auch einen. Justin wurde zwar ein wenig rot, schnappte ihn sich aber, ohne zu zögern. Gemeinsam schleckten sie an den bunten Zuckerdingern, während Gus Justin Geschichten von seinen Erlebnissen in New York erzählte. Offensichtlich hatte der Junge ein feines Gespür für Menschen. Die Schickeria-Freundinnen seiner Großmutter bezeichnete er jedenfalls sehr kreativ als „Tintenfisch-Hühner“. Justin konnte sich das sehr lebhaft vorstellen. Die Frau von der Fluggesellschaft kam mit einem seligen Lächeln zu ihnen hinüber und verkündete ihnen, dass sie es geschafft habe, sie gebührenfrei auf einen Flug umzubuchen, der in neunzig Minuten ging. Justin und Gus bedankten sich artig, immer noch an ihren Lutschern nuckelnd, und verabschiedeten sich von ihr.
 

Gott sei Dank hatte Justin sein Portemonnaie in der Gesäßtasche behalten, als er Lindsay sein Handgepäck überließ, so dass er mit Gus nun die nächste Filiale von Burger King ansteuern konnte. Zwar würde es auch Essen an Bord geben - aber die Flugzeugkost war noch lange hin und nicht gerade ein kulinarisches High Light. Gus freute sich wie ein Schneekönig. Justin ließ ihn schwören, ihn nicht bei seinen Müttern zu verpetzten, dass er ihn mit Junk Food vollgestopft hatte.
 

Gus erschien inzwischen versöhnt mit der Situation und schien das Ganze allmählich wie ein Abenteuer zu genießen. Sie futterten ein Durcheinander aus Frittiertem und krönten das Mahl mit einem mit Schokolade übergossenem Eis. Mit vollem Magen – hoffentlich würde es ein ruhiger Flug werden – steuerten sie Hand in Hand wieder den Wartebereich an.
 

Justin studierte die Flugübersicht auf dem Anzeigemonitor. Flug EZ25878 New York-Toronto – ihr Flug - : gestrichen. Nanu? Justin las stirnrunzelnd weiter. Flug EZ45686 New York-Toronto: gestrichen. Das wäre der nächste gewesen. Er rief die Verbindungen anderer Airlines auf. Jeder Flug nach Toronto erschien als gestrichen. Er machte auf dem Absatz kehrt und baute sich vor der Frau von der Fluggesellschaft auf. Sie telefonierte gerade. Ihr Gesichtsausdruck war merkwürdig. Sie wirkte… fassungslos? Sich sichtlich zusammen reißend trat sie vor ihn. „Ich lese auf dem Monitor, dass die Verbindungen nach Toronto allesamt gestrichen sind? Hören Sie, das ist wirklich ein Problem! Die Eltern dieses kleinen Jungen waren in dem Flieger, den wir verpasst haben. Sie machen sich bestimmt schon schreckliche Sorgen, wo wir geblieben sind. Können Sie mir sagen, was los ist und wann die Verbindung wieder aufgenommen wird?“ Die Frau starrte ihn an. Dann blinzelte sie. „Seine Eltern“, presste sie hervor, „waren in dem Flieger?“ „Ja, das sagte ich eben“, Justin bekam ein mulmiges Gefühl. Sie starrte ihn nur weiter an. Ihr Lächeln war wie weggeblasen. „Was ist los?“ fragte Justin. Etwas machte sich in ihm breit, das er nicht einordnen konnte. Er hatte einen Kloß in der Kehle. Er blickte zu Gus hinüber, der selig in einem Comicheft las, das er ihm gekauft hatte. Die Frau straffte sich wieder. „Setzten sie sich“, sagte sie sanft. „Warten Sie. Ich hole jemanden.“ Justins Pupillen weiteten sich.
 

Was zur Hölle war hier los?

Die kalte Kralle

VIII. Die kalte Kralle
 

Justin und Gus saßen aneinander gelehnt im Wartebereich des Flughafens. Sie studierten gemeinsam Gus‘ Comic. Der Junge erklärte Justin begeistert die Bilder und Justin lächelte zerstreut.
 

Was war hier los?
 

Die Frau von der Fluggesellschaft war verschwunden. Stattdessen hatten zwei andere Mitarbeiter der Firma ihren Posten übernommen und debattierten erregt mit den Reisenden, die sich über die entfallenden Flüge aufregten. Justin hörte sie mit einem halben Ohr: „Es tut mir leid, Sir… nein, ich habe leider noch keine Informationen… ich werde Sie sofort informieren, wenn ich etwas Neues weiß…“
 

Was in Dreiteufelsnamen war hier los?
 

An einem Durchgang weiter hinten erschien die freundliche Schalterbeamtin wieder. Neben ihr stand ein hoch gewachsener Mann, der bestimmt schon an die sechzig war. Sie redete leise mit ihm und wies dann hinüber auf Gus und Justin. Die beiden kamen näher. Justin sah ihren Gesichtsausdruck. Der Mann neben ihr trug die Tracht eines Priesters. Justin spürte Kälte in sich aufsteigen.
 

Oh Gott, was war hier los?
 

Er streichelte sanft Gus‘ dichtes braunes Haar. Die Frau trat auf sie zu. Ihre Augen blickten warm auf sie, aber zugleich auch voller Mitleid.
 

Justin hätte beinahe geschrien. Was war hier los? Was, um Gottes willen, war hier los?!!!
 

„Möchtest du noch einen Lutscher?“ fragte sie Gus freundlich. Gus sah freudig zu ihr auf und sagte höflich: „Das wäre sehr nett von ihnen.“ „Dann kommt doch mit – du und dein Onkel. Du bekommst einen Lutscher, und Herr Taylor kann sich mit Pater George unterhalten.“ Sie warf Justin einen beschwörenden Blick zu. „Ich soll nicht mit Fremden mitgehen“, sagte Gus. „Und wer ist Herr Taylor?“ „Das bin ich, Gus“, erklärte Justin vorsichtig. „Nein“, sagte Gus, „du bist doch Justin!“ Unwillkürlich musste Justin lächeln. „Da hast du recht. Ich bin Justin. Aber Taylor ist mein Nachname. So wie Peterson deiner ist.“ Gus verstand. „Taylor find‘ ich lustig. Du kannst doch gar nicht nähen!“ „Glaubst du“, antwortete Justin augenzwinkernd. Dann wandte er sich wieder den beiden Erwachsenen zu. „Wo wollen wir hin gehen?“ fragte er gepresst. „Die Fluggesellschaft hat die Treppe da drüben hinauf ein paar Vielflieger-Rückzugsräume. Das böte sich an“, sie schaute fragend. „In Ordnung“, erwiderte Justin. Er stand auf, obwohl er ein merkwürdig taubes Gefühl im ganzen Körper hatte. Wenn das hier nicht die dreisteste Entführung der Welt werden sollte, dann war etwas geschehen, das ihn jetzt schon mit Entsetzten erfüllte.
 

Nach einigem guten Zureden war Gus dann doch bereit gewesen, auf der Suche nach einem Lutscher mit der Frau von der Fluggesellschaft, als Anne Walters hatte sie sich vorgestellt, in den Nebenraum zu gehen. Justin saß in einer sterilen Sofaecke Pater George gegenüber. Dieser drückte ihm die Hand und stellte sich ihm noch einmal offiziell vor. „Ihr Junge?“ fragte er. „Nein“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Seine Eltern haben ihn mir anvertraut. Ich bin ein Freund… der Familie. Ich kenne ihn seit der Stunde seiner Geburt.“ Der Pater schwieg und sah ihm aus seinem runzeligen, aber dennoch merkwürdig jugendlichem Gesicht ernst an. „Bitte“, flüsterte Justin, „sagen Sie mir, was geschehen ist.“ Sein gegenüber schwieg ein paar Sekunden und ergriff seine Hand. „Das Flugzeug, das Sie verpasst haben, in dem die Eltern des kleines Jungen saßen… Es gab technische Probleme. Sie haben eine Notlandung versucht. Sie haben es nicht geschafft.“ Es wurde kalt im Raum. Die Wirklichkeit, wie Justin sie kannte, kippte aus den Fugen.
 

Nein, nein, nein, nein.
 

„Und… es gibt doch Überlebende? Verletzte?“ hörte Justin sich selbst fragen, als täte das ein Fremder. „Es tut mir schrecklich leid. Die Unfallstelle wird noch geräumt. Aber es sieht nicht gut aus. Bisher konnte niemand lebend geborgen werden.“
 

Das ist nicht wahr. Das kann einfach nicht wahr sein, weil es… undenkbar ist.
 

Ein Schluchzen stieg in Justins Kehle auf. Nein, halt. Er durfte nicht zusammen klappen. Er musste sich um Gus kümmern. Nur Gus zählte. Oh Gott, wie sollte er das dem Kleinen erklären? Dass er jetzt eine Weise war? Dass sein Leben, so wie er es kannte, aufgehört hatte zu existieren? Dass die Menschen, die er am meisten liebte, für immer gegangen waren? Er sah Mel und Linds vor sich, braun gebrannt, fröhlich, voller Liebe für ihre Kinder, wie sie noch vor ein paar Stunden gewesen waren. Justins Herz raste, er spürte, dass er begann zu hyperventilieren. Er konzentrierte sich darauf, seine Atmung zu normalisieren, was ihm leidlich gelang. „Was… was soll ich bloß Gus sagen?“ röchelte er hervor. Der Pater hielt immer noch tröstend seine Hand. „Die Wahrheit – so wie er sie verstehen kann. Ein Kind in seinem Alter hat noch kein Konzept vom Tod. Für ihn ist die Gegenwart unendlich. Sie müssen ihm deutlich machen, dass seine Eltern fort sind – aber dass sie ihn dennoch lieben und niemals freiwillig gegangen wären. Und dass Sie für ihn da sind, ihn lieben. Das tun Sie doch, oder?“ „Ja“, sagte Justin mit etwas festerer Stimme, „das tue ich.“ „Gibt es sonst noch jemanden, der ihm nahe steht?“ Justin stockte: „Seine Großeltern… seine Schwester, oh Gott, sie ist noch ein Baby… und… sein Vater.“ Der Pater schaute verwirrt, sagte aber nichts. Justin sah ihn an: „Gus hat… hatte… zwei Mütter. Eine gleichgeschlechtliche Ehe nach kanadischem Recht geschlossen. Die beiden saßen in dem Flieger. Gus wurde im Reagenzglas gezeugt. Ich hoffe, das ist kein Problem für sie.“ „Wie kommen sie darauf?“ fragte Pater George ihn erstaunt. „Weil es genug Leute gibt, die jetzt über Lindsay und Melanie sagen würden, dass sie das bekommen haben, was sie verdient haben. Dass Gott sie gestraft hat.“ „Das sind Menschen“, sagte Pater George ruhig, „nicht Gott. Welche Person würde Gus ihres Erachtens nach in dieser Situation sehen wollen?“ Justin musste nicht überlegen. „Seinen Vater.“ „Gut, dann holen Sie ihn her, so schnell es geht. Überfordern Sie Gus nicht mit zu vielen Personen zugleich. Und holen Sie sich auch Hilfe von den Menschen, die Sie lieben. In einer solchen Situation braucht jeder Mensch Nähe, Gemeinschaft, Trost.“ „In Ordnung“, sagte Justin wackelig. „Ich rufe jetzt Gus‘ Vater an. Dann fahre ich mit Gus nach Hause in meine Wohnung und rede dort mit ihm. Oh Gott! Gibt es irgendeine Kontaktadresse, bei der sich Angehörige nach dem Stand der Bergungsarbeiten erkundigen können? Ob vielleicht doch jemand… überlebt hat? Ich hinterlasse meine Telefonnummer!“ Pater George drückte seine Hand. „Ruhig. Machen sie einen Schritt nach dem anderen, gerade wenn es so schmerzhafte sind. Lassen Sie sich Zeit.“ Er überreichte ihm eine Visitenkarte. „Und rufen Sie mich an, wenn Die Beistand wünschen.“ Justin schüttelte sich, um das nach ihm greifende Grauen abzuwerfen und handeln zu können. Dann straffte er sich. „Ich danke Ihnen, Pater. Ich werde mein bestes tun, auch wenn es die Welt auch nicht wieder flicken kann.“
 

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Brians Handy vibrierte in seiner Hosentasche. Er war mitten in einem Meeting. Der Vertrag mit der Möbelhaus-Kette war so gut wie unter Dach und Fach. Ein dicker Fisch. Er würde sich den Hintern vergolden lassen können. Er grinste bei dem Gedanken. Schade nur, dass das niemand sehen würde… Er lugte auf das Display. Gus. Er lächelte. Egal, was los war, er würde seinen Sohn niemals einfach wegklicken. Besonders nicht jetzt, wo er wusste, wie enttäuscht Gus sein musste, dass er keine Zeit für ihn gefunden hatte… Er würgte das schlechte Gewissen runter. Es war letzten Endes ja nicht seine Schuld gewesen. Es ging einfach nicht anders. Vielleicht konnte er ja um Weihnachten herum zu ihm kommen…?
 

Brian stand auf, entschuldigte sich charmant, und überließ Ted die Gesprächsführung, während er in den Nebenraum trat.
 

„Hallo Sonnyboy“ meldete er sich fröhlich.
 

„Leg-jetzt-auch-gar-keinen-Fall-auf!“ Das war nicht Gus. Brian starrte perplex. Das war… Justin. Tausend Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Den kleinen Scheißer wegklicken, sofort! Warum zum Teufel hatte er Gus‘ Handy? Und was fiel ihm ein, ihn so anzublaffen?
 

„Ist mir irgendetwas entgangen, Sonnenschein? Ich glaube kaum, dass du in der Situation bist, hier Forderungen zu stellen“ fauchte er ins Telefon und hatte den Finger schon auf dem Ausknopf. Er sollte ihn in Ruhe lassen! Er fühlte sich schon so mies genug, ohne dass er sich direkt mit Justin auseinander setzten musste! Okay, sie waren einvernehmlich getrennte Wege gegangen – aber die letzten Monate hatten ihm gelehrt, dass die Dinge nicht so einfach waren, wie alle es ihm immer hatten glauben machen wollen. Allen voran Mikey. Ein „Ich liebe dich“ reichte manchmal einfach nicht. Ein „das Leben geht weiter“ leider auch nicht.
 

„Brian…“ sagte Justin flehend. Und da war noch etwas anderes in seiner Stimme, das Brian so noch nie von ihm gehört hatte. Er bekam eine Gänsehaut.
 

„Justin?“ fragte er etwas verunsichert.
 

„Hör zu“, antwortete Justin gepresst, „bist du gerade irgendwo eingespannt?“
 

„Ja, ich hab‘ das Besprechungszimmer voll, aber ich rufe sofort zurück, wenn…“
 

„Nein!“ fuhr ihm Justin ins Wort. Der Ton in seiner Stimme… was war das?
 

„Was auch immer du willst, ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen, ich muss…“
 

„Nein!“ Justin schrie fast. Brians Magen zog sich zusammen.
 

„Ist etwas mit Gus?“ würgte Brian entsetzt hervor. Justin hatte Gus‘ Papafon. Oh Gott, bitte nicht…
 

„Nein, Gus ist in Ordnung! Er ist bei mir! Was immer du gerade tust – schmeiß sie raus, sag ihnen, sie sollen abhauen, gib Ted das Kommando – was auch immer! Ich warte am Telefon. Beeil dich!“
 

„Was ist los?“ jetzt schrie Brian fast. Er fühlte, dass sein Herz begonnen hatte zu rasen.
 

„Beeil dich“, antwortete Justin unerbittlich.
 

Brian raste los. Er verschwendete keinen Gedanken daran, was und warum er da gerade tat. Er musste so schnell es irgend ging zurück ans Telefon. Er rief Ted und Cynthia und übergab ihnen, trotz ihrer verwirrten Nachfragen, kommentarlos die Leitung des Meetings. Mochten sie sich eine Erklärung ausdenken. Dazu wurden sie schließlich bezahlt. Er hastete zurück in sein Büro und verbarrikadierte die Tür.
 

„Justin?“ brüllte er in den Hörer.
 

„Ich bin noch da. Bist du allein?“
 

„Was soll das werden? Die dämlichste Einladung zum Telefonsex aller Zeiten? Da muss ich dich leider enttäuschen…“
 

„Brian…“, kam wieder Justins Stimme in dieser Tonlage, die ihm Schauder über den Rücken sandte. Und das nicht auf eine angenehme Art und Weise.
 

„Setz dich hin.“
 

Brian ließ sich aufs Sofa fallen. Oh Gott… irgendetwas war hier gar nicht in Ordnung. Vielleicht war Justin durchgedreht? Oder er selbst? Träumte er dies alles nur? Aber seine Träume von Justin waren deutlich angenehmerer Natur gewesen, zumindest bis er aus ihnen erwachte. Dies hier war real. Und doch irgendwie irreal. „Ich sitze“, antwortete ruhig und wappnete sich. „Erzählst du mir jetzt endlich, was los ist?“ fragte er fast sanft.
 

„Es gab einen Unfall…“, begann Justin mit brüchiger Stimme, „das Flugzeug… Gus und ich haben es verpasst… es ist angestürzt… sie sagen, es gäbe keine Überlebenden…“ Die letzten Worte waren kaum noch zu verstehen. Eine eisige Kralle griff nach Brians Herzen. „Wer?“ stieß er hervor, „wer?“ „Melanie… und… Lindsay…“ Justins Atmung ging schnappend. Brian war erstarrt. Nein. Das war nicht die Wirklichkeit. Das war nur ein übler Traum. Seine Wendy… Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
 

„Nein“, sagte Brian laut, sein Kopf war völlig leer, „nein!“
 

Justin schwieg. Brian konnte nur seinen schweren Atem in der Leitung hören, als würde er alle Kraft aufbringen, nicht zusammen zu brechen.
 

„Wo seid ihr?“ krächzte Brian nach einer Weile, die wie ihm eine Ewigkeit erschien. Vor ein paar Minuten war die Welt noch… normal gewesen. Alles war mehr oder weniger an seinem gewohnten Platz gewesen. Jetzt war nichts mehr… die Normalität hatte sich in Luft aufgelöst… das konnte nicht sein… Aber in seinem Inneren spürte er die Gewissheit, dass es so war.
 

„Am Flughafen. Ich fahre jetzt mit Gus in meine Wohnung“, formulierte Justin schwerfällig.
 

„Wo?“
 

Justin nannte ihm die Adresse.
 

„Ich bin unterwegs. Lass das Telefon an.“
 

Brian knallte den Hörer grußlos auf. Sein Körper fühlte sich taub an. Er kam wackelig auf die Beine. Er musste zu Gus… und Justin. So schnell es ging. Sein Hirn rotierte. Die Corvette war seit heute Morgen in der Werkstatt. Der Flugverkehr war wahrscheinlich gestört.
 

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Ted und Cynthia waren nicht umsonst Brians beste Mitarbeiter. Trotz des merkwürdigen Verhaltens ihres Bosses hatten sie das Meeting erfolgreich zu Ende gebracht, alles war unter Dach und Fach. Brian war vor einer Viertelstunde in seinem Büro verschwunden und hatte die Tür hinter sich verrammelt, wie Ted mit einem halben Ohr mitbekommen hatte.
 

Sie hatten den Kunden etwas von einer „dringenden Familienangelegenheit“ erzählt – und diese hatten das ohne weiteres geschluckt.
 

Ted klopfte vorsichtig an Brians Tür. Er fühlte Sorge. Brian mochte in letzter Zeit etwas neben der Spur gewesen sein – aber ein derart unprofessionelles Verhalten war ihm nie untergekommen. Irgendetwas lag hier im Argen. Hatte Brian nicht nach seinem Handy gegriffen, als er sich vorhin entschuldigt hatte?
 

Brian kam ihm förmlich durch die Tür entgegen geschossen. Er war kreideweiß im Gesicht. Ted hätte schwören können, dass sein eisenharter Boss zitterte. „Ich brauche ein Auto! Sofort!“ brüllte Brian Ted an.
 

Ted führ zusammen. Brian sah aus, als seien ihm sämtliche neunköpfigen Dämonen direkt aus der Hölle erschienen. „Aber Brian…“, versuchte er entgegen zu halten. „Ich sag das jetzt nur einmal, Ted“, sagte Brian leise, während er Ted förmlich mit seinem Blick zu Staub zermalmte, „du rufst jetzt den Autoverleih an und besorgst mir eine Karre. Dann fährst du mich rüber. Und, ach ja – du bist bis auf weiteres der Boss, herzlichen Glückwunsch!“ „Aber…“ „Und du stellst mir keine dämlichen Fragen. Ansonsten bist du nicht nur deinen Job los – wenn ich wieder da bin – sondern ich epiliere dich höchstpersönlich mit kochendem Heißwachs und tätowiere dir ohne Narkose die Worte „arbeitlose Niete“ direkt in den Dickdarm!“
 

Brian schien völlig den Verstand verloren zu haben. Aber mit Irren sollte man nicht streiten. Irgendetwas war vorgefallen, dessen war Ted sich sicher – aber Brian danach zu fragen wäre in seinem gegenwärtigen Zustand ein ebenso selbstmörderisches wie sinnloses Unterfangen gewesen. „Alles klar, Boss“, nickte Ted und betete, dass sie flüssig durch den Verkehr kommen würden. Jede Minute zu viel mit diesem tobenden Brian würde ihn wahrscheinlich Jahre seines Lebens kosten. Und je eher er sich um die laufenden Geschäfte kümmern konnte, die Brian ihm da gerade aufs Auge gedrückt hatte, desto besser.

Roadtrip to Hell

IX. Roadtrip to Hell
 

Brian würgte. Mit einer Hand kralle er sich an der offen stehenden Autotür fest. Die laue Sommernacht um ihn herum schien ihn zu verhöhnen. Er meinte, irgendeine Eule aus dem nahen Wald schreien zu hören. Verpiss die zurück nach Hogwarths, du Mistvieh! Ab und an brauste ein Auto vorbei. Er nahm es nicht wahr. Sein Körper krampfte, obwohl sein Magen längst leer war. Er sackte ins Gras des Straßengrabes. Mit geschlossenen Augen versuchte er wieder zu Atem zu kommen. Jedes Gliedmaß schien zu schmerzen. Er hatte es gerade noch geschafft, rechts ranzufahren, als es ihn wie ein Keulenschlag überkommen hatte. Er musste weiter… Mach jetzt nicht schlapp, Kinney. Gequält schüttelte er den Kopf. Gus. Justin. Er musste weiter. Ächzend stemmte er sich wieder auf die Beine. Hinter seiner Stirn klopfte es schmerzhaft. Wo waren nur die Drogen, wenn man sie brauchte. Er wühlte in seiner Aktentasche. Alles, was er fand, war eine schnöde Aspirin. Besser als nichts… Andererseits war es wohl auch besser so. Es war verlockend, sich jetzt die Birne vollzuknallen. Vergessen… Das letzte, was Gus jetzt gebrauchen konnte, war, dass sein vollgepumpter Vater sich um den nächsten Baum wickelte. James Dean mochte sich das erlauben können – er hingegen hatte Verpflichtungen.
 

Oh Gott, so weit war es mit ihm gekommen. Jung und schön abzutreten – davon hatte er sich schon vor langer Zeit verabschiedet. Ein solches Unterfangen führte nicht zu Unsterblichkeit – man war lediglich mausetot und hatte den größten Teil seines Lebens verschenkt. Und die meisten glamourös klingenden Todesarten waren in Wirklichkeit äußerst unfotogen. Ersatzweise zündete er sich eine Zigarette an. Der Qualm beruhigte ihn ein wenig. War in Hinsicht auf seine Krebserkrankung auch nicht gerade weise, fröhlich weiter zu rauchen – aber irgendein Laster musste er sich ja erhalten, wenn alle anderen sich mehr oder minder verabschiedet hatten.
 

Allmählich fühlte er sich wieder klarer im Kopf. Er goss sich vorsichtig ein wenig Wasser aus einer Plastikflasche über das Gesicht, schüttelte sich und stieg wieder in den Wagen.
 

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Der Abend dämmerte schon, als Brian die Stadtgrenze New Yorks passierte. Hatte er zuvor alle dämlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen zur Hölle gewünscht, die ihn zwangen, trotz aller PS des geliehenen BMW im Schneckentempo zu fahren, wenn er nicht von der Polizei einkassiert werden wollte, hätte er jetzt liebend gern die Karre gegen etwas eingetauscht, das ihn rascher durch den tobenden Stadtverkehr gebracht hätte. Einen Panzer, zum Beispiel.
 

Inzwischen herrschte in ihm eine Leere, die ihn hatte ruhiger werden lassen. Seine Gedanken waren nur noch auf sein Ziel fokussiert. Er dachte nicht daran, was dann sein wollte. Er dachte nur daran, endlich anzukommen.
 

Es dauerte noch fast eine komplette Stunde, bis er sich bis zu Justins Wohngebäude durchgeschlängelt hatte. Zwischenzeitlich war er mehrfach versucht, das dämliche Navigationsgerät einfach aus dem Fenster zu schmeißen, das ihm wahnwitzige Anweisungen gab und offensichtlich darauf programmiert war, immer den weitesten Umweg zu wählen. In einer Nebenstraße fand er eine Lücke, die er als Parkplatz definierte. Selbst wenn nicht – sollten sie ihn doch abschleppen und ihm ein Bußgeld aufbrummen. Das war ihm sowas von egal. Er war da.
 

Die Wohngegend war studentisch geprägt. Junge Menschen flanierten auf der Straße, genossen den Sommerabend in Kaffees, lachten miteinander. Für Brian sahen sie aus wie Lebewesen von einem fremden Planeten. Er prüfte noch einmal die Adresse. Er war richtig. Das Haus war ein älterer Rotklinkerbau, der einst wohl Büros beherbergt hatte. Jetzt zeigte eine Fülle von Klingelschildern, teils mit mehreren Namen, an, dass es inzwischen in ein dicht frequentiertes Wohngebäude umfunktioniert worden war. Hastig überflog Brian die Schilder. Da. Taylor. Er drückte den Knopf. Ein paar Herzschläge zu viel passierte nichts. Dann ging der Brummer.
 

Brian stolperte ins Treppenhaus, vorbei an den teils überquellenden Briefkästen. Welcher Stock war es? Er wusste es nicht. Er rannte los, immer zwei Stufen mit seinen langen Beinen auf einmal nehmend. Das ständige Training auf dem Laufband machte sich jetzt bezahlt. So schaffte er es, ohne einen Herzinfarkt zu erleiden, immerhin wohlbehalten die gefühlt zehntausend Stufen hinauf. Er schwitze und atmete schwer. Er hatte immer noch den anthrazitfarbenden Armani-Anzug an, den er heute Morgen frisch aus der Reinigung angezogen hatte. Das schien ein ganzes Leben lang her zu sein. Inzwischen war er schlimm zerknittert. Und er selbst musste stinken wie ein Iltis. Er hatte nichts zum Wechseln dabei. Es war ihm gleichgültig.
 

Er blickte auf und sah direkt in Justins schräge Augen. Sie erschienen noch blauer als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Die Pupillen waren geweitet, das Weiße gerötet, tiefe Augenringe warfen Schatten. Justins blondes Haar war wieder länger, wie Brian es damals so geliebt hatte, und stand unordentlich in alle Richtungen ab. Er sah dünn aus.
 

Brian konnte nicht anders als ihn gelähmt anzustarren. Es war so, als würden sie sich von zwei Seiten eines endlos leeren Raumes ansehen, unfähig, sich zu bewegen. Es war einfach zu viel.
 

„Brian“, sagte Justin leise.
 

Er löste sich aus seiner Lähmung und rang um Stimme. „Justin.“
 

Justin trat zur Seite, und Brian schritt an ihm vorbei ins Innere der Wohnung. Eine kleine Atelierwohnung. Es roch nach Essen und nach Farbe und nach… Sie roch… vertraut. Sie war so… Justin. Ein bisschen von der Spannung, die Brian in den letzten Stunden voran getrieben hatte, fiel von ihm ab.
 

Auf der auseinander geklappten Ikea-Coach lag sein Sohn und schlief in sich zusammen gerollt auf der Seite, tief in Justins Decken gekuschelt.
 

„Hast du Hunger?“ fragte Justin.
 

Brian wollte ablehnen, aber da fiel ihm die schreckliche Leere in seinem Magen auf. Die Reste seines kläglichen und Figur freundlichen Frühstücks hatte er irgendwo im Straßengraben den Krähen überlassen. Seine gute Tat für diesen Tag.
 

„Mmm“, murmelte er vorsichtig und wich Justins Blick aus.
 

Der jüngere Mann machte sich in der Küche zu schaffen, während Brian neben dem Bett stehenblieb. Sein Sohn. Sein Sohn… traf es ihn wie ein Blitzschlag… und Justin… sie lebten. Hatte Justin nicht am Telefon gesagt, sie hätten den Flieger verpasst? Oh Gott… Das hätte er nicht überlebt…
 

Er beugte sich herab und drückte dem schlafenden Jungen einen Kuss auf die Stirn. Gus bewegte sich leicht, wachte aber nicht auf.
 

Justin trat zu ihm und hielt ihm einen Teller vor die Nase. „Jambalaya, aufgewärmt“, sagte er. „Wir mussten uns irgendwie beschäftigen“, fügte er fast entschuldigend hinzu. Brian schluckte jeden Kommentar hinunter und nahm die Schale dankbar an. Er setzte sich auf den leeren Tapeziertisch, den Justin wohl normalerweise zum Malen benutzte. Im Augenblick waren keine Gemälde in der Wohnung. Waren wohl alle in Justins Ausstellung gelandet. Lindsay hatte ihm am Telefon davon erzählt, während er unbeteiligt geblieben war und, so schnell es ging, das Thema gewechselt hatte. Oh Gott, Lindsay! Er spürte, wie es in ihm aufstieg und schluckte hart. Er musste sich zusammen reißen. Wenn er jetzt zu heulen begann, würde es kein Halten mehr geben. Das durfte er nicht tun, nicht jetzt!
 

Justin räumte leise in der abgedunkelten Kochnische herum. Er wirkte schrecklich jung und müde in der dunkelblauen Pyjamahose und dem engen weißen T-Shirt, doch der gestreckte Rücken verriet seine Stärke.
 

Brian trat zu ihm und stellte die leere Schüssel in die Spüle. Schweigend reinigte er sie und hängte sie dann auf den Trockenständer. Sie sahen einander nicht an.
 

In einem stillen Übereinkommen traten sie gemeinsam ans Bett und blickten auf das schlummernde Kind.
 

„Was hast du ihm gesagt?“ fragte Brian.
 

„Dass ich es auch nicht weiß, was mit seinen Mamas los ist. Ich konnte ihm nicht sagen, dass sie… Nicht, solange wir keine Gewissheit haben. Sie rufen an, sobald es Neuigkeiten gibt.“
 

„Wie hat er es aufgenommen?“
 

„Er ist verwirrt. Und er hat Angst. Er spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist gut, dass du da bist. Er hat nach dir gefragt.“
 

Brian nickte. Dann streifte er seine Anzugjacke ab und krabbelte neben seinen Sohn ins Bett. Vorsichtig schlang er seine Arme um den schlafenden Jungen.
 

„Papa?“ murmelte Gus.
 

„Schhht, mein Kleiner. Ich bin bei dir. Papa ist da. Es ist gut, schlaf weiter.“
 

„Steig nicht in das Flugzeug!“ bat Gus mit dünner Stimme und klammerte sich plötzlich heftig an seinen Vater.
 

„Nein. Ich verspreche es. Ich steige nicht in das Flugzeug. Ich bleibe bei dir. Ich verspreche es“, flüsterte Brian beruhigend und streichelte den kleinen Körper. Gus entspannte sich wieder. Dann zuckte er erneut. „Justin!“ schrie er auf.
 

Justin erwiderte aus der Dunkelheit des Raumes: „Ich bin hier, Gus. Ich bin hier. Es ist gut.“
 

„Justin“, flüsterte Gus erneut und streckte suchend seine Hand aus. Justin trat näher, so dass Gus ihn erreichen konnte. Die kleinen Finger krallten sich erstaunlich kräftig in sein Haar. Und ließen nicht locker. Justin setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Er griff nach Gus Hand und löste sie vorsichtig. Gus lockerte seinen Griff und umklammerte stattdessen Justins Hand.
 

Brian schaute ihn mit unleserlichem Blick an. Dann streckte er seine Hand nach Justin aus und zog ihn vorsichtig zu ihnen herab. Justin verspannte kurz, dann ließ er es geschehen. Er kam auf Gus‘ anderer Seite zum Liegen, das Gesicht Vater und Sohn zugewandt. Brians linker Arm lag über Gus gebettet, seine Hand hielt sachte Justins Hüfte. Nach ein paar Minuten entspannte sich Justins Körper, er rutschte ein wenig näher, legte eine Hand auf Gus‘ Nacken, die andere auf Brians nach ihm ausgestreckten Arm. So ineinander verflochten, das Kind von beiden Seiten schützend umgeben, schliefen sie ein.
 

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Brian erwachte aus traumlosem Schlaf. Er meinte das Läuten eines Telefons gehört zu haben. Wer rief ihn denn mitten in der Nacht in der Firma an? Oder war es schon Morgen? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Justins Geruch stieg ihm in die Nase. Phantom-Justin kannte keine Gnade, dachte er niedergeschlagen. Er schlug die Augen auf. Vor ihm lag Gus und schlief tief und fest. Die Wirklichkeit schlug schmerzhaft über ihm zusammen.
 

Er löst sich vorsichtig von seinem Kind und blinzelte. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Vor der breiten Fensterfront stand Justin und sprach leise am Telefon. Hinter ihm leuchtete der Glanz der nimmermüden Stadt. Sie konnte ihm gestohlen bleiben.
 

Er rappelte sich auf und ging auf leisen Sohlen hinüber zu seinem… Ex-Verlobten`? Ex-Freund? Ex-undefinierte-Beziehungspartner? Justin blickte ihm in die Augen. Bitte… dachte Brian… sag, dass sie wohlauf sind. Dass es sich um einen schrecklichen Irrtum handelt. Dass ich auf einem Horror-Trip bin… irgendwas. Langsam schüttelte Justin den Kopf. Brian schluckte.
 

„Keine Überlebenden“, sagte Justin leise. „Sie brauchen die zahnärztlichen Unterlagen… für die Identifikation“, setzte er heiser hinzu.
 

„Wir müssen es den anderen sagen“, flüsterte Brian, „und Lindsays und Mels Eltern…“ Jedes Wort fühlte sich auf seiner Zunge an, als bestünde es aus reinem Arsen. Er dachte an Lindsay. Seine Freundin. Sein Halt. Die Mutter seines Sohnes. Und Melanie… Tief aus seinem Inneren stieg ein Schütteln empor. Er musste es aufhalten. Er schaffte es nicht. Der Laut, der über seine Lippen kam, war nur sehr leise – aber er hatte etwas Unmenschliches. Am Rande nahm er wahr, dass er taumelte. Er würde fallen und hatte keine Kontrolle mehr. Da schlossen sich kräftige schlanke Arme um hin, hielten ihn fest. Ein warmer Körper, einziger Fixpunkt in dieser verrückt gewordenen Welt. Er schluchzte tief auf. Und Justin hielt ihn, weinend, das Leid teilend. Brian vergrub sein Gesicht in Justins Haar, atmete ihn ein. Justins Finger strichen über ihn, tröstend, während Fassungslosigkeit und Trauer sie im Würgegriff hielten. Und er hielt Justin, so fest, dass es ihm fast wehtun musste, aber er musste ihn spüren, wissen, dass er noch am Leben war, dass er selbst noch ein Leben war. Sie hätten beide nicht sagen können, wie lange sie so da gestanden hatten, versunken in ihrem Elend und dem Trost, den sie einander spendeten. Nach einer Ewigkeit löste sich Justin vorsichtig von ihm. Er streichelte über Brians tränennasses Gesicht.
 

„Wir schaffen das. Wir müssen das schaffen. Und wir können das schaffen“, sagte Justin mit klarer Stimme zu ihm.
 

Brian war sich nicht sicher, was er damit meinte. Aber er war sich sicher, dass er recht hatte.
 

Niemand hielt Justin auf, wenn er etwas beschlossen hatte.

Hiobs-Botschaften

X. Hiobs-Botschaften
 

Micheal ließ den Telefonhörer auf den Boden krachen. Fassungslos starrte er ins Leere. Dann rannte er los.
 

Jenny lag in ihrem Baby-Bett und greinte leise, als er sie hoch hob. Hunters Mobile drehte sich im Luftzug. Michael erhaschte einen Blick auf eines der schiefen Herzen.
 

Ben trat verschlafen hinter ihn und schlang von hinten seine muskulösen Arme um ihn. „Was ist los?“ wisperte er in Michaels Haar.
 

„Sie sind tot“, flüsterte Michael tonlos. Bens Körper spannte sich, seine Hände streichelten ihn sanft über die Rippen. „Wer?“ hauchte er.
 

„Mel und Lids – oh Gott! Es ist meine Schuld! Ich habe mir so sehr gewünscht, dass Jenny bei uns bleibt!“ keuchte Michael. Tränen liefen über sein Gesicht. „Wie heißt es so schön? Bedenke gut, was du dir wünscht, denn es könnte in Erfüllung gehen… Ich war das! Ich habe sie umgebracht!“, schluchzte er.
 

„Nein! Nein, nein, nein, Michael“, trieb sich Bens Stimme in sein Bewusstsein, „Du hast Mel und Linds nie etwas Schlechtes gewünscht. Du hattest nur Sehnsucht nach deiner Tochter! Du trägst keine Schuld, was immer auch geschehen sein mag! Dein einziges Vergehen ist, dass du deine Tochter liebst. Und das ist kein Vergehen, sondern eine Gnade!“
 

Weinend klammerte sich Michael an seinen Ehemann, der ihn sanft streichelte.
 

„Was immer nun sein mag, es geht um Jenny. Ich schwöre dir, dass ich sie liebe, als sei sie mein eigen Fleisch und Blut! Und das wird sie auch sein, genauso wie Hunter!“ schwor Ben, die großen Finger in Jennys kleinen Fäusten vergraben.
 

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„NEIN!“ – ein schrecklicher Klageschrei erhob sich durch das Haus, der Carl und Emmet erbeben ließ.
 

„Nein! Nein! Neinneinnneinnein – nicht meine Mädchen!“ schrie Debbie. Ihre Schminke floss in Tränenströmen über ihr Gesicht. Emmet schluchzte. Carl war wie gelähmt und versuchte, die tobende Debbie aufzufangen. Die beiden lebensfrohen jungen Frauen…. Oh Gott! Er hatte sie nur oberflächlich kennengelernt, aber er wusste, wie viel sie Debbie bedeuteten. Und die beiden Kinder.. Weisen jetzt… oh Gott! Aber es gab ja auch noch ihre Väter. Carl hoffte, während er die aneinander geklammerten Gestalten von Debbie und Emmet vor sich sah, dass sich irgendjemand der Kinder erbarmen würde. Aber Michael würde seine Tochter niemals von sich stoßen! Von sich selbst aus, niemals! Andernfalls würde seine Mutter ihn eigenhändig umbringen! Und das stellte er sich, so gut er Debbie kannte, alles andere als erstrebenswert vor. Und was war mit dem kleinen Jungen… Gus? Brian war ihm immer ein Rätsel geblieben. Man musste nicht schwul sein, um zu erkennen, was für ein schöner Mann Brian war. Schön, nicht im konventionellen Sinne. Aber er hatte etwa, was ihn über die muskelbepackte, eng anliegend bekleidete Meute erhob, die Carl inzwischen kennen gelernt hatte. Gleichgültig, wie vulgär er sich benehmen mochte, etwas in ihm ließ ihn immer… unnahbar?... erscheinen. Brian blieb letzten Endes immer… fern, was immer auch geschah. Das machte wohl einen Teil seiner Anziehungskraft aus – aber letztlich ließ ihn das in Carls Augen kalt erscheinen. Kalt und leer.
 

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„Peterson.“ Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung war tonlos und klang heiser, als seien die Stimmbänder durch langes Weinen und Schreien wund geworden. „Sie wissen es schon“, dachte Brian erleichtert. Der Kelch, es Lindsays Eltern sagen zu müssen, würde an ihm vorüber gehen.
 

„Kinney. Spreche ich mit Lindsays Mutter?“ meldete Brian mit halbwegs fester Stimme.
 

„Was wollen sie? Wir haben jetzt keine Zeit“, wies die erschöpfte Stimme ihn ab.
 

„Ich weiß“, antwortete Brian müde. „Es geht um Gus.“
 

„Haben Sie meinen Enkelsohn?“ wurde er jetzt angefahren. Brian beschloss es ihr in Anbetracht der Umstände nicht übel zu nehmen. „Die Leute vom Flughafen sagten mir, er sei mit irgendeinem Mann, der in Begleitung meiner Tochter reiste, mitgegangen. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, was für Sorgen wir uns um ihn machen? Warum haben Sie ihn nicht sofort zu seiner Familie gebracht!“ Die letzten Worte hatte die Frau geschrien. Brian schluckte. Bei aller Sorge… das ging ihm doch deutlich zu weit.
 

„Er ist bei seiner Familie“, antwortete er fest.
 

„Wer, sagten Sie, sind sie?“ fuhr Lindsays Mutter in unverändert aggressiven Tonfall fort.
 

„Kinney. Brian Kinney. Gus‘ Vater“, sagte Brian so ruhig wie möglich.
 

„Ich erinnere mich an Sie, kann mich aber nicht entsinnen, dass wir einander je offiziell vorgestellt worden wären. Lindsay…“, sie schluckte hart, „hat sie ab und an erwähnt. Sie sind der… Samenspender, den sie dann doch brauchte, um trotz ihres… Lebensstils an Nachwuchs zu kommen. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie keinerlei Rechte an Gus. Ich schlage vor, dass Sie uns unseren Enkelsohn so schnell wie möglich übergeben, dann werden wir die Fahndung nach ihm zurückziehen und auf eine Anzeige verzichten.“
 

In Brian stieg eiskalte Wut auf. „Hören Sie mir jetzt ganz genau zu“, zischte er. „Ich werde Ihnen meinen Sohn garantiert nicht „übergeben“. Sie haben im Augenblick ebenso wenig Rechte an ihm wie ich. Und er ist auch kein Möbelstück, das man einfach an den am lautesten Schreienden ausliefert! Ich bin sein Vater! Gewöhnen Sie sich schon mal dran! Und ich schlage vor, dass Sie es sich nochmal überlegen sollten, ob Sie mir die Polizei auf den Hals hetzten sollten, weil ich als sein Vater mich um meinen Sohn kümmere! Diese Sprache kann ich nämlich auch sprechen – und glauben Sie mir, das würde nicht schön werden! Gus bleibt da, wo er hingehört – und das ist bei mir! Wenn Sie ihn sehen wollen, werden wir uns darüber verständigen, Sie sind schließlich seine Großmutter und lieben ihn, das weiß ich. Aber das ändert nichts daran, dass ich der einzige Elternteil bin, den er noch hat. Und falls es damit Unstimmigkeiten geben sollte – nun, dann werden wir uns juristisch einigen!“
 


 

„Ich weiß wenig über Sie – aber das wenige ist genug“, schrie Lindsays Mutter. „Sie sind doch auch so ein… Schwuler! Sind das etwa die Verhältnisse, in denen mein Enkelsohn groß werden soll! Soll er sich jeden Tag Ihre Perversitäten anschauen, während er aufwächst?!“
 

Brian fuhr ihr ins Wort. Er musste sich zusammen reißen, um nicht zu brüllen: „So denken Sie über uns? Über Ihre eigene Tochter, die nicht mal unter der Erde liegt? Tut mir leid – das sind Verhältnisse, unter denen ich meinen Sohn unter keinen Umständen werde aufwachsen sehen! Sie werden ihn nicht zu einem bigotten engstirnigen Country-Club-Idioten drillen, solange auch nur ein Atemzug in mir steckt! Und jetzt schlage ich vor, Sie widmen sich dem Andenken an Ihre Tochter und überlegen mal, wie Sie ihrem Leben mit Achtung begegnen können, das wäre doch ein netter Anfang! Wir hören von einander. Mein Beileid auch an ihren Mann.“
 

Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt. Er tastete nach einer Zigarette und ließ sich auf Justins nun wieder zusammen geklappte Schlafcoach fallen. Ikea, nahm er am Rande wahr. Aber seinem Hintern war’s egal, dass sie kein Mies van der Rohe-Stück war, sie war bequem. Die letzten vierundzwanzig Stunden steckten ihm in den Knochen. Er fühlte sich, als habe man ihn mit einem Nudelholz bearbeitet, sei immer wieder über ihn hinweg gerollt, bis er flach und breiig war wie eine tote Flunder.
 

Nach seinem Zusammenbruch in der Nacht und Justins abschließenden Worten waren sie wieder auf Distanz zueinander gegangen. Dennoch klaffte keine wortlose Kluft mehr zwischen ihnen. Sie hatten sich daran gemacht, die Situation gemeinsam in den Griff zu bekommen. Sie mussten überlegen, welche Schritte zu unternehmen waren und welcher von ihnen beiden was machen würde. Brian hatte es schweren Herzens übernommen, die schreckliche Neuigkeit allen Betroffenen mitzuteilen, während sich Justin mit Gus für eine Weile verabschiedet hatte. Gus sollte vorerst nicht mitbekommen, was sein Vater am Telefon sprach, und das war in Justins Atelierwohnung mit dem großen offenen Raum nicht zu bewerkstelligen gewesen. Zudem hatten sie beschlossen, den verstörten Jungen eine Weile auf andere Gedanken zu bringen, ihm wieder ein Gefühl für Normalität zu geben.
 

