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Der unerwünschte Mieter

von

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Kapitel 5

Kapitel 5
 

Zum x-ten Male schaue ich auf meine Uhr und lese die roten Zahlen, die seit gefühlten Stunden 2 Uhr irgendwas anzeigen. Egal, wie oft ich auf den kleinen silbernen Wecker schaue, es will einfach nicht 6 Uhr werden, sodass ich aufstehen und mich für die Arbeit anziehen kann. Schon die ganze Zeit lausche ich, doch von Joshua, der oben im Gästebett liegt, ist absolut nichts zu vernehmen. Den Schlüssel für meine Tür habe ich kurz vorm Schlafengehen dann doch noch gefunden, die Tür ist gerade auch fest verschlossen, aber ich schaffe dennoch den Absprung ins Reich der Träume nicht. Ich muss immerzu daran denken, dass ich nicht allein in meiner Wohnung bin. Um mal ganz davon zu schweigen, dass mir Joshua immer noch fremd ist.
 

Es ist ja nicht so, dass ich nie Übernachtungsgäste hätte. Da ich direkt neben dem Flughafen wohne, bietet sich das Gästebett öfter mal als Schlafgelegenheit für ein Familienmitglied oder einen Freund oder eine Freundin an, die dann am nächsten Morgen von mir zum Terminal gebracht werden möchten. Dafür ist es auch schon das ein oder andere Mal benutzt worden. Und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich da jedes Mal mehr oder minder völlig entspannt geschlafen habe.
 

Zum Glück tickt meine Uhr nicht, sonst würde ich hier in meinem Bett schier wahnsinnig werden. Krampfhaft halte ich meine Augen geschlossen und versuche mir einen Tunnel vorzustellen, durch den ich in immer schwärzere Gefilde gehe. Das hat als Einschlafmethode in den letzten Jahren schon mehrmals funktioniert, aber heute schleicht sich immer wieder ein Ebenbild von Joshua in meinen schönen, schwarzen Tunnel. Ja, ich weiß, dass er im anderen Bett liegt. Ja, ich weiß, dass ich unvernünftig bin, weil ich ihn wirklich in meiner Wohnung nächtigen lasse. Das braucht mir mein Unterbewusstsein nicht immer wieder unter die Nase zu reiben. Dabei ist es völlig belanglos, dass seine haselnussbraunen Haare und seine tiefgrünen Augen mich ganz wuschig machen.
 

Ich brauche dringend etwas Schlaf. Morgen steht nicht nur der letzte Arbeitstag für diese Woche an, ich will darüberhinaus gewappnet ins Wochenende starten. Wenn ich Joshua Paroli bieten möchte, dann muss ich ausgeruht sein.

Und schon wieder wälze ich mich auf die andere Seite.
 

Der Boden auf der Galerie ist eine Art Alarmanlage. Wenn man nur einen Fuß auf ihn setzt, knärzt er so laut, dass die Wände wackeln. Okay, ganz so übel ist das Geräusch dann auch nicht, aber das Knarren kann man auf jeden Fall überdeutlich in der gesamten Wohnung hören. Davon bin ich sogar schon mal aufgewacht, also warum schalte ich nicht einfach ab und gönne mir etwas Schlaf?

Ich drehe mich wieder zurück, mummle mich in meine Decke, streife sie wieder von mir, drehe mich auf den Rücken, winkle ein Bein an, strecke es wieder aus, ziehe beide Beine heran, lege meinen Kopf schief und setze mich letztendlich auf. Das hat einfach keinen Sinn.
 

Ich bin einfach zu hibbelig, um hier in Ruhe liegen und schlafen zu können.
 

Unter normalen Umständen würde ich jetzt ins Wohnzimmer gehen, meinen Laptop hochfahren, der dort auf dem Glastisch steht, und nach neuen E-Mails schauen. Da der Akku von meinem Computer schon vor Monaten den Geist aufgegeben hat, habe ich das Ladekabel unterm Sofa durchgezogen, um es permanent am Strom anschließen zu können. Die Steckdose liegt leider sehr ungünstig. Damit ist mir aber die Möglichkeit verwehrt, meinen Laptop ohne große Umstände an einem anderen Ort zu benutzen. Tja, bis jetzt konnte ich ihn ja auch problemlos dort stehen lassen. Wenn ich so an die letzten beiden Jahre zurückdenke, habe ich ohnehin selten damit woanders gesessen.