Justin hatte ihn damit gelockt, dass sie zum Zoo fahren würden. Gus liebte Tiere, und kurz war ein Leuchten in seinen Augen erschienen. Dennoch hatte er sich kaum von seinem Vater lösen wollen und war erst gegangen, als Brian ihm hoch und heilig versprochen hatte, die Wohnung nicht zu verlassen und ihn zwischendurch anzurufen. Sie würden mit ihm über den Tod seiner Mütter sprechen müssen. Brian graute davor. Die Gespräche mit Michael und Ted waren schon schlimm genug gewesen. Ted hatte er informieren müssen, damit der wusste, dass er bis auf weiteres für die Firma verantwortlich war. Die Stimme des Buchhalters war vom Schock geprägt gewesen, dennoch war er geistesgegenwärtig genug geblieben, um die geschäftlichen Belange der Situation gemäß zu ordnen. Ted würde Kinnetic am Laufen halten, Brian vertraute ihm. Auch Ted hatte seine Grenzen, obwohl er mit seinem neu gewachsenen Selbstbewusstsein souveräner im Auftreten geworden war. Er würde Brian aber nur in wohlbegründeten Notfällen kontaktieren. Brian betete, dass sich keine einstellen würden, er hatte jetzt wirklich wenig Spielraum, um sich darum zu kümmern.
 

Und Lindsays Mutter… Bittere Wut stieg in Brian in Erinnerung an dieses Gespräch auf. Er konnte dieser Frau Gus nicht einfach überlassen. Lindsay und Melanie hätten das niemals gewollt. Und in ihm sträubte sich auch alles dagegen. Sie konnte Gus Großmutter sein, dagegen war wenig einzuwenden, auch wenn Brian darauf hätte verzichten können. Gus liebte seine Oma und sie liebte ihn, kein Zweifel. Aber Gus war sein Sohn. Wie kam diese Frau darauf, das infrage zu stellen? Ihn und das Leben ihrer Tochter als eine Anreihung von Verwirrungen und Abnormalitäten darzustellen? Nein, Gus konnte nicht bei dieser Frau aufwachsen. Aber bei ihm? Konnte er das? Wollte er das? Er wollte seinen Sohn. So einfach war das. Aber dennoch war es ganz und gar nicht einfach. Sein ganzes Leben war nicht darauf eingestellt, sich um ein Kind zu kümmern. Weder im Alltag noch in der Planung. Wollte er das ändern? Konnte er das? Wenn er seinen Sohn behalten wollte, würde er das müssen. Wie sollte er das hinbekommen? Ihm wurde klar, dass seine eigenen Bedürfnisse, die bisher das Zentrum seines Daseins gewesen waren, dann hintenan stehen würden müssen. Er würde alles tun… alles sein… damit Gus glücklich sein konnte. Das hatte er auch zu Justin gesagt. Und ihn damit in die Flucht getrieben. Aber das hier war etwas anderes. Justin war erwachsen, Gus war ein Kind. Hatte er Justin damals mit seinem Ansinnen wie ein Kind behandelt? Vielleicht war es das gewesen…
 

Brian nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und fuhr sich mit der Hand durchs derangierte Haar. Er sollte vielleicht endlich mal duschen. Der Gedanke war ihm, der normalerweise so sehr an sein Äußeres dachte, bisher noch gar nicht gekommen. Er musste inzwischen stinken wie tausend tote Hamster. Vielleicht war Justin deswegen auch mit Gus in den Zoo. Der Pumakäfig war wahrscheinlich wie eine laue Alpenbrise im Vergleich zu ihm. Seine Klamotten waren auch völlig jenseits von Gut und Böse. Er stand auf und wühlte in dem Regal mit Justins Kleidung. Die Hosen würden ihm nicht passen, dazu waren seine Beine einfach zu lang, aber unter den T-Shirts fand er eines, das gehen müsste. Glücklicherweise schien Justin in letzter Zeit eher funktionale Sachen gekauft zu haben, die tendenziell etwas schlabbrig saßen. Bei Justins alten Oberteilen, die immer mindestens eine Nummer zu klein gewesen waren und förmlich geschrien hatten „ich bin ein kleines geiles Früchtchen, vernasch mich doch“, hätte er keine Chance gehabt. Er schnappte sich das Schlabberhemd und ging in das Klaustrophobie auslösende Badezimmer. Das Wasser aus dem klapperigen Duschhahn war eiskalt, aber tat ihm jetzt gut.
 

Während die kühle Feuchtigkeit reinigend über seinen nackten Körper prasselte, grübelte er noch. Er wusste nicht recht, wie es nun weiter gehen sollte. Ein beunruhigendes Gefühl. Er hatte sonst immer klare Vorstellungen von dem, was er erreichen wollte und wie ihm das gelingen würde. Aber seitdem es Gus und Justin gab, war er hierbei immer wieder an das Ende seines Lateins gelangt. Er konnte sich denken, woran das lag. Da fiel ihm ein, dass die ganze Last ja im Augenblick nicht einzig auf seinen Schultern lag. Auch das war ungewohnt. Er konnte mit Justin reden, gemeinsam überlegen. Er war nicht allein. Das hatte Justin ihm in der Nacht, als er ihn gehalten hatte, klar gemacht. Und er hatte es gesagt. Wir werden das schaffen. Er wagte nicht, an die Zukunft zu denken. Justin würde schon bald wieder außer Reichweite sein. Er hatte sein eigenes Leben hier in New York. Aber im Augenblick waren sie zusammen. Nicht als Partner oder Geliebte, aber als… Freunde? Es gab ein „wir“, hier, jetzt. Nur das zählte. Sie würden es schaffen.

Marschbefehl

XI. Marschbefehl
 

Debbie wiegte ihre schlafende Enkeltochter zärtlich in ihren kräftigen Armen. „Armes kleines Käferchen“, flüsterte sie, „mein armes Baby.“ Ihr Gesicht war vom Weinen noch immer leicht verquollen. Sobald sich der Schock etwas gesetzt hatte, war sie gemeinsam mit Carl und Emmet zum Haus ihres Sohnes hinüber gefahren. In Zeiten des Schmerzes und der Trauer sollte eine Familie beieinander sein, das wusste sie aus bitterer Erfahrung. Sie hatten auch Ted Bescheid gesagt. Er wollte später nachkommen, er war noch damit beschäftigt, die Räder bei Kinnetic am Rollen zu halten. Debbie hatte zwar dagegen protestiert, aber Ted war hart geblieben. Dem Geschäft waren persönliche Probleme egal, es nahm keine Rücksicht.
 

Michael trat leise zu seiner Mutter und blickte auf das kleine Bündel, das seine Tochter war. „Was wollt ihr jetzt tun?“ flüsterte Debbie. „Ich weiß noch nicht ganz… Es gibt so vieles, um das wir uns kümmern müssen. Und es ist so schwer, es jetzt zu tun… Aber Mel war Gott sei Dank durch und durch Juristin. Sie konnte echt übel austeilen. Aber sie hat auch immer an alles gedacht. Nach der Bombe, bevor sie nach Kanada gegangen sind, hat sie für sich und Lindsay Verfügungen aufgestellt, falls ihnen etwas zustoßen sollte – damit für die Kinder gesorgt ist. Ich habe sie selber nicht gelesen, aber sie hat mir erklärt, dass im Fall ihres… Todes das Sorgerecht für Jenny natürlich an Lindsay gehen würde. Ich würde ein geregeltes Besuchsrecht erhalten. Es hätte auch die Möglichkeit bestanden, sich mit Lindsay neu zu einigen…“, Michael atmete gequält ein. „Falls sie beide vor Jennys Volljährigkeit sterben sollten, würde das Sorgerecht an mich und Ben als meinen Ehemann fallen. Ich hab teilweise nicht alles verstanden, da sie mir ein halbes Wörterbuch Juristensprache um die Ohren gehauen hat, aber irgendwie hat sie so eine Doppelregelung für amerikanisches und kanadisches Recht eingefügt, weil unser geliebtes Vaterland meine Ehe ja nicht anerkennt.“ Er senkte den Kopf.
 

„Du kennst meine Meinung dazu. Ben ist dein Ehemann. Wer das anders sieht, der kann, was mich angeht, zur Hölle fahren.“
 

„Da wird es dann aber ganz schön voll“, erwiderte Michael bitter.
 

„Macht nichts“, antwortete Debbie, „bleibt mehr Platz auf den Wolken für uns. Du bist ein guter Vater, Michael. Und Ben ist ein guter Ehemann. Ihr seid liebevolle Eltern für Hunter und werdet das auch für Jenny sein.“
 

„Das werden wir“, flüsterte Michael.
 

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Justin hielt Gus an der einen Hand, mit der anderen trug er einige Tüten mit dringenden Besorgungen, die sie auf dem Rückweg erledigt hatten. Gus gesamtes Gepäck war im Flieger gewesen. Der Besuch der Kinderabteilung eines Kaufhauses war eine ganz neue Herausforderung für Justin gewesen. Gott sei Dank war Gus sehr folgsam, obwohl oder gerade weil er von den Geschehnissen der vergangenen anderthalb Tage überrollt und verunsichert war. Wenn Gus beim Kleiderkauf ähnliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt hätte wie sein Vater, dann wäre Justin wahrscheinlich endgültig dem Wahnsinn anheimgefallen.
 

Im Zoo war Gus etwas aufgetaut. Die exotischen Tiere hatten ihn fasziniert, aber am längsten waren sie vor dem wie eine kleine Stadt gestaltetem Meerschweinchen-Gehege stehen geblieben. Justin hoffte, dass Gus nicht heimlich eines der Tierchen, die es ihm angetan hatten, in seiner Tasche heraus geschmuggelt hatte. Nicht, dass der Kleine etwas zu befürchten hätte. Aber Justin war sich sicher, dass Brian ihm wahrscheinlich den Hals umdrehen würde, wenn er, wenn auch unwissentlich, ein Meerschweinchen mit anschleppte.
 

Sie hatten einen weiteren Stopp im Lebensmittelgeschäft eingelegt, wo Justin einige Waschartikel – es gab Kinderzahnpasta mit Marshmallow-Geschmack, wer hätte das gedacht? – und ein wenig Essen kaufte. Für Brian hatte er einige seiner heißgeliebten Granny Smith erstanden. Wahrscheinlich futterte er diese nur so gerne, weil sie das einzig Süße waren, das er mit seinem Diätplan vereinbaren konnte – und weil er aussah wie die Sünde selbst, wenn er hineinbiss. Justin schüttelte den Gedanken fort.
 

Sie brauchten eine Weile, bis sie vor der Wohnungstür standen. Gus mochte groß für sein Alter sein – aber dennoch waren die vielen Stufen durchaus eine Herausforderung für ihn. Justin war den Aufstieg gewohnt, aber die vielen Tüten ließen ihn auch nicht gerade schneller werden. Brian saß rauchend auf dem Sofa. Er drückte die Zigarette rasch aus, als sein Sohn auf ihn zuschoss und sich auf ihn stürzte. „Ist ja gut Sonnyboy. Ich bin da, wie versprochen, siehst Du?“ Gus nickte tapfer. Dann verzog sich sein Gesicht. „Wo sind Mama und Mama?“ Er starrte aus weit aufgerissenen Augen Brian an, der leicht zusammen zuckte.
 

Brian suchte Justins Blick. Wortlos tauschten sie sich aus. Sie konnten es nicht länger heraus zögern. Sie mussten es ihm sagen. So vorsichtig wie irgend möglich, erklärte Brian seinem Sohn, dass seine Eltern einen Unfall gehabt hatten. Gus Augen wurden riesig vor Angst. „Sind sie im Krankenhaus?“ fragte er mit heller, panikdurchzuckter Stimme. „Nein“, sagte Brian, „sie sind jetzt an einem anderen Ort…“ Oh Gott, er wünschte, er müsste das nicht tun. Oder hätte wenigstens irgendeine vernünftige Erklärung, die Gus verstehen und trösten könnte… aber die gab es nicht. „Wo?“ entfuhr es Gus schrill. „Ich weiß es nicht! Ich wünschte, ich wüsste es – aber ich weiß es auch nicht…“, krächzte Brian. „Wann kommen sie wieder?“ Gus hatte angefangen zu weinen.
 

Unbemerkt war Justin zu ihnen getreten und hatte sich vorsichtig neben sie auf die Coach gesetzt. „Gus“, sagte er leise. Der zitternde Junge schaute ihn an. „Mama und Mama haben dich sehr lieb, das weißt du doch?“ Gus nickte. „Und du weißt, dass sie, egal, was geschieht, immer bei dir sein wollen? Dass es das wichtigste für sie ist, zu dir zu kommen, sich um dich und deine Schwester zu kümmern, euch lieb zu haben?“ Gus nickte erneut, während große Tränen über sein Gesicht rollten. „Zu dem Ort, an dem sie jetzt sind, geht jeder Mensch eines Tages. Aber von dort kann man nicht zurück kommen. Egal, wie sehr man sich das auch wünscht, egal, wie sehr man die Menschen, die man liebt auch vermissen mag.“ Gus bebte. „Aber warum?“ „Ich weiß es nicht“, sagte Justin aufrichtig, „niemand weiß es. Aber ich glaube, es ist ein guter Ort.“ „Kann ich dann nicht zu ihnen gehen?“ „Wir alle werden das irgendwann einmal tun. Aber dazwischen liegt das Leben. Und wenn du jetzt gehen würdest, was würde dann aus Papa werden? Du würdest ihn alleine lassen. Und was soll er denn ohne dich tun?“ Gus schaute seinen Vater an, der ihn um Fassung ringend anlächelte. Gus schlang seine Arme um Brian und sagte zu ihm: „Keine Angst, Papa. Ich gehe nicht weg. Ich bleibe bei dir. Ich lasse dich nicht allein. Du musst keine Angst haben! Ich versprech’s“, sagte er und drückte ihn wild. Brian hielt seinen Sohn fest und murmelte in sein Ohr: „Ich hab dich lieb, Gus.“ „Ich hab dich auch lieb Papa! Aber Du darfst nicht weggehen! Auch nicht an den Ort! Und Justin auch nicht!“ Brian und Justin schauten sich über Gus‘ Kopf hinweg an. „Danke“, sagte Brian heiser.
 

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Zweieinhalb Stunden später saßen Justin und Brian nebeneinander auf dem Tapeziertisch am Fenster und schauten über die Stadt, die langsam in der Dämmerung versank. Gus schlummerte bereits tief und fest, der Tag war anstrengend für ihn gewesen. Für sie alle. Sie waren noch einmal gemeinsam einkaufen gegangen, weil Brian meinte, dringend Kleidung zum Wechseln zu brauchen. Er hatte immer noch die knitterige Armani-Hose an, was zwar keinen außer ihn ernsthaft störte – aber Justin sah ein, dass auch Brian ein Häppchen Normalität verdient hatte. Und sei es, dass er das Gefühl hatte, sich blicken lassen zu können und nicht auszusehen wie der letzte Penner. Da Gus sich weigerte, weder seinen Vater noch Justin aus den Augen zu lassen, zogen sie gezwungenermaßen gemeinsam los. Brian hatte sich ziemlich zusammen gerissen und hatte sich brav auf den Erwerb einiger schlichter Levis und T-Shirts beschränkt, die ihm auch ohne großes Anprobieren passen dürften. Er schnappte sich noch ein paar Unterhosen und Socken dazu.
 

Auf dem Rückmarsch hatte Brian kurz vor einem Sushi-Laden halt gemacht. Justin und Gus hatten die Nase gerümpft und Brian danach gezwungen, auf sie zu warten, während sie sich ein paar Burger und Pommes im benachbarten Diner einpacken ließen. Justin hatte noch ein paar kalte Dosen Bier draufgelegt, dann waren sie wieder die Stufen zu Justins Wohnung hochgekeucht. „Kein Wunder, dass du so dürr bist trotz der Fresserei“, hatte Brian geschnauft, „bei dieser Scheiß-Rennerei!“ „Scheiße sagt man nicht“, korrigierte Gus seinen Vater. Justin musste zum ersten Mal seit langer Zeit fast Lachen. Da kamen ja heitere Zeiten auf Brian zu…
 

In der Wohnung hatten sie ihr Essen postwendend verdrückt. Gus war schon beinahe eingeschlafen, als er noch den letzten Pommes frittes im Mund hatte. Rasch hatte Justin das Bett ausgeklappt und bezogen, während Brian seinem Sohn bei der Toilette half.
 

Sie öffneten sich jeder ein Bier und Brian erzählte von den Telefonaten. Justin zog ärgerlich die Brauen zusammen, als er von Lindsays Mutter berichtete. „So eine dumme Gans! Du hast völlig richtig gehandelt. Du kannst ihnen Gus nicht einfach überlassen! Lindsay und Melanie hätten das niemals gewollt! Du bist sein Vater! Und ein guter dazu!“ Brian verzog den Mund: „Sag das nicht. Ich war bisher für Gus wohl kaum ein Vater, auch wenn ich’s probiert habe. Ich hab auch viel versiebt. Bin zum Lederball geturnt und habe dich mit ihm hängen gelassen zum Beispiel. Ich hab ihn in letzter Zeit kaum zu Gesicht bekommen, denn streng genommen habe ich als Elternteil nicht wirklich gezählt. Ideell, ja – aber auf dem Papier war ich gar nichts. Ich konnte nur auf den guten Willen seiner Mütter hoffen. Und dann sind sie einfach nach Kanada abgehauen. Was hätte ich denn tun sollen? Ich habe eine Firma, Menschen sind von mir abhängig, da kann ich nicht ständig alles stehen und liegen lassen…“ er schluckte und brach ab.
 

„Denk an meinen Vater oder deinen! Würdest du dich Gus gegenüber so verhalten?“ warf Justin ein. „Ich hoffe nicht, dass es einmal so weit kommt mit mir“, entgegnete Brian zweifelnd. „Es kommt nicht darauf an, ob du rund um die Uhr bei ihm warst. Für ihn bist du sein Vater. Er liebt dich! Und du liebst ihn. Egal, was kommt, das ist das Wesentliche.“ „Manchmal reicht das nicht“, sagte Brian leise. Justin starrte an ihm vorbei in die Dämmerung. „Dann musst du dein bestes versuchen“, antwortete er schließlich, „selbst wenn du scheitern solltest. Und das wirst du nicht.“
 

Sie schwiegen ein paar Minuten, während sie langsam ihr Bier tranken. „Was willst du jetzt tun?“ fragte Justin schließlich. „Zurück nach Pittsburgh“, murmelte Brian kaum verständlich. „Wann?“ fragte Justin. „So bald wie möglich. Es gibt viel zu regeln. Ich muss das mit dem Sorgerecht klären, so schnell es geht. Morgen früh. Ich sollte vor der Fahrt auch noch etwas schlafen. Wir können auch in ein Hotel wechseln, wenn wir dich stören.“ Justin starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. Er stellte sein Bier neben sich auf den Tisch und verschwand im Halbdunkel der Wohnung. Brian hörte ihn rumoren. Ihm wurde kalt. War’s das jetzt? Schmiss Justin sie raus? Nein, brachte er sich selbst zur Raison, das wäre völlig unsinnig. Aber ein Teil von ihm konnte von dem Gedanken nicht lassen. Vorsichtig drehte er sich um. Justin stand vor seinem Kleiderregal und stopfte Wäsche in seine verfluchte Duffle Bag. Wie er dieses Teil hasste! Immer, wenn er es zu Gesicht bekommen hatte, war Justin gerade dabei gewesen, ihn wieder Mal sitzen zu lassen. War es das, was gerade passierte? Er durfte bleiben, aber Justin würde sich verdünnisieren, bis er außer Sichtweite war? Aber Justin würde niemals gehen, ohne sich von Gus zu verabschieden…
 

Er ging ein paar Schritte in Richtung des jüngeren Mannes. „Was soll das werden?“ kam es etwas schärfer, als er beabsichtigt hatte. „Ich packe“, sagte Justin nur. „Das seh‘ ich selbst! Und wohin soll die Reise gehen?“ „Ich komm mit“, sagte Justin nur kurz angebunden. „Was? Wieso? Du lebst doch hier! Was willst du in Pitts? Sehsucht nach Mama?“ „Ich hab’s versprochen“, antwortete Justin kurz angebunden und stopfte weiter unverdrossen Hemden in seinen Beutel. „Was versprochen?“ fragte Brian verwirrt. Justin warf ihm einen scharfen Blick von unten herauf zu. „Das ist das letzte, was ich zu Mel und Linds gesagt habe, als ich mit Gus zu dieser elenden Toilette gegangen bin. Ich habe ihnen versprochen, gut auf Gus aufzupassen. Und das werde ich auch gottverdammt tun. Auch wenn es beinhaltet, dass ich hinter dir herjagen muss, um dir, bei Bedarf, kräftig in den Hintern zu treten.“ „Herzlichen Dank, aber ich bin kein Kleinkind!“ „Du vielleicht nicht – aber Gus ist es. Und erzähl mir bitte Mal, wie du es schaffen willst, von heute auf morgen dein ganzes Leben so umzuorganisieren, wie es nötig sein wird, ohne dass Gus zu kurz kommt? Was steht alles an? Die Firma? Die Beerdigungen? Das Sorgerecht? Wo soll Gus wohnen? Hat er überhaupt ein Bett? Wo geht er zum Kindergarten? Muss er zum Arzt? Wer macht ihm was zu essen? Wer kümmert sich um ihn, während du versuchst, diese Kleinigkeiten – und das war nur eine winzige Auswahl von ihnen – zu erledigen? Willst du ihn etwa irgendeiner fremden Person anvertrauen, während er um seine Mütter trauert?“
 

Brian war zusammen gefahren. Ihm wurde etwas schwindelig bei diesen Aussichten. „Aber du hast doch hier Verpflichtungen. Du lebst hier. Ich kann doch nicht von dir verlangen, dass du hier alles stehen und liegen lässt…“ „Tust du auch nicht. Du verlangst hier gar nichts. Ich tue, was ich will und was ich muss. Die Ausstellung läuft, die können mich auch telefonisch kontaktieren, wenn sie etwas von mir wollen. War sowieso so geplant, ich wollte ja eh nach Kanada. Termindruck hab ich aktuell nicht. Wenn ich Glück habe, bekomme ich einen festen Galerievertrag, dann muss ich hier auch keine Klinken putzen mehr gehen. New York kommt auch eine Weile ganz prima ohne mich aus, glaub mir. Und jetzt werde ich fertig packen, dann werden wir die Wohnung soweit auf Vordermann bringen, dass sie noch steht, wenn ich zurück komme, und dann hauen wir uns für ein paar Stunden hin.“ „Mein Gott, wo ist der niedliche kleine Twink hin, der mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat und niemals gewagt hätte, mir Kommandos zu geben?“ seufzte Brian kopfschüttelnd. „Keine Ahnung. Kenn ich den?“ erwiderte Justin. Brian sah, dass er ein Grinsen unterdrückte.
 

Na warte…

Heimkehr

XII. Heimkehr
 

Brian saß auf der Rückbank des Mietwagens und starrte müde auf die vorbei sausende Landschaft. Justin hatte für den ersten Teil der Fahrt das Steuer übernommen. Sie waren beide erschöpft, also hatten sie beschlossen, sich die Fahrerei zu teilen, so dass der jeweils andere bei Gus sitzen und ein wenig Kräfte sammeln konnte. Gus war schon rasch wieder eingeschlummert. Das Brummen des Autos schien beruhigend auf ihn zu wirken. Brian hatte die Zeit genutzt, um einige dringende Telefonate zu tätigen. Er hatte sich von Ted über den Stand der Dinge informiert, bei Michael angerufen und dankenswerter Weise Ben erwischt, der ihm ruhig die Lage schildern konnte. Dann hatte er bei Melanies ehemaliger Kanzlei angeklingelt. Ihre Kollegen waren erschüttert, als er ihnen erzählte, was geschehen war. Aber sie waren professionell genug, ihm sofort Rechtsbeistand anzubieten und darauf hinzuweisen, dass Melanie und ihre Partnerin juristisch valide Verfügungen hinterlassen hatten, die im Falle ihres Ablebens in Kraft treten sollten. Sie würden sich darum kümmern, sich so rasch wie möglich mit dem Testamentsvollstrecker in Verbindung zu setzten. Außerdem existierten wohl auch noch Lebensversicherungen zugunsten der Kinder. Um Gus College-Geld hatte sich Brian nicht ernsthaft Sorgen gemacht, aber er wusste, dass Michael und Ben eine solche Unterstützung Jennys sehr zu schätzen wissen würden.
 

Er musterte seinen Sohn. Viel von Lindsay hatte er rein äußerlich nicht mitbekommen. Die etwas hellere Haut, vielleicht. Das freundliche Wesen. Aber war sowas erblich? Oder hing es nicht vielmehr von dem Umfeld ab, indem man aufwuchs? Er musste an seine eigene Kindheit denken. Die Zeichen der Zuwendung, die er von seinen Eltern bekommen hatte, konnte er an den Fingern abzählen. Sie hatten von ihm erwartet, dass er funktionierte. Er hatte selten geschafft, ihrer hohen Messlatte zu entsprechen. Später hatte er begriffen, dass sie Dinge von ihm forderten, denen sie selbst nie gerecht geworden waren. Als sei er nur eine Verlängerung ihrer selbst, in die sie ihr eigenes Versagen projizierten. Er hatte sich, sobald er begann auf eigenen Füßen zu stehen, seine eigenen Werte, seine eigene Welt geschaffen, so weit weg von den Erfahrungen seiner Kindheit, wie es nur möglich war. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen lassen. Nur der Erfolg gab einem Recht. Liebe war ein riesiger Haufen Scheiße, verkitschte Biologie, die nur zu Hass führen konnte. Das waren lange Zeit seine Credos gewesen. Und nun? Er sah Gus an, dann Justin. Er wusste es nicht. Aber die Regeln von einst hatten ihr Verfallsdatum erreicht. Sie würden ihm heute nicht mehr helfen können.
 

Es war schon später Nachmittag, als sie sich Pittsburgh näherten. Justin zeichnete auf der Rückbank Comicfiguren für Gus, der ihm staunend zuschaute. Hoffentlich nichts aus Rage… „Papa, Justin kann ganz toll malen!“ verkündete er. „Ich weiß, Gus. Er hat auch das Bild gemacht, dass dich und deine Mutter zeigt, als du noch ein Baby warst.“, antwortete Brian, während er die Straße im Blick behielt. Und das, auf dem er sich nackt mit einem sehr schmeichelhaft in Szene gesetzten Schwanz in den Laken räkelte… Gus schaute Justin verdattert an. „Das hast du gemacht?“ Justin nickte. „Toll. Dann bist du ja ein Künstler, wie Mama!“ „Ich bin dabei, es zu werden“, antwortete Justin vorsichtig.
 

Es waren nur noch ein paar Meilen, als Brian vom Highway abbog. „Häh? Wo willst du denn hin?“ wunderte sich Justin. „Shoppen“, antwortete Brian. „Nicht schon wieder!“ entfuhr es Justin. „Nicht was du denkst… Aber du hast mich ja freundlicherweise darauf hingewiesen, dass Gus jede Menge Kram braucht, um bei mir nicht vor die Hunde zu gehen. Und er wird einiges brauchen, wenn er allein die erste Nacht in meinen Fängen heil überstehen soll. Also Zähne zusammengebissen und rein ins Vergnügen!“ befahl Brian. Sie hielten vor einem großen außerstädtischen Einkaufszentrum.
 

Gefühlte drei Wochen später war das Auto bis zur Kapazität vollgestopft. Neben kindertauglichen Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen hatten sie mit Müh und Not ein zusammenbaubares Kinderbett in den Kofferraum gequetscht. Ein Abstecher durch Toys’r‘us hatte dafür gesorgt, dass auch die letzte Nische gestopft war. Justin hielt Gus auf dem Schoss, damit es ihnen überhaupt gelang, sich auch noch hinein zu stopfen. Gus war zunächst aufgekratzt gewesen und hatte von den Dingen erzählt, die er zu Hause habe und die er daher eigentlich gar nicht brauche. Sie hatten es nicht übers Herz gebracht, ihm zu erklären, dass sie nicht wussten, was aus seinem zu Hause werden sollte. Wer würde den Hausstand in Kanada auflösen? Lindsays Eltern? Was würde mit all den Dingen geschehen, die von dem Leben der beiden Frauen zeugten? Die Trauer lag wie ein schwerer Schatten über ihnen, während sie durch das blitzende Einkaufsparadies gingen. Gus war zunehmend müde geworden und begann ein wenig zu quengeln, dass er Hunger habe. Ein giftig aussehendes Wassereis machte ihn – und Justin – kurzfristig wieder munterer.
 

Als sie gehen wollten, hatte Gus sich noch die Nase am Schaufenster eines Zoohandels platt gedrückt. Seine Augen waren weit aufgerissen, er gluckste und zeigte mit dem Finger auf das Objekt seiner Sehnsüchte. „Was ist das denn?“ fragte Brian entgeistert. „Das, mein Lieber, sind Meerschweinchen“, belehrte ihn Justin schadenfroh. „Ich war mal in Mexiko. Da gab’s die als Hauptspeise. Nicht schlecht, ein wenig wie Hühnchen…“ Justin knuffte ihn in die Rippen: „Untersteh dich!“ „Papa, sind die nicht süß?“ fragte Gus hingerissen. „Äh…“, antwortete Brian hilflos. Justin musste sich zusammen reißen. Wenn Brian sich jetzt zu der Äußerung hinreißen ließe, dass er die Meerschweinchen auch süß fände, hätte er etwas, um ihn den Rest seines Lebens regelmäßig zu piesacken… Falls sie sich ab und an wieder sehen würden… Wer wusste das schon… Brian räusperte sich und murmelte: „Ja, die sehen echt lec… liebenswert aus.“ Justin starrte ihn strafend an, aber Gus lächelte glücklich. „Mama hat gesagt, dass ich, wenn ich zur Schule komme, auch ein Meerschweinchen bekomme, um das ich mich dann kümmern muss, wie sie sich um mich und Jenny kümmert!“ Brian kniff die Augen zusammen. Oh weh… Hatte sie das wirklich gesagt oder haute ihn sein kleiner Sohn gerade in die Pfanne? Was war jetzt die pädagogisch richtige Reaktion, Gus klar zu machen, dass sein Vater und diese debilen kleinen Pelzfetzen zusammen gar nicht gingen? „Bis du zur Schule kommst, ist es noch lange hin“, drückte er sich. „In ein paar Monaten schon!“ berichtigte ihn Gus. Na prima. Auf der endlosen to do-Liste vor Brians innerem Auge entstanden die nächsten Eintragungen: Schule finden. Pelztiere vermeiden.
 

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Gegen neun Uhr abends erreichten Sie endlich das Loft. Gus wurde dazu verdonnert, die Tür aufzuhalten, während Brian und Justin ihre Erwerbungen und Justins Gepäck in den Aufzug wuchteten. Der Lift rumpelte bedrohlich, brachte sie aber dennoch pflichtgerecht ans Ziel. Brian schloss die Tür auf. Die Luft war abgestanden. Er war schon seit Wochen nicht mehr hier gewesen. Und davor nur, um kurz etwas zu holen, um dann fluchtartig wieder in Richtung Firma zu entschwinden. Die Putzfrau kam nach wie vor regelmäßig, alles war sauber und ordentlich. Justin führte Gus an der Hand herein und sah sich kurz um. „Hast du was verändert?“ fragte Justin mit gerunzelter Stirn. „Nö, wieso?“ „Sieht irgendwie so leer hier aus.“ „Alles beim Alten. So jung und schon so vergesslich…“ „Mmm“, machte Justin nur, aber es klang nicht zufrieden.
 

Sie parkten Gus vor dem Fernseher und schoben ihm eine neu erworbene Spongebob-DVD rein. Das mochte zwar nicht unbedingt die wertvollste Art der Kinderbetreuung sein, aber es ging ihnen erst mal darum, Gus abgelenkt und beschäftigt zu wissen. Kindertante Riesenglotze vollbrachte ihr Wunderwerk. Dann machten sie sich daran, ihre gesammelte Beute in die Wohnung zu schleppen und nach Funktion zu sortieren. Justin riss den Kühlschrank auf, um die Lebensmittelberge zu verstauen. Jede Menge Sachen, die gesund für Kinder waren, ihnen schmeckten oder denen Justins hungriger Blick aus diversen anderen Gründen nicht hatte widerstehen können. „Himmel Brian, wovon lebst du? Da ist ja nicht mal Schnaps oder Poppers im Kühlschrank!“ „Esse meistens in der Firma“, antwortete Brian kurz angebunden, während er aus den neuen Klamotten seines Sohns die Etiketten schnippelte. Sobald Justin außer Sichtweite war, stand ein Besuch bei Junior-Armani an, das schwor er sich.
 

Justin brutzelte irgendetwas in der Küche, das verflucht lecker roch und garantiert pro Bissen mindestens 500 Kalorien hatte. Brian hatte derweil Gus‘ Waschzeug im Badezimmer aufgebaut, seine Kleidung in seinen Schrank geräumt und das Spielzeug übergangsweise in der Ecke mit dem Futon verstaut. Etwas zögerlich schnitt er jetzt die Verpackung von dem selbst zu montierenden Kinderbett. Das hatte schon sein müssen, obwohl dieses Modell sein ganzes innenarchitektonisches Konzept zunichtemachte. Er würde beizeiten schon noch was anderes finden. Aber seinen Sohn in dem Bett schlafen zu lassen, in dem er hunderte von Kerlen gevögelt hatte – irgendwie erschien ihm das nicht richtig. Wahrscheinlich war er gerade dabei, alt und verklemmt zu werden. Vor seinem inneren Auge erschien Lindsay und erzählte ihm, was sie davon hielt. Ach Linds… Er spürte das inzwischen wohl vertraute Würgen in sich aufsteigen und schüttelte sich. Er puhlte die Einzelteile des Bettes aus der Packung und ordnete sie auf dem Boden an. Er musterte die Bedienungsanleitung. Konnte ja eigentlich nicht so schwer sein, wenn er an die Vollpfosten dachte, die sowas normalerweise kauften. Ächzend machte er sich daran, die Einzelteile zusammen zu pfriemeln. Nachdem er sich das zweite Mal übel den Finger geklemmt hatte, ohne dass ein nennenswerter Fortschritt zu sehen gewesen wäre, rief dankenswerter Weise Justin zum Essen. Gus setzte sich artig auf seinen Stuhl, schaute aber etwas knapp über die Tischkante. Brian schob ihm behelfsweise zwei Kissen unter den Hintern, so dass er auf eine angemessene Höhe kam. Brian überschlug kurz, welche Türme von Futter er voraussichtlich vertilgen würde, bis er auf seine angestrebte Körpergröße gekommen sein würde. Die Chancen standen nicht schlecht, dass sein Sohnemann ihm die Haare vom Kopf fressen würde. Aber das kannte er ja schon. Er riskierte einen Seitenblick auf Justin, der hochkonzentriert sein Essen in sich hinein schaufelte. Angesicht dessen, was hier gerade auf ihn zukam, konnte er wahrscheinlich auch ein paar Kohlenhydrate nach sieben vertragen, dachte sich Brian und langte zu.
 

Nach dem Essen erbarmte sich Justin und montierte mit wenigen reduzierten Handgriffen kommentarlos das Bett zusammen. Sie schoben es in den Zwischenraum zwischen Brians Bett und dem Badezimmer, wo Gus seinem Vater nahe sein konnte und nicht vom Licht gestört werden würde. Brian ging mit Gus ins Bad, half ihm beim Waschen, putzte mit ihm die Zähne, übte mit ihm, wie man im Stehen pinkelt, und steckte ihn in einen seiner neuen Schlafanzüge. Beim Kauf hatte er nicht bemerkt, dass Gus sich zielsicher einen ausgesucht hatte, der über und über mit kleinen verkitschten Meerschweinchen bedruckt war. Das nahm ja bedrohliche Züge an. Er musste aufpassen, sonst würde aus seinem Sohn am Ende noch eine Schwuchtel…
 

Brian blieb bei Gus, bis dieser in seinem neuen Bett – oh Gott, das war ja Spongebob-Bettwäsche! In seinem Loft! – eingeschlummert war, dann trat er zu Justin, der im Hintergrund leise die Reste ihrer Montage-Aktion beseitigt hatte. „Ist es okay, wenn ich heute Nacht auf dem Sofa penne?“ fragte dieser ihn. „Es ist schon spät. Morgen kann ich Debb oder Michael wegen einer Bleibe fragen…“ „Natürlich ist das okay. Und wo du pennen willst, musst letztlich du entscheiden. Du bist hier willkommen. Das war einmal dein zu Hause. Und Gus braucht dich im Moment. Wenn du keinen Bock aufs Sofa hast, können wir dir auch was anderes besorgen“, Brian biss sich auf die Zunge. Hatte er sich zu weit vorgewagt? Er wollte nicht, dass Justin ging, soweit war es ihm klar. Aber er hatte gelernt, dass klammern genauso wie wegstoßen und wild fremdficken auf Dauer Justin in die Flucht trieb. Das konnte doch nie klappen. Vielleicht war es doch besser, wenn Justin ging.
 

Justin nickte langsam. „Okay“, sagte er. „Das Sofa ist schon in Ordnung. Wir können ja erst mal schauen, wie die Dinge sich in den nächsten Tagen entwickeln, solange bleibe ich.“
 

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Brian erwachte im Morgengrauen. Gähnend rappelte er sich auf und schlurfte mit halb geschlossenen Augen hinüber zum Bad und stieß die Tür auf. Er erstarrte. Durch das milchige Glas der Dusche schimmerte ein nackter Männerkörper, mit dem Rücken zu ihm. Milchig weiße Haut, nass zurück gestrichenes goldblondes Haar, ein perfekt gerundeter einladender Hintern… Er hatte ein Deja vu. Genauso hatte Justin ausgesehen, als er ihn nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht unter der Dusche gefunden hatte. Er hatte daraufhin gleich mit zwei seiner Gewohnheiten gebrochen. Er hatte ihn noch einmal gevögelt, obwohl ihre Nacht bereits vorüber gewesen war. Und er hatte mit ihm geredet. Damit hatte er sich wahrscheinlich die eigene Grube geschaufelt. Es war, als wäre eine Figur aus einem Film, die man sonst bequem wegklicken konnte, plötzlich zum Leben erwacht. In Brians Fall war das wohl ein Porno gewesen. Genau genommen hatte er gerade das getan: In einem Porno gelebt. Sein Aussehen und Auftreten hatte es ihm möglich gemacht, das zu erleben, das Ted nur mithilfe der Flimmerkiste realisieren konnte. Der Unterschied war nur der gewesen, dass er für sein Verhalten auch noch Lorbeeren bezog. Und sich die Syphilis eingefangen hatte. Brian Kinney, der geilste Hengst von Pittsburgh. Gut, dass Selbstachtung so ein seltenes Gut war – die Typen hatte Schlange gestanden, um sich von ihm benutzten zu lassen. Oder hatten sie ihn benutzt? Egal, wenn er mit ihnen fertig war, hatte er sie weggeklickt wie Ted seine Programme. Aber Justin hatte sich nicht wegklicken lassen. Sturer kleiner Hurensohn! Brians Augen streichelten über Justins Kehrseite. Seine Nerven schrien danach, neben ihn zu gleiten, über ihn herzufallen, als gäbe es kein Morgen. Damit würde er alles ruinieren. Das Gleichgewicht zwischen ihnen hielt leidlich, ohne dass er auch noch ausrastete und versuchte, Justin an die nicht vorhandene Wäsche zu gehen. Sein ganzer Körper schrie danach. Es war so lange her… In Justin zu versinken… Er würde noch den Verstand verlieren. Die Zähne zusammen beißend schloss er unbemerkt wieder die Tür. Sein Herz pochte und er war steinhart. Er wühlte im übervollen Kühlschrank und fand eine eiskalte Cola-Dose, die er sich in den Schritt drückte. „Papa, was machst du da?“ fragte ihn plötzlich Gus mit staunendem Blick.
 

„Das verstehst du“, würgte Brian hervor, „wenn du älter bist.“

Trauerkekse

XIII. Trauerkekse
 

Als Justin voll angekleidet aus dem Badezimmer trat, fand er Brian und Gus in trauter Zweisamkeit vor dem Fernseher vor. Gus versuchte gerade, Brian die Figuren von Spongebob zu erklären und Brian bemühte sich leidlich, ihm zu folgen, während er in seinem Kaffee rührte. „Kaffee ist in der Maschine“, brummelte er zu Justin, ohne ihn anzuschauen. Justin ließ seinen Blick über die beiden gleiten. Sein Herz tat ihm weh, als er den kleinen Jungen anschaute, der so viel zu ertragen hatte. Und Brian… Justin atmete tief durch. Es war hart, ihm so nahe zu sein, ohne ihm wirklich nah sein zu können. Ihn zu berühren. Zu schmecken. Auch verschlafen und zerknittert von der Nacht, müde und traurig, wie er es gerade war, war Brian für Justin das schönste Lebewesen, das er sich vorstellen konnte. Er wollte sich um ihn wickeln und ihn nie wieder los lassen. Und er wusste, dass er das nicht durfte, sollte ihr Arrangement nicht in einer Katastrophe enden. Und er war hier um Gus‘ willen, mahnte er sich. Das hatte er versprochen.
 

Das Telefon klingelte und Brian nahm ab. „Wann?“ fragte er angespannt. Dann: „Mr. Taylor ist bei mir, ich werde es ihm ausrichten“, „Wir werden da sein.“
 

„Was ist los?“ fragte Justin. Eine Frage, die er sich in den letzten Tagen auf brutale Art viel zu häufig hatte stellen müssen.
 

„Mels Anwälte. Heute Nachmittag ist die Testamentseröffnung von Linds. Wir sollen kommen.“
 

„In Ordnung“, sagte Justin mit gedrückter Stimme.
 

„Du musst dir was Anständiges anziehen.“
 

„Ich hatte nicht vor, nackt zu erscheinen, falls du das befürchtet haben solltest. Ich hab noch nen alten Anzug, den ich bei der Beerdigung meines Großvaters getragen habe. Der müsste noch einigermaßen passen.“
 

„Wann ist er gestorben?“
 

„Als ich sechzehn war.“
 

Brian rollte die Augen. Justin in einem Schuljungen-Outfit war bestimmt nicht das, was für einen Besuch beim Notar angemessen war. Eher für einen Besuch im Strip-Club. Als Hauptakt. „Nix da“, beschloss Brian, „du rennst nicht in Klamotten los, bei denen jeder denkt, du seist minderjährig und ich dein Sugar-Daddy! Ich hab noch deine Maße, ich ruf bei meinem Schneider an und frag nach, ob sie etwas Passendes bis heute Nachmittag zur Verfügung stellen können.“
 

„Würde es Sinn machen, wenn ich protestieren würde?“
 

„Nein.“
 

Jetzt war es an Justin, mit den Augen zu rollen. „Nun gut. Mach, was du willst. Ich werde ein braver Junge sein… Was machen wir mit Gus? Kommt er mit?“
 

„Besser nicht. Ich dachte, dass er solange vielleicht zu Michael und Ben und Debbie… und wer sonst noch grad im Versailles von Stepfordhausen zu Gast ist… kann. Da müssen wir sowieso heute hin. Und Jenny ist Gus Schwester. Die beiden sollten sich sehen, auch wenn sie noch ein Baby ist, das kaum etwas mitbekommt.“
 

Justin stimmte ihm zu. Das Telefon klingelte erneut und Brian meldete sich. „Für dich, die Galerie“, sagte er. Justin nahm ihm den Hörer ab. Das Gespräch war kurz, Justin sagte nicht viel mehr als „Oh“, „Das wäre wunderbar“, „Das Angebot nehme ich an“. Er legte auf und die Spur eines Lächelns legte sich über seine Züge, auch wenn es etwas traurig geriet.
 

„Gute Neuigkeiten ausnahmsweise?“ fragte Brian aufmerksam.
 

„Ja. Meine Bilder gehen weg wie warme Semmeln, die Käufer überbieten sich gegenseitig. Und je mehr sie zahlen desto besser für meinen Bekanntheitsgrad. Und der ist die Währung der Kunstwelt. Und natürlich gut für mein Konto. Sie bieten mir den ständigen Vertrag an.“
 

„Das… das freut mich, Justin. Wirklich. Das ist wunderbar.“ Brian fühlte echten Stolz. Er hatte immer gewusst, wie gut Justin war. Er verdiente es, dass auch andere das erkannten, dass sein Werk, seine Mühen gewürdigt würden. Und es zeigte, dass alles nicht vergeblich gewesen war… Er drückte Justins Schulter, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Es hatte Zeiten gegeben, da wäre es ihnen absurd erschienen, dass ein Schultertätscheln der höchste Grad an Berührung sein sollte, den sie sich bei klarem Bewusstsein erlauben konnten.
 

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Brian hatte ihm einmal gesagt, dass es keine Rolle spiele, was er über Justins Kunst dachte. Das stimmte nicht. Für Justin spielte es eine Rolle. Eine Zentrale. Auch wenn sie sich nie wieder näher kommen sollten als jetzt – Justins Kreativität und seine Gefühle für Brian schöpften aus derselben Quelle. Waren in einigen Bereichen eins. Ohne Brian Zustimmung, was seine Arbeit anging, passte nichts so recht ineinander.
 

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Nachdem Brian und Gus im Bad fertig geworden waren, brachen sie auf. Sie parkten den Leihwagen direkt vor der Haustür der Novotny-Bruckners. Als sie ausstiegen, passierte gerade Monty die Straße, seine jüngere Tochter im Kinderwagen vor sich her schiebend. Er musterte Brian säuerlich. „Mein Beileid“, sagte er, blieb aber nicht stehen. Nun ja, Brian hatte sich auch wirklich nicht bei ihm beliebt gemacht.
 

Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis sie alle Umarmungen, Beteuerungen und Tränen hinter sich gebracht hatten. Inzwischen war auch Jennifer Taylor mit ihrer halbwüchsigen Tochter zu der kleinen Trauergemeinde gestoßen und half, wo sie konnte. Es bedrückte sie, ihren Sohn unter so unschönen Umständen wieder zu sehen. Sie und Molly hatten Justin vor ein paar Monaten in New York besucht, auch telefonierten sie häufig – aber mehr ließen Distanz und vollgestopfte Terminkalender bisher nicht zu. Gus wurde von Debbie unter Beschlag genommen, die ihn unter Brians kritischem Blick knuddelte. Gus wirkte etwas erschlagen von der geballten Aufmerksamkeit. Brian fürchtete, dass der Junge von der emotional aufgewühlten Meute förmlich überrollt wurde. Der Kleine hatte immer noch nicht ganz begriffen, was vor sich ging – wie könnte er auch? Er war sehr tapfer – aber er war ein kleines Kind. Wie viel konnte er ertragen? Justin rettete Gus und trug ihn auf dem Arm zu seiner schlafenden Schwester in den ersten Stock, dass er etwas Ruhe bekommen konnte. Jennys Gegenwart, die zu seinem Alltag gehört hatte, würde ihm vermutlich gut tun. Justin schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, was Gus braucht, dachte Brian dankbar. Ihm war klar, dass er ohne Justins Hilfe momentan ziemlich geliefert sein würde. Er musste sich ranhalten – wer weiß, wann Justin wieder verschwand. Bis dahin musste er die Sache einigermaßen im Griff haben.
 

Er kniff die Augen zu und atmete tief durch. Aus dem betroffen hin und her wogendem Gespräch konnte er entnehmen, dass Lindsay und Melanie inzwischen identifiziert worden waren. Oder das, was von ihnen übrig geblieben war… Brian merkte, wie ein entsetztes Schütteln in ihm aufstieg. Er nutzte einen unbeobachteten Augenblick und glitt durch die Tür in den akkurat gepflegten Garten, um sich erst mal eine Zigarette anzuzünden. Er stand ruhig im Licht des Sommermorgens, es ließ die Welt friedvoll und golden erscheinen… wie Justin. Er wünschte, alles könnte wieder heil sein, wieder in Ordnung. Aber nichts war so, wie es sein sollte. Er watete durch einen riesigen Haufen Scherben und war froh über jeden Schritt, den er schaffte, ohne sie die Füße zu zerschneiden. War jemals alles in Ordnung gewesen? Wahrscheinlich nicht. Aber er hatte es sich einreden können. Jetzt ließ sich nichts mehr schönreden.
 

Er hörte das leise Quietschen der Tür und seufzte leise. Er ahne, wer da nahte. „Wie geht es dir, Junge“, kam Debbies Stimme ungewohnt sanft. Er blies den Rauch aus: „Wie soll’s mir gehen? „Zum Kotzen“ wäre wahrscheinlich ein Euphemismus dafür.“ „Klugscheißer.“ „Und spielt es wirklich eine Rolle, wie’s mir geht? Ich bin immerhin am Leben. Und ich muss mich um Gus kümmern, wie auch immer das gehen soll, da kann ich nicht die ganze Zeit rumheulen und deine Trauerkekse mampfen.“ „Natürlich spielt das eine Rolle. Friss ja nicht wieder alles in dich rein, hörst du! Kinder haben feine Antennen dafür, wenn man sie belügt oder ihnen etwas verheimlicht – und das gilt auch für dein Innenleben. Und du hast eins, ob du‘s zugeben willst oder nicht.“ Brian schwieg. Dann setzte er an und sagte, ohne Debbie anzuschauen: „Gus und Justin hat’s auch fast erwischt. Sie sollten auch im Flieger sein. Durch einen dummen Zufall haben sie ihn verpasst.“ Debbie schlug die Hände vor den Mund: „Oh Gott Brian…“ Sie wusste, dass das auch Brians Ende gewesen wäre. „Aber sie leben. Das ist doch, was zählt, oder?“ fragte Brian. „Ja“, antwortete Debbie und legte sacht eine Hand auf Brians Schulter, „vielleicht hatte der große Herr da oben ja ein Einsehen.“ „Wenn er das hätte, würden Mel und Linds jetzt mit ihren Kindern am Frühstückstisch sitzen – und nicht gerade aus Einzelteilen von irgendeinem Forensiker-Freak wieder zusammen gepuzzelt werden.“ Debbie verpasste ihm eine leichte Kopfnuss: „Sag sowas nie wieder!“ „Aber so ist es doch, Debb, auch wenn‘s dir nicht gefällt. Glaubst du etwa, mir gefällt das?“ „Nein, aber man muss nicht darauf herumreiten. Das ist pietätlos, auch wenn es noch so sehr die Wahrheit ist. Und wem hilft es, das zu wissen?“ Brian nahm seinen letzten Zug und drückte die Zigarette aus. „Mmm, keinem wahrscheinlich.“ Er wandte sich, um wieder zurück ins Haus zu gehen. Debbie hielt ihn zurück. „Und was ist mit Justin und dir?“ Brian hob abwehrend die Augenbrauen. „Was soll schon sein? Nichts, wir sind durch mit dem Thema, schon vergessen? Er hat Mel und Linds versprochen, sich um Gus zu kümmern und das zieht er auch eisenhart durch. Und ob er das in meiner oder deiner Gegenwart tut, ist dabei völlig egal.“ „Das glaubst du doch selber nicht“, entgegnete Debbie kopfschüttelnd. Ihre großen schwarzen Plastikohrringe klapperten leise. „Was ich glaube, ist doch völlig egal. Wichtig ist, was ich weiß. Justin und ich sind nicht zusammen. Wir kümmern uns um Gus. Und wenn hier alles wieder in einigermaßen geregelten Bahnen läuft, geht er zurück nach New York. Ich habe mein Leben, er hat sein Leben. So sind die Dinge, mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.“ Er verschwand im Inneren des Hauses. Debbie sah ihm nachdenklich nach. Brian hatte sich seit Justins Fortgang sehr zurückgezogen, sie hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen. Aber sie wusste, dass Brian ihr nur eine sehr abgespeckte Version der Wahrheit geliefert hatte. Sie konnte nur hoffen, dass er selbst nicht wirklich daran glaubte.
 

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Kurz nach eins erschien ein Kurier, der Justins Anzug brachte. Emmet hatte mit Jennifers und Debbies Hilfe – Carl hatte sich auch angeboten, war aber wegen Untauglichkeit ausgemustert worden – eine Suppe und Häppchen für alle bereitet, die sie still verzehrten. Sie sprachen über die Verstorben, ihre Erinnerungen an sie, das Gemeinsame, das sie erlebt hatten, ihre Stärken und Schwächen. Gus spielte mit Molly in Jennys Zimmer mit Legosteinen, die Michael übereifrig für seine Tochter besorgt hatte, obgleich diese noch nicht einmal Laufen konnte. Molly war zwar schon fast ein Teenager, aber wohlbehütet, wie sie aufgewachsen war, konnte sie sich in die kindliche Bastelei vertiefen, ohne das als unter ihrer Würde zu empfinden. Zugleich war sie stolz, dass man ihr Gus anvertraut hatte, den sie bisher immer nur flüchtig zu Gesicht bekommen hatte. Sie verstand durchaus, wie wichtig es für den kleinen Jungen war, dass man ihn so normal wie möglich behandelte und auf andere Gedanken brachte, und gab sich der Aufgabe freudig hin. Sie dachte daran, wie sie sich fühlen würde, wenn ihre Familie plötzlich stürbe, und gab sich ihre größte Mühe mit dem Kind. Gus schien sie zu mögen und verfolgte fasziniert, wie sie die bunten Steinchen zu verschiedenen Tierfiguren zusammen fügte. Brian beobachtete sie vorsichtig durch den Türspalt und lächelte ein wenig gequält, als er erkannte, welches Tier Molly da gerade montierte… Aber es war gut zu sehen, wie Gus mit dem Mädchen spielte und ihr Handeln mit großen Augen und vergnügtem Quietschen verfolgte.
 

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Justin schluckte, als er sich im Badezimmerspiegel betrachtete. Der Anzug, den Brian geordert hatte, war pechschwarz, dem Anlass entsprechend. Er hatte sich die Haare zurück gegelt, was ihn etwas älter als mit seiner sonstigen Wuschelfrisur erscheinen ließ. Der letzte Anzug, den er getragen hatte, war der eines Bräutigams gewesen… Es klopfte an der Tür. Es war Brian. „Bist du fertig?“ rief er durch die Tür. „Ich komme“, murmelte Justin und musterte sich ein letztes Mal. Er sah erwachsen aus. Jungenhaft, aber kein Junge mehr. Ein Mann. Wann war das geschehen?
 

Als Justin heraustrat, stand Brian fertig umgezogen im Flur. Auch er trug schwarz. Über seinen eleganten Anzug hatte er einen dünnen farblich fassenden Sommermantel geworfen, der seine breiten Schultern und seine schlanke Hüfte betonte. Auch in so einer Situation konnte Brian es einfach nicht lassen, dachte Justin innerlich den Kopf schüttelnd. Er würde sich zu Tode schwitzen. Geschah ihm recht, dem Fashion Victim. Andererseits war es ein Zeichen dafür, dass Brian sich im Moment zumindest halbwegs gefangen hatte. Die Nerven würde er wahrscheinlich auch brauchen, wenn Lindsays letzter Wille verlesen werden würde. Es ging aller Wahrscheinlichkeit nach ja auch um das Sorgerecht für Gus. Justin betete, dass Brian nicht enttäuscht werden würde. Vor allem auch um Gus‘ willen. Er war sich etwas unsicher, was er mit der Sache zu tun hatte. Die Anwälte hatten nach seiner Anwesenheit verlangt – aber warum? Hatte Lindsay ihn mit etwas bedacht, das mit ihrer Verbundenheit, was die Kunst als Lebensinhalt betraf, zu tun hatte? Das würde Sinn ergeben.
 

Sie wurden noch ein letztes Mal von allen geherzt, was Brian mit einem unwirschen Gesichtsausdruck über sich ergehen ließ, dann brachen sie auf. Gus hatten sie zuvor ein Dutzend Mal versprechen müssen, rasch wieder zurück zu kommen und sich nicht in die Nähe eines Flughafens zu begeben, bis er bereit gewesen war, sich unter Debbies Fuchtel zu begeben. Michael hatte ihn mit einigen seiner heißgeliebten Actionfiguren gelockt, was ihn zeitweise abzulenken versprach. Dennoch war Brian und Justin nicht wohl, Gus alleine zu lassen – aber es ging nicht anders. Was auch immer Lindsay verfügt hatte – es war besser, wenn Gus es später von ihnen erfuhr als in einem kalten Raum voller fremder Menschen.

Verliebt, verlobt, verheiratet

XIV. Verliebt, verlobt, verheiratet
 

Im Flur des Bürogebäudes, in dem die Testamentseröffnung stattfinden sollte, wurde sie bereits von Melanies ehemaligen Kollegen aus der Pittsburgher Kanzlei in Empfang genommen. Nachdem sie Beileidsbekundungen ausgetauscht hatten, erklärten die Anwälte, dass das Testament unter Verschluss gehalten worden sei, eine vorherige Sichtung daher nicht möglich gewesen war. Sie würden also unvorbereitet mit dem konfrontiert werden, was da kommen solle. Brian hatte sie bereits von der schwierigen Situation um das Sorgerecht für Gus informiert, dass zumindest schon Vorbereitungen getroffen worden waren, falls es in dieser Hinsicht zu Problemen kommen sollte. Probleme, die in Form von Lindsays Eltern bereits im Verlesungszimmer auf sie warteten.
 

Lindsays Eltern trugen ebenso wie sie Trauer, aber auf eine betont gediegene Art und Weise, die ihnen bestimmt auch den anschließenden Besuch eines Golfclubs erlauben würde. Ebenfalls anwesend war Lindsays Schwester und ihr aktueller Gatte. Der wievielte war es? Immer noch der Dritte? Oder schon der Vierte? In jede Falle hatten Lindsays Eltern garantiert Geld zu den Feierlichkeiten zugeschossen, auch wenn es der zehnte Bräutigam gewesen wäre. Hauptsache es war ein Kerl. Lindsay hatte keine müde Mark für ihre Hochzeit von ihren Eltern zu Gesichte bekommen, die ihr deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass ihre Beziehung, ihre Liebe, in ihren Augen nichts galt. Familie Peterson stand nicht auf, um sie zu begrüßen, als sie den Raum betraten. Die einzige Äußerung, die aus dem Mund von Lindsays Vater kam, war an Justin gerichtet und hatte einen fast angeekelt klingenden wütenden Unterton. „Wer sind sie denn?“ blaffte er Justin an.
 

Justin zog nur eine Augenbraue hoch und antwortete ruhig: „Justin Taylor, angenehm, Sir. Mein Beileid auch an Sie, Mrs. Peterson.“ Er nickte höflich in ihre Richtung und setzte sich dann zwischen Brian und eine junge Anwältin in bordeauxfarbendem Kostüm. Brian hätte beinahe gegrinst, wenn die Situation ihn nicht derart unter Strom hätte stehen gelassen. Justin hatte sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen, geschah ihnen recht. Da war Justins Country-Club-Erziehung mal zu etwas gut gewesen…
 

Auch die Petersons hatten juristischen Beistand im Gepäck. Die Anwälte raschelten mit ihren Unterlagen, als der Testamentsverleser erschien. Er war ein etwas hutzeliger alter Mann, dessen runzeliges Gesicht beinahe hinter einer riesigen Hornbrille verschwand, die er wahrscheinlich schon als Student getragen hatte. Er stellte sich kurz als Mr. Smith vor, grüßte die Anwesenden und sprach ihnen routiniert sein Beileid aus.
 

„Nun, kommen wir zum letzten Willen von Mrs. Lindsay Peterson“, erhob er schließlich das Wort. „Ich werde Ihnen jetzt die Kernpunkte erläutern, die Details klären Sie bitte anhand des Schriftstückes mit ihrem juristischen Beistand. Also“, hob er an, „Mrs. Peterson lebte in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft mit Mrs. Melanie Marcus. Da eine gleichgeschlechtliche Ehe in diesem Bundesstaat nicht als rechtsgültig anerkannt wird, haben die beiden Frauen einzelne, aber aufeinander abgestimmte Testamente hinterlassen. Die Eröffnung des Willens von Mrs. Marcus findet Morgen an diesem Ort statt, wenn die betroffenen Personen alle angereist sein werden. Der weltliche Besitz Mrs. Petersons, Schmuck, Möbel, persönliche Gegenstände werden hauptsächlich an ihre beiden Kinder zu gleichen Teilen vererbt. Um den familiären Pflichtanteil abzudecken, hat Mrs. Peterson Weisungen hinterlassen, welche Stücke, die ihrem eigenen, nicht dem mit Mrs. Marcus gemeinsamen Besitzstand angehörten, an ihre Blutsverwandten fallen sollen. Es besteht eine detaillierte Auflistung aller zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Testamentes erfassten Objekte, die genau kenntlich macht, was wer erhalten soll. Berücksichtigt werden auch Freunde der Familie, dabei handelt es sich jedoch weniger um Vermögenswerte als um Objekte persönlichen Wertes, die eine Anwesenheit der Empfänger nicht nötig gemacht haben. Ich bitte sie, die Besitzstandsauflistung nach der Sitzung an sich zu nehmen und ihr die entsprechenden Informationen zu entnehmen. Die anderen Erbbeteiligten werden von uns in schriftlicher Form informiert werden. Die Verantwortung für die Auflösung des bestehenden Hausstandes, der sich nach meinen Informationen inzwischen in Toronto befindet, obliegt den Sorgeberechtigten der beiden Haupterben, Gus Peterson und Jenny Rebecca Marcus.“
 

Justin rutschte nervös auf seinem Stuhl. Brian saß kerzengerade, jeder Muskel in seinem Leib schien angespannt zu sein. Die Petersons starrten gebannt auf den Redner. Jetzt kam es.
 

„Das Sorgerecht für Jenny Rebecca wird im Testament ihrer leiblichen Mutter geregelt, wozu Mrs. Peterson in ihrem Willen die Zustimmung hinterlassen hat. Genauso verhält es sich mit der Regelung für Mrs. Petersons leiblichen Sohn. Das Sorgerecht für Gus fällt in erster Instanz an seinen leiblichen Vater, Brian Aidan Kinney, und an seinen Lebensgefährten, Justin Taylor.“
 

Eine Welle der Erstarrung schwappte durch den Raum.
 

„Die beiden sind dazu verpflichtet, Gus regelmäßigen Kontakt zu seiner Schwester zu ermöglichen. Das Sorgerecht kann nur angetreten werden, wenn sich die beiden Genannten in einer festen, in der Lebensführung einer Ehe entsprechenden Beziehung befinden. Lehnen sie die Übernahme des Sorgerechtes ab oder leben getrennt voneinander, fällt das Sorgerecht an Lindsay Petersons Eltern mit denselben Auflagen. Sollten diese ablehnen oder aus nicht absehbaren Gründen nicht dazu in der Lage sein, den Jungen groß zu ziehen, fällt das Sorgerecht und die Verpflichtungen an Mrs. Petersons Schwester.“
 

„Das ist ja wohl ein Witz“, schrie noch ein paar Sekunden eisiger Stille Lindsays Mutter auf. „Meine Tochter war… verwirrt in ihrer Lebensführung! Sie können doch nicht zulassen, dass ich meinen Enkelsohn, diesen… Perversen überlasse!“
 

„Mrs. Peterson“, seufzte der alte Mann auf, der solche Ausbrüche durchaus gewohnt zu seien schien, „das Testament ist beglaubigt und wurde von ihrer Tochter im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte verfasst und unterschrieben. Es ist juristisch valide. Mr. Kinney ist Gus‘ leiblicher Vater, sein Anspruch käme auch ohne das Testament vor dem ihren. Und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, gleichgültig ob zwischen Männern oder Frauen, sind in diesem Lande zwar nicht rechtlich anerkannt, wie das im Falle einer Ehe wäre, aber existent und dazu berechtigt, Kinder aufzuziehen. Das gilt besonders auch für die eigenen. Wenn Sie das anders sehen, können Sie das Testament anfechten. Aber ich warne Sie, hier ist dazu nicht der richtige Ort. Wichtig ist an dieser Stelle ist nur, ob die Erstgenannten die Konditionen erfüllen und bereit sind, die Fürsorge für Gus Peterson zu übernehmen.“
 

Der alte Jurist starrte sie unergründlich durch die dicken Gläser seiner Hornbrille an. Sowohl Justin als auch Brian erwachten aus ihre Erstarrung und schrien fast gleichzeitig: „Ja!“
 

„Nun gut. Sorgen Sie gut für ihren Sohn. Den Großeltern steht mindestens ein regelmäßiger Besuch Gus‘ im Monat zu. Die Details entnehmen Sie wie alles Übrige bitte der schriftlichen Fassung. Die Sitzung ist hiermit geschlossen.“ Er hämmerte tatsächlich mit einem kleinen Holzschlägel auf den Tisch, den er aus seiner Tasche gezaubert hatte, und verschwand mit einer für einen so klapperig aussehenden Mann erstaunlichen Geschwindigkeit aus der Tür. Wahrscheinlich weil er ahnte, was jetzt kommen würde.
 

Lindsays Mutter war wie zu Eis gefroren, ihr Vater sah aus, als würde er ihnen gleich an die Gurgel gehen und Lindsays Schwester ließ sich von ihrem Gatten trösten und schien böse in sein Ohr zu flüstern. Mrs. Peterson trat auf Brian zu, der sich gerade vom Stuhl aufgerappelt hatte, ihre Augen waren Schlitze: „Damit kommen Sie nicht durch, das ist Wahnsinn! Gus kommt zu seiner Familie und in geordnete Verhältnisse, nicht zu Ihnen und Ihrem… Lustknaben!“ Brians Augen glühten bedrohlich: „Sie haben keine Ahnung von meinen Verhältnissen. Und auch nicht von Justins. Und falls sie noch weiter vorhaben gegen mich oder meinen… Mann ausfällig zu werden, sollten Sie bedenken, dass meine Anwälte gerade jedes Wort mithören. Glauben sie bloß nicht, dass ich Skrupel habe, Sie wegen Beleidigung zu verklagen. Oder wegen irgendetwas anderem, das ich amüsant finde. Dann können wir bei Ihren monatlichen Besuchen immer schön die Prozessakten austauschen. Willkommen in der Familie, Mrs. Peterson!“ Sie wollte noch etwas nachsetzten und auch ihr Mann hob zum Sprechen an, aber ihre Anwälte gingen dazwischen und hinderten Sie daran, die Sache noch weiter zu verschlimmern. Brian wandte sich zu Justin um, der etwas käsig im Gesicht aussah. Er packte ihn am Handgelenk und fauchte: „Komm, wir gehen… Schatz!“
 

Brian raste wortlos zum Auto, so dass Justin nicht viel anderes übrig blieb, als hinter ihm her zu japsen, schon allein, da Brian ihn noch immer am Handgelenk hinter sich her schleifte. Geistesgegenwärtig hatte er noch eine Kopie des detaillierten Testamentes geschnappt, die einer der Anwälte ihnen hingehalten hatte. Justin fand sich ins Auto gestopft, während Brian mit zusammen gebissenen Lippen Gas gab. Justin sagte lieber nichts, wartete ruhig, bis Brian sich wieder lösen würde. Brian fuhr in halsbrecherischem Stil durch den Berufsverkehr, bis Sie beim Loft angekommen waren. „Was ist mit Gus?“ wagte sich Justin jetzt doch vorsichtig vor. „Wir müssen erst reden“, erwiderte Brian nur abgehackt. Verriegelte das Auto und scheuchte Justin in Richtung Haustür.
 

Sie nahmen die Treppen, auf den Aufzug zu warten hatten sie keinen Nerv gehabt. Die Wohnung sah so anders aus. Überall hatte Gus bereits seine Spuren hinterlassen. Immer noch schweigend, aber voller Anspannung, durchwühlte Brian seine Bar. So gut war die Putzfrau wohl doch nicht, zwischen den Flaschen hatte sich ordentlich Staub abgelagert. Er füllte zwei Gläser mit einem teuren Whiskey, den er normalerweise nur für besondere Anlässe aufhob, und drückte Justin eins der Gläser in die Hand. Justin hatte sich auf die Coach gesetzt, nippte vorsichtig und schaute Brian unter halb gesenkten Lidern hindurch an. Brian griff nach dem Telefon, während er auf und ab ging und den Inhalt seines Glases in sich kippte.
 

„Mickey? Ich bin’s. Hör zu, wir müssen hier noch was klären, wird noch ein bisschen dauern. Ist mit Gus alles okay?... Gut… Sag Molly, sie ist ein Schatz und Hunter, dass er seine Zunge in Gegenwart meines Sohnes hüten soll, sonst ist sie ab… Kannst du Gus vielleicht rüber ins Loft bringen… so in einer Stunde? Du bist der Beste! Ja, ich dich auch… bis später.“ Er legte auf und blieb vor Justin stehen. Dann ließ er sich ächzend auf die Kissen neben Justin fallen und legte den Kopf in den Nacken. „Warum-zum-Teufel-hast-du-das-gemacht?“ fragte er Justin, während er an die Decke starrte.
 

„Warum zum Teufel hast du das gemacht?“ fragte Justin in neutralem Tonfall zurück.
 

„Ich weiß auch nicht. Ich hab nur Gus gehört und Sorgerecht und das ich’s nicht kriege, wenn ich verkünde, dass du und ich mitnichten… Und da ist es mit mir durchgegangen. Verdammt egoistisch, ich weiß. Was mich zu meiner Frage zurück bringt: Warum hast du das gemacht?“ er legte den Kopf zurück und blickte Justin prüfend an. Justin schaute in sein Glas und rührte gedankenverloren mit dem Finger in der scharfen Flüssigkeit.
 

„Weil’s das Richtige war?“ sagte er etwas zaghaft.
 

„Netter Versuch. Klar, das Richtige. Du hast’s versprochen, immer das Beste für Gus und blablabla… Du bist ja so ein Heiliger. Warum hast du das gemacht?“, schnaubte Brian.
 

„Ich weiß es nicht“, sagte Justin und blickte vorsichtig zu Brian hinauf. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es ist einfach aus mir raus geschossen, ohne dass ich darüber nachgedacht habe. Wenn du die ganze Wahrheit haben willst, musst du wahrscheinlich abwarten, bis irgendein Psychodoktor meine tiefsten Vaterkomplexe aus mir heraus gekitzelt hat.“
 

„Vaterkomplexe? In Bezug auf wen? Auf Gus? Oder – Gnade dir – auf mich?“ Brians Stimme hatte einen leicht entsetzten Unterton.
 

Justin musste trotz des Ernstes der Situation fast lachen: „Immer noch Angst, für meinen Sugar-Daddy gehalten zu werden?“
 

„Wie vor allen Dämonen der Hölle… Aber anscheinend bin ich neuerdings keineswegs dein Sugar-Daddy, sondern dein treu liebender Sowas-wie-ein-Ehemann-wenn’s-in-diesem-Land-schwule-Ehen-gäbe?“
 

Justin zuckte zusammen. „Ach Scheiße!“ entfuhr ihm.
 

„Sei froh, dass Gus dich jetzt nicht hört. Ich bin entsetzt, Sonnenschein, ich bin seit – lass mich auf die Uhr schauen – ah, 80 Minuten - dein Ehemann und alles, was dir dazu einfällt ist „scheiße“? Bist wohl diesmal nicht schnell genug gerannt?“ Brians neckende Stimme hatte einen… verletzten?... Unterton.
 

Justin starrte ihn an. Brian hatte ihn Sonnenschein genannt. „Nein, Brian, nein, bitte nicht. Stell mich nicht als Runaway-bride dar. Wir hatten einen Entschluss gefasst. Zusammen. Aber ich habe nie gesagt, dass ich dich nicht will. Ich habe nur gesagt, dass ich dich so nicht will. Nicht als Zwang. Nicht als Lüge. Und wenn du ehrlich bist, dann musst du zugeben, das wolltest du auch nicht.“
 

Brian ließ die Schultern hängen. Er langte nach der Flasche und goss ihnen nach. Nach einer Weile antwortete er: „Du hast wahrscheinlich recht. Wir hätten uns wahrscheinlich nach einem halben Jahr gegenseitig mit unseren neuen Laura Ashley-Gardinen erdrosselt.“ Justin lachte kurz auf, aber es war kein freudvolles Lachen. „Als würdest du solche Scheußlichkeiten kaufen!“ „Vielleicht wäre ich dann so weit gewesen, wer weiß…“
 

Sie schwiegen beide gedankenverloren.
 

„Und was machen wir jetzt?“ sagten sie beide fast gleichzeitig. Sie müssten beide lächeln. „Ein Schritt nach dem anderen, würde ich vorschlagen“, ergriff Justin das Wort.
 

„Erst mal müssen wir das mit dem Sorgerecht für Gus hieb- und stichfest machen. Du hast Lindsays Familie gesehen. Die werden das nicht auf sich beruhen lassen. Aber, Justin, willst du das wirklich? Auch um deiner selbst willen? Was wird aus deiner Karriere? Ich kann auch versuchen, das alleinige Sorgerecht durchzusetzen…“ „Nein“, unterbrach Justin ihn, „die Verfügungen in Linds Testament waren recht klar. Es ist zu bezweifeln, dass Sie dir auf dieser Grundlage das alleinige Sorgerecht geben werden. Ein jahrelanges Gezerre um Gus wäre die geringste Folge – und was würde ihm das antun? Ich liebe Gus. Ich war in der Nacht seiner Geburt bei ihm, ich habe ihm seinen Namen gegeben, ich habe seine Windeln gewechselt, seinen Sabber weggewischt, mein Name war eines seiner ersten Worte – wie könnte ich das nicht? Auch wenn ich Mel und Linds nichts versprochen hätte, wäre das so. Ich will für ihn da sein, nicht weil ich muss, sondern weil ich kann und weil ich das wirklich wünsche. Und meine Kunst… Ich habe den Galerievertrag, ich kann auch hier arbeiten und ab und an pendeln. Klar, vielleicht gehen die Dinge dann etwas langsamer voran, als wenn ich ständig vor Ort wäre. Aber wen kümmert das? Mich nicht. Ich stehe jetzt schon an einem Punkt, den die meisten ihr ganzes Leben nicht erreichen. Und ich vermisse New York nicht. Klar, es hat vieles an Inspiration zu bieten, aber das hat fast jeder Ort der Welt. Selbst Pittsburgh. Ich kann ohne Probleme auch hier arbeiten.“
 

Brian musterte ihn. „Du übersiehst da nur eine Kleinigkeit“, hakte er ein. „Das alles wird nur laufen, wenn wir vor Gott und der Welt ein glückliches Paar sind. Wie stellst du dir das vor?“
 

„Ich weiß es nicht. Ich habe dir mehr als einmal gesagt, dass ich dich liebe. Daran hat sich nichts geändert.“ Brian musste schlucken, seine Finger verkrampften sich um sein Glas. „Aber wir befinden uns momentan nicht in einer Beziehung. Wir werden lügen müssen. Können wir das?“
 

Brian wagte nicht, ihn anzuschauen. Er sagte leise: „Das werden wir wohl müssen. Und nenn es nicht Lüge. Nenn es… mmm… fantasievolle Interpretation der Realität. Hast du mit irgendwem über den Status unserer Beziehung seit… du weißt schon… geredet?“
 

„Nein, nicht wirklich. Ich hab höchstens Daphne gegenüber etwas angedeutet, als sie versucht hat, mich zu löchern. Und du?“
 

„Höchstens Debbie. Und das, was der Rest sich vielleicht zusammengereimt hat.“
 

Justin hob erstaunt die Augenbrauen. „Wir müssen sie auf Linie bringen. Wir mögen damals zwar die Hochzeit abgesagt haben, weil es der falsche Zeitpunkt war – aber wir waren nie getrennt. Gibt es jemanden, der sich verplappern könnte?“
 

„Debbie hält dicht. Daphne bestimmt auch. Ted weiß seinen Job zu schätzen. Emmet hat keine Ahnung, und es gibt auch wichtigeres in seinem Leben. Michael...“
 

„Ich weiß, er ist dein bester Freund und du liebst ihn – aber er hat mehr als einmal den Schnabel aufgemacht, wenn er ihn besser gehalten hätte“, ein scharfer Zug erschien um Justins Mund. Meistens waren Michael und er gut miteinander zu recht gekommen, aber es hatte auch Spannungen gegeben, die meist auf Michaels Konto gingen.
 

Brian behagte die Sache zwar nicht, aber er musste Justin zustimmen. Es ging um Gus, das hatte Priorität. „Also gut“, seufzte er, „Michael und Anhang bekommen die offizielle Version. Was ist mit deiner Mutter?“
 

„Schweigt wie ein Grab.“
 

„Wir werden als Paar auftreten müssen, für Michael und falls die Petersons wen auf uns ansetzten, der in unserer Schmutzwäsche wühlen soll.“
 

Justin fuhr zusammen. „Daran hatte ich gar nicht gedacht. Was, wenn Sie äh…, sagen wir, Untersuchungen über dein Sexualleben anstellen lassen.“
 

„Was sollen sie denn herausbekommen? Dass ich schwul bin? Na, so eine Überraschung!“
 

„Ich dachte da eher an deinen Bodycount“, meinte Justin mit einem betretenen Seitenblick.
 

„Häh?“ starrte ihn Brian an und langte nach einer Zigarette.
 

Justin verdrehte die Augen: „Was ist, wenn sie hinter die Polonaise nackter williger Kerle kommen, die normalerweise durch dein Bett trottet?“
 

Brian schüttelte sich nur. „Da müssen sie aber tief graben. Hier ist gar nichts getrottet.“
 

„Was?“ fragte Justin perplex.
 

Brian schaute die Le Corbusier-Vase an, die schon lange keine Blume mehr zu Gesicht bekommen hatte. „Ich sagte: nada! Nix! Fehlanzeige. Aber schau doch mal in deiner verschissenen Duffle Bag nach. Ich glaube, du musst versehentlich meinen Schwanz mit eingepackt haben, als du dich nach New York verpisst hast!“ Brians Stimme bekam jenen aggressiven Tonfall, der typisch für ihn war, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte. „Und was ist mit dir? Was ist, wenn sie deine Dreckwäsche ausbuddeln? Was finden sie? Die Hauptattraktion auf allen Orgien der Christopher Street? Das Betthäschen der Reichen und Schönen? Oder jemanden, der sich unsterblich in irgendeinen seifigen Möchtegern-Künstlertypen verknallt hat, zu dem er wieder zurück will?!“
 

Jetzt wurde es auch Justin ein wenig zu bunt: „Red‘ keine Scheiße. Wenn ich auf dem Weg nach New York deinen Schwanz geklaut habe, dann hat sich meiner beim Abschnippeln so böse in deiner Sockenschublade verheddert, dass er dort wahrscheinlich immer noch vor sich hin schlummert. Und der einzige Künstlertyp, mit dem ich in irgendeiner Weise eine innige Beziehung aufgebaut habe, ist wahrscheinlich der anonyme Designer meiner guten Freunde Mr. Dildo und Mr. Buttplug!“
 

Brian prustete kurz los und fing sich dann schnell wieder. „Wir sind echt bescheuert“, stellte er fest und lächelte Justin an.
 

„Sind wir wohl, ja“, stimmte Justin ihm zu. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das seiner berüchtigten Sonnenschein-Aura schon recht nahe kam, aber immer noch von Trauer und Stress getrübt war. Er rückte ein wenig an Brian heran und murmelte: „Wenn wir schon das liebende Paar spielen müssen, dann sollten wir vielleicht erst ein wenig üben.“
 

Brian starrte auf Justins Lippen. Er sah das Lächeln, er sah, wie rot und feucht sie waren, wie verheißungsvoll. Es war wahrscheinlich keine gute Idee, aber er konnte nicht anders. Er beugte seinen Kopf hinunter und legte sachte seine Finger unter Justins Kinn und zog ihn zu sich heran. Die erste Berührung ihrer Münder war fast keusch, ein sanfter Druck, Lippe an Lippe, dann öffnete Justin seinen Mund ein wenig und ließ seine Zunge tastend über Brians Oberlippe gleiten. Für Brian gab es kein Halten mehr. Er schlang seine Arme um Justin, zerrte ihn fast brutal an sich und drängte sich ihm entgegen. Ihre Zungen trafen sich, nass, fest, seidig, streichelten einander, bekämpften sich, neckten und lockten. Justin hatte seine Hände in Brians Haar vergraben. Ihr Blut kochte. Brian konnte Justins Erregung an seinem Schenkel spüren und wusste, dass auch er steinhart war. Sein Hirn konnte nur noch einen Gedanken fassen… Justin… Justin… wie er schmeckte, wie er roch, wie er sich anfühlte. Seine Finger krochen wie von selbst in Justins Traueranzug, zogen das Hemd aus der Hose, ertasteten die warme glatte Haut… er hatte ihn… und Gus… am selben Tag… es war fast wie einst.
 

Ein metallisches Geräusch riss sie aus ihrem Rausch. Sie schafften es gerade noch, sich voneinander zu lösen, als Michael mit Gus auf dem Arm hinein spaziert kam. Verdammt… ihre Stunde war verflixt schnell umgegangen. Gus rannte auf sie zu und drückte sie abwechselnd, was sie mit hochroten Gesichtern über sich ergehen ließen, sich dezent die Sofakissen in den Schritt drückend. „Schaut mal Papa, Justin, was mir Molly gemacht hat!“ Er präsentierte den beiden atemlosen Männern ein Sammelsurium an Legofiguren, die sie so gut wie in ihrem Zustand möglich würdigten. „Sie sind wundervoll, Gus“, sagte Justin, „stell sie doch auf die Fensterbank, damit wir sie auch gut sehen können!“ Gus trabte strahlend mit seiner Beute zur Fensterfront, was Brian und Justin Zeit gab, sich einigermaßen wieder zu ordnen.
 

Michaels wachsamen Blick war die Lage nicht verborgen geblieben. „Soso, ihr hattet also was Wichtiges zu klären“, grinste er. „ihr seid wieder zusammen?“
 

„Immer noch!“ ließ Brian verlauten und machte eine aufgebrachte Miene.
 

„Wie jetzt?“ entfuhr es Michael verblüfft.
 

„Wir waren nie getrennt!“ half Justin aus. „Nach der Hochzeits-Geschichte und mit mir in New York wollten wir das nur nicht an die große Glocke hängen.“
 

„Du hättest es mir echt sagen können“, meinte Michael etwas säuerlich zu Brian.
 

„Tut mir leid, Mickey, aber ich musste das erst mal für mich klären“ versetzte Brian.
 

„Das ist doch echt mal wieder typisch“, Michael verdrehte die Augen, „ihr seid echt unverbesserlich! Wie ist die Eröffnung gelaufen?“
 

Sie erzählten es ihm in wesentlichen Zügen und mit geschickten Aussparungen. Er nickte: „Glückwunsch, ihr beiden. Jetzt habt ihr eine richtige Familie, wie wir!“ Brians Züge versteinerten kurzzeitig. „Morgen bin ich dran mit Melanies Willen. Ihre Eltern mussten erst noch anreisen. Wünscht mir Glück!“ fuhr Michael unbeirrt fort.
 

Das taten sie aufrichtig. Michael verabschiedete sich rasch, er wollte zurück zu Jenny.
 

Gus hatte sich zwischen Brian und Justin aufs Sofa gesetzt und berichtete ihnen von den Ereignissen des Tages. Es war gut, dass er so gelockert erschien, Molly und Hunter hatten ganze Arbeit geleistet. Über seinem Kopf musterten sie sich. Hunger lag in ihren Augen. Aber auch das Wissen darum, dass vieles zwischen ihnen nach wie vor ungeklärt war. Und darum, dass sie mit Gus in einem mehr oder weniger offenen Raum schlafen würden.
 

Schicksalsergeben bezog Justin das Sofa.

Nachtwache

XV. Nachtwache
 

Brian hatte das Gefühl, kaum ein Auge zu bekommen zu haben. Anders als in den Nächten zuvor war nicht der traumlose Schlaf der Erschöpfung und Lähmung über ihn gekommen. Die Gedanken in seinem Kopf kreisten. Die Trauer hielt ihn fest in ihrem grausamen Griff. Zugleich tobten Visionen und Pläne durch seinen Kopf, was kommen sollte oder könnte, was er tun musste und was besser lassen, ohne dass sich ein roter Faden ergab. Seine wohlgeordnete Welt war aus den Fugen geraten, erst in kleinen Schritten und jetzt mit einem Fanal, die Zukunft verbarg sich widerspenstig vor ihm. Er fiel immer wieder in kurze Phasen des Wegdösens, in denen sein Hirn weiter rotierte, dass er nicht hätte sagen könnte, ob er wachte oder schlief, ob seine Gedanken eine reale Grundlage hatten oder reiner Traum waren. Er fühlte sich völlig ausgelaugt und zugleich fast erregt zitternd wach, als er einen Blick auf den Wecker riskierte. Die Nachtlichter über Pittsburgh brannten noch, der Verkehr draußen plätscherte verhalten, die Sonne war noch nicht am Horizont erschienen. Es war halb Vier. Die einzigen Geräusche in der Wohnung war das leise Brummen des Kühlschrankes und das tiefe Atmen Gus‘ und Justins. Er rappelte sich hoch. Seine Schlafanzughose rutschte etwas über seine Hüften, er zurrte sie wieder fest. Er hatte sich angewöhnt, bekleidet zu schlafen, nachdem Ted zu seinem morgendlichen Weckhahn geworden war, dem er sich nur äußerst ungern am Anfang eines gemeinsamen Arbeitstages nackt präsentieren gewollt hätte. Teds Gedanken waren ihn betreffend wahrscheinlich schon so schmutzig genug, ohne dass er ihnen noch zusätzlichen Zunder hätte verleihen müssen. Und eine Karriere als Teds Wichsvorlage strebte er nun beileibe nicht an. Außerdem war es alleine auf der Coach bei Kinnetic nachts des Öfteren ganz schön kalt gewesen. Mit Gus und Justin in der Wohnung war die Anschaffung der luxuriösen Nachtwäsche rückblickend ebenfalls eine sinnvolle Investition gewesen, zumindest im Augenblick.
 

Er ging die Stufen aus dem Schlafzimmer hinab und blieb neben Gus Bett stehen. Sein Sohn hatte sich zusammengerollt, seine kleinen Fäuste waren geballt, als wolle er etwas Unsichtbares bekämpfen. Die langen Wimpern zuckten, er träumte. Brian beugte sich zu ihm herab, kniete sich auf den Holzboden und legte seinen Kopf neben den des Kindes auf das weiche Kissen. Kurz schloss er die Augen, atmete Gus‘ Schlafgeruch ein. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Gus Hände lockerten sich, er gab leise Laute von sich, dann drehte er sich auf den Rücken, seine Muskeln entspannten sich. Brian strich ihm sanft durchs Haar, das seinem eigenen so glich. Aber Gus war Gus – nicht eine kleine Version seiner selbst. Gus schuldete ihm gar nichts. Er schuldete Gus alles.
 

Leise richtete er sich wieder auf und lief hinüber zur Küchenzeile. Er schenkte sich ein Glas kühlen Wassers ein und trank vorsichtig. Er war völlig ausgedörrt. Zögerlich ging er hinüber zur Sofaecke. Er blieb kurz stehen, dann trat er einen weiteren Schritt vor. Im Halbdunkel lag Justin da, tief in Kissen und Decke vergraben. Sein Atem ging regelmäßig und tief. Er musste tief schlafen. Das bläuliche Licht, das von draußen hinein reflektierte, ließ seine Haut fast durchscheinend erscheinen, das Haar, das ihm in wirren Strähnen in die Stirn fiel, wirkte silbrig. Brian musterte seine Züge. Mit den Jahren hatten sie sich verfestigt, an die Stelle kindlicher Niedlichkeit war eine fein geschwungene Eleganz getreten. Oh, Justin wusste den Niedlichkeits-Joker immer noch bestens auszuspielen, wenn sein waches Wesen seinem Gesicht Lebendigkeit verlieh. Jetzt wirkte er wie in Stein gemeißelt, eine kalte Schönheit, in sich selbst zurückgezogen und unnahbar. Kaum ein Hinweis war auf das goldene Lächeln zu finden, das ihm einst seinen Spitznamen eingefangen hatte. Wer war dieser erwachsene Justin? Er kannte ihn jungenhaft verspielt, neckend und albern – aber auch als zielstrebig, wütend und scharf wie blanker Stahl. Justin konnte weich wie Butter sein und im nächsten Augenblick hart wie Granit. Brian wusste, dass er niemals einen Mann so sehr gewollt hatte, wie diesen energievollen und rätselhaften jungen Künstler, nicht nur seinen Körper, sondern… alles. Was auch immer das war. Und er war sich im Klaren darüber, dass nichts selbstverständlich sein würde.
 

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Michael konnte nicht schlafen. Eine innere Unruhe trieb ihn an. Ständig schreckte er hoch, sah nach seiner Tochter, nach Hunter, Ben und seiner Mutter, die sich über Nacht einquartiert hatte. Er lauschte in die Stille auf ihren Atem, zitternd, in halber Erwartung, nichts zu hören. Das Leben war so zerbrechlich, jede Minute konnte alles auseinanderfallen…
 

„Lass es gut sein, Schatz“, kam Debbies Stimme in einem leisen Brummen, als er sich zum wiederholtem Male über sich beugte, ihr vorsichtig die Hand auf die Schläfe legte, den Puls suchend. Er fuhr kurz erschrocken zusammen. „Du kannst es nicht verhindert, wenn es geschieht. Aber du musst Vertrauen haben, in jede Minute, Stunde, in jeden Tag. Hör nicht auf zu glauben und zu hoffen.“ Michael stöhnte leise auf und ließ sich in Bens großen Lesesessel fallen. Debbie setzte sich auf und musterte ihn in der Dunkelheit. Sie beugte sich sacht vor und ergriff seine Hand.
 