Ich runzle die Stirn. Warum lasse ich mich eigentlich von Joshuas Anwesenheit derart beeinträchtigen?
 

Kurzentschlossen krabble ich aus meinem Bett und gehe ins Wohnzimmer. Ich verhalte mich nicht mal übertrieben leise, für was auch. Das ist meine Wohnung und wenn Joshua bei Lärm nicht schlafen kann, dann ist das sein Problem, nicht meines.

Auf dem Sofa sitzend schalte ich jedoch nicht den Laptop an. Stattdessen starre ich wie gebannt hoch zur Galerie, mit perfektem Blick auf dunkles, verwuscheltes Haar. Der Rest von Joshua ist leider unter der Zudecke begraben.

Seit ich ihn hier heute angetroffen habe, wallt in mir eine Unruhe, die ich nicht zu bändigen weiß. Ich habe Jessi geschrieben, dass es mir gut geht; dies kann ich nicht mal abstreiten. So sehr er mich auch auf die Palme bringt, so neuartiger werden die Gefühle in mir. Seit meinem Unfall habe ich viele Tage und Wochen damit zugebracht, deprimiert herumzuliegen und vor mich hin zu lahmentieren. Die Entzündung in meinem Bein hat mich all das nicht machen lassen, was ich gerne getan hätte. Jeder Schritt war einfach zu viel und zu schmerzhaft. Erst seit zwei Wochen kann ich wieder ungehindert laufen, wenn ich die Distanz die ich zurücklege, in Grenzen halte. Mit meiner Stimmung ging es auch tagtäglich aufwärts. Darum war ich vorhin ja erst mal so geschockt, dass mir in meiner Genesungsphase etwas derart aus der Bahn Werfendes widerfährt. Doch wenn ich ehrlich bin, ist genau diese Ablenkung durch Joshua genau das, was mich endgültig auf andere Gedanken bringt.

Im Grunde genommen habe ich in der E-Mail an Jessi nicht mal gelogen. Mir geht es wirklich gut, selbst wenn es vielleicht nicht so sein dürfte.

Nachdenklich schaue ich dabei zu, wie sich die Bettdecke in einem langsamen und gleichmäßigen Rhythmus hebt und senkt. Zum ersten Mal bin ich froh, dass sich mein Wohnbereich und damit auch die Galerie nicht komplett abdunkeln lässt. Der Mondschein, der durch die dünnen Lamellen, die den Erker hinter dem Esstisch verhängen, dringt, ermöglicht mir, Joshua ziemlich gut von hier unten auszumachen. Von Beginn an habe ich meinen großen Wohnbereich gemocht, der Wohn-, Esszimmer und Büro/Gästezimmer miteinander vereint, doch jetzt weiß ich ihn erst richtig zu schätzen.

Während ich Joshuas Atmung betrachte, werde ich innerlich auf einmal ganz ruhig.
 


 

„-WACHEN! AUFWACHEN!“
 

Wie von der Tarantel gestochen, reiße ich meine Augen auf und blicke direkt in Joshuas Gesicht, das mal wieder ein sarkastisches Lächeln für mich parat hält. Seine Lippen sehen dennoch sehr einladend aus.
 

„Wann musst du normal auf der Arbeit sein?“, fragt er mit ruhigem Tonfall.
 

Gleißendes Tageslicht durchflutet die Wohnung und lässt sein Haar in den verschiedensten Brauntönen schimmern.

Meine Augen werden groß. Riesengroß.
 

„Ich meine ja nur.“ Er fährt sich gelassen durchs Haar. „Draußen scheint seit geraumer Zeit die Sonne und du pennst hier seelenruhig. Normale Menschen gehen um diese Zeit arbeiten.“
 

Auweia!!!