Sie saßen eine Weile schweigend da. „Brian und Justin sind zusammen“, brach Michael die Stille. „Das ist schön, Schatz“, sagte Debbie warm. „Ich hab sie beim Rumknutschen auf der Coach erwischt, wie in den guten alten Zeiten immer dabei, sich gegenseitig aufzufressen. Er hat mir nichts davon gesagt. Die ganze Zeit“, fuhr Michael mit einem etwas bitteren Tonfall fort. Debbie hob erstaunt die Augenbrauen: „Was meinst du damit?“ „Sie waren nie getrennt, die ganze Zeit nicht. Und sie haben uns nichts davon gesagt, uns das Gegenteil glauben lassen. Wir sind doch Freunde, warum hat er sich mir nicht anvertraut?“ in Michaels Stimme war die Enttäuschung klar zu hören. Debbie wollte anheben zu sagen, dass er sich irren müsse, dass Brian zu ihr etwas ganz anderes gesagt habe… aber etwas hielt sie zurück. Es war ein unbestimmtes Gefühl, dass es besser wäre, zunächst die beiden Männer in dieser Sache zu Worte kommen zu lassen. Weder Brian noch Justin war ein Lügner. Entweder hatte sie oder Michael etwas falsch verstanden – oder sie hatten triftige Gründe, sie etwas anderes glauben zu lassen. „Brian hat sich ziemlich zurückgezogen in letzter Zeit, das weißt du doch. Und Brians Gründe sind für uns Normalsterbliche – oder eher Normaldenkende – nicht immer leicht zu begreifen. Auch du bist deinen Weg weitergegangen, der nicht der deines Freundes war – aber der deiner Familie, deines Lebens. Sei ihm nicht Gram, wenn er mit seinem Leben selbst klar kommen wollte. Er wollte dich gewiss nicht verletzten.“ Michael nickte, noch nicht ganz überzeugt aber schon etwas versöhnlicher gestimmt. „Du hast recht“, stimmte er seiner Mutter zu, „ich konnte – und wollte – auch nicht mehr hinter ihm her rennen, wie ich es früher einmal getan habe. Aber ich möchte seine Freundschaft auch nicht verlieren. Er ist und bleibt mir, was manches angeht, manchmal noch immer ein Rätsel.“ „Sah er glücklich aus – mit Justin, meine ich?“ fragte Debbie. „Wer sieht in diesen Tagen schon glücklich aus? Scharf wie Chili auf Justin trifft die Sache besser. Glücklich? Ich weiß es nicht. Aber er wird alle Kraft brauchen, bei dem, was auf ihn zukommt. Sie beide, meine ich. Linds hat ihnen das gemeinsame Sorgerecht vermacht“, fügte Michael hinzu. „Was?“ fuhr Debbie auf, „vorhin hattest du nur gesagt, dass das Sorgerecht an Brian gehe.“ „Oh, ich meinte das alleinige Sorgerecht gemeinsam mit Justin“, Michael schaute etwas schuldbewusst. Er hatte das Wesentliche mitteilen wollen, bei den Details war er wohl zu sparsam gewesen, was wohl auch daran lag, dass alle nach dieser Nachricht gleichzeitig begonnen hatten, auf ihn einzureden. „Das Sorgerecht geht an ihn und Justin“ wiederholte er.
 

Debbie bekam einen Verdacht.
 

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Als Justin aufwachte, hatte sommerliche Helligkeit längst das Loft durchflutet. Es war früh, gerade Mal gegen Sieben, doch Brian saß bereits in Jeans und T-Shirt an der Theke der Kücheninsel und grub sich durch den Stapel Papiere, die Justin gestern von ihren Anwälten entgegen genommen hatte. Kaffeeduft zog verführerisch durch den Raum, neben Brian stand eine halb geleerte Kanne.
 

„Guten Morgen“, sagte Justin leise in Rücksicht auf das schlafende Kind.
 

„Morgen“, antwortete Brian, ohne aufzuschauen.
 

Justin hätte sich schlagen können. Warum hatte er gestern Brian derart provozieren müssen? Das Gefühl des Kusses echote in ihm nach. Darum, natürlich. Er war so… ausgehungert gewesen. Aber nach außen so zu tun, als seien sie ein Paar, war eine Sache. Sich erneut in ein Beziehungschaos zu verstricken eine andere. Er musste seine Scheiß-Libido besser unter Kontrolle halten, wenn er nicht alles riskieren wollte. Es ging ja nun nicht mehr bloß um sie.
 

Brian kratzte mit einem Marker auf dem Papier herum, während Justin nach der Kanne langte. „Ich hab‘ Hunger“, hob Justin an, „willst du auch was?“ „Danke, hab mir vorhin schon was gemacht“, kam es kurz angebunden, während Brian die Augen über den Seiten zusammen kniff. Wahrscheinlich eine halbe Haferflocke mit einem Schluck natriumarmen Wassers, dachte Justin, während er den Kühlschrank nach den Zutaten für Pfannkuchen durchwühlte.
 

„Verdammt!“ fluchte Brian in sich hinein. „Kann ich dir helfen?“ fragte Justin betont beiläufig, während er genussvoll die Eier in eine Schale schlug, die er verdächtig vollgestaubt eben dort gefunden hatte, wo er sie einst hinterlassen hatte. „Das kann doch kein Mensch lesen“, schnaubte Brian und hielt ihm eine Seite Kleingedrucktes unter die Nase. Justin wischte sich die Hände ab und begann vorzulesen. Es war eine Einzelauflistung von Lindsays persönlichem Besitz, mit dem Namen des jeweiligen Erbnehmers dahinter. Brian starrte ihn nieder: „Wieso kannst du diese Hieroglyphen lesen? Bist du neuerdings kurzsichtig?“ „Ich will ja nichts sagen…“ entgegnete Justin, während er seine Nase besser wieder über seine Schüssel hängte, „aber es besteht eventuell, vielleicht und unter sehr unwahrscheinlichen Umständen auch die Möglichkeit, dass du eine Brille brauchst – und nicht ich in meinem jugendlichen Alter.“ Mit einem wütenden Schnauben riss Brian die Papiere wieder an sich und brummte zwischen zusammen gebissenen Zähnen: „Du träumst wohl, du blinde Natter!“ Justin sagte nichts und grinste schadenfroh die Wand an. In der Haut von Brians Augenarzt wollte er jetzt nicht stecken.
 

„Irgendetwas Neues in den Unterlagen?“ wechselte Justin weise das Thema, bevor Brian sich endgültig in eine beginnende Erblindung hineinsteigern konnte. „Lindsay hatte wohl ziemlich genaue Vorstellungen, wie wir auch nach ihrem Dahinscheiden nach ihrer Pfeife zu tanzen haben – besonders ich! Hauptpunkt fürs erste ist, dass sie nach einem gemeinsamen Wohnsitz verlangt. Und dass wir von jemanden von der Sorgerechtsbehörde im Auftrag des Testamentsvollstreckers ein Jahr lang regelmäßig auf unsere Lebensgemeinschaft und unsere Vaterqualitäten überprüft werden, damit wir auch ja nicht auf die Idee kommen, in Hinblick auf ihren letzten Willen zu bescheißen… wiederum besonders ich.“ „Macht Sinn und war auch nicht anders zu erwarten“, entgegnete Justin nur. „Wie meinst du das?“ meinte Brian misstrauisch. „Du kannst nicht erwarten, dass sie es einfach so mal schnell akzeptieren, wenn wir behaupten, die Sorgerechts-Konditionen zu erfüllen, ohne die Sache zu prüfen. Und es ist auch verständlich, dass Lindsay sich darum gesorgt hat, dass Gus einen stabilen Rahmen bekommt.“ Wie stabil auch immer der sein mochte mit ihnen beiden, dachte Brian stirnrunzelnd. Aber sie hatten es gemeinsam beschlossen und Justin hatte keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit Gus gegenüber gelassen – also, Augen zu und weiter. Nachdenken konnte er später.
 

„Ich gehe dann heute Morgen am besten sofort los und melde mich auf die Adresse des Lofts um. Und du kannst ja in der Zwischenzeit schon mal anfangen, alles Verfängliche in eine Kiste zu packen und irgendwo unauffällig zu verstecken.“ „Du meinst meine liebevoll gehegte Jeff Stryker-VHS-Kollektion? Die hat inzwischen Sammlerwert, fast wie Michaels Puppen! Gar nicht zu reden von dem sentimentalen!“ „Die – und alles, was du so an Drogen rumliegen hast, die auf Kleinkinder obendrein wirken könnten wie lustige Bonbons. Was sie von deiner Warte aus gesehen wahrscheinlich auch sind… Schenk sie den Bedürftigen! Und“, Justin wies in Richtung Schlafzimmer, „deine Spielzeugkiste wirst du wohl auch fürs Erste anderweitig verstauen müssen. So weltfremd sind diese Sozialheinis auch nicht, dass sie deine Analperlen für Hundespielzeug halten.“ „Die Zeit für Spaß am Leben ist wohl vorbei“, grollte Brian. „Pfannkuchen?“ fragte Justin unschuldig.
 

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Der Geruch der brutzelnden Pfannkuchen hatte schließlich auch Gus aus dem Bett gelockt. Gemeinsam saßen sie um den Esstisch, und Brian schaute den beiden anderen dabei zu, wie sie unverdrossen die süßen Dinger in sich rein schaufelten. Er nippte an seinem Kaffee. Sowas nannte man wohl „Familienfrühstück“ dachte er, immer noch leicht entsetzt.
 

Nachdem Gus den letzten Happen verdrückt hatte und damit begann, sich genüsslich die Finger abzuschlecken, beschloss Brian, dass es an der Zeit war, seinem Sohn seine neue Situation zu erklären.
 

„Gus“, sagte er, „du weißt, dass Mama und Mama dich sehr lieb haben…“ Gus Gesicht verfinsterte sich augenblicklich, er zog die Stirn in Falten und sagte fest, fast trotzig: „Sie kommen nicht zurück.“ Brian schüttelte traurig den Kopf: „Sie können nicht zurückkommen. Sie können nichts dafür, dass sie es nicht können. Niemand kann das. Aber sie wollen, dass es dir trotzdem gut gehen soll. Daher haben sie eine Nachricht hinterlassen, dass du jetzt bei mir und Justin leben sollst, damit wir uns um dich kümmern und dich… lieb haben können. Ist das in Ordnung für dich?“ Gus schaute erst ihn, dann Justin an, dann nickte er ernsthaft. „Bist du dir sicher?“ fragte Brian noch einmal, „oder möchtest du lieber bei Oma und Opa Peterson leben?“ „Nein!“ antwortete Gus augenblicklich. „Ich will bei dir bleiben und bei Justin. Oma ist lieb, aber Du brauchst mich doch, ich hab’s dir doch versprochen!“ Brian musste lächeln, obwohl er in Hinblick auf Oma anderer Ansicht war: „Ja, das stimmt. Und ich bin auch sehr, sehr glücklich darüber, dass du bei mir bleiben möchtest.“ Er drückte den Jungen fest an sich, der ihn vertrauensvoll zurück umarmte. Dann löste Gus sich von ihm, lief hinüber zu Justin und schlang nun ebenfalls seine Arme um ihn. Justin zog ihn auf seinen Schoß und presste sein Gesicht in Gus‘ Haar. „Ich bin auch sehr glücklich darüber, Gus“, sagte er. Gus schaute ihn fragend an: „Bist du dann jetzt auch mein Papa?“ Justin schaute zunächst ein wenig verwirrt, dann erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. Diesmal war es sein echtes, wirkliches Sonnenscheinlächeln, das über sein Gesicht leuchtete, stellte Brian fasziniert fest. „Ich bin immer für dich da, Gus“, sagte er sanft, „du darfst mich nennen, wie du möchtest. Wenn du das willst, dann bin ich auch dein Papa.“ „Gut, dann bist du das“, antwortete Gus, „aber darf ich dich trotzdem noch Justin nennen? Du bist nicht so alt wie ein Papa.“ Brian fiel beinahe die Tasse aus der Hand. Er stöhnte innerlich. Kindermund tut Wahrheit kund. Erst blind, dann alt – und das alles noch vor neun Uhr morgens. Dankenswerter Weise schien Justin darauf verzichten zu wollen, es ihm unter die Nase zu reiben. „Klar Gus“, sagte er nur, „dann bin ich dein Justin.“

Begräbnisse

XVI. Begräbnisse
 

Justin war mit Gus in Richtung Behörde aufgebrochen, nicht ohne dass er ein dickes Eis als Entschädigung in Aussicht gestellt hatte, und Brian machte sich daran, die Wohnung überprüfungssicher zu machen. Die Pornos waren das geringste Problem. Viel davon hatte er sowieso nie besessen – wozu auch. Für ihn war dergleichen ja Realität gewesen, wozu brauchte er da die Wunschträume. Er mistete den Hauptteil aus und stopfte ihn in mehrere ineinander geknotete Mülltüten. In der Tonne von Kinnetic war bestimmt genug Platz. Notfalls konnte er die Schuld auf Ted schieben. Die seltenen Sammlerstücke warf er in eine separate Kiste. Soweit würde er nun doch nicht gehen, seine geliebte Jeff Stryker-Sammlung in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Kaum volljährig war er losgezogen, um diese VHS-Kassetten in einem einschlägigen Laden zu erstehen. Der Ladenbesitzer hatte ihn schel angesehen, aber er hatte ihm stolz seinen Ausweis vor die Nase gehalten. Er hatte es geschafft, er war endlich erwachsen. Er hatte die Filme gekauft, nicht nur aus Neugierde, sondern als Ihr-könnt-mich-alle-mal-Geste seiner Erziehung, seiner Familie und der ganzen Hetenwelt um ihn herum gegenüber. Andere hatten ihr Graduation-Geld für ein Auto oder einen Urlaub ausgegeben – er für Pornos und teure Klamotten. Sex und Prestigeobjekte – seine Fixpunkte für so viele Jahre.
 

Das Drogenproblem war auch schnell gelöst. Poppers und Disco-Drogen lagerten schon lange nicht mehr im Loft, seine Grasvorräte konnte er eventuell Debbie unterjubeln, wenn Carl grad nicht hinschaute.
 

Blieb nur noch das Spielzeug. Den Krempel, mit denen er seine Tricks beglückt hatte, kippte er ungesehen in den nächsten Müllsack. Alternativ könnte er sie ja bei Sotherby’s meistbietend versteigern lassen, es gab bestimmt genug Holzköpfe, die in ihnen ein Souvenir aus Brian Kinneys wilden Tagen sahen, das sie sich in die Wohnzimmervitrinen stellen konnten…
 

Blieb nur noch die Kiste mit den Sachen, die er einst nach und nach für sich und Justin erstanden hatte. Kein billiger Schund, sondern Objekte, die teilweise auch als Kunstgegenstände durchgegangen wären. Sie waren sauteuer gewesen, aber mit weniger hätte er sich nie zufrieden gegeben. Nicht für sich und nicht für Justin. Eine Flut von Erinnerungen stieg in ihm hoch, die seinen Herzschlag schneller werden ließen. Justin war so neugierig, so experimentierfreudig gewesen, so offen, Dinge auszuprobieren… viel mehr als er. Er hatte seine Grenzen bereits klar definiert gehabt, als sie sich trafen. Justin hatte keine Angst davor gehabt, sich fallen zu lassen, sich ihm hinzugeben. Selbst vor dem Schmerz des ersten Males war er nicht zurückgewichen, sondern hatte ihn akzeptiert, ertragen und in etwas anderes verwandelt. Die andere Seite dieser Furchtlosigkeit war immer Vertrauen gewesen – Vertrauen in ihn. Justins Unschuld gepaart mit seinem Mut und seinem Hunger nach Erfahrung hatten ihn unwiderstehlich für Brian gemacht, so dass er für ihn immer und immer wieder mit jeder seiner verdammten Regeln gebrochen hatte. Brian hatte ihn bewusst an seine Grenzen getrieben – nur um dabei Mal um Mal auch an seinen eigenen zu laden. Ein Teil ihrer gegenseitigen Anziehungskraft war immer auch ihr körperliches Verlangen nacheinander gewesen, anfänglich als wesentlicher Inhalt und später als Mittel, auch ganz andere Dinge miteinander zu teilen als bloß Sex. An einem Ort, wo ihnen die Worte fehlten oder wo es keine mehr gab. Er musste an die Nacht denken, in der Justin ihn in seinem Büro um eine zweite Chance gebeten hatte… Sie hatten es auf seinem Schreibtisch getrieben, obwohl jeder durch die Milchglasscheibe hätte erkennen können, was sie da taten. Es war egal gewesen. Nur so hatten sie einander das mitteilen gekonnt, was sie nicht aussprechen konnten. Hinterher hatte Brian sich den Luxus erlaubt, kurz auf Justin zusammen zu brechen, der stumm die Arme und Beine um ihn geklammert gehalten hatte. Er erinnerte sich an das sanfte Streicheln von Justins Händen auf seinem Rücken, von dem er so hatte tun können, als würde er es nicht bemerken. Der Inhalt dieser Kiste war nicht nur Zeuge diverser Akte – sondern ein Teil ihrer Geschichte. Ihrer Erfolge – und ihres Versagens. Sex, Sex, Sex und nochmals Sex – er war nicht nur eine Verbindungslinie zwischen ihnen gewesen, sich gegenseitig zu erobern, zu fordern, zu verschmelzen - sondern auch ein Mittel der Distanz. Je näher Justin ihm kam, desto mehr fremde Haut hatte er zwischen sie getrieben, um Justins nicht spüren zu müssen. Der Darkroom, die vielen Kerle, die Orgien, die Dreier, die Vierer… alles, nur nicht bloß er und Justin. Und wenn sie alleine waren, war immer das Echo von außen da, das Brian bestätigte, dass dies auch nur Sex war – geil, aber auch beliebig, austauschbar. Wie seine Armani-Anzüge und seine Prada-Schuhe. Es hatte nichts geholfen.
 

Nur kurz hatte er davon gekostet, wie es hätte seien können, bevor Justin… Und als Dankeschön für diese Erfahrung, spielte sein Körper, sein Geist, sein Verficktes-was auch-immer, nicht mehr mit. Bei dem bloßen Gedanken, wieder fröhlich durch die Gegend zu vögeln, war ihm nur noch das kalte Kotzen gekommen. Und sein einziger Versuch, die guten alten Zeiten im Darkroom wieder aufleben zu lassen, hatte in einem fast einstündigen Duschmarathon geendet, bei dem er versucht hatte, den unsichtbaren Dreck von sich abzuschrubben. Er hatte sich damit getröstet, dass sich das bald geben würde. Irrtum. Vielen Dank noch Mal, Justin.
 

Kurzentschlossen kippte Brian die Spielzeuge über die als aufbewahrenswert aussortierten Pornos und verklebte den Deckel. Zur Sicherheit umschlang er das Paket mit mehreren Schichten Klebeband. Auf Teds Speicher war gewiss noch Platz. Ted mochte sich seinetwegen ein Geschwür darüber grübeln, was sein Boss ihm da untergejubelt hatte. Aber er würde sich hüten, die Kiste zu öffnen.
 

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Gerade als er den letzten Klebestreifen festgedrückt hatte, klingelte das Telefon. Brian zuckte zusammen. Mit diesem Laut verband er neuerdings das Einschlagen schlechter Neuigkeiten. Bevor er sich melden konnte, schallte ihm bereits Michaels aufgebrachte Stimme entgegen: „Brian, wir müssen etwas tun!“
 

„In Hinblick worauf? Weltfrieden? Carls Rückenbehaarung? Sackrattenplage in Singapur?“
 

„Hör auf, blöde Witze zu reißen, das hier ist verflucht ernst!“
 

Das war es bestimmt – aber Michaels Drama-Queen Auftritte provozierten ihn jedes Mal zu einem farbigen Reigen geschmackloser Bemerkungen. Zudem wäre er auch gut ohne das nächste Weltuntergangs-Szenario ausgekommen.
 

„Was ist los, Mickey?“ fragte er schließlich sanft mit klopfendem Herzen.
 

„Sie wollen sie nicht zusammen beerdigen!“ Michael schrie beinahe, so empört war er.
 

Brian begriff. „Haben sie dazu keine Verfügungen hinterlassen?“
 

„Mels Anwälte sagen nein. Haben sie wohl vergessen!“
 

„Toll, jeden Scheiß haben sie geregelt, um mich noch aus dem Jenseits zu tyrannisieren, aber das nicht? Vielleicht war’s ihnen auch nicht wichtig?“
 

„Wie kannst du sowas sagen! Sie waren ein Ehepaar!“ kochte Michael.
 

„In diesem Lande waren sie das nicht. Nicht im Auge von Papa Staat. Du magst es nicht mögen, aber so ist’s.“
 

„War ja klar, dass du sowas sagen musst!“
 

„Ich bin nur realistisch.“
 

„Ich scheiß‘ auf Realismus! Wir müssen das verhindern!“
 

„Nein“, sagte Brian nur.
 

„Nein?“ wiederholte Michael ungläubig. „Hast du mir überhaupt zugehört?“
 

„Jedes Wort. Ich bin blind, nicht taub.“
 

„Wie kannst du sowas sagen?“ fragte Michael fassungslos.
 

Brian seufzte. „Wenn es ihnen so wichtig gewesen wäre, hätten sie entsprechende Weisungen hinterlassen, darauf kannst du Gift nehmen! Aber sie sind tot, Mickey, das was da begraben wird, ist nicht mehr Melanie oder Lindsay. Falls es sie noch irgendwo gibt – dann nicht in dem, was der Sturz von ihnen übrig gelassen hat!“
 

„Aber die Erinnerung an sie… ein gemeinsamer Grabstein…“, protestierte Michael.
 

„Ist für uns – nicht für sie“, fiel ihm Brian ins Wort. „Meinst du nicht, dass ihre Familien – und damit meine ich ausnahmsweise mal ihre biologische Verwandtschaft, auch etwas von ihnen verdient? Dass sie sie entsprechend ihres Glaubens, ihrer Traditionen bestatten? Mel war Jüdin und stolz darauf! Soll sie auf dem jüdischen Friedhof beerdigt werden. Das ist nicht unsere Angelegenheit. Wir können uns an sie erinnern, aber wozu brauchen wir da einen Stein im Boden?“
 

„Ich verstehe dich manchmal wirklich nicht“, sagte Michael erschöpft.
 

„Nein“, sagte Brian nachdenklich, „das tust du wohl nicht.“
 

„Kommst du wenigstens zu den Beerdigungen – oder ziehst du vor, das auch nur rein in Gedanken zu tun?“ fragte Michael verletzt.
 

„Wir werden da sein“, sagte Brian fest.
 

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Justin starrte auf das Formular. Gus ließ derweil neben ihn eine Murmel die komplizierte Holzbahn im Wartebereich runter kullern und verfolgte ihren Lauf fasziniert. Es war fertig ausgefüllt. Sein Hauptwohnsitz war nicht mehr New York. Er lebte offiziell wieder in Pittsburgh. Seine Adresse war Brians – und Gus‘ – Adresse. Er war daheim. Er schluckte – war er das? Hatte er sich auf eine Farce mit ungewissem Ausgang eingelassen? Hatte es nicht noch andere Möglichkeiten gegeben? Wenn er darüber nachdachte, so musste er feststellen, dass er keine Sekunde an sie verschwendet hatte. War das das Ende seines neuen, selbstbestimmten Lebens? Musste er diesen Weg jetzt begraben, um einen alten wieder zu betreten, den er hinter sich gelassen zu haben meinte? Oder war dies auch ein Pfad ins Unbekannte? Er sah Gus an, der jetzt mehrere Murmeln gleichzeitig rollen ließ. Er dachte an seinen Galerievertag. Er dachte an Brian, der ihn beschuldigte, seinen Schwanz gestohlen zu haben. Ja, das war es wohl. Aber wohin sollte es gehen?
 

Voran, immer voran.
 

Er unterschrieb und gab das Formular ab.

Inquisition

XVI. Inquisition
 

Brian lag rauchend auf der Coach. Das verdammte Telefon wollte auch nach Michaels Anruf keine Ruhe geben. Melanies Anwälte hatten angerufen und ihn gleich mit zwei wenig vergnüglichen Botschaften gequält. Zum einen würde bereits heute Nachmittag die vom Testamentsvollstrecker losgetretenen Sozialtussi bei ihnen einfallen, um die Situation zu checken. Gut, dass er bereits aufgeräumt hatte. Vielleicht sollte er nach der Kippe noch mal ordentlich durchlüften… Zum anderen hatten – wie auch nicht anders zu erwarten gewesen war – Lindsays Eltern das Testament in Hinblick auf die Sorgerechts-Regelung angefochten. Sine Juristen waren bereits am rotieren, Morgen würde er sich mit ihnen treffen müssen.
 

Er drückte die Zigarette aus und presste sein Gesicht in die Kissen. Sie rochen noch immer ein wenig nach Justins warmen Körper. Und diesmal bildete er es sich nicht bloß ein. Er rollte sich auf die Seite und grub die Nase in die seidige Oberfläche. Das nächste, was er mitbekam, war das Geräusch der aufgleitenden Loft-Tür. Er musste eingeschlafen sein.
 

Justin trat mit Gus ein, dessen Gesicht immer noch Spuren des gerade vertilgten Eises zeigte. Genaugenommen sah Justin nicht besser aus. Zwei Fässer ohne Boden… Justin lächelte Gus weich an, zeigte aber zugleich jenen wachen entschlossenen Blick, der mit seiner verschmierten Schnute herbe kontrastierte.
 

„Siehst du Gus, wir schuften uns den Buckel krumm – und Papa genießt den Morgen schnarchend auf dem Sofa. Ich denke, wir sollten ihm dabei helfen, etwas munterer zu werden…“ Justin beugte sich zu Gus herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Brian schwante Ungemach. Er versuchte, schleunigst auf die Füße zu kommen, aber er war zu langsam für seinen ungestümen Nachwuchs. Gus stürzte sich auf ihn, und begann ihn in die Seiten zu pieken und zu kitzeln. Er japste und versuchte das wild gewordene Kind einzufangen, ohne ihm weh zu tun, was sich als schwieriger gestaltete, als er angenommen hatte. Justin trat breit grinsend mit Kennerblick zu ihnen. „Nicht schlecht, Gus“, kommentierte er, als der Kleine Brian so traf, dass dieser unwillkürlich zusammen zuckte, „aber versuch’s mal hier.“ Blitzartig schoss er vor und traf Brian mit der Fingerspitze an einem Punkt auf der Hälfte der Taille, der diesen nach Luft schnappend aufjaulen ließ. „Hört auf, ihr hinterfo… fiesen kleinen… aua… wesensgroßen… ahhh… Folterknechte!“ keuchte Brian hervor. „Und hier…“ fuhr Justin gemein grinsend fort und erwischte Brian unter der Achselhöhle. Brians Körper schnappte schützend zusammen. Justin beugte sich herab, während Gus begeistert seinem Vater unbeirrt die kleinen Finger in die Seite jagte „Und hier…“ sagte Justin und ließ seine Fingerkuppen über Brians nackte Sohle tanzen. „Ahhh… du elender…!“ entfuhr es Brian. Er witterte seine Chance und langte nach dem vornüber gebeugten Justin, umklammerte seine Taille und zog ihn über die Sofalehne, so dass der Jüngere einen kurzen Augenblick hilflos im Leeren baumelte. „Siehst du Gus, so geht es Leuten, die alte blinde Männer überfallen“, sagte Brian mit einem Blitzen in den Augen. Justin versuchte, sich aufzurappeln, aber Gus hatte bereits verstanden. Ein kleiner spitzer Finger landete in Justins Seite, dass dieser fast quiekte. Er versuchte, sich nach vorne abzurollen, aber Brian erwischte ihn, zog ihn nach hinten und nahm ihn in den Schwitzkasten. „Los Junior, zeig deinem lieben Justin mal, wie gesund Lachen ist!“ forderte den freudig quietschenden Gus auf. „Ja, Papa“, antwortete Gus kreuzbrav. Dem Kleinen war es inzwischen egal, welchen seiner beiden Erziehungsberechtigten er malträtieren konnte. Er machte sich über Justin her, der verzweifelt versuchte, sich aus Brians Griff zu befreien. Aber dieser erwies sich als eisenhart, so dass ihm nichts Anderes übrig blieb als sich zu ergeben. Er versuchte, sich zu entspannen in der Hoffnung, dass das dem tobenden Jungen den Wind auf den Segeln nehmen würde. Der Erfolg gab ihm recht, nach quälenden fünf Minuten gab Gus erschöpft auf und kam auf seinem Bauch zum liegen. Brians Arme lockerten sich endlich, lösten sich aber nicht. Sie bildeten eine Pyramide aus verknoteten Gliedmaßen, Brian auf dem Rücken ganz unten, Justin an seine Brust gezogen, Gus bäuchlings auf ihnen.
 

Eine merkwürdig friedvolle Stimmung machte sich breit. Brian langte nach unten und streichelte über Gus‘ Kopf. Justin wagte kaum zu atmen. Er wollte den Augenblick festhalten, an nichts denken. Er bemerkte, wie Brians andere Hand sich bewegte und sich dann vorsichtig in seinen Schopf grub. Justin schloss die Augen. Er streckte sich langsam nach Gus aus und legte die Hand schützend auf seinen Rücken. Schluckend fasste er mit der anderen Hand nach hinten und bekam Brians weiches herbstfarbendes Haar zu fassen. Er ließ sie kurz liegen, aber es kam keine Gegenwehr. Sanft streichelte er durch die seidigen Strähnen, massierte sachte Brians Kopfhaut, bis diesem ein wohliges Seufzten entfuhr. Gus auf seinem Bauch döste friedlich. Justin wagte, den Kopf leicht nach hinten zu drehen. Brians Augen waren geschlossen, die langen Wimpern warfen Schatten, sein Mund war entspannt, ein leichtes Lächeln lag auf ihm. Justin ließ die Finger langsam über die hohen Wangenknochen gleiten, ertastete die geschwungenen dichten Augenbrauen, zogen die Konturen der geraden Nase nach, als habe er dafür jede Ewigkeit reserviert. Unvermutet schlug Brian die Augen auf. Im Sommerlicht glänzten die Pupillen in einem warmen Braun, in dem goldene Sprenkel und moorgrüne Schlieren trieben. Er sah ohne zu zwinkern in Justins aufgerissene Pupillen. Dann senkte er seinen Kopf, während Justin sich nach hinten bog. Ihre Lippen lagen warm aufeinander. Es war nichts Verlangendes in diesem Kuss, nur ein stilles Einvernehmen und eine stumme Sehnsucht. Sie verharrten lange so, während ihre Münder sich unmerklich gegeneinander bewegten. Justins Nacken begann zu schmerzen, ohne dass er es zur Kenntnis nahm. Dann erwachte Gus wieder zu Bewusstsein und streckte sich aus, dass ihnen beiden die Luft aus den Lungenflügeln getrieben wurde. „Ich hab‘ Hunger“, sagte er bestimmt. „Er kommt definitiv nach dir“, bemerkte Brian. Sie mussten beide lachen.
 

Nach dem Intermezzo auf dem Sofa machten sie sich an die Arbeit. Brian klärte Justin über die Lage auf. Justin war nicht besonders überrascht, nickte nur pragmatisch und verkrümelte sich in Richtung Küche. Anfänglich war Brian immer ein kalter Schauder über den Rücken gelaufen, wenn er Justin am Herd werkelnd erwischt hatte – um nichts in der Welt wollte er ihn in der Rolle der braven Ehefrau sehen, die ihm ein leckeres Essen vor die Nase setzte, wenn er sich von der Arbeit zu kommen bequemte. Mit der Zeit musste er einsehen, dass Justin in erster Linie für sich selbst kochte. Zum einen schien es ihn zu entspannen, zum anderen war er gnadenlos verfressen und dabei durchaus anspruchsvoll. Justin freute sich, wenn Brian seine kulinarischen Werke gefielen – aber er schuf sie nicht aus diesem Grund. Ansonsten wären es wohl kaum derartige Kalorienbomben… Wo auch immer Justin das ganze Futter ließ… wahrscheinlich verbrannte er in seiner quirligen Art ungeahnte Mengen, für die Brian sich stundenlang auf dem Laufband abstrampeln musste. Nun gab es ein weiteres Maul zu stopfen. Justin setzte Gus mit einem Malbuch an den Küchentresen. Der Junge kritzelte zufrieden, während er alles, was Justin tat, mit Argusaugen beobachtete und ihm dazu Löcher in den Bauch fragte. Brian musste einsehen, dass er wohl fürs erste abgemeldet war. Er schnappte sich den Autoschlüssel, um für den anstehenden Besuch der Sozi-Tussi ausstehende Besorgungen zu machen. Er schaute sich um – wie hatte Jennifer Taylor es so schön gesagt? Seine Wohnung sah aus wie eine Fickhöhle. War sie ja auch… gewesen. Mochte nicht den allerbesten Eindruck auf jemanden machen, der seine Vaterqualitäten aufs Korn nehmen sollte… Er seufzte und trollte sich.
 

„Wir bekommen nachher Besuch“, sagte Justin zu Gus. Er hatte das Geschirr in die Maschine geräumt, dem Jungen den Mund sauber geputzt, und half ihm jetzt, die passenden Farben für einen dicken, fröhlich grinsenden Drachen in seinem Malbuch auszusuchen. Gus hatte ihm eine Brille und einen Schnurrbart verpasst. „Mmm, wer denn?“ fragte Gus, während er den Drachen mit konzentrierter Miene bunt geringelt ausmalte. „Schau mal, sieht aus wie Tante Debbie!“ präsentierte Gus sein Werk. „Stimmt – besonders der Bart ist sehr gelungen… Also nachher kommt eine Frau, die nachsehen soll, ob es dir hier bei uns gut geht…“ Gus schaute ihn groß an: „Nein! Ich will nicht von euch weg!“ Justin hörte die Angst in der Stimme des Kindes und etwas in seinem Inneren zog sich zusammen. „Schhht, Gus“, beruhigte Justin ihn und hob ihn auf seinen Schoß. „Du kommst nicht von uns weg! Dein Papa und ich tun alles… wirklich alles… damit du bei uns bleibst!“ „Ich will nicht weg!“ wiederholte Gus mit fast panischem Unterton. „Nein, nein, nein, Kleiner, nein. Das sollst du doch nicht! Sie soll nur schauen, ob es dir gut geht! Ob wir alles richtig machen für dich! Deine Mamas wollten, dass jemand nachschaut, ob es dir auch wirklich gut geht!“ „Es geht mir gut!“ rief Gus und sein Gesicht verzog sich ein wenig. „Wir tun unser Bestes“, murmelte Justin an seinem Nacken, „das verspreche ich dir!“
 

Als Brian zurück kehrte, lag Gus auf der Coach und machte ein Nickerchen. Justin saß neben ihm und las. Brian hob überrascht die Augenbrauen. Er hatte Justin noch nie ein Buch lesen gesehen. Sie waren ja auch meist mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Andererseits hatte der Jüngere einen beeindruckenden Schulabschluss hingelegt und war in einem gediegenen Haushalt aufgewachsen – das beinhaltete garantiert auch eine breitgefächerte Lektüre. Seine Malsachen hatte er nicht hier, Zeichnen strengte seine Hand noch immer rasch an und den Fernseher konnte er mit Gus neben sich wohl auch kaum anschalten… dennoch war es merkwürdig. Justin wandte sich zu ihm und stand auf leisen Sohlen auf. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt eine dunkle Stoffhose und ein dezentes hellblaues Sweat-Shirt - elegant und leger, ohne künstlich oder aufgesetzt zu wirken. Genau die richtige Mischung für das anstehende Ereignis. Justin blieb vor ihm stehen, und Brian kippte die Tüten aus. Wortlos griff Justin zu. Brian hatte die verbleibenden Lücken im Bestand gestopft: Zahnbecher, Handtuchhalter, Kleiderhaken – alles, was die ständige Anwesenheit eines Kindes erforderte und bezeugte. Justin machte sich an die Montagearbeiten, während Brian einsortierte. Zum krönenden Abschluss hatte er eine teuer gearbeitete Überdecke für sein Bett gekauft, die der Offensivität seiner Schlafstätte etwas die Schärfe nahm, ohne völlig verlogen zu wirken. Er würde niemals sein Bett mit karierter Frotteewäsche beziehen, eher würde er Ted seine ewige Liebe gestehen - aber so mochte er vielleicht durch die Sache durchkommen!
 

Gegen drei verbreitete die Kaffeemaschine einen angenehmen Duft. Brian hatte sich und Gus auf Hochglanz gebracht und Justins Vorbild entsprechend eingekleidet. Gepflegt, aber nicht aufgesetzt. Und verdammt gutaussehend! Die Türklingel läutete. Auf in den Kampf.
 

Bei der Frau, die ihnen auf den Zahn fühlen sollte, handelte es sich um eine rundliche Farbige im eleganten grauen Hosenanzug. Sie musterte sie mit aufmerksamem Blick und stellte sich als Mrs. Lennox vor. Gus drückte sich zunächst verschüchtert zwischen Brian und Justin, aber als Mrs. Lennox sich freundlich lächelnd zu ihm herab beugte, um ihm die Hand zu schütteln, brach es aus ihm heraus. „Ich will nicht weg!“ heulte er. „Ich will bei Papa und Justin bleiben! Ich will nicht weg!“ Mrs. Lennox‘ Lächeln verbreiterte sich. „Du musst keine Angst haben Gus!“ sagte sie in warmen Tonfall. „Ich bin nicht hier, um dir weh zu tun. Ich soll nur dafür sorgen, dass alles seine Ordnung hat und es dir gut geht.“ „Mir geht’s gut!“ flüsterte Gus trotzig. „Sicher Gus“, sagte sie beruhigend und schüttelte seine kleine Hand. Dann richtete sie sich mit amüsiertem Blick auf und sag Brian und Justin fragend an. „Was haben sie ihm erzählt?“ „Nur das, was Sie ihm auch eben gesagt haben“, antwortete Justin entschuldigend, „aber Gus zählt rasch eins und eins zusammen. Der Verlust seiner Mütter ist noch frisch… da ist es doch ganz natürlich, dass er sich fürchtet?“ „Da haben Sie wohl recht“, nickte Mrs. Lennox, die ihnen den Zwischenfall nicht übel zu nehmen schien. Brian löste sich aus seiner Erstarrung, nahm Gus auf den Arm, und bat sie herein. Justin holte ihnen Kaffee und bot der Frau ein paar Plätzchen an, die Brian im weiser Voraussicht mitgebracht hatten. Er kannte sich mit Frauen zwar nicht sonderlich gut aus – aber gut genug, um zu wissen, dass die meisten, gleichgültig aller Diätvorsätze, mit Süßkram durchaus zu locken waren. Ganze Industrien bauten darauf auf. Bei Mrs. Lennox lag er auf jeden Fall nicht falsch. Sie setzten sich in die Sofaecke, während die Frau das Gebäck sehnsüchtig musterte. Brian bot ihr mit ausgesuchter Höflichkeit die Schale an, und sie bediente sich mit routiniertem Griff. „Nun“, sagte sie, „nachdem sie mich so gekonnt bestochen haben, schauen wir doch mal, was jetzt ansteht. Ich würde gerne zunächst mit ihnen beiden reden, dann sollte ich mir die Wohnung anschauen. Wie wäre es mit Ihnen, Mr. Taylor? Ihr Partner könnte ja derweil ein wenig mit Gus spielen?“ Brian verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Er schnappte sich Gus und verkrümelte sich mit ihm in die andere Ecke der Wohnung, wo er sich von Gus die neusten Werke aus seinem Malbuch vorführen ließ. Der Drache erinnerte ihn an Debbie… Es kostete ihn einiges an Mühen, den Jungen von den beiden anderen Personen auf dem Sofa abzulenken.
 

„Nun, Mr. Taylor, sie sind durch tragische Ereignisse gewissermaßen Vater geworden. Sie haben sich bereit erklärt, gemeinsam mit ihrem Lebenspartner, der der biologische Vater des Jungen ist, Gus aufzuziehen. Ich muss sicherstellen, dass Sie sich der Tragweite dieser Entscheidung bewusst sind und in der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Sie sind sehr jung…“ „Zweiundzwanzig. Viele haben in meinem Alter bereits Kinder – wer fragt die?“ „Gus ist nicht ihr leibliches Kind.“ „Das spielt für mich keine Rolle. Gus war vom ersten Tag seines Lebens an Teil meines Lebens. Ich war schon früh für ihn verantwortlich als Freund seiner Mütter, als sein Babysitter, als Brians Partner. Gus um mich zu haben und mich um ihn zu kümmern ist keine neue Erfahrung für mich.“ „Ein Kind aufzuziehen bedeutet einen enormen Aufwand – nicht nur finanziell, sondern auch zeitlich, emotional. Dinge, die ein junger Mann wie sie vielleicht erleben möchte, sind so teilweise nicht mehr möglich.“ „Ich habe bereits viel erlebt. Zuweilen mehr, als mir lieb war. Ich musste mich schon früh alleine zurechtfinden. Nicht zuletzt dank des Verhaltens meines eigenen Vaters. Ohne die Hilfe meiner Freunde, allen voran Brian, Lindsay und Melanie, hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft, jetzt da zu stehen, wo ich jetzt bin. Und das ist nicht der Ort, wo andere meines Alters sich vielleicht jetzt befinden.“ Justin erzählte ihr von seinem Galerievertrag. Sie nickte anerkennend und machte sich Notizen. „Sie sind also karrierebewusst und beruflich erfolgreich… bleibt ihnen da noch Raum, sich um ein Kind zu kümmern?“ „Ich kann von zu Hause aus arbeiten und bin dabei zeitlich extrem flexibel. Ist das nicht gerade optimal für Gus? Und außerdem bin ich ja nicht alleine da.“ „Wichtig für unser Unterfangen ist auch, dass Sie und Mr. Kinney einen gemeinsamen verlässlichen Rahmen für Gus bieten?“ „Brian und ich sind schon viele Jahre zusammen. Wir wollten sogar heiraten – aber das würde in diesem Land ja keinen Unterschied machen. Wir brauchen keine Ringe und Schwüre. Ich weiß, dass ich Brian bei allen wichtigen Dingen absolut vertrauen kann – und er mir. Und ich liebe ihn, daran gibt es für mich keinen Zweifel. Und die höchste gemeinsame Priorität, die wir beide haben, ist Gus Wohlergehen. Vielleicht empfinden sie hier noch nicht alles als optimal – aber ich versichere Ihnen, dass wir unser Bestes geben!“ Sie stellte noch einige weitere Fragen und machte sich ein paar Notizen. Justin schielte auf ihren Zettel, konnte aber nichts erkennen. Er fand, dass er sich ganz gut schlug. Schließlich war sie zufrieden und bat Ihn, den Platz mit Brian zu tauschen.
 

Brian verbarg seine Unsicherheit hinter einem gewinnenden Lächeln, dennoch hatte er das dumpfe Gefühl, vor einem Inquisitionsgericht zu sitzen. Von dieser Frau hing ab, wie sein Leben weitergehen sollte. Mit Gus… mit Justin… oder allein. Er straffte sich. Mrs. Lennox erschien sanft, aber er spürte hinter jeder ihrer Fragen ihren wachen Geist und ihre schnelle Auffassungsgabe. Sie fragte ihn zu seiner Beziehung zu Justin, zu Gus, zu seiner beruflichen Situation. Er bemühte sich, seine Verbundenheit mit seinem Sohn und seinem… Justin deutlich zu machen, ohne zu verschweigen, dass es ein langer Weg für ihn gewesen war. Und immer sein würde. Nichts war selbstverständlich. Sie bohrte nach, als er ihr von Kinnetic erzählte. Hier musste er improvisieren. Er hatte sich ehrlich gesagt noch keinen tiefgreifenden Plan zurecht legen können, wie es mit seiner Firma weitergehen sollte. Es war ihm klar, dass der Dauereinsatz der vergangenen Monate der Vergangenheit angehören musste. Momentan hatten Ted und Cynthia die Sache gut unter Kontrolle. Aber ohne seinen Elan, seine Ideen, seine Anwesenheit würde es auf Dauer auch nicht vorwärts gehen. Kinnetic war sein Baby, er hatte keine Ambitionen, Vollzeitvater und Hausmann zu werden… Schon bei dem Gedanken daran überkam ihn das Würgen. Ohne seine Arbeit würde er sich wie kastriert fühlen – er konnte sich zu gut an seine zeitweilige Arbeitslosigkeit erinnern… Er beschloss, ehrlich zu sein, deutlich zu machen, dass er zwar kürzer treten werde, aber nach wie vor eine Firma zu leiten hatte. Zumindest konnte er versichern, dass für Gus finanziell gesorgt sein würde. Und dass Lindsays Lebensversicherung garantiert für ihn kein Faktor war, das Sorgerecht für Gus haben zu wollen. Schließlich nickte Mrs. Lennox und beendete ihre Befragung.
 

Justin kam mit Gus an der Hand wieder zu ihnen hinüber, als sie sich erhoben. Mrs. Lennox nickte ihnen beiden zu und sagte: „Nun, mein erster Eindruck von Ihnen ist positiv, vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit sie hatten, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Ich glaube Ihnen, dass Ihre Sorge um Gus aufrichtig ist. Aber das Leben mit einem Kind stellt so einiges auf den Kopf, sie sehen noch vielen Herausforderungen entgegen. Ich werde Sie weiterhin regelmäßig aufsuchen müssen, um die Gesamtsituation profund beurteilen zu können und der Rechtslage Abbitte zu leisten. Eine Sache gibt es allerdings schon, die mir Sorge bereitet…“ Sie schaute sich bedeutungsvoll um, während Justin und Brian das Herz in der Kehle klopfte. „Ihre Wohnsituation mag dem Umstand geschuldet sein, dass sie mit der Übernahme des Sorgerechtes und Gus‘ daraus folgender ständiger Anwesenheit nun nicht rechnen konnten. Dennoch scheint mir die aktuelle Lage nicht… günstig.“ Sie schielte in Richtung Brians Schlafzimmerhöhle.
 

„Oh, natürlich ist uns das bewusst!“ schaltete sich Brian aufrichtig nickend ein und schlang einen Arm um Justins Schultern, während er die Hand auf Gus Kopf ruhen ließ. Ein Herz und eine Seele. Demonstratives Familienglück. Justin setzte sein schönstes Lächeln auf und war gespannt, was nun kommen sollte. „Gus braucht schließlich sein eigenes Zimmer. Sie sehen hier nur die Übergangslösung, bis unser Haus fertig instand gesetzt ist. Eigentlich wollten wir uns erst daran machen, wenn Justin unter anderen Umständen aus New York nach Hause gekommen wäre…“ Von wegen, dachte Justin. „… daher wird es noch ein wenig dauern, bis es bezugsfertig ist. Aber es ist an alles gedacht!“ schloss Brian mit einem zufriedenen Lächeln. „Ah, gut Mr. Kinney, das freut mich zu hören! Ich verabschiede mich dann für dieses Mal und freue mich auf unser nächstes Treffen!“ „Die Freude ist ganz unsererseits“, entgegnete Justin strahlend und schlang nun seinerseits vertraulich den Arm um Brians Taille. Gus erfasste die Situation instinktiv und griff mit kulleräugigem Blick nach Justins Hand.
 

„Puhhhhh!“ stöhnten sie beide leise, als die Tür hinter Mrs. Lennox ins Schloss fiel. Brian streckte die verspannten Glieder und schüttete ihnen wortlos einen Drink ein. Die Bar hatten sie vorsichthalber in das höchste Küchenregal verbannt. Gus schaute neugierig. „Nix da, Sonnyboy, das hier ist nur für die großen Jungs! Aber du kannst ein Glas Fanta haben.“ Gus schaute zwar enttäuscht, nahm das süße Blubbergetränk jedoch dennoch dankbar entgegen. Auch er wirkte erschöpft, aber Mrs. Lennox schien ihm keine Angst mehr zu machen. „Ich geh‘ spielen“, verkündete er und entschwand in Richtung der Ecke mit dem Futon. Justin ließ sich in den Sessel plumpsen, Brian reckte auf dem Sofa alle Viere von sich. Sie nippten schweigend an ihren Gläsern. „Du hast Britin nicht verkauft?“ fragte Justin schließlich. Er hatte fest damit gerechnet, dass Brian alle Spuren seiner Verirrung schleunigst abgestoßen hatte. Brian schüttelte nur den Kopf und sagte kurz angebunden: „Hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern.“ Näher an der Wirklichkeit wäre gewesen, dass er keine Lust gehabt hatte. Die Beschäftigung mit Britin hätte ihn gezwungen, an das zurücklegende Geschehen… und an Justin… zu denken. Und das hatte er gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Ob das Haus leer herum gammelte oder nicht – er konnte es sich schließlich leisten.
 

„Gut“, sagte Justin nur.

Vom Saulus zum Paulus

XVIII. Vom Saulus zum Paulus
 

„Scheiße! Scheiße, scheiße, verfluchte, dreckige, elende Scheiße!“ fluchte Brian. Er atmete tief durch und starrte, ohne wirklich etwas zu sehen, durch die Frontscheibe der Corvette, die er heute Morgen aus der Werkstatt abgeholt hatte.
 

Er sprang aus dem Auto, überlegte kurz, schnell noch eine zu rauchen, bemerkte aber, dass er selbst dazu keinen Nerv mehr übrig hatte und hastete die Stufen zum Loft hoch. Er schob die Tür gewaltsam auf, so dass Gus und Justin ihn aufgeschreckt anstarrten. Gus saß mit seinem Spielzeug in der Futonecke, die er inzwischen als sein Kinderzimmer okkupiert hatte, Justin wühlte in einem Bündel Papiere. Verwaltungskram, den sie zu erledigen hatten, vermutete Brian.
 

„Was?“ fragte Justin alarmiert. Brian winkte ihn bestimmt zu sich und zog ihn auf den Flur. Justin stolperte verdattert hinter ihm her. „Brian, was zur Hölle…?“ „Diese verfickten, engstirnigen, bigotten Arschlöcher!“ entfuhr es Brian. Seine Augen glühten und er knirschte mit den Zähnen. „Wer…?“ „Lindsays verkackte Familie!“ „Was haben die Anwälte gesagt?“ „Oh, diese Satansbrut hat tief gegraben. Hätte ich mir auch denken können, wäre ja auch zu leicht gewesen. Wie heißt es so schön? Für alles, was man tut, muss man irgendwann einmal bezahlen. Nichts ist umsonst im Leben!“ „Was-ist-passiert-Brian!?“ brachte Justin ihn zur Raison. „Ach, sie haben sich lediglich die Mühe gemacht, sich ein wenig in der Pittsburgher Schwulenszene umzuhören. Haben einen Privatdetektiv engagiert oder irgendwas! Und rate Mal, was der da wohl zutage gefördert hat!“ Justin starrte ihn entgeistert an. „Steroid-Ben hätte es nicht schöner formulieren können: Die größte Hure Pittsburghs!“ schloss Brian mit einem bitteren Lachen. „Brian…!“ stotterte Justin. „Und hör auf mich zu brianen!“ wurde er angefahren.
 

Brian ließ sich mit einem Rums auf den Treppenabsatz fallen. „Beschissener Dreck! Scheiße! Verdammte Scheiße!“ murmelte er nur.
 

Die Zahnräder in Justins Hirn rotierten. Er könnte ihm jetzt sagen, dass sein… oder ihr… Sexualverhalten nichts über ihre Qualitäten als Schutzbefohlene für Gus aussagte. Aber es wäre naiv gewesen zu glauben, dass dieses Argument im Angesicht der meisten Richter etwas zählte. Welches Los Schwulen vor Gericht blühte, wusste er nur zu gut aus eigener Erfahrung. Man konnte Glück mit dem Richter haben, aber darauf war nicht zu wetten.
 

„Mach einen auf Bush!“ sagte er schließlich. Brian schaute ihn an, als würde er arg an seiner geistigen Gesundheit zweifeln: „Ich soll den Konservativen beitreten, Präsident werden und den Staaten ihren Platz an der Spitze der meistgehassten Länder der Welt sichern? Oder einfach an einer Brezel ersticken? Ich könnte auch aus fadenscheinigen Gründen irgendwelchen fernen Nationen den Krieg erklären, um ihnen die Segnungen der westlichen Welt im völlig freiwilligen Austausch gegen ihr Öl zu bringen? Nebenher könnte ich natürlich Lindsays Alte mit ein bisschen friedly fire außer Gefecht setzten… Super Plan, Sonnenschein, ich muss schon sagen: einfach brillant!“
 

„Nein du Dösbacke!“ erwiderte Justin. „Was ich meinte: mach einen auf reuiger Sünder! Bush war in seinen jungen Jahren die totale Nullnummer und ein Alki obendrein…“ „Die Parallelen, die du hier andeutest, wecken nicht gerade meine Begeisterung…“ „Und dann hatte er ein Erweckungserlebnis“, fuhr Justin unbeirrt fort, „Gott hat zu ihm gesprochen oder sowas. Und wie ein Phönix aus der Asche stieg er an den Zenit moralischer Integrität! Ein braver Bürger! Ein guter Christ! Ein liebevoller Familienvater! Ein stolzer Hundebesitzer! Ein Vorbild für uns alle!“ „Ich habe zwar in den letzten Tagen ein paar merkwürdige Anrufe bekommen, aber Gott war bisher noch nicht dran…“ „Überleg Mal, du hast doch nicht mehr durch die Gegend gefickt, seit…“ Brian schüttelte den Kopf und wünschte sich sehnlichst eine Zigarette. „Siehst du: Klarer Fall von Erleuchtung! Trotz des räumlichen Abstandes waren wir ein Herz und eine Seele! Du reißt dir ein Bein ab für deinen Sohn! Bezahlst brav deine Steuern…“ „Uahhh, mach weiter so, dann sehe ich in der Tat gleich das Licht… am Ende des dunklen Tunnels…“ „Lass das! Nimm ihnen den Wind aus den Segeln! Leugne nichts, das wäre sinnlos und würde höchstens alles noch schlimmer machen. Aber mach ihnen klar, dass die Vergangenheit hinter dir liegt und absolut nichts über die Person aussagt, die du jetzt bist!“ Brian zog die Augenbrauen zusammen. Was Justin da sagte, war gar nicht Mal so blöde… Er grübelte. Es könnte klappen. „Okay, Justin, sieh mich an. Hurra! Vom Saulus zu Paulus. Gelobet sei der Herr…“
 

Sie rappelten sich wieder auf und gingen zurück in die Wohnung. Gus kam angeschossen und nahm seinen Vater unter Beschlag, während Justin sich wieder in seinen Papierkram vertiefte. Der Vertrag war gekommen, er würde ihn juristisch prüfen lassen müssen. Die Mietzahlungen für die New Yorker Wohnung wurden fällig. Er musste sich die Kaufgebote für seine Bilder ansehen und überlegen, welchen er zustimmen sollte. Einige brachten zwar weniger Geld für dasselbe Gemälde als andere, stammten aber aus der Feder renommierter Sammler, die ein Sprungbrett für ihn sein könnten. Zudem hatte er Kontakt zu Gus‘ altem Kindergarten aufgenommen. Es würde ihm gut tun, wieder mit anderen Kindern zusammen sein zu können, bevor er in ein paar Monaten eingeschult würde. Um die Schule mussten sie sich auch noch kümmern…
 

Brian spielte gedankenverloren mit Gus. Während er seinem Sohn half, seine Legosteine nach Form und Farbe zu sortieren, schnappte er sich das Telefon. Zwei Minuten später rief er Justin zu, dass sie nachmittags einen weiteren Termin in der Kanzlei hätten, diesmal gemeinsam und ob er sich um einen Babysitter kümmern könne. Justin rief seine Mutter an, die immer noch ein wenig überrumpelt davon war, so plötzlich eine Art von Großmutter zu sein. Molly schrie begeistert aus dem Hintergrund, dass sie gerne auf Gus aufpassen wolle, was die Diskussion entscheidend abkürzte. „Justin…“, sagte Jennifer zu ihrem Sohn, „ist das alles nicht etwas überstürzt? Willst du das wirklich Schatz?“ „Mama, ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber es ist gut. Vertraue mir bitte, okay?“ „Okay. Du bist erwachsen. Unglaublich, wie schnell das gegangen ist.“ „Gib Molly einen Kuss von mir“, murmelte Justin ein wenig peinlich berührt. Aber sie war seine Mutter. Sie hatte immer zu ihm gestanden. Sie durfte ihn betreffend sentimental werden. „Ich hab dich lieb, Justin“, sagte sie, „und Brian auch.“ Er hörte ein Grinsen in ihrem Unterton. „Ich dich auch“, sagte er lachend und legte auf. „Meine Mutter hat dich lieb“, rief er zu Brian hinüber. „Wusste ich es doch! Sag ihr, dass sie sich einen anderen Toy Boy suchen soll, falls Tucker ausgedient haben sollte!“ kam prompt die Antwort.
 

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Nachdem sie Gus bei Justins Mutter und seiner Schwester abgeladen hatten, steuerten sie die Anwaltskanzlei an. Sie waren beide angespannt und redeten wenig. Man ließ sie nicht warten und ließ sie sofort in Mr. Harris Büro eintreten. Mr. Harris gehörte zu den führenden Anwälten im Bereich Familienrecht in Pittsburgh und hatte damit gewissermaßen Melanies Erbe angetreten. Man versorgte sie mit Kaffee und bot ihnen die obligatorischen Plätzchen an, die Brian mit einem vernichtenden Blick bedachte. Justin langte zu und kaute ausgiebig, während Brian Mr. Harris ihren Plan unterbreitete. Der Anwalt nickte bedächtig und strich sich dabei über den kläglichen Haarkranz, der seinen dürren Schädel krönte. Schien eine nervöse Macke zu sein – oder vielleicht wollte er damit seine intellektuelle Tragweite betonen, was aber nicht recht gelang. Er sah aus wie eine Kreuzung aus Schildkröte und Spinne.
 

„Eine sehr gute Idee, Mr. Kinney. Damit würden wir ihnen in die Flanke fallen! Es wird zunächst eine Anhörung geben, ob der Klage überhaupt stattgegeben wird. Der Termin ist in sechs Tagen. Gibt es Leumundszeugen, die ihre Geschichte bestätigen können?“ Brian nickte. Ted würde in die Bresche springen, auch wenn dies hochnotpeinlich für Brian zu werden drohte. Aber da musste er wohl durch. Auch die anderen aus ihrem Freundeskreis konnten sie in Erwägung ziehen. Er dachte an einen möglichen Auftritt Debbies vor Gericht und stöhnte innerlich. „Aber dennoch wird es nicht einfach sein. Es gibt leider immer noch viele Leute in diesem Land – und die auf dem Richterstuhl bilden da leider nicht immer eine Ausnahme – die Homosexualität immer noch als abnorm und per se für moralisch verwerflich halten. Ich gebe ihnen den Rat, so normal wie möglich zu erscheinen. Und mit „normal“ meine ich das nicht im Sinne menschlicher Vielfalt – sondern im Sinne derer, die meinen an der Krone der sittlichen Fresspyramide zu stehen.“ „Wie stellen sie sich das vor?“ fragte Justin, der inzwischen das Gebäck unter Brians strafenden Blick bis auf den letzten Krümel vertilgt hatte und endlich wieder gesittet sprechen konnte. Bei Essen setzte Justins Kinderstube leider aus. „Nun, ich schlage nicht vor, dass sie sich binnen sechs Tagen in heterosexuelle Football-Fans verwandeln, die sonntags brav zur Kirche gehen und bei jeder Gelegenheit patriotische Flaggen hissen – aber versuchen sie die Sprache zu sprechen, die sie verstehen.“ „Und die wäre?“ bohrte Brian nach. „Sie hatten doch vor zu heiraten, bevor sie dieses Ansinnen in Hinblick auf ihre direkte Lebensplanung auf Eis gelegt haben, oder?“ „Äh, ja…?“ antwortete Justin. „Holen Sie’s nach. Nach Möglichkeit noch vor dem Anhörungstermin.“
 

Brian verschluckte sich an seinem Kaffee. „Wir können doch nicht einfach heiraten, nur um uns bei diesen Spießern ein zu schleimen! Gar nicht zu reden davon, dass so eine Ehe doch sowieso nicht anerkannt wird!“ versetzte er entgeistert. „Es wäre eine symbolische Geste von hoher Überzeugungskraft. Und, wenn ich Sie auch in Hinblick auf ihre Annahme des Sorgerechtes von Gus im Rahmen der Testamentsbestimmungen richtig verstanden habe, sehen sie sich doch sowieso als in einer ehegleichen Partnerschaft lebend. Es zwingt Sie niemand. Ich kann ihnen nur raten: Tun Sie’s. Am besten an einem Ort, an dem Ihnen rechtlich valide Dokumente zur Existenz ihrer Ehe ausgehändigt werden. Die werden momentan in unserem Staat noch nicht anerkannt, aber das kann sich ändern. Und sie sind deutlich überzeugender als ein bloßes Versprechen außerhalb des juristischen Rahmens, wie es hier nur möglich wäre“, meinte Mr. Harris, sichtlich zufrieden mit seiner Argumentation. Er kraulte sich schon wieder die Glatze. „Wir sollen nach Kanada?“ presste Brian heraus. Justin sah aus, als würde er gleich vom Stuhl fallen. Er wünschte, er hätte die Kekse nicht alle allein sich hinein gestopft, dann wäre ihm jetzt vielleicht weniger übel. „Ist nur ein Ratschlag“, ergänzte Harris ohne Gespür für die Befindlichkeit seiner Klienten, „aber ein ernster und mit sehr viel Nachdruck gegebener. Ich kenne mich aus mit Fällen wie dem ihren. Eine derartige Verbindung wird vom Testament implizit gefordert. Sie werden einen schweren Stand haben, trotz ihres geplanten Bekenntnisses inklusive Läuterung. Sie können jeden Vorteil gebrauchen. Und das wäre ein entscheidender. Denken Sie darüber nach und handeln Sie, wenn sie sich dazu entscheiden können, schnell! Ich gebe Ihnen die Kontaktadresse eines mir bekannten Friedensrichters bei Toronto, der ihnen auch kurzfristig weiterhelfen kann.“ Er wühlte in seinen Unterlagen und kritzelte dann etwas auf ein Stück Papier.
 

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Sie hatten keine Ahnung, wie sie es bis auf die Straße geschafft hatten. Der frühe Abend des Spätsommertages tobte heiter um sie herum. Justin starrte wie gebannt auf den Zettel mit der Telefonnummer und der Adresse, die ihm der Anwalt in die Hand gedrückt hatte, als sei er ein unbekanntes exotisches Tier. Brian rauchte und starrte ins Leere. Das war ein Traum, ein total schräger Traum, der ihm jemand mit einem extrem fiesen Sinn für Humor gesandt hatte. Dummerweise hatte er in letzter Zeit die Erfahrung gemacht, dass die Wirklichkeit dazu tendierte, surreale Züge anzunehmen, ohne dass man daraus hätte aufwachen können.
 

„Was machen wir denn jetzt?“ flüsterte Justin schließlich. „Weiß nicht. Willst du mich zwangsheiraten, Hase?“ Brian war kurz davor, hysterisch zu lachen. Das war doch völlig absurd. Ihre eigenen Lügen schlugen ihnen hohnlachend ins Gesicht. „Das ist nicht witzig“, erwiderte Justin säuerlich. „Mitgegangen, mit gehangen, so heißt es doch so schön, Sonnenschein. Aber du hast recht, das wäre wirklich das hinterletzte, so zu…“ „Und was wird aus Gus?“ „Komm mir nicht immer mit diesem Totschlagargument!“ „Das ist kein Totschlagargument – das ist die Wahrheit. Wir haben gelogen, und das haben wir nun davon“, sagte Justin niedergeschlagen und ließ sich ohne Rücksichtnahme auf seine Hose auf den Kantstein fallen. „Wir können doch nicht einfach…“ „Und was erzählen wir denen vor Gericht? Dass wir die Möglichkeit dazu gehabt hätten, aber uns aus für den Normalo – und du hast Mr. Harris in Bezug auf die Normalos in Richterroben gehört – unerfindlichen Gründen dagegen entschieden haben? Dass wir’s aufgeschoben haben, bis… ach ja, Ms. Lennox hat ja noch ein Weilchen ein Auge auf uns, sie wird’s schon rausfinden. Dass wir lieber frei sind? Super Argument. Es gilt sowieso nicht in Pennsylvania, also was regen wir uns auf.“ „Du willst das doch nicht ernsthaft durchziehen“, versetzte Brian mit fragendem Unterton. „Hör auf zu sülzen, du hast schon gehört. Es wäre nur Kanada und gute Munition für unser eigentliches Anliegen. Mag uns sauer aufstoßen in Hinblick auf einst… Aber darum geht’s hier nicht. Oder willst du kneifen und ihnen lieber die Wahrheit erzählen? Dann sag Gus schon mal Auf Wiedersehen…“ Irgendetwas an Justins Logik hinkte, aber Brians Hirn konnte es nicht verorten. Immer wenn sein Verstand kurz davor war, den Finger darauf zu legen, schaltete der betreffende Teil seines Denkorgans auf aus. „Gib den Zettel her“, hörte er sich sagen und zückte sein Handy.
 

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Traumwandlerisch hatten sie Gus von Justins Mutter abgeholt. Sie hatten sich sogar ein paar Minuten mit Jennifer und Molly unterhalten, während Gus aufgeregt von Mollys Wundertaten berichtete und dann irgendwann ungeduldig an Brians Hand zu zerren begonnen hatte. Sie konnten sich an kein Wort erinnern, das gefallen war. Beide hatten das Gefühl, das etwas über sie gekommen war, das sie gnadenlos antrieb, ohne dass sie es hätten benennen können. Wir können diesen Irrsinn noch stoppen…, dachte Justin, dann sah er Gus und Brian an, und der Gedanke verschwand. Im Loft verschanzte sich Justin hinter dem PC und begann hektisch Emails an seine neuen Agenten zu schicken, die diese dringend von ihm erwarteten. Brian setzte sich mit Gus auf dem Schoss vor den Fernseher. Spongebob hatte eine magische Miesmuschel… Brian wünschte sich auch eine.
 

Mitten in ihrem Delirium klingelte es plötzlich an der Tür. Sie fuhren zusammen. Wer in Dreiteufelsnamen störte denn nun schon wieder? Missmutig betätigte Brian den Summer. Eine Minute später stand Michael im Loft, Jenny Rebecca in einer Tragetasche mit sich schleifend, auf dem Rücken einen großen Beutel.
 

„Hallo ihr beiden! Ich war gerade mit Jenny beim Kinderarzt, Routinecheckup für Säuglinge, es geht ihr bestens, sie ist weit für ihr Alter, da war ich in der Gegend und dachte… schau ich doch kurz vorbei und gucke, wie’s euch geht. „Ganz okay“, sagte Brian etwas steif, „komm rein.“ Justin begrüßte ihn mit einem etwas gequälten Lächeln und nahm ihm den Beutel ab. Jenny krähte in ihrem Korb. Gus war sofort zur Stelle und griff nach seiner Schwester. Michael half ihm, das Baby zu halten, was ihm etwas ungelenk auch gelang. Jenny war schwer für einen kleinen Kerl wie ihn und musste auch mit Vorsicht gehalten werden. Justin stellte derweil mit erfahrenen Händen das Fläschchen des kleinen Mädchens in die Mikrowelle und erhitzte es auf die richtige Temperatur. Michael redete unbefangen auf sie ein, wild zwischen Trauer und Begeisterung für seinen Nachwuchs hin und her springend. Es fiel ihm zwar auf, dass Justin und Brian ungewohnt kurzsilbig waren, aber das war ja nicht unbedingt etwas Neues für die beiden, besonders in Anbetracht der Umstände. Jeder ging auf seine Weise mit dem Verlust um. Brian und Justin waren ihm durchaus dankbar für die Ablenkung, auch wenn sie nur ein Drittel von dem mitbekamen, was er sagte. Justins Emailempfang piepte, er druckte etwas aus, dann entschuldigte er sich, da er ein paar unterschriebene Dokumente noch eilig zur Post bringen musste. Brian und Michael setzten sich mit den Kindern auf die Coach. Das Gespräch plätscherte dahin. Die Beerdigungen waren auf unbestimmte Zeit verschoben worden, da die Unfallfahndung die Leichen noch nicht frei geben wollten. Das hieß wahrscheinlich im Klartext, dass sie mit dem Sortieren noch nicht fertig waren, dachte Brian bitter. Lindsays Familie hatte auch dagegen Klage eingelegt. Liebenswert. Man konnte ihre Beweggründe ja teilweise durchaus nachvollziehen – aber die Form ihres Handelns und Auftretens bereitete Brian Bauchschmerzen. Gus gähnte und drückte sich schläfrig an ihn. Brian hob ihn hoch und ging mit ihm ins Bad, um ihn für die Nacht fertig zu machen. Er und Michael konnten sich danach ruhig noch ein wenig leise unterhalten, die Geräuschkulisse beruhigte Gus beim Einschlummern.
 

Während Brian und Gus im Badezimmer herum plätscherten, ging Michael Jenny auf dem Arm wiegend durch die Wohnung. Auf dem Schreibtisch tackerte das Fax. Michael ging an dem brummenden Apparat vorbei. Sein Blick fiel auf das sich heraus kringelnde Papier. Erst stutzte er, dann gefror er in der Bewegung. Er ging wieder einen Schritt zurück und starrte gebannt. Das konnte doch nicht wahr sein. Diese verfluchten Schweine. Sein erster Reflex war es, Brian zur Rede zu stellen. Dann besann er sich. So nicht, mein Lieber. Nicht ohne deine Familie. Er prägte sich die Daten ein.
 

Ein Plan hatte in seinem Kopf Gestalt angenommen.

Countdown

XIX. Countdown
 

Sie waren in atemlose Betriebsamkeit verfallen. Ihr Unterfangen, das für den frühen Nachmittag des übernächsten Tages angesetzt worden war, verlangte trotz der schlanken Planung einiges an Vorbereitung. Michael hatte sich hastig verabschiedet, bevor Justin wieder auf der Bildfläche erschienen war, darauf hinweisend, dass Jenny wohl auch allmählich ins Bett gehöre, Ben mit dem Essen warte und er Hunters Hausaufgaben kontrollieren müsse. Sie saßen auf der Coach und erstellten eine Liste der Dinge, die sie im Laufe des folgenden Tages auf die Beine zu stellen hatten, tunlichst vermeidend, den eigentlichen Kern der Sache zu thematisieren. Irgendwann bemerkte Brian, dass Justin nicht in eine tiefe Phase des Grübelns verfallen war, sondern schlichtweg bereits den Schlaf der Gerechten schlummerte. Vorsichtig bugsierte er ihn in die Horizontale und machte sich an seiner Kleidung zu schaffen, sich darum bemühend, ihn nicht zu wecken. Dankenswerterweise pflegte Justin wie ein Stein zu schlafen, als sich Brian, die Zähne zusammen beißend, an seinem Gürtel zu schaffen machte. Er schlug sich innerlich mit Gewalt auf die Finger, Justins Körper nicht auf die Weise zu berühren, die ihm sein Bewusstsein – und sein eigener Körper – so dringend nahe legte. Jetzt ein Fehler – und ihre ganze krampfhaft zusammengehaltene Ordnung würde ihnen um die Ohren fliegen. Das würde noch früh genug passieren. Aber nicht jetzt, nicht bevor sie… nicht mit all dem Unausgesprochenem zwischen ihnen im Raum und mit Gus, der ein paar Meter entfernt von ihnen schlummerte. Er starrte atemlos auf Justins fein modellierte Bauchmuskulatur, seine sich wölbende Brust, die sich in tiefen Atemzügen hob und senkte, den Ansatz der beweglichen Schenkel, dann warf er hektisch sich selbst zwingend die Decke über ihn und schob ihm das Kissen unter den Kopf, den Blick nur so lange auf ihm ruhen lassend, wie es unbedingt nötig war. Oh Gott, er wollte ihn so sehr… Wie lange würde er diese Folter noch durchhalten? Irgendwann würde ihm der Faden reißen und er würde sich ohne Rücksicht auf Verluste über diesen vertrauten, immer wieder neu entdeckten, duftenden, biegsamen, drängenden Körper her machen, der ihm so wunderschön erschien. Weil er Justins war.
 

Um seine Amok laufenden Nerven zu kühlen, ging er hinüber zur Küche und ging noch einmal die Liste durch. Hinter jedem Punkt war ein J oder ein B notiert, damit sie die kurze Zeit optimal nutzen konnten. Er kontrollierte noch mal alles und begann, eine zeitliche Reihenfolge auszuklügeln, die auch die Betreuung Gus‘ mit berücksichtigte. Dann stutzte er. Kurz entschlossen ging er um die Theke herum, kniete sich nieder und zog den Mülleimer aus seinem Fach. Rasch gab er die Kombination des dahinter verborgenen Safes ein. Er langte hinein. Seine Geburtsurkunde, na bitte. Darunter fand er den ununterschriebenen Stapel mit Partnerschaftsverträgen, die er und Justin vor der abgeblasenen Heirat von Mel hatten abfassen lassen, um so gut es ging die üblichen mit einer Ehe verbundenen Rechte und Pflichten zu gewährleisten. Sie würden in Hinsicht auf die aktuelle Situation neue Papiere aufsetzten lassen müssen, um die Situation mit Gus abzudecken – und sie nicht lebenslang zu knebeln. Schließlich sollte diese Hochzeit nicht aus denselben Gründen begangen werden wie die letzte. Er stocherte weiter, dann hatten seine Fingerspitzen im Dunklen die kleine Schachtel erspürt. Er holte sie hervor und öffnete sie. Nachdenklich starrte er auf die beiden schlichten Ringe. Im Gegenlicht der kleinen Küchenlampe blitzen die Gravuren auf. Ihr geplanter Hochzeitslag – lang verronnen und für erledigt erachtet. Die Ringe im Safe – Erinnerung daran, dass sie keine Schwüre brauchten, um beieinander zu sein, um sich zu lieben. Daran hatte sich nichts geändert. Abgesehen davon, dass danach alles im Argen gelegen hatte. Verfluchter Tag. Die Daten mussten weg.
 

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Der Wecker klingelte um Sechs. Ein langer Tag lag vor ihnen. Gus zuliebe saßen sie am Esstisch und Frühstückten. Sogar Brian erbarmte sich und genehmigte sich einen Toast mit dünnem Käsebelag zu seinem Kaffee. „Gus“, sagte er schließlich zu seinem Sohn, der bewundernd Justin dabei zusah, wie dieser mit einem Haps ein halbes Sandwich in sich hinein stopfte. „Ja, Papa?“ antwortete Gus und schaute Brian aus seinen großen braunen Augen neugierig an. Brian entschied sich dagegen, lange herum zu drucksen, sondern Gus gleich reinen Wein einzuschenken. „Ich und Justin werden Morgen heiraten“, sagte er schlicht. „Wie Mama und Mama? Gut“, sagte Gus einfach nur und widmete sich wieder seinem Essen. Brian war verblüfft. Das war’s? Einfach nur: „gut“? Na dann, wenn der Rest des Tages auch so laufen würde, hätten sie nichts zu klagen. Sie sprachen sich kurz ab, dann zogen sie sich rasch an und verließen die Wohnung. Da die Corvette nicht gerade ein kindertaugliches Auto war, hatte Brian den geräumigen Mietwagen bis auf weiteres behalten. Sie würden wohl beizeiten einen weiteren fahrbaren Untersatz brauchen. Spätestens, wenn sie beide wieder arbeiten würden. Kurz angebunden drückte er Justin den Schlüssel des Oldtimers in die Hand. Gus würde mit Brian fahren, und sie würden einiges an Besorgungen zu verstauen haben. „Wenn du mir einen Kratzer in den Lack machst, zwinge ich dich, dir Teds Lebensgeschichte anzuhören – jeden Tag der Woche, immer und immer wieder, bis ans Ende deiner Tage…“ warnte er Justin. Dieser zog nur die Nase in Falten: „Anders als du habe ich durchaus ein Ohr für meine Mitmenschen. Ich werde deine Schwanzverlängerung schon nicht gegen die nächste Mülltonne deppern.“ Justin schnappte sich die Schlüssel, drückte Gus einen Kuss auf den Scheitel, stieg ein, passte Sitz und Spiegel auf seine Größe an und brauste davon. Schwanzverlängerung… als ob er das nötig hätte. Aber wie hatte Michael den Wagen damals genannt? Ersatz für seinen abgehauenen Freund? Nun, juhu – er war wieder da…
 

Brians erster Stopp galt dem Anwaltsbüro, wo er Mr. Harris auf den neusten Stand brachte. Gus saß im Wartebereich und ließ die Herzen aller karrierebewussten kinderlosen jungen Juristinnen im Umkreis von hundert Meilen schmelzen. Brian grauste schon vor Gus‘ Pubertät. Sollte sein Sohnemann nicht aus unerfindlichen Gründen auch schwul werden, würden ihnen Kohorten von Weibern die Tür einrennen. Und von denen gab es rein zahlenmäßig deutlich mehr als von schwulen Bewunderern… Vielleicht sollte er sich schon mal eine Schrotflinte besorgen und schießen üben. Mr. Harris stellte rasch den Kontakt zu einer assoziierten Kanzlei in Toronto her, die die notwendigen Papiere ausstellen und an den Friedensrichter überstellen würde. Zum krönenden Abschluss gratulierte der Anwalt Brian noch zu seinem Entschluss, auf seinem weisen Rat zu hören.
 

Der nächste Halt galt Kinnetic. Sein unangemeldetes Erscheinen schien eine gewisse Nervosität bei einigen seiner Angestellten auszulösen… Wurde wohl anscheinend Zeit, dass er hier wieder erschien und sie alle ordentlich in den Arsch trat. Er eilte ohne anzuklopfen in Teds Büro, Gus auf dem Arm. Sein Buchhalter fiel fast vom Stuhl vor Schreck über sein brachiales Eindringen. „Himmel, Brian – noch nie etwas von klopfen – oder zivilisiertem Auftreten – gehört?“ „Du warst doch nicht schon wieder auf der Suche nach Informationen zur männlichen Anatomie im Internet?“ „Der Mensch lernt nie aus – und dieser Fehler passiert mir nicht noch einmal!“ „Gut. Sag hallo zu Onkel Ted, Gus! Wenn du ein lieber Junge bist, vererbe ich ihn auch nicht an dich!“ Ted überhörte die Gemeinheit und lächelte den Kleinen freundlich an. Er sah fand, das Gus aussah wie eine Kopie von Brian in klein – und liebenswürdig, was man von seinem zänkischen Alten nicht gerade behaupten konnte… „Huhu Ted“, grüßte Gus schüchtern. Brian setzte sich und stellte Gus auf seine eigenen Füße. „Hör zu Ted, ich hab‘ einen Auftrag für dich.“ „Okay…?“ fragte Ted abwartend. „Du fährst Morgen nach Kanada.“ Bei Ted fiel der Groschen. Michael hatte nicht lange gezögert. Ted wurde das Gefühl nicht los, dass da etwas im Busche war, das Brian und Justin ihnen nach wie vor verschwiegen – und das war keinesfalls dieser spontane Drang, ein liebend Ehepaar zu werden. Irgendetwas war da doch faul. Er hielt den Mund und stellte sich dumm: „Ich soll auf Geschäftsreise? Haben wir einen neuen Kunden in Aussicht?“ „Nein, es handelt sich um… äh… einen persönlichen Gefallen. Nichts Geschäftliches. Eine Aufgabe für einen… Freund“, brummelte Brian. Ted nickte nur. Egal, was Brian ihm gegenüber vom Stapel lassen mochte – er wusste es zu nehmen und verstand, dass Brian dahinter aufrichtigen Respekt und Vertrauen verbarg. Die Basis jeder ernst zu nehmenden Freundschaft, auch wenn sie in vielen Dingen nicht einer Meinung sein mochten. Brian atmete tief durch und zog Gus auf seinen Schoss, der neugierig Teds Radiergummi-Sammlung musterte: „Justin und ich heiraten.“ „Glückwunsch“, sagte Ted nur, ohne eine Miene zu verziehen. „Und du bist der Trauzeuge.“ Eine Feststellung, keine Frage. Typisch Brian. Das war allerdings endlich etwas Neues, so dass Ted ihn jetzt doch überrascht ansah. „I… ich?“ stammelte er perplex. „Nein, dein böser Zwilling – natürlich du!“ „Was ist mit Michael?“ „Ich habe meine Gründe“, antwortete Brian ausweichend und zugleich signalisierend, dass er diesen Punkt nicht zu vertiefen gedachte. Michael würde stinkbeleidigt sein. Ja, da war definitiv etwas im Busche… na, die beiden würden sich noch umschauen… „Ich fühle mich geehrt“, antwortete Ted schlicht. „Gut“, Brian wirkte erleichtert, „sei Morgen um 15:00 Uhr bei dieser Adresse. Komm ja nicht zu spät! Setzt den Flug auf meine Rechnung. Wir werden fahren, Gus und Justin sind momentan in kein Flugzeug zu bekommen.“ Er drückte Ted einen Zettel mit den notwendigen Informationen in die Hand und rauschte mit dem winkenden Gus im Arm davon. Mmm… sehr praktisch. So würde es keine unvermuteten Begegnungen am Flughafen geben…
 

Zwei Stunden später saß Brian mit Gus in einem kleinen Restaurant. Das Diner war augenblicklich Tabuzone, Debbie hatte ein viel zu gutes Gespür für ihn… bestenfalls würde sie ihn mit einer Reihe unangenehmer Fragen und Ratschläge malträtieren. Gus bekleckerte sich insbrünstig mit einer Portion Spaghetti mit Tomatensoße, während er an einem Putenfilet nagte. Sie waren beim Schneider gewesen, um für sie alle drei passende Anzüge zu ordern. Er hatte ein ordentliches Trinkgeld hinterlassen, damit er sie noch heute bekäme. Gott sei Dank hatte er Justins Maße noch. Kleinere Korrekturen würden sich auch beim Abholen noch vornehmen lassen können. Dann war der Juwelier an der Reihe gewesen, der unter ähnlichen Bedingungen jetzt damit befasst war, die Gravuren zu ändern. Er hatte einen Fotografen in Toronto für die Hochzeitsbilder bestellt. Alles musste so echt wie möglich aussehen. Der Nachmittag würde damit angefüllt sein, allen Beauftragten noch einmal kräftig in den Hintern zu treten und noch ein paar kleinere Besorgungen zu machen… und Gus abzuschrubben, der inzwischen aussah wie ein Marienkäfer…
 

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Justin kehrte gegen sechs Uhr ins Loft zurück. Brian und Gus waren vor ihm wieder da gewesen. Gus dackelte neugierig hinter seinem Vater her, der für ihre morgige Fahrt die Taschen packte und Gus die feinen Unterschiede zwischen Designerkleidung und Kaufhausdreck erläuterte. Ihre Anzüge lagen fein säuberlich verpackt in Staubbeuteln. Justin musste schlucken, als er auf sie sah. Auch er hatte einen langen Tag hinter sich. Zum einen musste er in Hinblick auf seine Galerieverkäufe einiges regeln, zum anderen hatte er lange bei seiner Mutter und Molly gesessen. Zum Glück hatte seine Mutter ihre Arbeitstermine bereits hinter sich gebracht, als er bei ihr auftauchte. Es war sinnlos, ihr Märchen aufzutischen – zudem brachte er es nicht über sich, seine Mutter in dieser Angelegenheit hinters Licht zu führen. Er hatte ihr den Ernst der Lage erzählt und sie darum gebeten, seine Geburtsurkunde herauszusuchen sowie als seine Trauzeugin an der Eheschließung teilzunehmen. Er hatte Daphne in Erwägung gezogen, aber diese steckte in Chicago mitten in ihren Semesterklausuren, dass er sie nicht fragen wollte. „Oh, Justin…“ hatte seine Mutter gesagt und die Stirn in Falten gezogen, „ich wünschte, du – ihr – würdet das nicht tun. Müsstest das nicht tun. Nicht so.“ Justin hatte niedergeschlagen genickt, dann seine Schultern gestrafft und geantwortet: „Das Leben geht manchmal seltsame Pfade. Auch ich wünschte, es könnte anders sein. Dass Mel und Linds noch da wären… Dass Brian und nicht zu blöde wären, es unter normalen Umständen miteinander auf die Reihe zu bekommen…“ „Schatz, ich weiß. Versprich mir etwas“, sie sah ihm ernst in die Augen, „versuche das Beste daraus zu machen. Du gehst diesen Weg – aber niemand kann dich zu etwas zwingen, das dir völlig widerstrebt, das weiß ich. Etwas in dir will das.“ Justin starrte betroffen auf den Boden. „Und etwas in Brian will das auch“, fuhr sie fort, „sonst würde er das niemals tun. Es mag euch beiden nicht bewusst sein und es mag euch im Augenblick noch nicht möglich sein, dem ins Auge zu blicken. Lass nicht zu, dass es eine Sackgasse für euch wird. Versucht es auch als Chance zu sehen, ich bitte dich!“ Justin konnte ihr immer noch nicht in die Augen sehen: „Ich kann dir nicht versprechen, dass alles gut werden wird. Aber ich kann dir versprechen, dass ich den Kopf nicht in den Sand stecken und mich hinter dem bösen, bösen Schicksal verstecken werde.“ „Ich weiß, Justin, etwas anderes hätte ich auch niemals von dir erwartet.“ Sie hatten verabredet, dass sie Jennifer und Molly am nächsten Tag morgens abholen würden. Justin widerstrebte es, seine Familie in einem Flieger zu wissen. Er würde darüber hinweg kommen müssen, wenn er in seinem Leben noch etwas von der Welt sehen wollte. Auch seine Karriere würde das beizeiten fordern. Aber noch war der Schreck zu frisch. Er faxte eine Kopie der Geburtsurkunde nach Toronto und streckte das Original ein. Morgen um diese Zeit würde er eine Heiratsurkunde besitzen… auch wenn sie fast nichts zählen würde. Hoffentlich reichte dieses „fast“ für ihr Anliegen.
 

Jetzt saß er schweigend auf einem der Küchenhocker und sah seiner Familie in spe beim Räumen zu. Er würde auch noch packen müssen, aber das hatte noch Zeit. Viel würden sie sowieso nicht brauchen. Wenn sie schnell durchkamen würden sie etwas über drei Stunden brauchen, sich in einem Hotelzimmer umziehen, heiraten, Fotos vom jungen Glück schießen und dann schon wieder auf der Rückreise sein, die kostbaren Papiere im Gepäck. Er beobachtete Brian, der sorgsam ein paar Waschsachen, um sich zwischendurch noch einmal frisch machen zu können, in einer Pradatasche verstaute. Brians Bewegungen waren immer eine merkwürdige Mischung aus Anmut und Schlacksigkeit, die seiner Körpergröße geschuldet war. Zusammen mit seinem Lächeln und dem verheißungsvollen Leuchten in seinen Augen, zugleich herablassend wie lockend, konnten sie ihm eine Sinnlichkeit verleihen, die jede glatte Katalogschönheit blass erscheinen ließ. Er vereinte Gegensätze auf eine faszinierende Art und Weise – er konnte hart sein, fast grausam ebenso wie liebevoll und anlehnungsbedürftig. Obwohl er letzteres nur selten zu ließ, geschweige denn, andere bemerken ließ. Kein Teil konnte ohne den anderen sein, ohne dass Brian dabei auf der Strecke blieb, wie die Vergangenheit gezeigt hatte. Es war nie Brians Perfektion gewesen, die ihn gelehrt hatte, den älteren Mann zu lieben, auch wenn dieser – und er selbst – lange gebraucht hatten, das nur ansatzweise zu begreifen. Es war Brian selbst gewesen mit seinen Fehlern und Stärken, aber immer bereits zu kämpfen.

Was im Busche war

XX. Was im Busche war
 

Es war bereits halb drei, als sie vor der Residenz des Friedensrichters parkten. Die Männer trugen die von Brian georderten Anzüge, die denen des letzten Fiaskos möglichst wenig glichen, Jennifer ein elegantes hellblaues Seidenkostüm, Molly trug stolz ihr bestes Kleid zur Schau. Das Wetter hatte aufgefrischt, aber noch zeigte der Sommer seine letzten freundlichen Züge. Kaum waren sie aus dem Auto gestiegen, kam Ted schon auf sie zu gesteuert. Er hatte eine Blüte im Knopfloch, was Brian einen leichten Würgereiz bescherte. Eine merkwürdige Ernsthaftigkeit machte sich breit, als sie einander begrüßten. Brian und Justin musterten sich noch einmal eingehend, dann nickten sie einander zu. Bringen wir’s hinter uns, mit so viel Würde, wie möglich.
 

Der Friedensrichter, ein etwas korpulenter Mann Mitte fünfzig mit einem beeindruckendem Schnurrbart, der jedem Walross alle Ehre gemacht hätte, erwartete sie schon an der Tür. Er begrüßte sie freundlich und bat sie hinein. „MacKenzie“, stellte er sich noch einmal persönlich vor und gab ihnen nacheinander die Hand, „wundervoll, dass sie so pünktlich sind! Sie werden schon sehnlichst erwartet!“ Brian und Justin erstarrten die Gesichtszüge. Eine üble Ahnung beschlich sie, aber es wurde ihnen keine Zeit gewährt, sich zu besinnen. Der Richter bugsierte sie in den für Eheschließungen vorgesehenen Raum. Ein lautes „Überraschung!!!“ schallte ihnen vielstimmig entgegen. Sie mussten wie zur Salzsäule erstarrt ausgesehen haben, denn Debbie bemerkte grinsend: „Na, die ist uns offensichtlich gelungen! Ihr fiesen kleinen Scheißer – Entschuldigung, Euer Würden – ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, diese Party würde ohne uns stattfinden!“ „Äh…“ entfuhr Brian, der sich um Fassung bemühte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Ihre einzige Chance wäre jetzt noch, die Beine in die Hand zu nehmen – was das Problem weder gelöst noch ihrem eigentlichen Plan zugute gereicht hätte. Vielleicht waren mehr Zeugen auch gar nicht so schlecht…
 

„Du blöder Mistkerl!“ fuhr Michael ihn an. „Wie konntest du das tun! Aber nicht ohne mich, mein Freund, vergiss es!“ Er lachte wieder, wenn auch ein gekränkter Unterton in seiner Stimme gelegen hatte. Ben und Hunter, der Jenny hielt, lächelten sie mehr oder weniger höflich an – Ben mehr, Hunter weniger. Debbie zog Carl an der Hand hinter sich her und verkündete strahlend: „Habt ihr wirklich geglaubt, dass wir zulassen, dass ihr euren Tag ohne eure Familie verbringt? Nicht in diesem Universum! Gott sei Dank hat Michael das Fax gesehen…“ Aha, daher wehte der Wind. Elender Schnüffler… „Was riecht denn hier so merkwürdig?“ meldete sich Justin, der inzwischen die Sprache wiedergefunden hatte. Emmet meldete sich und wies mit einer theatralischen Geste auf das Pult des Richters: „Goldene Gardenien! Ein Zeichen eurer immerwährenden Liebe! Ich musste mir den Arsch aufreißen, um die so kurzfristig noch zu bekommen, aber das Opfer musste es mir wert sein, auch wenn die schwule Gemeinde Pittsburghs Trauer tragen wird!“ Der Strauß war wunderschön – roch aber eher nach immerwährender Fäulnis. „Wir werden dafür sorgen, dass dieser Tag für euch unvergesslich wird, verlasst euch drauf!“ verkündete Debbie und lachte dabei glücklich. Das war zu befürchten…
 

„Da wir jetzt alle so schön versammelt sind“, mischte sich der Friedensrichter jetzt mit einem jovialen Lächeln ein, „können wir ja eigentlich auch anfangen. Sind Sie bereit? Oder bekommen sie jetzt kalte Füße?“ Er musterte Brians und Justins käsige Gesichter und lachte dröhnend. Die Ähnlichkeit mit einem Walross trat dabei noch viel deutlicher zutage. „Kann losgehen“, „Los geht’s“ erwiderten die beiden etwas dünn fast gleichzeitig. Sie wurden mit dem Rücken zum Publikum am großen Tisch platziert, die Trauzeugen setzten sich neben sie, Jennifer hielt Gus auf dem Schoss, der ganz zappelig war vor Aufregung.
 