Mit einem Satz springe ich vom Sofa auf und schaue auf die Uhr. Halb neun. Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich bin doch tatsächlich auf der Couch eingeschlafen und habe auch noch den schrillen Alarm meines Weckers, der Tote wecken könnte, überhört.

Von Panik erfüllt sprinte ich an Joshua vorbei ins Schlafzimmer, greife mir die erstbesten Klamotten und stoße fast gegen ihn, als ich gen Bad eile.
 

„Musst du im Weg stehen?“, blaffe ich ihn an.
 

„Du bist echt undankbar, dafür, dass ich dich geweckt habe.“

Er lehnt sich gegen die Flurtür und versperrt mir auf diese Weise den Weg ins Badezimmer. Ich versuche erst gar nicht, an ihm vorbeizukommen, er hat mir gestern klar gemacht, dass er kräftiger ist als ich.
 

„Ja ja, danke. Kann ich jetzt bitte durch?“
 

Erst zieht er die Augenbrauen nach oben, dann verschränkt er die Arme.

„Erst möchte ich ein ernstgemeintes Dankeschön hören, Morgenmuffelchen.“
 

Der Kerl kann echt nerven! Und von wegen Morgenmuffel! Ich bin Frühaufsteher und frühaktiv, selbst wenn ich diesen Eindruck heute ausnahmsweise nicht hinterlasse.

Ich schließe die Augen und atme einmal tief durch.

„Danke“, presse ich dann zwischen meinen Lippen hervor, darauf bedacht, möglichst ehrlich zu klingen.
 

Er schüttelt nur den Kopf.

„Ich nehme dir das immer noch nicht ab.“
 

„Dann denk's dir doch einfach! Ist das so schwer? Ich habe es verdammt eilig, also geh mir endlich aus dem Weg!“

Jetzt ist es raus.

Als er immer noch nicht weicht, füge ich an: „Ich dank's dir heute Abend, okay?“
 

Nach kurzem Überlegen tritt er zur Seite. „Ich werde dich daran erinnern. Ach, übrigens!”, ruft er mir hinterher, als ich an ihm vorbeihaste. Aus Reflex drehe ich mich zu ihm um. “Schicker Schlafanzug.” Abwertender könnte er wahrlich kaum klingen.
 

Ich schaue an mir herunter. Unkoordiniert verschränke ich die Arme vor meinem Oberkörper samt der Kleidung, die ich in Händen halte, doch es ist längst du spät. Joshua hat bereits gesehen, dass mein Shirt nicht gerade von Eleganz geziert ist. Wie ein Sack hängt es an mir herab und versteckt jegliche Weiblichkeit. Wenn der Schlafanzug nicht so verdammt bequem wäre, hätte ich ihn schon längst in die Altkleidersammlung gegeben. Aber man kann sich eben nicht so leicht von bestimmten Sachen trennen, seien sie noch so alt und ausgeleiert und … unattraktiv.

“Das ist die neue Mode, weißt du das denn nicht?” Ich lasse Joshua einfach stehen und knalle die Badetüre zu.

Wer weiß, vielleicht ist der ´Schlabberlook à la extreme` ja doch demnächst wieder in.

Eigentlich hatte ich ja geplant, dass er mich darin gar nicht erst zu sehen bekommt. Aber ich muss ja unbedingt auf dem Sofa einschlafen!
 

10 Minuten später ziehe ich meine Halbschuhe an und suche hektisch alles zusammen, was ich brauche. Geldbeutel. Handy. Schlüssel.

Apropos Schlüssel. Sollte ich eventuell mein Schlafzimmer abschließen, solange ich nicht da bin?

Hastig durchquere ich den Flur, reiße die Tür auf, ziehe das kühle Messing ab, um es in der nächsten Sekunde auf der anderen Seite der Tür ins Schloss zu stecken.
 

“So viel Vertrauen hast du also zu mir. Das beleidigt mich zutiefst.”

Theatralisch fasst sich Joshua an die von einem schwarzen Hemd verdeckte Brust und seufzt inbrünstig.
 