Es dauerte nicht lange, nur ein paar Minuten. Sie hatten sich für eine kurze konventionelle Zeremonie entschieden… Dich zu lieben… und zu ehren… bis das der Tod uns scheidet… hörte Brian sich selbst sagen. Dann dasselbe aus Justins Mund. Sie schauten sich mit staunend aufgerissenen Augen an. Das war so… wirklich… „Haben Sie Ringe?“ fragte der Richter. Wie auf Signal schoss Gus von Jennifers Schoss und brüllte: „Ich!“ Stolz hielt er die kleine Schachtel hin, die sein Vater ihm anvertraut hatte. Justin schaute ungläubig. Oh Gott… die Ringe… Irgendwie schaffte er es stillzuhalten, als Brian ihm das elegante Band überstreifte, und nicht total zu versagen, als er an der Reihe war. Der Richter schob ihnen die Urkunde hin, sie unterschrieben, dann die Trauzeugen. Dann stand MacKenzie etwas umständlich auf und erklärte ihre Ehe mit schallender Stimme für rechtsgültig. Ach du Scheiße… dachte Justin.
 

„Küssen! Küssen! Küssen!“ intonierte Debbie, als alle klatschten. Sie rappelten sich etwas wackelig hoch und sahen einander an. Dann beugte sich Brian ein wenig herab, und sie küssten sich unter allgemeinen Jubel. Der Kuss fiel etwas steif aus, aber das schien keinem weiter aufzufallen. „Oh Gott“, schrie Emmet, „Brian Kinney ist verheiratet! Wenn ein solches Wunder geschieht, dann ist alles möglich auf Erden, ich sag’s euch!“ „Ich komm dich und deine Frau und eure fünf bibeltreuen Kinder aber garantiert niemals besuchen in eurer Amish-Kolonie“, entgegnete Brian etwas bissig. Gegen seinen Willen musste er auch lächeln. Oh Gott… er war wirklich verheiratet! Es mochte zwar zu Hause nichts gelten. Aber hier und jetzt war er’s. Oh Gott! Er starrte seinen frisch gebackenen… Ehemann an, der von der ersten Welle der Meute bereits in Glückwunsch-Umarmungen fast zermust wurde. Er fand ihn wunderschön. Dann war er selbst an der Reihe. „Nun bist du auch unter der Haube!“ Michael schluchzte diese Worte fast. Buh… dachte Brian – aber bis Stepfordhausen war es dennoch noch ein weiter Weg, den er niemals zu beschreiten gedachte. Der georderte Fotograf ließ sie posieren: als Paar – sie bemühten sich um ihre glücklichsten Gesichter für die Beweisfotos, obwohl sie sich etwas geplättet fühlten – mit Gus, mit dem Richter, den Trauzeugen, der gesamten Bagage. Brian wünschte sich, Lindsay könnte jetzt bei ihm sei. Andererseits, wenn sie es wäre, dann stünde er wahrscheinlich nicht hier… Er schluckte betroffen.
 

„Gut“, sagte Justin schließlich, da es an der Zeit war, den ganzen Budenzauber zu beenden und weiter nach Plan vorzugehen, „wir müssen dann allmählich wieder gen Heimat…“ „Das könnte euch so passen“, fuhr Debbie ihn an. „Nein, nix da – wir haben euch eine unvergessliche Hochzeit versprochen – und die bekommt ihr auch, ob’s euch passt oder nicht!“ Die anderen ließen Laute der Unterstützung vernehmen, lediglich Jennifer und Ted hielten sich etwas zurück. Brian rollte hilflos mit den Augen. Was auch immer sie taten, um ihrem Schicksal zu entrinnen, es würde ihre Freunde schrecklich vor den Kopf stoßen. War es das wert? Wohl eher nicht, obgleich er über dieses Überfallskommando auch reichlich verärgert war. Sie schienen einfach anzunehmen, dass sie wussten, was er und Justin wollten, ohne auch nur zu fragen… Aber andererseits war es auch irgendwie… schön gewesen, sie dabei zu haben. Auch wenn es nicht wirklich etwas bedeutete.
 

In der Eingangshalle der richterlichen Residenz waren ein paar Tische mit ausgesprochen schmackhaft aussehenden Häppchen aufgebaut, Sekt stand in Kühlern. Da war eindeutig Emmets erfahrene Hand im Spiel gewesen. Ausgehungert fielen alle darüber her, Brian und Justin wurden Gläser in die Hände gedrückt. Überrollt von den Ereignissen, wie sie waren, kippten sie das blubbernde Getränk ziemlich hastig in sich hinein, nachdem Ted und Jennifer ihre kurzen – improvisierten – Glückwunschreden gehalten hatten. Alle wünschten ihnen applaudierenden alles Glück dieser Erde, prosteten ihnen zu und nötigten ihnen einen weiteren Kuss ab. Allmählich kamen sie auf den Geschmack. Emmet war, ganz der Caretaker, gleich mit Nachschub zugegen, aber Brian winkte ab. „Ich muss noch fahren!“ „Du spinnst wohl! Du fährst heute nirgendwo mehr hin! Das ist euer Tag!“ „Justin steigt in kein Flugzeug – und Gus auch nicht!“ „Wer redet denn von sowas?“ schaltete Michael sich ein. „Nein, ihr genießt jetzt erst mal, wir haben uns um alles gekümmert!“ „Aber was…?“ bohrte Justin. „Überraschung!“ flüsterte Michael geheimnisvoll. „Noch ein paar von diesen Überraschungen und du hast mich erledigt, Mickey!“ versuchte Brian sich halbherzig zu retten, wohl wissend, dass es zwecklos war. Da mussten sie wohl jetzt durch. Wie hieß es so schön? Lügen haben lange Beine. Und sehr, sehr ausdauernde.
 

Brian und Justin waren bereits etwas wackelig auf den selbigen, als die Feier langsam ausklang. Der ungewohnte Sekt auf halbwegs nüchternen Magen, den sie etwas zu hastig in sich hinein geschüttet hatten, zeigte seine Wirkung. Arm in Arm durchschritten sie etwas angeschlagen die Tür und wurden von einem Reisregen begrüßt, in dem sich, zu allem Überfluss, auch noch herzchenförmiges Glitzer-Konfetti verbarg. Gus war begeistert. Die frisch Angetrauten, an denen das Zeug massenweise hängen blieb, weniger. Justin schüttelte sich – mit der Folge, dass sich der impertinente Glitzer erst recht gut auf ihm verteilte. Er musste aussehen wie ein Vollidiot. Der Fotograf machte artig Aufnahmen. Immerhin sah Brian auch nicht besser aus. „Und was sieht euer kongeniale Plan jetzt vor?“ fragte er. Ted bugsierte sie zu ihrem Wagen. „Du auch?“ entfuhr es Brian, „du bist sowas von gefeuert, du Verräter!“ „Ich bin kein Verräter, nur ein Komplize“, grinste Ted und hielt ihnen, einen Diener andeutend, die Hintertür auf. Ein Schild mit „just married“ zierte das Rückfenster, Dosen hingen an der Stoßstange. Debbie trat zu ihnen. „So, ihr beiden, Gus bleibt bei uns in guten Händen. Wir alle wünschen euch alles Gute - wurde ja auch wirklich Zeit – und eine heiße Nacht! Aber damit kennt ihr euch ja aus!“ Gus hing schläfrig in Jennifers Armen, die kleine Hand in Mollys. „Gute Nacht, Sonnyboy, bis Morgen früh!“ rief Brian, gefolgt von Justins „Schlaf gut Gus, wir sehen uns Morgen, versprochen!“ Gus antwortete nur dösig: „Nacht Papa! Nacht Justin!“ Es war ein langer Tag für ihn gewesen. Es schmerzte sie beide, ihn aus den Augen zu lassen – aber er war in guten Händen. Jeder ihrer Freunde hätte gemordet für Gus‘ Wohlergehen.
 

Michael saß hinter dem Steuer und grinste sie breit an: „Nun zu unserem Hochzeitsgeschenk!“ „Fährst du jetzt mit uns in den Wald und erledigst uns mit einer Plattschaufel, weil wir nichts gesagt haben? Wenn ja, mach schnell, ich bin müde.“ „Ich war versucht, wurde aber überstimmt. Und das mit der Müdigkeit vergisst du besser gleich wieder, der Abend ist noch jung!“ Brian ließ sich in die Polster fallen und entschied, dass es wohl am besten war zu warten und der Dinge zu harren, die da kommen sollten. Justin schien ähnlich zu denken. Er saß seitlich zu Brian und musterte ihn unergründlich. „Was ist mit euch los? Noch gar nicht wild am rumknutschen?“ stichelte Michael neugierig. „Nicht solange du da bist, du Spanner!“ schnappte Brian. „Seit wann so verklemmt? In der ersten Nacht, in der du Justin angeschleppt hast, hast du ihm fröhlich einen geblasen, während ich den Fahrer machen musste!“ „Du Aas hast absichtlich eine Vollbremsung eingelegt, dass mir Justins Schwanz beinahe zum Hinterkopf wieder rausgekommen ist! Glaub ja nicht, dass ich das Risiko nochmal eingehen werde!“ „Tja, es gibt schlimmere Todesarten!“ Justin begann unvermutet zu kichern. „Was?“ wurde er von zwei Seiten angeblafft. „Wie ich’s euch schon mal gesagt habe – ihr streitet euch wie meine Eltern…“
 

Michael hielt schließlich vor einem Hotelkomplex, der Brian bekannt vorkam. Er war schon einmal hier gewesen, allerdings rein geschäftlich. Eins der besten Häuser Torontos. Michael drehte sich um und hielt ihnen eine Schlüsselkarte vor die Nase: „Die Hochzeitssuite! Unser Geschenk an euch! Wir haben sie für euch hergerichtet! Lasst die Wände wackeln und macht euch eine unvergessliche Nacht!“ Er stieg mit ihnen aus, drückte sie noch einmal – Brian deutlich länger als Justin – dann sagte er: „Ihr beide seid einfach unglaublich! Ich wünsche euch alles, alles Gute! Mögt ihr so glücklich werden wie Ben und ich!“ Dann winkte er ihnen ein letztes Mal zu und fuhr davon. Brian hielt die Schlüsselkarte in der Hand. Zum ersten Mal seit langer Zeit waren sie allein.

Erdbeerflutsche

XXI. Erdbeerflutsche
 

Ein leichter Niesel hatte eingesetzt, immer noch sommerlich warm, aber vom nahen Herbst kündend. „Und was machen wir jetzt?“ fragte Justin einigermaßen ernüchtert, aber immer noch leicht schwankend, „hauen wir ab? Buchen wir separate Zimmer und schlagen uns ein paar Stunden aufs Ohr?“ „Willst du das?“ fragte Brian mir einer gewissen Schärfe in der Stimme. „Ich weiß nicht. Aber wahrscheinlich sollten wir uns sowieso zuerst die Suite anschauen. Wenn wir nicht Morgen haargenau jede Kleinigkeit kommentieren können, mit denen uns ihr mieser Geschmack bedacht hat, sind wir sowas von dran. Vielleicht sollten wir erst mal hochgehen. Dann können wir weiter überlegen.“ Brian murmelte zustimmend etwas Unverständliches. Sie strafften sich und durchliefen so selbstbewusst und gerade, wie ihre Garnierung mit Reis und Konfetti sowie ihr angesäuselter Zustand es zuließen, das Foyer. Ein paar neugierige Blicke blieben an ihnen kleben. Mochten die doch denken, was sie wollten, sie waren zu erledigt, um sich noch darum zu scheren. Das Hotelpersonal nahm ihre Ankunft diskret zur Kenntnis und wies ihnen formvollendet den Weg zu ihrem Raum.
 

Der elegant verspiegelte Lift gondelte quälend langsam bis in das höchste Stockwerk. Justin lehnte mit halb geschlossenen Augen gegen die Wand mit der Anzeigetafel, Brian stand neben ihm und starrte die aufblinkenden Lichter der vorüber sausenden Etagen an. Der Lift ließ ein antiquiertes Läuten erschallen und fuhr seine Türen auf, sie waren da. Vorsichtigen Schrittes traten sie in den Flur. Es herrschte eine gedämpfte Beleuchtung, der teure Teppich schluckte ihre Schritte. Nur wenige Zimmer lagen in dieser Etage. Brian zückte die Schlüsselkarte aus seiner Brusttasche und entriegelte die Tür. „Nun, heben wir unsere Ärsche dann Mal über die Schwelle“, orderte er, den schwankenden Justin nicht aus dem Blicke lassend. Justin ging mit der in seinem Zustand höchstmöglichen Würde ins Innere der Suite, Brian folgte ihm und zog die Tür hinter ihnen zu.
 

Der Raum war von dezentem Kerzenlicht erhellt. Auf dem Tisch vor dem gigantisch anmutendem Bett stand ein bestückter Sektkühler. Das Panoramafenster gewährte einen atemberaubenden Blick über das frühabendliche Toronto. Justin tat ein paar Schritte und ließ sich bäuchlings auf die exquisit gefederte Matratze fallen. „Uff…“, entfuhr ihm, dann, „was ist das denn?“ Seine Finger ertasteten die Überdecke und hoben ein paar in der duffen Beleuchtung fast schwarz aussehende Fragmente hoch. „Rosenblätter!“ entfuhr ihm, „sie haben uns das gottverfluchte Bett mit Rosenblättern vollgekippt!“ „Hier war Debbie am Werke… was hast du erwartet?“ Brian musste gegen seinen Willen grinsen. Über Debbies Geschmack konnte man vor allem eines sagen: Er war konsequent.
 

Justin streckte sich und langte nach einem liebevoll verschnürten Präsentkorb auf dem Nachtisch. Etwas unkoordiniert öffnete er die Verpackung, während Brian vorsichtig auf der Bettkante Platz nahm. Justin kippte den Inhalt auf das Bett. „Ingwerblättchen in Schokolade… mmm… was ist das? Ein schwules Kamasutra – glauben die ernsthaft, wir hätten noch was zu lernen?... Ein echter Badeschwamm – der wird Gus gefallen… und… oh Gott, Erdbeerflutsche!“ Irritiert lauschte Brian auf:“Erdbeer… was?“ „Gleitgel mit Erdbeergeschmack, oh hier ist noch mehr… Vanille, Rose… Senf?! Wer stellt denn sowas her?“ „Immerhin werden wir nicht verhungern…“ warf Brian mit hochgezogener Augenbraue ein. „Als ob du etwas mit ungewissem Kaloriengehalt essen würdest!“ Justin streckte sich wieder auf den Bauch und schwieg. Nach ein paar Minuten war Brian fast zu der Überzeugung gelangt, dass er eingeschlafen wäre.
 

„Justin? Alles okay?“ fragte er leise.
 

„Ja“, hörte er gemurmelt, “nur etwas besoffen.“
 

„Kein Wunder, so wie du diesen Fusel in dich rein gebechert hast!“
 

„Hatte auch allen Grund dazu. Dieser Überfall war ganz schön heftig! Hat alles so… echt gemacht. Außerdem heiratet man nur einmal.“
 

Brian hatte plötzlich einen Kloss in der Kehle stecken: „Frag Mal Liz Taylor zu diesem Thema… Und außerdem: Es war echt. Hier und jetzt – sind wir wirklich und allen Ernstes verheiratet.“
 

„Ich heirate nur einmal. Und darum ging’s ja auch – so echt wie möglich, nicht wahr? Für Gus“, Justins Stimme klang merkwürdig bitter.
 

„Nicht so echt wie möglich. Einfach echt. Und scheiß auf diese Idioten in Pitts! Wir sind verheiratet!“ entfuhr es Brian stur.
 

Justin rappelte sich auf und legte sich auf die Seite, ihm zugewandt. „Und was ist mit uns?“ fragte er, sein Blick war plötzlich erschreckend klar.
 

Brian schlug die Augen nieder, wich aber nicht vor ihm zurück: „Bereust Du’s? Ich habe dir gesagt, das du das nicht hättest tun müssen.“
 

„Doch, musste ich“, antwortete Justin unbeirrt, dann wurde seine Stimme sanft, das Blau seiner Augen schien sich im Kerzenschein zu verdunkel: „Warum hast du mich geheiratet, Brian?“
 

Brian hatte das Gefühl, dass Justin ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzog, um in sein Innerstes zu sehen. Er langte nach der Zigarettenpackung, die er im Inneren seiner Anzugtasche verborgen hatte. „Das weißt du doch“ sagte er ausweichend.
 

„Nein, weiß ich nicht. Und bei mir bin ich mir da auch nicht so ganz sicher. Meine Mutter sagte zu mir, als ich ihr die ganze Geschichte erklärt habe, dass niemand auf Erden einen von uns zu etwas zwingen kann, was wir nicht irgendwie wollten. Kein Scheiß-Sorgerechtprozess. Keine Spießer in Richterroben. Niemand.“
 

Brian drehte die Zigarette in seinen Fingern. Er schloss die Augen. Verdammt sei Jennifer Taylor. „Kann sein“, versuchte er sich, „dass irgendwas in mir das immer noch wollte. Trotz dem, was wir beschlossen hatten. Ich weiß, das ist idiotisch.“
 

„Muss es nicht sein. Was bedeutet Ehe für dich, Brian?“ fragte Justin, ihn mit wachem Blick musternd.
 

Humorlos lachte Brian auf: „Ewige Verdammnis? Ein Freiflugticket nach Stepfordhausen? Frag dazu jemand anderen – denn ich habe keine Ahnung. Die einzige langwährende Beziehung, deren Zeuge ich je war, war die meiner Eltern – und die war definitiv ein abschreckendes Beispiel.“
 

„Und du hast mich dennoch damals gefragt?“
 

„Du solltest glücklich sein, nicht ich.“
 

„Das war eine saublöde Idee.“
 

„Das hast du mich eingehend spüren lassen, ich hab’s verstanden“, Brian wühlte nach seinem Feuerzeug. Justin schaute ihn fragend an, so reichte er ihm auch eine Zigarette.
 

„Schon mal auf die Idee gekommen, dass es nicht so sein muss? Dass eine Ehe nicht zwangsläufig ein Ticket zur Hölle sein muss?“
 

„Ja, das wollen uns alle Hollywood-Filme immer glauben lassen. Aber sie zeigen nie das danach. Ich habe Mal gelesen, dass der heterosexuelle Fortpflanzungszyklus etwa vier Jahre umfasst. Danach ist die Brut aus dem Gröbsten raus und man kann wieder getrennter Wege gehen. Die Liebeshormone sind verbraucht.“
 

„Da sind wir zeitlich drüber hinweg. Und das, wovon du sprichst ist Verliebtheit. Keine Liebe.“
 

Brian zündete erst Justin, dann sich eine Zigarette an, dann fragte er: „Und was ist Ehe für dich, Sonnenschein?“
 

„Nicht das Ende aller Dinge. Der Anfang. Eine Chance. Eine Chance, gemeinsam Zielen nachstreben, einander zu respektieren, zu stützen – und zu lieben. Gemeinschaft, ohne Opfer, aus freiem Willen. Ich habe viel darüber nachgedacht in New York. Vertrauen. Achtung. Stolz auf einander. Ein erfülltes Leben.“
 

Brian schluckte und nahm einen tiefen Zug: „Und wo stehen wir dann jetzt?“ „Ich denke, wo wir entscheiden, dass wir stehen. Ist dies nur ein Arrangement für Gus‘ Wohlergehen? Oder ist das auch eine Chance für uns, mehr zu sein…?“ Justins Stimme war fest geblieben, obgleich in rauer Unterton sich eingeschlichen hatte.
 

„Nichts ist selbstverständlich“, sagte Brian, mehr zu sich selbst, „das Leben geht weiter. Die Liebe bleibt nicht stehen. Sie verändert sich. Wir verändern uns. Allein – oder miteinander? Das ist wohl die Frage.“
 

Auf Justins Zügen lag kurz ein vages Lächeln „Ja, Hamlet. Und die Frage ist: liebst du mich? Nein, ich weiß, dass du das tust. Vielmehr: Bist du bereit, es zu wagen? Ein gemeinsames Leben – und diesmal in Aufrichtigkeit?“
 

Brian wandte sich zu ihm um. Die Zigarette verglimmte in seinen Fingern, ohne dass er es zur Kenntnis nahm. „Ich will, Justin“, sagte er mit ruhiger, aber kräftiger Stimme. Auf Justins Zügen leuchtete ein Lächeln, dass in Brians Augen die Sonne wie einen fauligen Pfirsich neben ihm erscheinen ließ. „Und was ist mit dir, Sonnenschein?“ flüsterte er.
 

„Ich will“, antwortete Justin nur.

Prinzipienreiterei

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

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Begegnung mit der Seejungfrau

XXIV. Begegnung mit der Seejungfrau
 

Im Loft erwartete sie ein wütend blinkender Anrufbeantworter. Justin verkrümelte sich mit dem nach der langen Fahrt etwas dösigen Gus in Richtung Badezimmer. Brian konnte entfernt verfolgen, wie der Nachwuchs den geduldigen Justin mit den Worten „selber machen!“ zunehmend an den Rand der Verzweiflung trieb. Mmm, das sollte er ja eigentlich von ihm schon gewöhnt sein…
 

Schicksalsergeben drückte Brian auf den Wiedergabeknopf. Zunächst kamen ein paar belanglose Nachrichten: Michael, der ihn in falscher Sicherheit wiegen wollte, indem er ihm etwas von einem „Familienausflug“ erzählte… Cythia, die ihm nur sagen wollte, dass bei Kinnetic alles in Ordnung war… sein Steuerprüfer, der mit ihm einen Termin für die Jahresendabrechnung ausmachen wollte… und dann kam es.
 

„Kinney!“ hörte er die harte Stimme der Frau, die Lindsay auf die Welt gebracht hatte, „wir warten immer noch auf den monatlichen Besuch unseres Enkelsohnes! Oder haben sie auch noch vor, gegen dieses Recht zu verstoßen? Ich erwarte ihren Rückruf!“
 

Brian seufzte. Für eine kurze Weile hatte er in Justins Armen und im Nachrauschen ihrer Nacht vergessen können, was sie daheim erwartete. Jetzt hieß es, schnell zu handeln. Er durfte nicht zulassen, dass diese Frau Munition gegen sie bekam.
 

Kurzentschlossen drückte er die Wählknöpfe.
 

„Peterson?“
 

Volltreffer. Das Objekt seiner Träume war am Apparat…
 

„Kinney hier“, meldete er sich so neutral wie möglich.
 

Am anderen Ende der Leitung blieb es still, obgleich Brian die plötzliche Verspannung der Frau förmlich spüren konnte.
 

„Guten Tag, Mrs. Peterson“, würgte er so höflich wie möglich heraus – er würde sich garantiert zu nichts hinreißen lassen, mochte die blöde Pute daran ersticken – „ich würde gerne einen Besuchstermin für Gus mit Ihnen ausmachen. Wann würde es Ihnen denn passen?“
 

„Immer“, versetzte sie fest.
 

Brian ging nicht darauf ein: „Soll ich ihn morgen früh bei Ihnen vorbei bringen?“ Er schluckte seinen Widerwillen herunter, Gus so bald schon wieder aus den Augen lassen zu müssen. Aber wenn sie es vor dem Anhörungstermin hinter sich bringen konnten, um so besser.
 

„Der Vaterschaft so schnell schon überdrüssig? Morgen ist wunderbar. Gus soll einen schönen Tag erleben, der ihn von den Umständen ablenkt. Bringen Sie ihn gegen 8 Uhr vorbei.“
 

Brian hätte am liebsten mit den Zähnen geknirscht, zwang sich aber zu völliger Ruhe: „Natürlich, Mrs. Peterson, wie Sie wünschen. Ich hole ihn um 20:00 zur Nacht wieder ab. Wir werden ihn sehr vermissen.“ Nimm das, du Schlange!
 

„Nun gut“, antwortete sie harsch, „bis Morgen früh, Mr. Kinney.“
 

Sie legte auf, ohne auf seine Abschiedsworte zu warten. Die, die ihm auf der Zunge langen, hätte sie auch besser nicht zu Gehör bekommen.
 

Justin war es inzwischen gelungen, Gus im gereinigten Zustand in einen Pyjama zu stopfen. Hoch erhobenen Hauptes dackelte er vor seinem jungen Erziehungsberechtigten her und präsentierte sich stolz: „Schau mal Papa, hab ich alles selber gemacht! Justin hat nur geschaut!“ Justins Mundwinkel zuckte nur etwas, aber er nickte innständig.
 

Brian lächelte und hob ihn hoch: „Himmel, was bist du schon für ein großer Junge! Einen Pyjama anzuziehen – das habe selbst ich jahrelang nicht hinbekommen! Du musst sehr, sehr klug sein! Und geschickt!“
 

Gus kiekste entzückt über dieses Lob und schlang Brian die Hände um den Hals. „Und du sehr, sehr dämlich! Und ungeschickt!“ versetzte er jauchzend. Justin lachte laut heraus angesichts Brians belämmerten Gesichtsausdrucks. „Das mit dem ungeschickt kann ich bestätigen, zumindest was heimwerkerliche Fähigkeiten angeht. Wenn du versuchst, einen Nagel einzuschlagen, kann man sich nicht sicher sein, wer von euch beiden in der Wand landet!“
 

„Oh, jetzt kränkst du mich! Ich war immer so stolz auf meine Begabung zum Nageln!“ schlug Brian mit hochgezogener Augenbraue zurück. Justin legte den Kopf in den Nacken: „Touchée! Stimmt, mit nageln kennst du dich wirklich gut aus…“
 

„Und mit hämmern… bohren…“
 

„Du Heimwerkerkönig…“
 

„Sag einfach, wenn du Hilfe Brauchst! Ich unterstütze dich gerne bei allen Dingen, bei denen man etwas in etwas versenkt…“
 

„Dann versenk Gus doch Mal in seinem Bettchen!“
 

„Ich bin aber noch nicht müde!“ protestierte Gus. Er hatte ja den größten Teil der Fahrt verschlafen, kein Wunder.
 

Brian fiel das Telefonat wieder ein. „Gus, magst du Morgen Oma und Opa Peterson besuchen?“
 

„Oma? Opa? Au ja!“ Wie konnte Gus in Hinblick auf diese Personen so euphorisch reagieren? Wahrscheinlich, weil sie Gus liebten – aber seinen Anhang für einen Auswurf der Dante‘schen Hölle hielten.
 

„Dann brauchst du aber noch eine Mütze Schlaf, bevor es losgeht, oder?“ lockte Brian.
 

„Nö, ich bin noch nicht müde“, antwortete Gus und wippte mit den Füßen, dass Brians Bandscheibe krachte. Der Kleine war gar nicht mehr so klein…
 

„Wir können ja fernsehen“, beschloss Gus gnädig.
 

Schicksalsergeben sahen Brian und Justin sich an. Dann fragte Justin: „Was möchtest du denn sehen?“
 

„Jeff Stryker!“, „Ariel die Seejungfrau!“ schallte ihm entgegen.
 

„Dann entscheidet wohl Justin“, stellte Gus mit einem instinktiven Gespür für Mehrheitsverhältnisse fest.
 

„Äh“, sagte Justin, „also Ariel hört sich echt toll an…“
 

„Juhu“, jubelte Gus. „Juhu – schade, dass ich das nicht auf Band hab‘“, grinste Brian.
 

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Neunzig Minuten später war Brian kurz davor, Fisch zu seinem Hauptlebensmittel zu küren. Gus sang begeistert das Schlusslied mit und hatte Justin dazu genötigt, es ihm nachzutun. Fast tat Justin ihm leid. Aber nur fast, dachte er, in Hinblick auf die Qual, die er in seinen Ohren verspürte.
 

Dann gähnte Gus ausgiebig. „Das war super!“ stellte er fest. Brian sah endlose Nächte volle Disney-Filme auf sich zu kommen. Aber immerhin besser als Hetenpornos. Oder Filme mit Tom Cruise.
 

„Uuuahhh“, gähnte Justin, „jetzt bin ich voll müde!“
 

„Ich auch!“ pflichtete ihm Gus, die Geste imitierend, bei. Raffiniert, Sonnenschein…
 

Gus kroch vom Sofa und baute sich vor ihnen auf. „Ich gehe jetzt ins Bett!“ verkündete er.
 

„Soll ich dich nicht ins Bett bringen?“ fragte Brian überrascht.
 

„Nicht nötig“, sagte Gus würdevoll, „dass kann ich allein!“
 

Er trabte unter ihrem wachsamen Blick zu seiner Schlafstätte, kletterte hinein und deckte sich demonstrativ zu.
 

„Okay….?“ sagte Brian.
 

„Selber machen“, kommentierte Justin nur.
 

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Brian hatte sich nicht damit begnügt, auf der Couch zu knutschen, seit er ein Teenager gewesen war. Und genauso fühlte er sich gerade: Wie ein dämlich verknallter Teenager. Aber es war egal, Justin ging es nicht besser – und der war Gottseidank ja auch kein Teenager mehr. Und rumgeknutscht hatte er damals auch nicht. Er war ratzfatz flachgelegt worden, die Knutscherei überspringend, von ihm, Brian. Und Brian Kinney vögelte seine Tricks, fertig, Ende. Auch wenn es ständig derselbe gewesen war…
 

Der Mann, den er jetzt küsste, mal hauchzart, mal bis zu den Mandeln, war schon lange kein Trick mehr. Oder sein unkonventioneller Freund. Er war sein verschissener Ehemann. Er konnte das schlanke Plantinband an Justins Finger spüren, wenn er ihn streichelte. Justin gab diese merkwürdig gurrend-schnurrenden Laute von sich, die Brian fast den Verstand raubten. Am liebsten hätte er ihn an seinem goldenen Schopf gepackt, in seine Fickhöhle geschleift und ihm gezeigt, was es bedeutete, mit Brian Kinney verheiratet zu sein… Sie hatten es bare back getrieben…. Oh mein Gott! Oh mein Gott!... unbeschreiblich!... und Justin hatte ihn gefickt… und es war – zum ersten Mal überhaupt – richtig, wirklich geil gewesen, als er es zuließ. Wer hätte das gedacht. Er wollte es wieder, beides, Justin unter ihm, Justin auf ihm, er in Justin, Justin in ihm, kein Kondom… es war scheißegal! Hauptsache es geschah!
 

Aber mit Gus‘ unschuldigem Schlummer nur ein paar Meter neben ihnen konnten sie das getrost vergessen.
 

„Oh Goooootttt!“ stöhnte Justin gedämpfter Stimme, während Brian sich mit der Zunge den sensiblen Punkten seines Halses und Nackens widmete.
 

„Psssst, Gemach, Sonnenschein“, wisperte Brian zurück.
 

„Wir sollten dringend über unsere Wohnsituation nachdenken“, ächzte Justin hervor.
 

„Wie sieht deine Planung für Morgen aus?“ fragte Brian und widmete sich Justins Ohrmuschel.
 

„Ich… ahhhh… muss mich um die Galerieverkäufe kümmern und um… uhhh… die Miete für New York…“
 

„Das dauert nicht den ganzen Tag…“ Brian seufzte, als Justin die Liebkosung erwiderte.
 

„Was ist mit dir?“ hauchte Justin.
 

„Ich muss zu Kinnetic…. mmmhhhhh…. und den Sackratten dort in den Hintern treten... Du kannst mich mittags abholen, dann fahren wir raus zum Haus…“
 

„Und dann fickst du mich über dem Küchentresen?“ fragte Justin hoffnungsvoll.
 

„Wenn du darauf bestehst… Aber wir sollten uns die Bude anschauen und überlegen, was wir daraus machen wollen. Mrs. Lennox schläft nicht. Und wir auch nicht besonders gut, wenn wir nicht bald ein separates Schlafzimmer bekommen…“
 

„Das eine schließt das andere ja nicht aus“, murmelte Justin.

Der Pate

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Von Schlangen und Säuen

XXVI. Von Schlangen und Säuen
 

Nathalie Peterson betrachtete lächelnd ihren kleinen Enkelsohn, der voller Begeisterung mit dem neu erworbenen Legoset spielte. Er türmte euphorisch bunte Steinchen aufeinander und präsentierte sie ihr voller Stolz.
 

„Schau mal, Oma, das hat mir Molly gezeigt! Ein Specht!“
 

Nathalie drehte die Figur andachtsvoll in ihren Fingern. „Das hast du ganz toll gemacht, Gus! Hast du dir das selber ausgedacht?“
 

„Die Farben hab‘ ich mir ausgedacht. Den Rest hat mir Molly gezeigt!“
 

„Molly? Ist das deine Freundin?“
 

„Ja“, nickte Gus bestätigend.
 

„Aus dem Kindergarten?“
 

„Nein, Molly ist schon groß. Sie geht schon zur Schule.“
 

„Oh, deine Babysitterin in Kanada?“
 

„Nö, Justins Schwester.“
 

Nathalie fühlte sich wie mit kaltem Wasser begossen. Für Stunden hatte sie Gus soweit beschäftigt gehalten, dass er seine neuen Lebensbedingungen, so gut es ging, vergessen konnte. Und sie auch. Sie schwieg, unsicher, was sie sagen wollte. Einerseits wollte sie diesen beiden perversen Mistkerlen – dem Samenspender und seinem minderjährigen Liebhaber – an die Gurgel gehen, die ihr ihren Enkel entzogen. Andererseits warnte sie eine innere Stimme, Gus unnötig zu verunsichern. Der Verlust seiner Mutter und ihrer Partnerin hatte ihn tief verunsichert, obwohl er sich inzwischen ein wenig gefangen zu haben schien. Ihre Tochter, ihr Baby… Sie hatte keine Tränen mehr. Aber Gus war ihr geblieben, und er sollte das beste Leben haben, das sie ihm nur irgend schenken konnte… Aber da war dieser Vater aufgetaucht und sein… Gefährte. Nathalie musterte Gus nachdenklich. Er hatte Lindsays helle Haut, die geschwungenen Augenbrauen – aber ansonsten sah er seinem leiblichen Vater wie aus dem Gesichte geschnitten aus. Mit seinem Aussehen hatte sie nie jemanden außer Lindsay in Verbindung gebracht. Da gab es Melanie und diese ferne Gestalt, die seinen Samen für Gus gegeben hatte. Und plötzlich war sie wie aus dem Nichts aufgetaucht. Nein, das stimmte nicht, Gus hatte immer wieder mit leuchtenden Augen von seinem Papa geredet. Auch Justin hatte er immer wieder erwähnt. Aber sie waren irreal geblieben, Figuren aus Erzählungen.
 

Nathalie schluckte und spürte kurz ein schlechtes Gewissen dann sagte sie: „Erzähl mir von Papa und Justin.“
 

Gus sah sieaufmerksam an und legte die Steine bei Seite. Er trat auf sie zu und schlang seine Arme um sie: „Ich hab dich lieb Oma, und Opa auch!“
 

„Ich weiß Gus, wir haben dich auch sehr lieb.“
 

„Aber ich muss bei Papa und Justin bleiben.“
 

„Und warum musst du das?“ fragte Nathalie aufmerksam, den Kloss in ihrer Kehle runterschluckend.
 

„Weil er mein Papa ist. Und Justin auch.“
 

„Justin ist dein Papa?“ fragte sie etwas fassungslos.
 

„Ja, jetzt schon. Justin war immer da. Noch mehr als Papa, als ich noch bei Mama und Mama und Jenny gewohnt habe. Er hat mir meinen Namen gegeben. Ich habe Justin lieb. Und ich habe Papa lieb. Er braucht mich. Mehr als ihr.“
 

Nathalie starrte den kleinen Jungen an. Etwas in ihrem Inneren begann sich zu formen. Bei dem ganzen Hin und Her hatten sie etwas vergessen. Was Gus wollte. Oh mein Gott.
 

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Um Schlag acht Uhr abends klingelte es an der Tür. Nathalie öffnete. Der junge blonde Mann, Justin Taylor, stand im Licht der Torlampe. Er lächelte sie höflich an.
 

Gus kam von hinten angerannt, sprang auf den Blonden zu und umklammerte ihn. Der Erwachsene hielt ihn fest, hob ihn hoch und küsste ihn zärtlich auf den Scheitel. Gus hielt ihm seine Legofigur unter die Nase, die er aufmerksam betrachtete: „Die ist toll, Gus, viel besser als Mollys!“
 

Das Kind strahlte. Nathalie schaute die Szene etwas befremdet an. Gus liebte diesen Jungen. Trotzdem stieß es ihr bitter aus, dass das Gus Erziehungsberechtigter sein sollte. Er war doch fast selbst noch ein Kind. Abgesehen von den Abartigkeiten, die er vermutlich mit Gus‘ Erzeuger trieb.
 

Über Gus Rücken trafen sich ihre Augen. Nathalie sah in zwei feste, intelligente, Selbstbewusstsein ausstrahlende blaue Tiefen. Das war kein Junge. Das war ein Mann, trotz der verspielten goldenen Frisur, der Stupsnase und der feinen Züge, die sie ein wenig an Lindsays erinnerten. Wie war das gewesen? Er war ein Künstler. Lindsay hatte ihm geholfen, Fuß zu fassen. Er musste gut sein, die Galerie ihrer Tochter hatte nichts Zweitklassiges ausgestellt. Man sollte ihn wohl nicht auf die leichte Schulter nehmen.
 

„Sag deinen Großeltern Tschüss“, wies er Gus leise an, „Papa wartet im Wagen.“
 

Gus flitzte los, kehrte aber so schnell es ging in Justins Arme zurück. Justin trug den Kleinen, der sich erschöpft an ihn lehnte, und sagte: „Gute Nacht, Mrs. Peterson.“
 

Nathalie sah ihnen nachdenklich nach. Der junge Künstler passte ihr nicht. Gus Vater passte ihr nicht.
 

Aber was war mit Gus?
 

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Gus war fast sofort in seinem Bett in tiefen Schlummer gefallen.
 

Brian und Justin saßen auf der Couch, Justins Kopf in Brians Schoß. Brian ließ die Fingerspitzen um Justins Schläfen kreisen, der ihn mit leisen wohligen Seufzern belohnte.
 

„In zwei Wochen ist Gus‘ Geburtstag“, sagte Justin leise.
 

„Ich weiß“, antwortete Brian nur.
 

Sechs Jahre.
 

„Was schenken wir ihm?“ fragte Brian.
 

„Er hat bereits jedes Spielzeug, in dessen Richtung er nur geschielt hat, du unpädagogischer Prasser.“
 

„Irgendwelche Vorschläge?“
 

„Du weißt, was er sich wünscht.“
 

„Nein. Nein, nein, nein, nein, nein!“
 

„Warum nicht? Wolltest du keines, als du klein warst?“
 

Brian dachte nach. „Doch, ich habe mir einen Hund gewünscht. Aber meine Mutter sagte, Tiere machen zu viel Dreck und kosten sinnloses Geld und Zeit.“
 

„Und willst du dasselbe zu Gus sagen?“
 

Brian schluckte: „Nein. Aber Meerschweinchen? Warum nicht ein… Killeralligator? Ein Puma? Ein Wolf? Aber Meerschweinchen?“
 

„Sind deutlich pflegeleichter. Ich hatte mal eins als Kind. Mr. George.“
 

„Oh Gott, noch so ein Pelzfrettchenfetischist!“
 

„Meerschweinchen sind keine Frettchen!“
 

„Pedant! Ich kann mir kaum ein Tier vorstellen, das ich abtörnender finde als ein Meerschweinchen!““
 

„Pudel?“
 

„Naja, vielleicht. Aber tut’s nicht auch ein Kinder-Ferrari?“
 

„Was soll Gus damit? Er hat bisher nicht einen Hauch von Interesse an Autos gezeigt. So traurig es auch sein mag für dich: Gus wünscht sich ein Haustier. Und zwar Meerschweinchen. Wenn du ihm also ernsthaft eine Freude machen willst…“
 

„Erpressung!“
 

„Naja, wir können’s auch bis zu seiner Einschulung verschieben. Aber ich habe wenig Hoffnung, dass er locker lassen wird.“
 

„Und wozu ist so ein Vieh gut?“
 

„Gus lernt Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu übernehmen. So hatte Linds das doch formuliert?“
 

„Bah… wie soll da ein skrupelloser Ellbogen-Kapitalist aus ihm werden?“
 

„Wie du? Vergiss es! Außerdem warst du das nie wirklich.“

„Bring mein Weltbild nicht zum wanken… Mr. Super-Pädagoge.“
 

„Man tut, was man kann.“
 

Brian seufzte schicksalsergeben. „Und wer füttert die Pelzfussel und schrubbt ihren Käfig? Gus kann das nicht alleine.“
 

„Nein, das soll er ja auch mit ihnen lernen. Da werden wir wohl unterstützend zur Hand gehen müssen. Hätte also keinen Sinn, es einer Putzfrau zu übertragen.“
 

„Kotzwürgspei. Früher erschien es mir irgendwie attraktiver, mir eine Sau ins Heim zu holen…“
 

„Tja, diese Säue haben immerhin keine Sackratten.“
 

„Behauptest du!“

Ich, du, wir

XXVII. Ich, du, wir
 

Als Justin am nächsten Morgen aus dem Badezimmer kam, stand Brian starr neben dem Telefon, seine einzige Bewegung war das gelegentliche Drehen einer unangezündeten Zigarette zwischen seinen Fingern. Seit Gus die große Einraumwohnung mit ihnen teilte, hatte Brian sich angewöhnt, zum Rauchen hinunter auf die Straße zu gehen. Justin verfolgte, wie Brian die Zigarette an die Lippen hob und sie wieder sinken ließ, um sie weiter zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu rollen. Justin trat leise auf ihn zu und sah zu ihm hinauf. Brians Augen sahen müde aus, ein harscher Zug lag um seine Mundwinkel. Er sah Justin nicht an, sondern starrte unverwandt aus dem Fenster auf die nächtlichen Lichter der Stadt.
 

„Sie haben sie freigegeben. Der offizielle Bericht läuft auf technischen Versagen hinaus. Den Angehörigen wurde ein Schmerzensgeld angeboten, damit sie nicht klagen“, sagte Brian schließlich nach ein paar endlosen Momenten des Schweigens.
 

Justin nickte nur stumm.
 

Mit einer raschen Bewegung drehte sich Brian zu ihm um und sah ihn durchdringend an. „Das könntet auch ihr sein. Lindsay. Melanie. Du. Gus…“, Brians Stimme klang gequält.
 

„Ich bin hier“, sagte Justin, „und Gus ist auch hier.“ Er trat auf Brian zu und schlang seine Arme um Taille und Nacken des größeren Mannes.
 

Brian verharrte kurz, dann erwiderte er die Geste und presste Justin mit so viel Gewalt an sich, dass es diesem die Luft aus den Lungenflügeln quetsche. Justin wehrte sich nicht. Nach einigen Minuten lockerte Brian seinen Griff.
 

„Wir sind hier bei dir. Und das werden wir auch bleiben“, sagte Justin ruhig in Brians Ohr.
 

„Wie kannst du das wissen?“ fragte Brian ihn.
 

„Ich kann es nicht wissen. Dennoch weiß ich es“, antwortete Justin.
 

Brian sah ihn einfach nur an. Dann sprach er erneut: „Ich frage mich, wie viele zweite Chancen ich noch bekomme.“
 

„Du brauchst keine mehr“, erwiderte Justin nur.
 

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Der Tag der Anhörung sollte schon morgen sein. Es lag Spannung in der Luft, die auch Gus verspürte und so ungewöhnlich aufgekratzt agierte. Nach ihrem Techtelmechtel auf Brians Schreibtisch hatte es keine Gelegenheit für die beiden Männer mehr gegeben, miteinander allein zu sein. Auch heute war der Terminkalender randvoll. Kinnetic. Die Anwälte. Das Haus. Jede Minute schien ausgefüllt, voller dringender Erledigungen, während zugleich Gus umhegt sein wollte. War es Lindsay und Melanie auch jeden Tag so ergangen? Ein bisschen bestimmt, aber sie hatten ihren Alltag gelernt zu managen, sie waren nicht im dauernden Ausnahmezustand gewesen. Brian und Justin umschlichen einander wie zwei Tiger in der Brunft. Sich nahe zu sein, während Gus ständig anwesend war, bedeutete, sich einzuschränken. Nicht, dass sie auf den Gedanken verfallen wären, Gus als störend zu empfinden. Aber einmal wieder auf den Geschmack gekommen, lechzten ihre Körper nacheinander. Obwohl ihnen der Geschmack nie abhanden gekommen war. Sie hatten ihn runtergeschluckt, versucht zu betäuben – vergebens. Vor Justins Augen blitzten ständig Bilder von Brian auf, nackt, ihn stoßend niederdrückend, sich weit geöffnet unter ihm windend - und dieser unglaubliche Gesichtsausdruck, wenn er sich völlig aus dem Hier und Jetzt löste und unkontrolliert wölbend und zuckend kam. Auf ihm, in ihm kam. Und blieb. Eine Gänsehaut raste jedes Mal über Justins ganzen Körper, wenn er daran dachte, wie es gewesen war. Nur sie beide. Kein Gummi. Das Gefühl, der Geschmack, der Geruch…
 

„Justin?“ weckte ihn Brian aus seinen Tagträumen.
 

Brian saß an seinem Schreibtisch, Justin auf der breiten Couch des Büros von Kinnetic. Der Ältere war damit beschäftigt, die laufenden Geschäfte anzuheizen und parallel Handwerker für den Hausumbau anzuheuern, die möglichst postwendend anfangen und wirklich, so schnell es irgend ging, arbeiteten. Brian löste das Problem, in dem er ihnen einen Bonus anbot, wenn sie innerhalb einer knappen Frist alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt hätten. Justin wühlte sich durch Farbschemata für die unterschiedlichen Räume. Brian hatte ihn bereits am Morgen kommentarlos in eine Filiale seiner Bank geschleift und eine Kreditkarte für ihn in Auftrag gegeben. Gus war mit seinem Legoset ausgestattet, das er jetzt hingebungsvoll auf dem gesamten Boden verteilte. Es klopfte kurz, dann kam Ted korrekt geschniegelt und gebügelt hinein spaziert. Er trug einen Stapel Akten auf dem Arm, den er auf Brians Schreibtisch ablud.
 

„Hier, die Motleys-Verträge. Ich habe alles überprüft, sie sind sauber. Du musst eigentlich nur noch unterschreiben.“
 

Brian nickte und zückte schicksalsergeben seinen Füller. Er überflog die Unterlagen nur noch einmal kurz und machte sich dann ans unterzeichnen. Wenn Ted sagte, die Papiere seien in Ordnung, dann waren sie es auch. Ted wandelte derweil durchs Büro und landete schließlich bei Gus, der konzentriert seine Steinchen in neuen Variationen der erlernten Tiermotive aufeinander stapelte.
 

„Hallo, Onkel Ted“, grüßte Gus noch einmal wohlerzogen.
 

„Hallo Gus“, lächelte Ted.
 

„Du hast tolle Radiergummis“, sagte Gus zu ihm.
 

Ted hatte sich in letzter Zeit in eine kleine Sammelleidenschaft hinein gesteigert, was Büroutensilien anging. Vielleicht eine harmlose Variation seiner alten Sucht-Affinität. Vielleicht auch nur eine Marotte, um seine Zufriedenheit auszudrücken und sich selbst zu belohnen, seitdem es sich zwischen ihm und Blake begann zu entwickeln.
 

„Danke Gus“, antwortete er, „willst du sie dir mal anschauen?“
 

„Oh ja, gerne!“ strahlte Gus. Die Begeisterung des Kindes für sein Hobby sollte ihm wohl zu denken geben…
 

Plötzlich spürte er, wie Justin und Brian beide mit den Augen an ihm klebten. Erst dachte er, sie wollten ihm auf die Finger hauen, Gus bloß nicht mit seinen Macken anzustecken. Dann riskierte er einen Blick und verfolgte, wie ihre Augen sich von ihm gelöst hatten. Justins vollzog diesen Zaubertrick, der Ted immer wieder in Staunen versetzte – aus seinem zuckersüßen harmlos-unschuldigem Lächeln wurde binnen Sekunden etwas derart versaut Anzügliches, dass es Ted überhaupt nicht wunderte, dass Brian bereits seit Jahren davon das Kleinhirn zerkocht wurde. Brians geschäftsmäßig-höfliches Lächeln war etwas süffisant-Eindeutigem gewichen, seine Augen tasteten gierig Justins Körper ab. Er zog eine seiner gewölbten Augenbrauen hoch und biss sich in die Unterlippe. Fast hätte Ted Gus die Hände vor die Augen gehalten, aber der war nach wie vor auf seine Steinchen konzentriert und bekam von der durch den Raum knisternden Spannung nichts mit.
 

„Gus“, sagte Brian, „schau ruhig mal im Büro von Onkel Ted nach dem Rechten. Vielleicht hat Onkel Ted ja Lust, dann mit dir kurz zur Eisdiele nebenan zu gehen und für uns alle – außer mich – ein riesiges Schokoladeneis zu holen?“
 

„Schoki?“ wurde Gus munter.
 

„Ja“, lachte Justin, während er sich in Brians Richtung ziemlich demonstrativ über die Lippen leckte und einen Schlafzimmerblick aufsetzte, der besser durch einen schwarzen Balken verdeckt werden sollte, „und bring Papa auch was mit. In Wirklichkeit mag Papa nämlich Eis sehr gerne – auch wenn er immer schrecklich kleckert…“
 

Brians Grinsen vertiefte sich, seine Augen streichelten über Justins Brust: „Nur wenn man mich mit unfairen Mitteln ablenkt… dann kann das eine schmutzige Angelegenheit werden.“
 

„Du magst es doch rum zu kleckern…“ antwortete Justin mit einem summenden Unterton und entblößte seine stahlendweißen Zähne.
 

„Kommt drauf an. Auf meinen Anzug – ungern. Auf andere Stellen… vielleicht…“
 

„Äh“, meldete sich Ted zu Wort, dem sich zwar der Inhalt ihrer Äußerungen nicht ganz erschloss aber dem die grobe Marschrichtung ganz und gar nicht entgangen war, „dann machen wir uns Mal auf den Weg. Komm Gus.“
 

Gus stand auf und legte vertrauensvoll seine Hand in Teds. Ted wurde kurz warm ums Herz. Er würde wohl nie eigene Kinder haben. Das war eine der wenigen Sachen, die er an seiner sexuellen Orientierung manchmal wirklich bedauert hatte. Sein Auftritt bei der Hochzeit von Linds Schwester hatte ihm die erschreckende Erkenntnis beschert, das er ironischer Weise einen Schlag bei der Damenwelt hatte. Leider war ihm nichts fremder als Heten-Bräute. Und leider hatte sich ihm nie eine Lesbe erbarmt. Gus sah seine beiden Erziehungsberechtigten kurz an, die beide etwas unruhig auf ihren Sitzen hin und her rutschten, aber ihre Aufmerksamkeit wieder voll dem Kleinen widmeten.
 

„Ist es okay, wenn ich euch kurz alleine lasse?“ fragte Gus rücksichtsvoll.
 

„Sicher, Sonnyboy. Pass aber gut auf Onkel Ted auf, den brauche ich noch. Und suche die besten Eisbecher aus, die du finden kannst – Justin wird bestimmt einen Riesenhunger haben, wenn du zurück kommst!“
 

„Mach ich!“ versprach Gus. „Aber werdet ihr euch nicht langweilen ohne mich?“
 

„Wir werden solange ranklotzen wie die Wilden, dann vergeht die Zeit wie im Flug!“
 

Das konnte Ted sich gut vorstellen. Er würde auf jeden Fall zunächst die Lage sondieren, bevor er Gus zurück zu seinen latent notgeilen Alten ließ. Aber wer konnte es ihnen verdenken? Gerade erst verheiratet und mit Gus und dem ganzen Trubel im Dauereinsatz. Er kannte Brian und Justin lange genug, um zu wissen, wie hoch nonverbale Kommunikation bei ihnen im Kurs stand. Da sag mal einer, alte Pärchen seien eingefahren und langweilig…
 

Er bugsierte Gus elegant aus dem Zimmer und meinte hinter sich ein Rennen, Klatschen und Zerren zu vernehmen… aber vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet.
 

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Als Ted eine knappe Stunde später, den Arm beladen mit mehreren üppig glänzenden Eisbechern, mit einem zufriedenen Gus im Schlepptau erneut Brians Büro betrat, nicht ohne vorher ausgiebig zu lauschen, saßen die beiden Männer genau wie zuvor auf ihren Plätzen. Mit dem Unterschied, dass Justin seinen Pullover falsch herum anhatte und an Brians Hals ein fetter Knutschfleck prangte. Und sowas schimpfte sich erwachsen… Ted konnte sich vorstellen, dass Brian durch die Decke gehen würde, sobald er bemerkte, dass sein Göttergatte ihn verschandelt hatte. Justin bemerkte Teds Blick, schenkte ihm ein einschmeichelndes Grinsen und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Das hatte er mit Absicht getan. Irgendetwas Fieses – oder extrem Masochistisches – trieb Justin immer wieder dazu, Brian auf die Palme zu jagen. Ted würde schweigen wie ein Grab, er war schließlich nicht lebensmüde.
 

Gus krabbelte derweil auf Brians Schoß und hielt ihm mit strahlenden Augen einen Eisbecher vor die Nase. „Für dich, Papa! Den habe ich für dich ausgesucht. Für Justin war’s einfach – aber für dich musste ich mir extra Mühe geben, weil Onkel Ted immer gesagt hat, dass du dies und das gar nicht magst!“ sagte er stolz.
 

Brian fing den Becher ab, bevor Gus ihm den bereits leicht schmelzenden Inhalt über den Anzug kippen konnte. Er musste Ted zugutehalten, dass er es versucht hatte – aber Gus von einem Vorhaben abzubringen, war nun mal nicht so einfach, das hatte er selbst bereits zu spüren bekommen. „Und was ist mit dir?“ fragte Brian seinen Sohn, die ihm verführerisch entgegen leuchtende Kalorienbombe beäugend, „wolltest du denn gar kein Eis?“
 

„Doch, aber Ted und ich haben es im Eiskaffee gegessen, weil Ted so gerne in Eiskaffees sitzt, seit er ein kleiner Junge war.“
 

Braver Ted. Ergeben begann Brian sein Eis zu löffeln. Seine Nase kräuselte sich, dennoch musste er grinsen. Offensichtlich war Gus Ted solange auf den Geist gegangen, bis dieser schließlich nachgegeben hatte – und zu diesem Zeitpunkt hatte Gus wohl schon alle halbwegs zivilen Geschmacksrichtungen durch gehabt. Er schmeckte etwas, das ihn entfernt an in der Sonne zerschmolzene Gummibärchen erinnerte, und etwas leicht bitter Nussiges, das ihm besser gefiel. Gus verfolgte jeden seiner Happen. Dieses Kind würde ihn in die Verfettung treiben, dachte Brian, als er das liebevoll ausgesuchte Dessert artig verdrückte. Aber andererseits hielten ihn Gus und Justin auch derart auf Trab, dass er die Kalorien wahrscheinlich locker wieder verbrannte…
 

Ted hatte sich neben Justin aufs Sofa gesetzt und plauderte ein wenig mit ihm. Ted und Justin waren sich nie sonderlich nahe gewesen, zu viel unterschied sie voneinander. Dennoch kannten sie einander seit vielen Jahren und waren vornehmlich über Brian miteinander verbunden. Ted hatte sich Justin gegenüber nie ablehnend oder übertrieben anhänglich gezeigt, so dass ihr Miteinander immer unproblematisch gewesen war. Nicht dass Justin Ted jemals auch nur mit einer Kneifzange angefasst hätte. Und Ted hatte zwar durchaus Justins Vorteile – oder aber auch sein in Pittsburgh legendäres Hinterteil – zur Kenntnis genommen, war aber nie auf die Idee verfallen, in Brians Revier wildern zu wollen. Wie gesagt, er war ja nicht lebensmüde.
 

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Am frühen Nachmittag verabschiedete sich die frisch gebackene Patchwork-Familie von Kinnetic und steuerte für ein letztes klärendes Gespräch ihren Anwalt an. Mr. Harris hatte ihre kanadischen Unterlagen gesichtet und einen Packen neuer Verträge aufgesetzt, die ihre Verbindung in den gesetzlichen Möglichkeiten stützten und für Gus Vorsorge trugen. Der Anwalt erklärte ihnen weitschweifig die Inhalte, während sie schweigend lauschten.
 

Sie hatten zuvor Molly von der Schule abgeholt und sie als Babysitterin für Gus angeheuert. Die beiden saßen zusammen im Foyer. Als sie sie verlassen hatten, hatte Gus bereits begonnen, Molly Löcher in den Bauch über die Schule zu fragen, da er ja bald selbst auf eine gehen sollte. Molly war vernarrt in Gus und den Gedanken, jetzt sowas wie eine Tante zu sein. Vorsichtshalber hatten sie sie aber auch damit bestochen, ihr ein Kleid für ihren ersten Schulball auszusuchen, auch da Molly, etwas vorurteilsbehaftet oder einfach raffiniert, der Meinung war, dass die schwule Verwandtschaft für dergleichen zuständig sei.
 

Nach etwa einer Stunde waren Brian und Justin einigermaßen geplättet. Sie hatten sich durch Krankenversicherungsregelungen, Versicherungen für Gott-und-die-Welt-Was, gemeinsame und getrennte Konten, Erbschaftsregelungen und dergleichen mehr gearbeitet, die ihnen das Gefühl gaben, dass der Sensenmann gewissermaßen direkt vor der Tür stand. Brian hatte darauf geachtet, dass Justin sich nicht drohte, sich wieder in die Rolle des ausgehaltenen Toy Boys gedrängt zu fühlen. Alle Verträge beinhalteten auch Regelungen für den Fall, dass der Hauptteil des Vermögens von Justin bestritten wurde. Das Blatt konnte sich immerzu wenden, das wussten beide nur allzu gut. Auf gleicher Augenhöhe geschlossen, konnte Justin ohne Gesichtsverlust einwilligen, auch wenn die Situation aktuell anders aussah. Fast alle Verträge waren an den Bestand der kanadischen Ehe geknüpft, andernfalls würden sie hinfällig.
 

„Schön, schön“, sagte Mr. Harris schließlich, als die letzte Unterschrift geleistet worden war. „Sie bekommen die Originale und beglaubigte Kopien von uns. Bewahren sie sie getrennt voneinander auf, jeweils ein Exemplar lagert für den Notfall auch in unseren Magazinen. Eine Kleinigkeit gäbe es denn noch zum Schluss in Hinsicht auf die morgige Anhörung.“
 

„Was?“ fragte Brian erschöpft. Hoffentlich nicht schon wieder irgendetwas, das Tod, Krankheit oder geistigen Verfall beinhaltete…
 

„Haben Sie sich schon über ihre Namen Gedanken gemacht?“
 

„Äh, wie?“schreckte Justin hoch. Auch er wirkte blass, noch blasser als sonst.
 

„Sie heißen Taylor, Sie Kinney und Ihr Sohn Peterson – das lässt Sie nicht gerade wie eine Familie erscheinen…“
 

„Was genau schlagen Sie vor?“ kam Justin Brian zuvor.
 

„Einigen Sie sich auf einen gemeinsamen Nachnamen, meinetwegen auch einen Doppelnamen – aber nicht alle drei.“
 

„Muss das sein?“ fragte Brian stirnrunzelnd.
 

„Müssen – nein. Müssen tun sie gar nichts. Es geht mir als Ihrem Anwalt lediglich darum, Sie in ein optimales Licht zu rücken“, klärte sie Mr. Harris, wieder in das Kraulen seiner Glatze versunken, auf.
 

„Uff“, ächzte Justin.
 

„Peterson ist raus. Nicht dass ich Lindsays Andenken schmälern möchte – aber Gus lebt hier, bei uns, als unser Kind, das sollte klar werden!“ griff Brian den Gedanken auf.
 

Justin erwachte wieder etwas zum Leben: „Du willst das?“
 

„Es ist… angemessen. Aber wenn du nicht möchtest, ist das auch okay.“
 

„So meinte ich das nicht. Aber ich kann meinen Namen nicht aufgeben. Meine Karriere beruht zum Teil darauf, dass ich im Begriff bin als Justin Taylor bekannt zu werden. Wenn ich mich jetzt umbenenne, schleudert mich das ein ganzes Stück zurück, weil keine Sau mehr weiß, wer ich bin. Und bei dir ist es doch nicht anders – der Name deiner Firma wäre sonst etwas witzlos, oder?“
 

„Also ein Doppelname?“
 

„Einigen Sie sich über die Reihenfolge. Sie müssen den Namen auch im Alltag nicht führen, nur bei juristischen Dokumenten wäre er von Bedeutung.“
 

„Okay…“ murmelte Justin.
 

„Kinney-Taylor hört sich scheiße an. Die K-T-Kombination ist grausam in dieser Reihenfolge, hört sich an wie „kein Talent“ oder „kostenloser Tripper“ oder „komatöse Transe“…“, bemerkte Brian.
 

„Taylor-Kinney dann wie „total viele Kohle“ oder „tierisch geile Karre“ oder „teure Klamotten“…?“
 

„Das hört sich einleuchtend ein, du Poet… Dann Mal her mit den Unterlagen, Herr Anwalt.“
 

„Du machst das echt?“ fragte Justin verblüfft.
 

Brian verdrehte die Augen: „Ja, du Schlaumeier. Namen sind größtenteils Schall und Rauch – meine fachliche Meinung als Werbekaufmann. Wir könnten uns auch in „Impotent-Senil“ umbenennen und ich garantiere dir, dass es trotzdem einen Weg gäbe, alle glauben zu lassen, dass wir Gottes Geschenk an die Menschheit sind. Also was soll’s.“
 

Aber wenn er ehrlich war, bedeutete es durchaus etwas. Es bedeutete, dass sie ihre dank des amerikanischen Gesetzes nicht existente Ehe auf eine andere Ebene hoben. Wenn jemand ihm vor fast sechs Jahren erzählt hätte, dass er einmal den Namen dieser minderjährigen, jungfräulichen Sexbombe tragen würde, die sich wie eine Lichtgestalt unter einer Straßenlaterne geräkelt hatte und trotz der bescheuerten Schuljungen-Klamotten das Heißeste gewesen war, was Brian jemals vor die Flinte gekommen war – er hätte denjenigen für völlig bescheuert erklärt. Vielleicht war er inzwischen auch selber bescheuert geworden. Aber es war ihm scheißegal. Dann lebte er eben in seinem eigenen kleinen bescheuerten Universum – es war schließlich sein Universum, der Rest der Welt konnte ihn diesbezüglich mal kreuzweise am A… - besser nicht, das überließ er dann doch lieber Justin.
 

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Sie bedankten sich bei Molly und luden sie zu Hause ab, nicht ohne ihr hoch und heilig einen Einkaufstrip zu versprechen, sobald sich das Chaos um sie etwas gelegt hatte.
 

„Ich freu mich schon ihr beiden, vielen Dank! Aber nicht dass ihr denkt, ich hüte Gus nur gegen Bares oder fette Geschenke – nicht das letztere ungern gesehen würden – ich mache das wirklich gern. Er ist ja jetzt sowas wie mein Neffe, oder? Also meldet euch ruhig, wenn ich ihn wieder einmal hüten soll, auch wenn ihr ausgehen wollt oder so… ich wühl dann eure Schubladen durch und fresse euren Kühlschrank leer“, grinste Molly. Ihr Lächeln ähnelte Justins sehr. Da kamen harte Zeiten auf Jennifer zu… „Unser Kühlschrank? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass da noch etwas Brauchbares drin zu finden wäre, wenn dein Bruder mit ihm fertig ist. Die Fresserei scheint bei euch ja irgendwie erblich bedingt zu sein“, stichelte Brian. „Erblich? Nicht doch, die ist ansteckend, also pass bloß auf, du spindeldürrer Lulatsch! Und außerdem würde Justin es nie übers Herz bringen, einen Kühlschrank allzu lang leer stehen zu lassen, das hält er für unnötige Möbelquälerei. Ich bin da sehr optimistisch“, lachte Molly, als sie, Gus ein letztes Mal umarmend und dann erst Justin dann dem verblüfften Brian einen Schmatzer aufdrückend, ausstieg.
 

„Himmel, deine Schwester ist ja rasend schnell erwachsen geworden!“ entfuhr es Brian. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Super, jetzt hörte er sich schon an wie ein Opa…
 

Justin schenkte ihm ein Lächeln und sagte: „Da ist sie nicht die Einzige.“
 

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Justin war an diesem Abend dran, Gus‘ Abendtoilette zu betreuen und ihn ins Bett zu bringen. Ab und zu hörte Brian die klare Stimme seines Sohnes bestimmt ein „Das kann ich alleine!“ erschallen lassen, während Justin ihn behutsam anleitete. Ohne langwierige Absprachen begannen sie gewisse Routinen im Alltag zu entwickeln: heute bringe ich Gus ins Bett, morgen du… Aber es war nichts Beängstigendes. Es erschien Brian wie ein ersehntes Fragment Ordnung, das zeigte, dass das Leben langsam wieder zusammen wuchs. Etwas Beruhigendes. Etwas Vertrautes. Etwas, das Stabilität im Chaos schenkte. Nichts, das ihm gegen seinen Willen aufgezwungen wurde, ihn erstickte. Sondern etwas, das er wollte, das ihm Freiheit in einer Form schenkte, die er zuvor nie wirklich gekannt hatte. Die Freiheit zu lieben. Die Freiheit zu geben statt zu opfern. Und zu nehmen. Die Freiheit, vollständig zu sein, solange das Schicksal es ihm gewähren mochte.
 

Da fiel ihm etwas ein. Wenn schon, denn schon. Kurzentschlossen schlug er die Telefonnummer nach und wählte.

Der Zorn der Altvorderen

XXVIII. Der Zorn der Altvorderen
 

Craig Taylor überflog wie jeden Morgen die lokale Zeitung. Seine Geschäfte gingen gut, er war wohlhabend. Er unterstützte lediglich seine Tochter noch finanziell, seine geschiedene Ehefrau Jennifer hatte sich auf eigene Füße gestellt und weitere Unterhaltszahlungen an sie abgelehnt, wofür er ihr durchaus dankbar war. Hätte sie sich auf ein Hausfrauendasein beschieden, hätte sie ihn bis ans Ende seiner Tage schröpfen können. So war es ihm leichter gefallen, einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen zu können. Ein Leben, das eigentlich durchaus seinen Vorstellungen entsprochen hatte. War er glücklich gewesen? Vielleicht. Aber darauf kam es nicht an. Er hatte alles gehabt, was von einem Mann in seiner gesellschaftlichen Position erwartet wurde. Ein Haus, eine Familie, zwei wohlerzogene Kinder. Bis Justin beschlossen hatte, alles zu ruinieren.
 

Wenn er an seinen Sohn dachte, verspürte er jedes Mal ein schmerzhaftes Ziehen tief in sich drin. Er dachte an den strahlend lachenden kleinen Jungen, der so vertrauensvoll in seinen Armen gelegen hatte. Dem er abends am Bett Geschichten vorgelesen hatte. Der stundenlang über seinen Zeichenblöcken gebrütet hatte. Craig war mit ihm zum Baseball-Training gegangen, hatte Karten für Footballspiele für sie beide besorgt. Justin war ihm gefolgt, aber er hatte es ihm jede Minute ansehen können, dass er es nur ihm zuliebe tat, nicht weil er sich dafür erwärmen konnte. Justin war sportlich, flink auf den Beinen, darauf kam es beim Baseball an. Aber er hatte sich nie in das Team einfügen können, etwas Wesentliches für jede Mannschaftssportart. Ihm fehlte die Begeisterung, das Interesse, war den anderen Jungen gegenüber immer distanziert geblieben, als sprächen sie eine andere Sprache. Und Football war nun auch nicht jedermanns Sache. Oder hätte er es damals schon bemerken sollen? Dass sein Sohn nicht bloß sensibel war oder künstlerisch veranlagt, wie Jennifer es immer behauptet hatte, sondern… schwul? Er dachte an ihr letztes Zusammentreffen. Justin hatte vor seiner Hauptfiliale eine Demonstration angezettelt. Er hatte ihm nur kurz in die Augen gesehen. Sein Sohn war kein verhuschtes Weichei. Er hatte die Wut, den Durchsetzungswillen, den Kampfgeist in seinen Augen gesehen. Es war, als würde er eine ihm völlig fremde Person betrachten. Aber auch einen Teil von sich selbst. Auch er hatte immer gekämpft, hatte nicht klein bei gegeben auch in der Niederlage.
 

Justin war immer ein Außenseiter gewesen, Craig hatte nie verstanden warum. Justin sah gut aus, war klug, wortgewandt, begabt – aber der einzige Freund, den er zu Hause angeschleppt hatte, war ein kleines dunkelhäutiges Mädchen, Daphne, gewesen. Zunächst hatte Craig gedacht, na gut, hat er eben ein Mädchen, er ist schließlich in der Pubertät. Aber er hatte Justin und Daphne nie knutschend auf der Couch erwischt oder flirtend oder bei Was-auch-immer. Sie waren wirklich nur Freunde, die stundenlang ihre Teenager-Nöte und –Geheimnisse austauschten. Hätte er es da bemerken sollen? Vielleicht hätte er das tun können, aber er hatte es nicht gewollt, es war ihm gar nicht bedenkenswert vorgekommen. Unmöglich. Sowas passierte anderen, nicht ihnen.
 

Und dann war es mit einem Knall gekommen. Jennifer hatte es ihm gebeichtet, obwohl sie es schon zuvor gewusst hatte. Justin war schwul. Justin stand auf Männer. Justin wollte Sex mit Männern. Er war wie vor den Kopf geschlagen gewesen. Es passte alles zusammen. Trotzdem passte nichts. Er hatte versucht, sich trotz seines Schocks zusammen zu reißen, irgendwie zu begreifen, was da mit seinem Sohn vor sich ging. Er war in Justins Zimmer gegangen und hatte sich zum ersten Male seit Jahren ernsthaft umgeschaut. Das war kein Jungszimmer, wie er es gehabt hatte, wie die Söhne seiner Freunde es hatten, voll mit Bildern von Sportstars oder leicht bekleideter Pop-Sternchen. An Justins Wänden hingen Männer und Reproduktionen berühmter Kunstwerke. In Justins Zeichenblock gab es nur ein Thema: Männer, ihre Muskeln, ihre Genitalien, ihre Ärsche. Das war nicht bloß eine Phase. Das hatte sich über Jahre aufgebaut. Und er, sein Vater, hatte es nicht sehen wollen, nicht sehen können.
 

Er hatte versucht sich zu fassen, aber er war nicht recht dazu gekommen, da Jennifer die nächste Bombe hatte platzen lassen. Justin träumte nicht bloß von Männern, er war bereits zur Tat geschritten. Nun gut, er war siebzehn, wurde bald achtzehn, Craig war jünger gewesen bei seinem ersten Mal. Man hätte das Ganze vielleicht klären können, in geordnete Bahnen lenken können. Auch andere Männer hatten schwule Söhne, damit konnte man notfalls klarkommen, hoffte er, obgleich ihm etwas die Kehle zu schnürte. Es würde nicht einfach werden, das war ihm klar.
 

Aber damit war anscheinend immer noch nicht genug. Justin hatte sich keinesfalls mit einem Gleichaltrigen eingelassen, einem Mitschüler oder jemandem aus der Zeichenschule, mit dem er sich gemeinsam langsam vortastete. Nein, er hatte sich bereits hingegeben, nicht einem Jungen, sondern einem erwachsenen Mann, mehr als zehn Jahre älter als er. Und der hatte sich bestimmt nicht mit ein bisschen Sofa-Knutschen zufrieden gegeben. Es war Craig, als würde Eiswasser durch seine Adern fließen, als er daran dachte, was dieser wildfremde Kerl mit seinem Jungen anstellen mochte. Brian. Brian Kinney hatte Jennifer gesagt. Fickten sich Schwule nicht gegenseitig in den Arsch? Fickte dieser Kinney seinen Sohn in den Arsch? Craig kam das kalte Kotzen. Das musste doch weh tun wie die Hölle. Abgesehen davon – Justin war ein Mann oder war dabei, es zu werden. Wie konnte er die Beine breit machen wie eine Frau? Das konnte doch kein richtiger Mann ernsthaft wünschen, geschweige denn tun.
 

Aber er hatte dennoch versucht, Ruhe zu bewahren. Vielleicht ließ sich mit diesem Kinney ja ernsthaft reden, vielleicht war ihm nicht klar, wie jung Justin war. Vielleicht würde er einfach verschwinden und dieses… Problem mit ihm. Vielleicht war Justin nur verwirrt, wollte dem Älteren gefallen und hatte sich zu Dingen überreden lassen, die er nicht ernsthaft wollte. Vielleicht war Justin nur etwas orientierungslos, schließlich war er noch ein Teenager, der seine Sexualität erst entwickelte. Er hatte Kinneys Nummer nachgeschlagen und ihn angerufen, wollte ihn zur Rede stellen. Das, was er grußlos von ihm hörte, hatte beinahe sein Herz zum Stillstand gebracht. Dildo? Was tat dieser Perverse mit seinem Sohn! Wenn er gekonnt hätte, wäre er durch die Leitung gekrochen und hätte ihn postwendend erwürgt. Oder mit seinem Dreckssexspielzeug erstickt, auch eine nette Alternative. Du jagst meinem Jungen keine Gummischwänze in den Arsch, du perverse Dreckssau!
 

Er hatte sich dennoch erneut aufgerafft, er musste Justin nach Hause bringen, ihm Vernunft einflößen. Das konnte ja nicht sein Ernst sein. Er konnte sich doch nicht im klaren Bewusstsein irgendwelche abartigen Objekte ins Arschloch treiben lassen oder ficken lassen wie ein Mädchen – und das noch von einem Kerl, der an die Dreißig war. War dieser Kinney völlig degeneriert? Stand er auf kleine Jungs? Seinen würde er nicht bekommen, das schwor sich Craig, nicht mehr.
 

Er war dahin gefahren, in die Liberty Avenue, die Straße der Schwulen und der Was-auch-immer-noch. Hatte verloren in der Masse gestanden. Frauen auf Motorrädern waren an ihm vorbei geknattert, Männer in Frauenkleiden hatten ihm hinterher gepfiffen, über allem triefte eine Atmosphäre offensiver Sexualität. Wohin er auch schaute, drückten sich Körper aneinander, küssten, streichelten, reizten, Mann an Mann, Frau an Frau. Er hatte das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelandet zu sein.
 

Irgendwie hatte er sich bis zum Babylon durchgekämpft. Jennifer hatte ihm verraten, dass das die Diskothek war, in die sich Justin trotz seiner Minderjährigkeit eingeschlichen hatte. Ratlos hatte er davor gestanden, die Nachtschwärmer brandeten um ihn herum. Neben der Eingangstür knutschten Pärchen. Gelegentlich verschwand eines in der dunklen Seitengasse neben dem Club. Laute der Lust drangen aus der Finsternis. Die trieben es wirklich schamlos in aller Öffentlichkeit! Dann sah er sie. Justin kam lachend inmitten einer Gruppe junger Männer, die allerdings alle deutlich älter waren als er, aus der Eingangstür. Craigs Blick ignorierte die anderen, sah nur seinen Sohn. Sie bewegten sich ein kleines Stückchen die Straße hinunter und blieben an einem Wagen stehen. Ein Jeep – aber keiner von der nutzbringenden Sorte sondern einer, der förmlich „schwul!“ schrie. Justin lachte und schlang seine Arme um einen der der Männer, der ihn fast einen Kopf überragte. Craig wurde beinahe übel, als er sah, wie der Ältere sich zu seinem Sohn hinab beugte und begann, ihn tief zu küssen. Überall um ihn herum knutschten gleichgeschlechtliche Paare, aber zu sehen, wie dieser Kerl seine Zunge in Justins Mund versenkte, versetzte Craig einen weiteren Schock. Und dann Justins Reaktion. Er schmiegte sich an den Körper des anderen, öffnete seinen Mund und schien förmlich dahin zu schmelzen. Dieser Typ, das musste Kinney sein. Craig musterte ihn. Er hatte sich einen dicken, ekligen Perversen vorgestellt, der seinen Jungen irgendwie manipuliert hatte. Aber es war viel schlimmer. Dieser Kinney war schlank und ausgesprochen gutaussehend, das konnte selbst er feststellen. Er sah überhaupt nicht… schwul aus. Genauso wenig wie Justin. Trotzdem hingen die beiden aneinander, als gäbe es kein Morgen. Er sah, wie Kinney seine Hände nach unten wandern ließ und begann, mit langen kraftvollen Fingern Justins Gesäßbacke zu kneten. Und Justin schien das sogar noch zu gefallen! Sie lächelten einander an, und der Ältere schien etwas in Justins Ohr zu flüstern.
 

Craig wusste nicht mehr, was genau danach geschah. Er erinnerte sich nur an eine kalt aufbrandende Wut, die aus ihm heraus brach. Alles, was er aufgebaut hatte, alles, woran er glaubte… sie schienen darüber zu lachen. Er erinnerte sich daran, auf den am Boden liegenden Kinney in maßlosem Toben eingetreten zu haben, an Justins Tränen, an seinen Schwur, niemals wieder nach Hause zurück zu wollen. Wie konnte er das tun? Für diesen Niemand? Craig hatte Kerle wie Kinney tausendfach gesehen, schließlich war er Geschäftsmann – sie waren hohl, nichts als Fassade, verliebt in ihr Spiegelbild, wie einst Narziss. Wie konnte Justin seine Hoffnungen auf so jemanden setzten? Der offensichtlich sein Leben mit irgendwelchen sexuellen Perversionen füllte?
 

Er war jenseits allen klaren Denkens gewesen. Er wollte Kinney weh tun, ihn am liebsten umbringen für das, was er seiner Familie angetan hatte. Er konnte sich nur noch schemenhaft daran erinnern, Kinneys dämlichen Jeep gerammt zu haben. Sollte der Dreckskerl ersticken an seinem eigenen Blut!
 

Sie hatten es noch einmal versucht. Er wollte die Normalität wiederherstellen. Justin sollte wieder Justin sein, wie er ihn kannte. Ein siebzehnjähriger Schüler, kurz vor seinem Abschluss. Kinney hatte ihn bei ihnen daheim abgeliefert. Da hatte es Justin – was sollte ein erwachsener Mann auch mit ihm anfangen? Diesen Zug musste Craig Brian zumindest zugutehalten. Er wollte Justin klar machen, dass sie das Ruder herum reißen mussten, dass er sich fügen musste und auf seine Abartigkeiten verzichten, wenn das Leben weiter funktionieren sollte. Kinney hatte sich auf einem der Sessel gelümmelt und ihn mit seinen merkwürdig braun-grünen Augen gemustert. Dann hatte er gesagt, dass das nicht Liebe sei – sondern Hass, mit einer Bitternis, die aus eigener Erfahrung zehrte. Und war gegangen. Und Justin war ihm gefolgt. Das war der Bruch gewesen.
 

Jennifer konnte es nicht verstehen. Sie konnte nicht verzeihen. All das, was seit Jahren unter dem Deckmantel der Normalität zwischen ihnen gekocht hatte, war zutage gekommen. Und sie war es gewesen, die den Schlussstrich gezogen hatte. Sie wollte ihr Leben nicht mehr. Sie wollte ihn nicht mehr. Er wollte nicht behaupten, dass es nicht früher oder später doch so gekommen wäre. Aber Justins Verhalten hatte es zum Fanal getrieben. Vielleicht hätten sie so weiterleben können. Vielleicht wäre ihnen eine andere Lösung eingefallen. Aber so – nicht mehr.
 

Jennifer war gegangen. Und mit ihr auch Molly. Er war allein gewesen. Es hatte hin und wieder Frauen gegeben aber keine, an die er sich hätte binden wollen. Er hatte Jennifer geliebt. Aber er hatte ihre Liebe auch für selbstverständlich gehalten. Und sie verloren. Sie pflegten regelmäßigen Kontakt, schon allein wegen Molly. Ihr Verhältnis war meist distanziert, obgleich alte Vertrautheit hin und wieder durchschimmerte.
 

Justin war fort. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er wollte ein Mann sein – nun bitte. Aber er würde ihn nicht mehr unterstützen. Er hatte alles gegeben, was er hatte. Aber das war Justin nicht genug gewesen. Er hatte es ihm nicht gedankt. Manchmal vermisste er ihn schrecklich, sah den kleinen Jungen vor sich, der ihm mit strahlenden Augen gefolgt war. Aber es passte einfach nicht überein mit diesem erwachsenen Justin, der in Kinneys Kuss versunken war.
 

Jennifer hatte ihn angerufen, als Justin im Koma gelegen hatte. Sein Herz hatte sich zusammen gekrampft. Aber er konnte dennoch nicht zu ihm gehen. Sein Sohn war ein Fremder für ihn. Er hatte gewählt. Aber dennoch hatte er dieses Schicksal nicht verdient gehabt. Craig war nicht so dumm, die Schuld einfach auf Brian zu schieben. Justin war willensstark, er war Teil der Sache gewesen. Den Baseballschläger hatte ein anderer geschwungen. Chris Hobbs. Das Gericht hatte ihm eine lachhafte Strafe aufgebrummt. Hobbs Vater war Geschäftsführer einer Firma, die als Zulieferer von Craigs Geschäftskette abhängig war. Craig hatte die Verträge gekündigt. Es hatte sie nicht in den Ruin getrieben – aber ordentlich weh getan hatte es schon.
 

Dann und wann hatte er über Jennifer und Molly von Justin gehört. Er hatte einen der raren Studienplätze an der Kunstakademie ergattert, was seit Andy Warhol kaum einem gebürtigen Pittsburgher gelungen war. Eine pornographische Comicserie. Angebote aus Hollywood. Besprechungen in renommierten Kunstzeitschriften. Justin machte seinen Weg, wie auch immer. Und Brian. Immer wieder Brian. Er hatte damit gerechnet, dass der ältere Mann recht schnell aus dem Leben seines Sohnes verschwinden würde. Aber er blieb. Molly verplapperte sich irgendwann, dass Justin jetzt mit irgendeinem Wundergeiger zusammen sei. Sie mochte ihn nicht. Er verschwand tonlos von der Bildfläche. Und wieder Brian.
 

Dann war Justin nach New York gezogen. Sie hatten seit Jahren kaum ein Wort miteinander gewechselt. Das letzte Mal war es, als Justin irgendwelche Eherechte für seine geschlechtsverirrten Freunde durchsetzten wollte. Craig konnte das nicht akzeptieren. Justin hatte nicht locker gelassen. Er hatte ihn verhaften lassen. Was hätte er sonst tun können?
 

Und jetzt das. Craig starrte auf den Anzeigenteil des Pittburgher Lokalteiles der Zeitung. Fast hätte er es übersehen. Aber studierte immer die Anzeigen aus alter Gewohnheit, um über die Familienangelegenheiten seiner Kunden informiert zu sein. Inzwischen besaß er eine Kette und hatte das eigentlich nicht mehr nötig. Er erinnerte sich Jack und Joan Kinney. Waren das Brians Eltern? Sie hatten früher ihren Fernseher von ihm richten lassen. Diffus erinnerte sich an zwei Kinder. Brian und seine Schwester? Der Kinney’sche Haushalt hatte immer nach Alkohol und Abneigung gestunken. Sich selbst und einander gegenüber. Wenn das Brians Kindheit war, dann war er wirklich nicht zu beneiden. Milder stimmte das Craig jedoch nicht. Das gab ihm noch lange nicht das Recht, Justin in seinen Sumpf hinein zu ziehen.
 

Craig starrte die Anzeige an. Er zwinkerte und las noch einmal. Kein Zweifel. Es war eine Hochzeitsanzeige, schlicht, zu groß, um übersehen zu werden, zu klein, um protzig zu wirken. Brian Aidan Kinney und Justin Taylor, 23. August, Toronto stand da. Mehr nicht. Er las es noch einmal durch. Eine Lähmung machte sich in ihm breit. Sie waren noch immer zusammen. Mehr noch, sie hatten geheiratet. Natürlich war eine solche Verbindung in diesem Bundesstaat nicht legal. Aber er zweifelte daran, dass die beiden es genauso sehen würden. Er schluckte. Kinney war sein… Schwiegersohn?
 

Ein Teil von ihm lehnte das schaudernd ab. Wie abartig und widernatürlich er eine solche Verbindung fand. Ein anderer Teil von ihm flüsterte ihm zu, wie sehr er seinen Sohn vermisste. Wie gerne er ihn wiedersehen, mit ihm sprechen wollte.
 

Er schloss die Augen. Er musste nachdenken.
 

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Joan Kinney hatte ihr Morgengebet bereits hinter sich. Ebenso wie ihren ersten Whiskey. Sie war Irin, etwas anderes kam ihr nicht ins Haus. Sie bat Gott um Vergebung. Sie war schwach. Sie war einsam. Alle hatten sie verlassen.
 

Erst Claire – war mit irgendeinem arbeitslosem Tagträumer durchgebrannt, als sie siebzehn war. Sie hatte ihn geheiratet. Sie war ein gutes katholisches Mädchen, das sein Sünden wettmachte. Sie hatte keine Berufsausbildung. Bald war sie schwanger, brachte erst John zur Welt, dann Jack, benannt nach seinem Großvater. Claires Ehemann machte sich – ebenfalls in guter alter irischer Tradition – bald aus dem Staube und verzog unbekannt. Claire schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die Jungen tanzten ihr auf der Nase herum. Jeder war schuld an ihrer Misere – nur sie selbst nicht. Joan verachtete sie dafür.
 

Jack. War einfach an Krebs krepiert.
 

Irgendwann hatte sie ihn wohl mal geliebt. Die Erinnerung daran war nur verschwommen. Vielleicht auch nicht. Sie war behütet aufgewachsen. Jacks Familie gehörte zu derselben Kirchengemeinde wie die ihre. Er hatte sie mit Aufmerksamkeiten überschüttet, ihr das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Niemand hatte ihr zuvor dieses Gefühl gegeben. Ihre Eltern hatten immer darauf gepocht, dass Demut und Bescheidenheit die Dinge seien, die ein junges Mädchen zierten. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich schön gefühlt, begehrt. Alle Mädchen hatten von Jack geschwärmt. Wie gut er aussah. Was für ein Draufgänger er war. Eine fremde Welt für Joan. Aber er hatte sie gewollt. Schließlich hatte sie ihm nachgegeben, sich kurz frei gefühlt von allen Regeln, nur sie selbst.
 

Das Ergebnis war Claire gewesen. Es hatte keine Diskussion darüber gegeben, ihre und Jacks Eltern hatten die Hochzeit ausgerichtet, bevor die Schande allzu offensichtlich wurde. Sie hatte eine Sondergenehmigung gebraucht, weil sie erst siebzehn gewesen war.
 

Kurze Zeit war sie glücklich gewesen. Sie hatte jetzt ihre eigene Familie. Sie fühlte sich erwachsen. Jack hatte gesagt, dass er sich auf das Baby freue. Immer häufiger war er abends fort geblieben. Sie blieb allein, kümmerte sich um den Haushalt und das Baby. Jack kam immer später, immer betrunkener nach Hause, er roch nach fremden Frauen. Sie stellte ihn nicht zur Rede. Als sie bei ihrer Mutter um Rat fragte, hatte diese ihr gesagt, dass das das Los von Ehefrauen sei. Sie solle es in Demut tragen als Gottes Prüfung. Wenn sie ausging, dann zu den Treffen der Kirchengemeinde. Gott konnte sie trösten. Ihre Jugendfreundinnen heirateten nach und nach. Die meisten jammerten über ihre Gatten. Joan sagte kein Wort. Sie war nicht so wie die anderen. Nicht schwach. Sie konnte ertragen, welche Prüfung auch immer ihr aufgeladen wurde.
 

Sie stellte fest, dass sie wieder schwanger war. So war es eben. Aber ein Teil in ihr freute sich auf das neue Baby. Als sie Jack davon erzählte, bat er sie, es abzutreiben. Das war der Moment, in dem der letzte Funken Zuneigung, den Joan für ihren Mann je gespürt hatte, starb. Sie würde sich nicht scheiden lassen. Er war ihr Ehegatte vor Gottes Angesicht. Aber der Herr mochte ihr verzeihen, dass es ihr so schwer fiel, ihn zu lieben. Sie würde ertragen. In ihr wurde es leer. Wenn sie nicht hassen durfte, dann gelang es ihr auch nicht mehr, wirklich zu lieben. Sie achtete darauf, dass Clair aß, schlief, lernte. Aber die Nähe, die sie am Anfang zu ihrer Tochter verspürt hatte, wurde ihr unerträglich.
 

Und dann hielt sie das neue Baby in den Armen. Jack war nicht ins Krankenhaus gekommen. Er hatte es ja nicht gewollt, außerdem waren Kinder Frauensache. Es war ein Junge. Er würde einmal ein Mann werden wie Jack. Sie hielt das kleine Bündel und starrte ihren kleinen Sohn an. Sie würde sich um ihn kümmern, ihn aufziehen, dafür sorgen, dass er ein Zuhause hatte. Niemand würde sie schief auf der Straße ansehen. Aber dort, wo bei Claires Geburt Freude und überschäumende Liebe gewesen waren, war nichts mehr übrig.
 