Anstatt auf ihn zu reagieren, überlege ich, wie lange er wohl schon wach ist. Je näher ich ihn betrachte, desto mehr realisiere ich, dass er perfekt gestylt ist. Weiße Jeans, schwarzes Hemd, eine lederne Kette mit einem kleinen silbernen Anhänger um den Hals. Ich verenge die Augen und versuche auszumachen, was da an dem Band hängt. Ist es eine Blume? Nein, ... ein Symbol? Ein Halbkreis, um den sich etwas windet. Ist es …
 

“So, für heute hast du mich genug angestarrt. Wenn ich mich nicht irre, musst du jetzt los.”

Ich werde gepackt und förmlich aus der Wohnung geschoben. So schnell kann ich gar nicht schauen.

“Bis heute abend”, haucht Joshua in mein Ohr. Dann höre ich, wie die Türe hinter mit ins Schloss fällt.
 

Ich zwinkere ein paar Mal und schüttele leicht den Kopf.

Was war das denn eben?
 

Um den Halbkreis windet sich eine Schlange! Ganz sicher bin ich mir zwar nicht, aber wenn ich hier weiter herumstehe und Wurzeln schlage, komme ich wirklich zu spät zur Arbeit.
 


 

Immer wieder fasse ich mir ans Ohr und streiche darüber. Die ganze Zeit wundere ich mich schon, warum sich von dort eine unnatürliche Hitze in mir ausbreitet, bis ich darauf angesprochen werde.
 

“Hat dich was gestochen?”

Fragend sieht mich Maren, eine Arbeitskollegin und gute Bekannte von mir, an, während sie einen Schluck frischgepressten Saft aus ihrem Glas nimmt.
 

Mit zusammengezogenen Augenbrauen, erwidere ich: “Ich glaub nicht.”

Bewusst nehme ich meine Finger von meinem Ohr und widme mich wieder den Nudeln auf dem Teller vor mir. Das Kantinenessen reizt mich schon länger nicht mehr und dennoch gehe ich jeden Mittag mit den anderen essen. Das ist fast die einzige Möglichkeit, mittags mal aus der Arbeit rauszukommen.
 

“Na, was hast du für Wochenendpläne?”

Ungezwungen sieht mich Maren an und spielt nebenher mit einer blonden Haarsträhne, eine Angewohnheit, die sie vermutlich gar nicht registriert.
 

“Äh ... Also eigentlich ...”

Ich kann ja kaum sagen, dass ich seit gestern einen vor Sarkasmus triefenden Untermieter habe, den ich am Wochenende nicht aus den Augen lassen möchte, solange er sich in meiner Wohnung befindet. Schlimm genug, dass ich ihn vorhin dort alleine zurücklassen musste.

“Nichts besonderes”, sage ich dann. “Vielleicht ein bisschen lesen. Und wenn das Wetter hält, eine Radtour machen.”
 

“Ein ganz entspanntes Wochenende also. Ja, so was hätte ich auch mal wieder nötig.”

Zufrieden lehnt sich Maren zurück und lächelt mich an.

“Du hast es wirklich gut. Du kannst tun und lassen, was du möchtest, ohne dass dir jemand hereinredet oder gar Vorwürfe macht. So sehr ich meinen Freund liebe, manchmal geht er mir mit seinem absonderlichen Unternehmergeist ein klitzekleinesbisschen auf die Nerven.”
 

Wenn sie wüsste! Ich bezweifle, dass ich nun weiterhin tun und lassen kann, was ich will, ohne spitze Bemerkungen an den Kopf geknallt zu bekommen. Von wegen traute Einsamkeit und erholsame freie Tage!

“Alles hat seine Vor- und Nachteile”, wehre ich ab.

Selbst wenn sich Joshua nicht so mir nichts dir nichts in mein Leben gedrängt hätte, jeden Abend in eine leere Wohnung zu kommen, wo keiner auf dich wartet, ist auch nicht unbedingt das, was man sich auf Dauer so vorstellt.
 

“Sind Caro und Tim wohl verreist?”
 

Das sind zwei gute Freunde von mir, die ebenfalls hier wohnen. Wenn sie an den Wochenenden hier sind, dann unternehmen wir meistens gemeinsam etwas.