Sie nannte ihren Sohn Brian Aidan nach ihren beiden Großvätern. Als sie mit dem Baby nach Hause kam, machte Jack plötzlich viel Aufhebens um seinen kleinen Sohn, prahlte mit seinem Stammhalter. Dann überließ er ihn wieder ihr. So ging es auch die folgenden Jahre. Er hob Brian in den Himmel, wenn er Lust darauf hatte, dann übersah er ihn wieder völlig.
 

Als Brian fünf oder sechs Jahre alt war, kam Jack mal wieder betrunken nach Hause. Er hatte beim Spiel viel Geld verloren. Er beschimpfte Joan, dass sie sein hart verdientes Geld verschwende. Er sagte ihr, dass es ja ihre Idee gewesen war, dieses überflüssige Balg in die Welt zu setzten, das nur Geld kostete, und zeigte dabei auf Brian. Dann schlug er sie. Ihm war schon vorher ab und an die Hand ausgerutscht. Hatte sie als kalt beschimpft. Hinterher, wenn er wieder nüchtern war, tat es ihm jedes Mal schrecklich leid. Er brachte ihr Blumen mit. Er schwor, dass es nie wieder vorkommen würde. Schob die Schuld auf den Alkohol, schwor nie wieder einen Tropfen anzurühren. Bis zu seinem nächsten Besäufnis. Aber dieses Mal war es das erste Mal gewesen, dass er sie vor den Kindern schlug. Brians Augen waren weit aufgerissen gewesen, er war erstarrt. Etwas in ihr sagte ihr, dass sie ihn in den Arm nehmen sollte, ihn trösten, ihm sagen, dass es sein Vater nicht so gemeint habe. Aber sie konnte nicht.
 

Sie sah zu, wie Brian verzweifelt versuchte, ihr und seinem Vater zu gefallen. Er strengte sich in der Schule an, war fast immer der Klassenbeste. Nur im Handwerksunterricht versagte er kläglich. Jack sagte ihm, dass ein richtiger Mann in der Lage sein müsse, mit Hammer, Säge, Hobel umzugehen. Das zähle, schöne Aufsätze zu schreiben sei etwas für Mädchen und Schwächlinge. Brian versuchte es. Er rutschte ab und zerschnitt sich die Handfläche so sehr, dass mehrere Sehnen genäht werden mussten und er wochenlang einen Gips tragen musste. Jack fuhr ihn zum Krankenhaus und fluchte darüber, dass er mit einem derartig ungeschickten Sohn gestraft sei.
 

Das Einzige, was Jack an Brian fast immer lobte, war sein sportlicher Erfolg. Brian wuchs rasend schnell, war schon mit acht Jahren größer als all seine Schulkameraden. Jack und sie waren eher von mittlerem Wuchs, aber ihr Vater, der im Vorjahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, war um die ein Meter neunzig groß gewesen. Er war betrunken gewesen, als er von der Straße abkam und gegen einen Baum prallte. Ihre Mutter trug schwarz. Jack ging mit Brian zum Fußball. Nicht zum amerikanischen Football, sondern zum guten alten europäischen, wie es in der Familie Tradition war. Und Brian war gut. Er versäumte nie das Training. Vernachlässigte niemals seine Hausarbeiten darüber. Die anderen Kinder respektierten ihn. Seine Lehrer und sein Trainer schwärmten von ihm. Joan beobachtete, wie aus ihrem zu Hause so schweigsamen Sohn in Gegenwart Fremder eine völlig andere Person zu werden schien. Er war zuvorkommend. Er lächelte. Die anderen Mütter beneideten sie um ihren wohlerzogenen, charmanten und begabten Jungen.
 

Brian brachte nie andere Kinder mit nach Hause. Und er besuchte auch niemanden. Er war der Mittelpunkt, solange er in der Schule oder beim Sport war. Aber danach kam er zurück nach Hause, lernte, aß und ging schlafen. Er machte nie Ärger, bis er in die Pubertät kam. Zum ersten Mal blieb er von zuhause weg, weil er bei einem Freund sein wollte. Michael Novotny, Sohn einer italienisch stämmigen alleinerziehenden Mutter. Eine indiskrete, geschmacklose, laute Person, fand Joan. Sie fragte Brian, was er ständig bei diesen Leuten daheim wolle. Immerhin sei es ein daheim, hatte Brian ihr geantwortet und den Mund zu gepresst. Joan spürte Wut auf ihren Sohn. Hatte sie nicht alles gegeben, damit er ein Heim haben konnte?
 

Brian entfloh ihr, wann immer er konnte. Als er vierzehn war, erwischte sie ihn, wie er sich spät abends schwankend versuchte in sein Zimmer zu schleichen. Er hatte getrunken. Wie sein Vater. Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige.
 

Brian blieb weiterhin gut in der Schule und war beim Fußball der beste Spieler. Was man ihm auftrug, erledigte er gewissenhaft. Sie bekam ihn kaum zu Gesicht. Sie bekam den Verdacht, dass er sich mit Mädchen rumtreibe. Vielleicht kam er in dieser Hinsicht ja auch nach seinem Vater. Aber wann immer sie bei den Novotnys auf der Suche nach ihm anrief, war er auch da.
 

Als er sechzehn war, wurden sie und Jack von der Schule angerufen. Brian hatte einem der Spieler des Football-Teams mutwillig die Finger im Spind zerquetscht, dass dieser für die ganze Saison ausfiel. Der Direktor fragte ihn, warum er das getan habe. Brian zog nur die Schultern hoch, starrte aus dem Fenster und sagte kein Wort. Klaglos nahm er die Strafe an, den Rest des Schuljahres den Umkleideraum des Football-Teams zu putzen. Jeden Tag. Die anderen Jungen würden ihm die Aufgabe nicht leicht machen. Brian zuckte nur mit den Schultern. Zu Hause schlug Jack Brian mit der Faust ins Gesicht. Aus Brians Nase tropfte Blut. Er starrte seinen Vater nur an und ließ es laufen. „Bist du fertig?“ fragte er ihn, „oder muss ich mir jetzt auch noch eine Ausrede einfallen lassen, warum ich morgen im Unterricht ein blaues Auge habe?“ Jack stoppte und beschimpfte ihn als Feigling, einen anderen Jungen so unfair zu verletzten. Wenn, dann solle Brian gefälligst Mann gegen Mann kämpfen. Brian starrte ihn nur an. Dann begann er zu lachen. Es war ein freudloses Lachen, dass da aus ihm herausbrach. Jack zuckte zusammen, als habe Brian ihn nun ebenfalls geschlagen. Doch dieser stand nur auf, ging an seinem in ohnmächtiger Wut zitternden Vater vorbei und verschwand im Garten. Joan blieb erstarrt, dann bewegten sich ihre Beine wie von selbst und sie lief hinter ihrem Sohn her. Sie fand ihn unter dem Baumhaus sitzen, das Jack einst in einem Anfall von Zuwendung für ihn gebaut hatte. Als Brian damals versucht hatte zu helfen, hatte er sich den Hammer derartig auf den Zeigefinger geschlagen, dass der Nagel hatte entfernt werden müssen. Brian saß zusammen gesunken da. Er rauchte. Sie setzte sich wortlos neben ihn. Sie sah, dass er weinte. Vorsichtig legte sie ihren Arm um ihn. Brian ließ es geschehen, bewegte sich aber nicht.
 

Sie fuhren fort, wie immer. Brian war fast jeden Tag bei den Novotnys. Seine Leistungen blieben ungebrochen gut. Sie aßen zusammen, wenn er da war, sahen gemeinsam fern. Sie sprachen wenig. Jack fuhr mit Brian zu seinen Fußballspielen.
 

Brian legte einen ausgezeichneten Schulabschluss hin. Sie wussten, dass sie kein Geld für das College aufbringen konnten. Claire war zum zweiten Mal schwanger.
 

An seinem achtzehnten Geburtstag kam Brian morgens die Treppe ins Wohnzimmer hinunter. Jack saß vor dem Fernseher und sah sich die Wiederholung eines Baseballspieles an. Sie bügelte. Brian hielt die Reisetasche in der Hand, die ihm seine Großmutter einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Sowas hält ein Leben lang, hatte sie zu dem damals Siebenjährigen gesagt. Brian trat zu ihnen, sah sich aufmerksam um, dann sagte er: „Ich gehe.“
 

So hatte auch Brian sie verlassen. Er hatte ein Sportstipendium bekommen, das es ihm nun doch ermöglichte, zu studieren. Er hatte ihnen nichts davon gesagt. Jack brüstete sich mit seinem erfolgreichen Sohn, zugleich verfluchte er ihn als undankbar. Brian zog ins Studentenwohnheim. Er besuchte sie hin und wieder. Manchmal ging Joan auch zu ihm, brachte ihm von der Schokoladentorte mit, die er immer so gerne gemocht hatte. Sie gingen auf dem Campusgelände spazieren. Sie sah, wie die Mädchen sich nach Brian umschauten. Er zeigte ihnen jenes Lächeln, das er schon als Kind für Fremde reserviert gehabt hatte. Neben dem Studium arbeitete Brian, in den Semesterferien absolvierte er Praktika. Er machte einen hervorragenden Abschluss und fand Arbeit in einer renommierten Werbeagentur. Sie verfolgte, wie er aufstieg. Er zog in eine neue Wohnung, eine riesige Einraumwohnung, ein Loft, erklärte er ihr. Jedes seiner Möbelstücke sah aus, als habe es ein Vermögen gekostet. Alles stand mit absoluter Akkuratesse an seinem fest bestimmten Platz. Joan fand, dass es aussah wie eine Ausstellung. Schön aber irgendwie tot. Er hatte ein riesiges Bett auf einem Podest installieren lassen. Aber er sprach nie von einem Mädchen, stellte ihnen nie eine Freundin vor. Die Söhne ihrer alten Freundinnen heirateten. Brian blieb allein. Vielleicht war es besser so, dachte sie. Brian wurde immer wohlhabender. Er steckte heimlich Jack Geld zu, und Jack lobte ihn vor seinen Saufkumpanen als sei Brians Erfolg sein Verdienst. Und dann war Jack vom Krebs dahin gerafft worden. Sie saß allein in ihrem Haus. Zunächst genehmigte sie sich hin und wieder einen Schluck aus Jacks alten Beständen. Dann wurde es zur Gewohnheit. Manchmal schämte sie sich schrecklich und bat Gott um Vergebung. Manchmal war ihr alles egal. Brian kam sie selten besuchen. Sie fühlte sich vernachlässigt. Claire zog bei ihr ein. Ihre Enkel fand sie schrecklich unerzogen. Ab und an fuhr sie mit dem Bus zu Brians Loft. Sie brachte ihm immer noch Kuchen mit.
 

Dann war der Tag gekommen, als Brian ihr fast nackt die Tür geöffnet hatte. Es irritierte sie ein wenig, aber er war schließlich ihr Sohn. Er wirkte merkwürdig angespannt und unruhig. Kurz flackerte in ihr der Gedanke auf, dass er vielleicht gerade ein Techtelmechtel mit einem Mädchen hatte. Nicht dass sie das gutheißen konnte, so in Sünde – aber immerhin wäre dann Mal ein Mensch in Brians Leben. Außer Michael erwähnte er nie jemanden. Sie wusste nicht, ob er Freunde hatte, mit denen er sein Leben teilen konnte. Sie bezweifelte es.
 

Die Situation war eindeutig gewesen. Plötzlich gab vieles einen Sinn. War das der Dank dafür, dass sie ihr Schicksal getragen hatte, dass sie ihn geboren und aufgezogen hatte? Der Mann in Brians Bett war fast noch ein Junge gewesen. Ein niedlicher kleiner Junge. Was für eine Perversion. Brian leugnete nichts. Er habe es Jack vor seinem Tod gesagt. Sie konnte es kaum glauben. Sie suchte Zuflucht in der Bibel, der vertrauten Kirchengemeinde, im Whiskey.
 

Dann kam John nach Hause und sagte, dass Brian ihn unsittlich berührt habe. Sie glaubte ihm. Sie kannte ihren Sohn nicht mehr, hatte das Gefühl, ihn nie gekannt zu haben. Er hatte gelogen, all die Jahre, während er mit allem gebrochen hatte, was sie ihn gelehrt hatte. Er hatte auf alles gespuckt, was ihr lieb und teuer war. Auf ihr ganzes Leben. Wie konnte Gott ihm verzeihen? Diese schreckliche Sünde? Er würde sich vor seinem Schöpfer verantworten müssen. Aber hier auf Erden gab es auch Gerechtigkeit.
 

Dann war dieser blonde Junge bei ihnen aufgetaucht, Brians… Liebhaber, zusammen mit dieser geschmacklosen Person, die Michaels Mutter war, und einem Polizeibeamten. John hatte gelogen. Dieses Mal. Aber was änderte das schon?
 

Sie konnte Brian nicht mehr ertragen. Er besuchte sie nie wieder.
 

Dann hatte sie erfahren, dass ihr Sohn an Krebs erkrankt war. Wie Jack. Vielleicht hatte Gott doch ein Einsehen. Vielleicht gab er Brian eine zweite Chance. Zu bereuen. Abbitte zu leisten. Seinen Seelenheil zu retten. Sie ging zu ihm. Brian hatte sich inzwischen selbständig gemacht. Seine Firma sah aus wie das Loft. Aber hier bewegten sich Menschen. Brian trug einen Anzug, der wahrscheinlich mehr gekostet hatte als ihr Hochzeitskleid. Er saß hinter einem gläsernen Schreibtisch. Er wollte nichts davon wissen, dass Gott durch seine Krankheit mit ihm sprach. Er schrie sie an.
 

Zu Hause hatte sie fast geweint. Warum tat er ihr das an? Der Schöpfer, Brian, wer auch immer. Warum konnte er nicht erkennen, wie falsch der Weg war, den er gewählt hatte? Wie sollte Gott ihm das vergeben? Sie wollte nicht, dass Brian zur Hölle fuhr. Sie wollte ihm helfen, trotz allem. Warum konnte er das nicht begreifen? Sie betete für ihn. Bitte vergib.
 

Nun saß sie da, die Morgenzeitung in der Hand. Ihr war, als habe ihr Herz aufgehört zu schlagen. Brian Aidan Kinney. Justin Taylor. 23. August. Toronto. Ein Hohn auf die Ehe. Ein Hohn auf sie. Jeder würde es wissen. Sie wusste nicht, was sie schlimmer fand: die Blasphemie oder die Demütigung.
 

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Justin verschluckte sich fast an seinem Kaffee, als er die Anzeige entdeckte. „Du bist einfach unglaublich!“ sagte er zu Brian, der vorsichtig an seinem Toast knabberte.
 

Brian schaute ihn erst harmlos an, dann lächelte er: „Das fällt dir jetzt erst auf?“
 

Justin strahlte zurück: „Es fällt mir immer auf. Immer und immer wieder.“

Ziegenfutter und Schmorbraten

Der Anhörungstermin war um elf Uhr vormittags angesetzt. Nach dem Frühstück hatten sie sich bereit gemacht. Dieses Mal würde Gus sie begleiten müssen, seine Anwesenheit war gefordert worden. Jennifer würde mit ihnen kommen, um, falls es möglich war, mit dem Jungen den Raum verlassen zu können, wenn es schmutzig zu werden drohte. Brian und Justin war mulmig zumute. Alles hing vom Entschluss des Richters ab, die Klage der Petersons zu zulassen oder abzulehnen. Sollten Lindsays Eltern mit ihrem Vorhaben durchkommen, würde es zum Kampf kommen. Und sie konnten nicht sicher sein, dass sie diesen auch gewinnen würden. Sie hatten alles getan, was ihnen möglich war – aber würde das reichen in Zeiten, wo ein großer Teil der Bevölkerung immer konservativer wurde, homosexuellen Verbindungen gegenüber immer ablehnender gegenüberstand? Es graute ihnen vor der Aussicht Gus zu verlieren. Auch Gus stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Es war schwer gewesen, ihm klar zu machen, worum es ging. Dass seine Großeltern ihn ihnen fort nehmen wollten. „Aber ich habe es Oma doch gesagt!“ sagte er aufgeregt. Brian seufzte. Wahrscheinlich hatte die alte Schabracke geglaubt, sie hätten das Gus so eingetrichtert. Brian trug einen dunklen Anzug mit einer dunkelgrünen Krawatte, Justin einen dunkelblauen Rollkragenpullover mit einer farblich passenden Stoffhose. Gus hatten sie in einen grünen Pullover, der zur Krawatte seines Vaters passte, gesteckt, seine Hose ähnelte im Schnitt Justins. Das Kalkül dahinter war, dem unbedarften Betrachter sogleich ihre Zusammengehörigkeit zu suggerieren, ohne dass der hätte sagen können, woran das lag. Brian hatte nicht umsonst lange Zeit seines Lebens damit verbracht, über die Wirkung seiner Kleidung zu sinnieren, wie sie Assoziationen, Gefühle, Begehrlichkeiten wecken konnte.
 

Justin war nur knapp seinem jähen Ende entronnen, als Brian beim Geradezupfen seines Kragens vor dem Spiegel den Knutschfleck entdeckte. Wahrscheinlich rettete ihn nur Gus‘ Anwesenheit. Er half seinem diverse Flüche runterschluckenden Gemahl, die Hinterlassenschaft seiner ungebremsten Leidenschaft zu kaschieren.
 

„Sei froh, dass du keine Hete bist – dann hättest du jetzt nichts zum Abdecken im Haus“, tröste Justin ihn.
 

„Wenn ich eine Hete wäre, müsste ich nichts abdecken, alle würden mich für einen scharfen Casanova halten und vor Neid erblassen!“
 

„Was mich angeht, bist du ein scharfer Casanova“, lächelte Justin.
 

„Wenn das so ist“, flüsterte ihm Brian ins Ohr, so dass Gus ihn nicht hören konnte, „dann wäre es vielleicht mal wieder Zeit für einen Dreier… geladen sind nur ich, du und unsere dreckigsten Fantasien…“
 

„Dann wird das eher eine Massenorgie, ich hab‘ nämlich verdammt viele Fantasien“, gurrte Justin zurück.
 

„Mmm, jetzt machst du mich neugierig. Sex mit dem Lichtschalter auf an? Oder sogar mit geöffneten Augen? Du kleines Ferkel…“
 

„Klein? Beleidige mich nicht. Aber vielleicht war ich ja tatsächlich ein böööööser Junge…“, flüsterte Justin und folterte ihn mit einem unschuldigen Augenaufschlag.
 

„In Anbetracht der totalen Fiktionalität all deiner Vorhaben in näherer Zukunft bist du das in der Tat, du Verbal-Sadist. Nimm das schon mal als Anzahlung“, antwortete Brian und nutzte einen unbeobachteten Augenblick, um Justin einen gezielten Klaps auf den Allerwertesten zu verpassen.
 

„Danke, Meister“, grinste Justin, „aber ich bleibe nur ungern eine Wohltat schuldig.“ Er verpasste Brian fix eine Retourkutsche.
 

Seufzend lösten sie sich voneinander, als Gus aus dem Badezimmer zurück kehrte. Aber keiner der beiden hätte auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken gespielt, ohne Gus leben zu wollen. Brian rieb sich verstohlen die leicht kribbelnde Hinterbacke. Das war wieder Justin in Reinkultur gewesen. Von dem Jungen, der alles getan hatte, um Brian zu gefallen, hatte er sich schon lange verabschiedet. Und das gefiel Brian nur umso besser, auch wenn es bedeutete, ab und an auch mal einstecken zu müssen. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Er sah auf die Uhr. Ihre Kabbelei hatte nicht einmal zwei Minuten gedauert, sein Körper verspannte sich erneut in Anbetracht der Schlacht, in der sie sich zu ziehen anschickten.
 

Das Telefon begann zu schrillen.
 

Verärgert nahm Brian ab. Hoffentlich war es etwas Wichtiges und nicht etwa Michael, der ihnen noch einmal ganz doll die Daumen drücken wollte. Nicht dass er die Geste nicht zu schätzen wüsste, aber der Zeitpunkt wäre ungünstig gewählt.
 

„Kinney!“ meldete er sich.
 

„Guten Morgen, Mr. Kinney. Nathalie Peterson am Apparat.“
 

Brian war einigermaßen fassungslos. Was sollte das denn werden? Sie hatte ihn sogar sowas in der Richtung von höflich gegrüßt.
 

„Mrs. Peterson, das ist nun wirklich nicht der beste Zeitpunkt für einen netten Plausch. Die Anhörung beginnt in einer Stunde. Meinem Anwalt würde das letzte verbliebene Haar ausfallen, wenn er wüsste, dass ich mit Ihnen spreche!“
 

„Wenn Sie mir jetzt zuhören, wird es keine Anhörung geben.“
 

„Wie habe ich das zu verstehen?“ fragte Brian misstrauisch.
 

„Wir ziehen unsere Testamentsanfechtung zurück. Vorausgesetzt sie und ihr Partner sind bereit, sich mit uns außergerichtlich zu einigen.“
 

„Und wie bitte schön soll das aussehen?“
 

„Wir setzten uns hin und reden. Wenn wir zu keiner Einigung kommen können, können wir immer noch wieder auf den juristischen Weg zurück schwenken. Meine Familie und Sie haben ein gemeinsames Anliegen: Gus‘ Wohlergehen.“
 

Brian lagen einige zynische Erwiderungen auf der Zunge, die er sich zwang herunter zu schlucken. Er wusste nicht recht, was er von der Sache halten sollte. War das schon wieder so ein Trick, sie zu übervorteilen?
 

Mrs. Peterson schien seine Gedanken gelesen zu haben. Sie sagte auf sein Schweigen hin: „Ich weiß, dass Sie wahrscheinlich wenig Veranlassung sehen, uns zu trauen. Ich kann Sie nur darum bitten. Kommen Sie zu uns nach Hause. Hören Sie, was wir zu sagen haben. Und bringen Sie Gus mit. Ich verspreche ihnen, es wird Ihnen nicht zum Nachteil gereichen.“
 

Brian überlegte. Natürlich wäre es günstiger, eine Klage von vornherein abzublocken. Aber er war sich einfach nicht sicher, ob Mrs. Peterson wirklich darauf hinaus wollte. Wie sie schon richtig gesagt hatte, es gab wirklich keinen Anlass, ihr zu trauen.
 

„Es geht mir darum, ein jahrelanges Gezerre um Gus zu vermeiden, unter dem vor allen Dingen er leiden würde.“
 

„Also gut“, beschloss Brian, „aber wenn wir merken, dass Sie nicht aufrichtig mit uns sind, sind wir sofort wieder weg.“
 

„Ich verstehe. Gut.“
 

„Und wann soll unser Familienrat tagen?“
 

„Ich würde vorschlagen, dass wir ihn anstelle der Anhörung ansetzten.“
 

„Jetzt gleich?“
 

„Ja. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto besser.“
 

Brian seufzte. Er glaubte der Frau das, was sie über Gus gesagt hatte. Nur ihre Einstellung ihm und Justin gegenüber fand er bedenkenswert. Aber sich anzuhören, was sie wollte, war bestimmt zunächst einmal nicht falsch.
 

„Also gut. Wir kommen.“
 

Sie nannte ihm die Adresse.
 

„Ach ja, Mr. Kinney?“
 

„Was?“
 

„Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit“, sagte sie.
 

Aha. Die Botschaft war also angekommen.
 

……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

Brian hatte Justin kurz erläutert, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Auch dieser war erleichtert, doch zugleich kräuselte er die Nase, als er an das bevorstehende Gespräch mit den Petersons dachte. Besonders Gus war froh, nicht vor einem Richter erscheinen zu müssen. Insofern hatte Mrs. Peterson recht. Das sollten sie versuchen, ihm zu ersparen. Sie informierten Jennifer, dann machten sie sich auf den Weg.
 

Um elf parkten sie in der gediegenen Wohngegend, in der das Domizil der Petersons stand. Architektonisch erinnerte es an Britin, war aber nicht ganz so geräumig und das Grundstück war deutlich überschaubarer. Allerdings war die Anlage besser in Schuss. Auf ihrem Landhaus hatten die Handwerker erst damit begonnen, Hand anzulegen. Der Garten, durch den sie schritten, war liebevoll gepflegt. Herbstblumen blühten üppig in den Rabatten. Der Rasen sah aus, wie mit der Nagelschere geschnitten. Die üppigen Bäume begannen sich bereits zu verfärben. Entweder war hier ein Gärtner am Werke oder Gus‘ Großeltern hatten ein Faible für Gartenarbeiten. Hier war Lindsay also aufgewachsen. Brian musste an sein zuhause denken, falls man es so nennen konnte. Ein kleines Reihenhaus, von Joan auf Hochglanz poliert. Es kleinbürgerlich zu nennen, wäre wahrscheinlich geschmeichelt gewesen. Die Kinneys waren seit Generationen der Arbeiterklasse treu geblieben. Er hatte gar nicht schnell genug von dort verschwinden können. Die Welt, aus der Lindsay – und Justin, bevor sein Vater ihm die Unterstützung gestrichen hatte – stammten, war ihm fremd geblieben. Er konnte sie beschreiten und jeder dachte, dass er dazu gehörte – aber es war nur Mimikry. Seine Wurzeln lagen im dumpfen Sumpf eines irischen Katholizismus, der Unglück und Elend für den Urzustand der Welt hielt. Diesem Schicksal würde Gus entrinnen, gleichgültig wie die Sache ausgehen sollte.
 

Sie hatten auf dem Weg noch einmal kurz angehalten. Ein Tanz auf dem Drahtseil drohte vor ihnen zu liegen, da war es besser, jeden Vorteil zu nutzen. Brian war mit Gus im Wagen geblieben, während Justin in einen pittoresk aufgemachten Blumenladen geflitzt war. Bloß kein Kaufhaus-Gestrüpp, das würde dem alten Drachen höchstens noch mehr Munition liefern. Ein paar Minuten später war Justin wieder erschienen. Der Strauß war perfekt: nicht zu groß, nicht zu klein, geschmackvoll unaufdringlich arrangiert, um als kleine, aber wohl durchdachte Aufmerksamkeit durch gehen zu können. „Wenn du zu einer bissigen Ziege gehst, vergiss das Grünzeug nicht“, hatte Justin seine Country Club-Weisheit zum Besten gegeben.
 

Brian hielt Gus an der Hand, Justin überreichte formvollendet den Strauß, als die Petersons sie rein baten. Die Begrüßung fiel etwas steif aus, nur Gus umarmte seine Großeltern ungestüm.
 

Sie setzten sich ins Wohnzimmer auf die cremefarbende Sitzgarnitur. Mrs. Peterson bot ihnen Kaffee an. Eine Platte mit Keksen lag auf dem Wohnzimmertisch. Brian schenkte Justin einen warnenden Blick, doch der riss sich zusammen und knabberte bescheiden an einem Schokoladengebäck herum. Gus wand sich unruhig zwischen ihnen: „Oma, darf ich spielen gehen?“
 

„Gleich, mein Schatz. Ich möchte nur, dass du mir vorher eine Frage beantwortest. Und ich möchte, dass du ganz ehrlich dabei bist. Tust du das?“
 

Justin und Brian versteiften sich misstrauisch. Gus schaute seine Großmutter aus großen Augen an. „Okay“, sagte er schließlich.
 

„Was möchtest du lieber: Bei deinem Vater und Justin leben und uns immer wieder mal besuchen kommen – oder bei mir und Opa wohnen und deinen Vater und Justin besuchen?“
 

Brian war kurz davor, seinen Sohn zu schnappen und hinaus zu brausen. Justin drückte ihm bestimmt die Hand auf den Schenkel, damit er sitzen blieb.
 

„Ich will bei Papa und Justin wohnen, Oma, und euch ganz häufig besuchen kommen, versprochen!“ sagte Gus fest.
 

„Okay, mein Schatz, dann geh doch einfach hoch in Mamas altes Zimmer, wo dein Spielzeug ist. Wir Erwachsenen unterhalten uns noch ein wenig, dann rufen wir dich. Möchtest du vorher noch einen Keks?“
 

Gus schnappte sich den Keks und brauste mit den Worten „Bis später“ die Treppe ins Obergeschoss hinauf.
 

Brian räusperte sich: „Was sollte das denn, Mrs. Peterson?“
 

„Ich dachte, dass wir uns klar machen sollten, was Gus will. Um ihn geht es schließlich. Ich kann nicht sagen, dass es mir gefällt. Aber unser Enkel will bei Ihnen leben. Und ihn gewaltsam von Ihnen weg zu zerren würde ihm das Herz brechen. Er hat schon seine Mutt… Mütter verloren“, Mrs. Peterson starrte an ihnen vorbei.
 

Mr. Peterson meldete sich zu Worte: „Ich stimme meiner Frau zu. Auch ich bin nicht gerade begeistert von ihrem Lebensstil. Aber einen Versuch muss es uns wert sein, wenn wir unserem Enkel nicht unnötig weh tun wollen.“
 

„Wie kommt dieser plötzliche Sinneswandel zustande?“ bohrte Justin.
 

„Zunächst einmal durch Gus. Was er eben gesagt hat, hat er bereits zuvor zu mir gesagt. Zunächst war ich misstrauisch, dachte, dass Sie ihm vielleicht aufgetragen haben, derartiges verlautbaren zu lassen. Aber das glaube ich nicht. Es ist wirklich sein Wille, warum auch immer. Dann haben wir Erkundigungen über Sie einholen lassen, wie Ihnen ja nicht entgangen ist. Sie können sich vorstellen, dass wir nicht gerade begeistert waren. Aber die Ermittlungen haben auch ergeben, dass Sie sich von ihrem ehemaligen Lebensstil verabschiedet haben, lange bevor die Frage um Gus aktuell wurde. Unser Anwalt hat uns darauf hingewiesen, dass das unsere Grundlage deutlich ausdünnte. Und dann haben Sie nicht lange gefackelt, nicht wahr?“ Sie wies auf die Zeitung mit der Hochzeitsanzeige. „Sie haben Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um ihren Rechtsanspruch zu behaupten. Sie beide. Für Gus. Das haben wir verstanden, weil auch wir alles für ihn tun würden.“
 

Justin und Brian schwiegen beklommen.
 

„Und was schlagen Sie uns vor?“ fragte Brian schließlich.
 

„Wir verzichten darauf, die Sorgerechtsregelung anzufechten. Nicht Ihnen zuliebe. Sondern für Gus. Aber wir erwarten von ihnen, dass Sie alles daran setzten, Gus gute Eltern zu sein. Wenn wir den Eindruck bekommen, dass sie nicht zum Wohle unseres Enkels handeln, behalten wir es uns vor, unsere Meinung zu ändern. Sie würden in unserer Situation wahrscheinlich nicht anders handeln.“
 

Brian nickte. Er hätte den Petersons eigenhändig den Hals umgedreht, wenn Gus bei ihnen leben würde und sie ihn vernachlässigten oder gar schädigten.
 

„Und“, griff Mr. Peterson jetzt die Rede seiner Frau auf, „wir wollen seine Großeltern sein. Seine Familie. Nicht die Leute, denen er zwangsweise ein Mal im Monat für eine genau abgemessene Anzahl von Stunden übergeben wird. Wir wollen ein Teil seines Lebens sein, wie wir es zuvor waren. Wir wollen mit ihm ins Kino gehen können, ins Theater, in den Zoo. Wir wollen bei seiner Einschulung dabei sein. Ihn an seinem Geburtstag sehen können. Vielleicht auch mal einen Ausflug mit ihm machen können.“
 

Brian und Justin sahen sich an. Dann sagte Justin: „Ich verstehe Ihren Punkt. Aber unter zwei Bedingungen: Es darf kein Gezerre um Gus geben. Wir müssen uns wie zivilisierte Menschen einigen können und es – wie zum Beispiel an seinem Geburtstag – auch in einem Raum miteinander aushalten können. Und dazu ist es wesentlich – was mein zweites Anliegen wäre – dass sie sich jede abfällige Bemerkung gegenüber dem, was Sie unseren „Lebensstil“ nennen, uns und Gus gegenüber für alle Zeiten verkneifen. Denken Sie, was sie wollen. Aber bringen Sie es, solange wir in Sichtweite sind oder irgendjemand, der es Gus zutragen könnte, dass Sie seine Eltern für zwei Perverse halten, in keiner Geste zum Ausdruck. Am besten wäre es, wenn Sie Ihre Meinung einfach ein wenig überdenken würden. Aber das haben Sie ja anscheinend selbst Ihrer Tochter gegenüber nicht wirklich geschafft. Also versuchen Sie lediglich, den Frieden zu wahren, dann tun wir das auch.“
 

Die Petersons sahen sich an. Dann sagte Mrs. Peterson: „Gut. Um Gus‘ willen. Vielleicht können wir es ja gleich in der Praxis versuchen, ich habe die Haushälterin angewiesen, einen Braten vorzubereiten. Essen Sie doch mit uns.“
 

„Sie waren sich Ihrer Sache ja ziemlich sicher“, bemerkte Brian.
 

„Natürlich“, sagte Mr. Peterson, „schließlich gewinnen beide Seiten bei diesem Arrangement. Versuchen wir also unser Glück.“
 

Er stand auf und reichte Brian die Hand: „Und da wir ja ab heute gewisse familiäre Bande teilen, sollten wir das – wie zivilisierte Menschen – auch so handhaben. Ich bin Russel.“
 

Sie schüttelten einander die Hände und besiegelten mit dem Angebot, sich beim Vornamen zu nennen, ihren Pakt.
 

Das Essen verlief ruhig. Justin lobte Nathalies Gartenbaukünste – es war tatsächlich sie, die die Pflanzen pflegte. Brian fand sich mit Russel in einer Diskussion über Aktienkurse wieder. Gus lauschte, obwohl das alles für ihn nicht viel Sinn machen dürfte, aber er spürte den Wandel in der Situation und war zufrieden. Dennoch hatte die ganze Angelegenheit – Familiendinner inklusive Schmorbraten – einen leicht surrealen Zug für Justin und Brian.
 

Als sie aufstanden, um sich zu verabschieden, sagte Mrs. Peterson – Nathalie – zu ihnen: „Wäre es Ihnen – euch - Recht, wenn Gus am nächsten Mittwoch mit uns ins Theater gehen würde und dann vielleicht noch einen Happen essen? Es läuft ein Märchen im Kindertheater, da ist er vor Kanada immer gerne hin gegangen. Ihr habt aktuell ja auch viel um die Ohren. Auch die Haushaltsauflösung in Kanada obliegt euch ja. Sagt Bescheid, wenn wir helfen können. Lindsay war schließlich unsere Tochter.“
 

„Mittwoch ist in Ordnung“, sagte Brian. Vor seinem inneren Auge tauchten Visionen davon auf, was er und Justin mit ein paar Stunden sturmfreier Bude anfangen könnten… lesen, den Abwasch machen, Karten spielen…
 

„Die Beerdigung ist am Freitag“, sagte Nathalie plötzlich.
 

Brian und Justin nickten. Sie wollten es sich gar nicht ausmalen, wie es sein musste, sein Kind zu Grabe zu tragen. Sie waren nicht die Einzigen, denen ihre Welt um die Ohren geflogen war.
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………
 

Es war bereits halb Vier, als sie, bis zum Anschlag mit Schmorbraten vollgestopft, wieder beim Loft ankamen. Sie fühlten Erleichterung, zugleich waren sie von dieser familiären Erfahrung der dritten Art ziemlich geschlaucht.
 

Justin brach zusammen mit Gus vor dem Fernseher zusammen und warf eine DVD Spongebob an. Immer hin nicht Ariel.
 

Brian sah seine Emails durch und hörte die Mailbox ab. Er rief Michael an, der drei Nachrichten hinterlassen hatte und brachte ihn auf den aktuellen Stand. Michael war es mit Melanies Eltern besser ergangen. Melanies Vater litt an schweren Herzrhythmusstörungen, dem Ehepaar wäre es kaum möglich gewesen, das Baby alleine zu umsorgen. Geschwister hatte Melanie keine. Der Notnagel war ihre Cousine gewesen, die selbst drei Kinder hatte und sich auch nicht darum riss, die Fürsorge für ein weiteres zu übernehmen. Hinzu kam, dass Michael und sein professoraler Gatte über einen deutlich besseren Leumund verfügten als er, was Vaterqualitäten anging. Schließlich hatten sie bereits den Sorgerechtsprozess gegen Hunters leibliche Mutter gewonnen. Sie würden sich gemeinsam um den Haushalt in Kanada kümmern müssen, sobald es ging. Brian seufzte. Irgendwie wuchsen für jede Sache, die sie erledigt hatten, zwei weitere nach wie bei der Hydra aus der griechischen Sage. Er vertiefte sich erneut in seine Listen.
 

Als er auf die Uhr schaute, war es bereits nach acht. Allmählich Zeit für Gus ins Bett zu gehen. Er hatte nicht geahnt, dass Kinder so viel Schlaf brauchten. Aber wahrscheinlich nutzte Gus die Zeit, um zu wachsen. Brian setzte sich noch ein paar Minuten zu den beiden anderen auf die Couch. Als die Spongebob-Folge vorüber war, machte er sich an das übliche Abendritual mit Gus. Er gab ihm einen Gutenachtkuss, zog die Decke über ihm fest und lief dann auf leisen Sohlen zurück zur Couch.
 

Justin lag schläfrig an die Lehne geschmiegt. Brian ließ sich neben ihn auf das Polster fallen. Er fühlte mehr als er es sah, dass Justin ihn von der Seite musterte. Dann fragte er unvermutet: „War es jetzt alles umsonst? Die Hochzeit, die Verträge, die Sache mit den Namen?“ „Nein“, antwortete Brian, ohne zu zögern, „nichts davon war umsonst.“ Justin schwieg. Dann fragte er sanft: „Bist du glücklich?“ Brian schaute erst zu Boden, dann drehte er sich zu dem Jüngeren um: „Ich vermisse Lindsay. Und Melanie. Aber es gibt auch Sachen, die ich nicht vermisse. Ich vermisse es nicht, ständig dem nächsten kurzen Kick nachzulaufen. Ich vermisse es nicht, allein zu sein. Und ich vermisse dich nicht mehr. Und Gus. Es sind jetzt Dinge da, von denen ich früher nie geahnt habe, dass man sie vermissen könnte, wenn sie nicht da wären. Gus Legofiguren. Dein Schnarchen und Grunzen und Sabbern, wenn du träumst. Ein Kühlschrank voller Kalorienbomben. Chaos im Bad. Lauter kleine Sachen. Ist das Glück? Ich kenne mich damit nicht aus. Aber es ist gut, wie es ist.“
 

In Justins Augen stand ein Lächeln. Dann sagte er: „Ich bin völlig im Eimer. Wäre es okay, wenn ich mich ins Bettchen verziehe und ein bisschen schnarche und grunze und sabbere?“
 

„Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen“, antwortete Brian.

Pfannkuchen aus der Hölle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Epilog

XXXI. Epilog
 

Bevor es Tomaten hagelt – das ist selbstredend nicht das Ende der Handlung – lediglich das Ende des ersten Teils. Die nächste Geschichte wird nahtlos anknüpfen, aber thematisch andere Schwerpunkte haben, daher setzte ich an dieser Stelle einen (kleinen) Punkt. Wenn Ihr wissen möchtet, wie es weiter geht, müsst Ihr Euch nicht lange gedulden, „Familienbande“ ist bereits in Arbeit.
 

……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………
 

Michael trat vor, verschränkte die Hände und sah hinab auf den blumengeschmückten Sarg. Seine Atmung ging ruhig. Seine Tränen waren geweint, sie würden wiederkommen, immer wieder. Jetzt fühlte er nur kalte Schwermut.
 

Der Friedhof lag in einem warmen frühherbstlichen Licht. Von einer nahe gelegenen Grundschule konnte man das Geschrei und Gelächter der Kinder auf dem Pausenhof hören. Durch die Bäume flitzten Eichhörnchen, emsig auf der Suche nach Vorräten für den kommenden Winter. In einiger Entfernung goss ein Friedhofsgärtner eine üppig stehende Hecke. Die Grabsteine trugen Namen und Daten, die an Menschen erinnerten, die sie nicht kannten. Nicht ganz. Ein Stückchen entfernt lag Vic. Der ermordete Junge aus der Tonne des Liberty Diner im Bereich, wo die ohne Namen und Familie ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Bens Ex-Freund war hier, der ihn einst mit HIV angesteckt hatte. Die, die im Aids-Hospiz gestorben waren. Die, die mit ihnen getanzt hatten und den Drogen verfallen waren. Michaels Großeltern unter einem gemeinsamen Stein im Bereich der alteingesessenen Familien. In der Nähe Jack Kinney. Die Toten waren Teil ihrer Geschichte. Irgendwann würden sie alle sich zu ihnen gesellen. Aber heute war es Lindsay, von der sie Abschied nehmen mussten.
 

Hinter ihm stand Debbie, Jenny auf dem Arm, neben ihr Ben, stark wie ein Fels aussehend doch immer bedroht durch die unsichtbare Krankheit. Hunter, den Kopf gesenkt. Emmet, der leise schluchzte. Lindsays Familie, erstarrt, betend, weinend. Ted mit traurigem Glanz in den schönen Augen. Lindsays lesbische Freundinnen. Ihr ehemaliger Chef. Die Spitze des GLC mit hängenden Schultern, die freudloses Gesichter gen Boden gewandt. Ehemalige Kollegen aus der Schule und der Galerie. Kindheitsfreundinnen. Eine Flüche murmelnde Leda mit verquollenen Zügen. Menschen aus Lindsays Vergangenheit oder Familie, die Michael nicht kannte. In der vorderen Reihe neben den Petersons Brian, Justin und Gus, direkt hinter ihnen Jennifer und Molly.
 

Brian stand auf und trat schweigend neben ihn. Dann legte er den Arm um Michael und nickte dem Sarg wortlos zu. Schließlich sagte er: „Danke, Wendy“ und kehrte zu seiner Familie zurück.
 

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Debbie sah, wie Brian sich wieder zu Justin und Gus setzte. Der kleine Junge hatte bereits zuvor auf dem Arm seiner Großmutter Abschied von seiner Mutter genommen. Danach trat einer nach dem anderen vor und gedachte noch einmal still der mutigen, lustigen, klugen und liebevollen Frau, die ihnen entrissen worden war. Gus weinte leise, Justin hatte die Arme um ihn geschlungen und wiegte ihn sanft tröstend hin und her. Brian ließ seinen Blick auf den beiden ruhen, dann umfasste er Justins Schulter und zog sie alle drei in dein dichtes Bündel zusammen.
 

Es gab nicht nur Schmerz und Trauer an diesem Ort.



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Kommentare zu dieser Fanfic (48)
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Von:  brandzess
2011-08-17T15:41:27+00:00 17.08.2011 17:41
gleich mal Familienbande anfangen^^
die geschichte war wirklich toll!
Von:  brandzess
2011-08-17T15:35:46+00:00 17.08.2011 17:35
Debbie hat ihm ja fast noch ein ehegelöbnis abgerungen xD typisch für sich :D aber Justin ist doch nicht wirklich 12 jahre jünger als Brian oder o.Ô? 1o vllt aber doch nicht 12. als sie sich das erste mal trafen war Justin 17 und Brian ist später in staffel 1 oder 2 (weiß nicht mehr so genau xD) 30 geworden.....also ich frag mich schon die ganze zeit ob 12 jahre nicht zu viel sind *überleg*
Von:  brandzess
2011-08-17T15:06:54+00:00 17.08.2011 17:06
was hat die petersons denn bitte gebissen o.Ô?
Von:  brandzess
2011-08-16T21:25:41+00:00 16.08.2011 23:25
ich erinnere mich an Brians mutter -.- sie ist schon immer sehr engstirnig, verbohrt und pseude christlich gewesen
Von:  brandzess
2011-08-16T20:54:27+00:00 16.08.2011 22:54
was hat denn jetzt vor?
Von:  brandzess
2011-08-16T20:34:54+00:00 16.08.2011 22:34
aber sie hat ja irgendwie recht (und ich hasse es das zugeben zu müssen >.<) keiner hat Gus je gefragt bei wen er sein will.....*denk*
Von:  brandzess
2011-08-16T20:26:21+00:00 16.08.2011 22:26
alter was für ne ansprache xD
Von:  brandzess
2011-08-16T18:34:00+00:00 16.08.2011 20:34
bin mal gespannt wie viel herzattacken Linds Mutter bekommt wenn Gus ihr morgen verkündet das Papa und Justin geheiratet haben :D *freu*
is eigentlich egal wer es ihr sagt hauptsache sie regt sich richtig schön auf!
Von:  brandzess
2011-08-16T18:24:47+00:00 16.08.2011 20:24
na taucht doch auf einmal ein Brian auf den amn vorher nur immer als vage andeutung gesehen hat :D einer der verheiratet sein will und Justin ich liebe dich ins gesicht sagen kann *hach* :3
Von:  brandzess
2011-08-16T16:49:08+00:00 16.08.2011 18:49
na jetzt müssen sie nicht mehr das paar spielen! jetzt sind sie wieder eins *freu*
und auf etwas verquere weise ist das voll süß gewesen^^


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