“Ja, sie fahren zu ihren Eltern. Es ist mal wieder keiner außer mir übers Wochenende in Fenden. Ihr wollt ja alle nicht hierher ziehen.”

Neckisch schaue ich Maren an. Ich habe schon mehrmals versucht, dass sie sich doch noch entschließt, sich hier eine Wohnung zu suchen, aber ich stoße jedes Mal auf Ablehnung. Ein beschauliches Dorf mit rund 10000 Einwohnern ist einfach nicht ihr Fall, sie braucht dann doch mehr Action um sich herum. Dass man von hier aus in wenigen Minuten mit dem Fahrrad wunderschöne Seen erreicht und überhaupt tolle Radwege hat, sind für sie leider keine schlagkräftigen Argumente.
 

“Ich sage nur: Zu klein, zu still, zu trostlos.”
 

“Ein Versuch war's wert.”

Grinsend schiebe ich mir eine Nudel in den Mund.

“Was hast du denn am Wochenende vor?”
 

“Mein Freund will mit mir unbedingt in die Berge fahren. Du weißt, ich klettere nicht gerne, aber er hat es mal wieder geschafft, mich zu überreden. So ein Pech, dass das Wetter gut sein soll. Dabei habe ich mir sintflutartigen Regen gewünscht.”

Sie stößt ein keckes Lachen aus.

“Ich freue mich einfach auf die erholsamen Abendstunden. Immer wenn ich die von ihm ausgesuchte Tour durchhalte, belohnt er mich gebührend.”
 

Ein wenig neidisch werde ich ja schon, wenn ich ihr so zuhöre.

“Hehe, er weiß dich um den Finger zu wickeln.”
 

“Keine Sorge, Alissa, das weiß ich auch.”

Sie zwinkert mir zu und ich bin überzeugt, dass das bei ihrem Freund auf jeden Fall zieht. Mit dem Augenaufschlag kann sie bei ihm mit Sicherheit alles durchsetzen, was sie möchte.
 

“Hat dich wirklich nichts gestochen?”
 

Verlegen nehme ich meine Hand vom Ohr, die sich insgeheim wieder dorthin geschlichen hat. Wenn ich mich nicht irre, werde ich sogar ein klein wenig rot.

“Vielleicht hast du ja doch recht. Ich werde nachher mal meine Salbe draufschmieren.”

Die habe ich als Allergikerin immer dabei, auch wenn ich sie heute definitiv nicht benötige.
 

Dieses kurze Intermezzo mit Joshua heute Morgen hat anscheinend mehr Spuren hinterlassen als mir lieb ist. Dort, wo sein Atem meine Haut getroffen hat, kribbelt es immer noch gewaltig.

Ich platze fast vor Verlangen, Maren von Joshua zu erzählen, aber ich schlucke jedes Wort herunter, das mir auf der Zunge liegt. Wenn ich ihr jetzt berichte, was in meinem Kopf vor sich geht, dann wird sie mir erzählen, dass ich mich in ihn verguckt habe. Und das habe ich definitiv nicht!!! Erstens kenne ich ihn kaum und das, was ich bisher über ihn Erfahrung bringen konnte, ist nichts Gutes.

Um mich abzulenken, nehme ich einen der vielen Flyer vom Tisch, die hier hin und wieder ausliegen. Dieser hier ist sogar ganz hübsch aufgemacht. Eine Kletterblume rankt sich am Rand um ein Eisengitter, deren rote Blüten auf dem weißen Papier regelrecht leuchten. In der Mitte steht:
 

Learn to live together by living together.
 

Irgendwie fühle ich mich gerade ein klein wenig angegriffen. Als ob ich nicht schon genug an Joshua denken würde. Darf man nicht mal in die Kantine gehen, ohne per Leuchtreklame daran erinnert zu werden, dass wir nun zusammen wohnen?

Man lernt zusammenzuleben, indem man zusammenlebt.

“Na, das stellt sich noch heraus.”
 

“Was stellt sich noch heraus?”, fragt Maren und sieht mich interessiert mit ihren großen grau-blauen Augen an.
 

Ich winke ab. “Ach, ich habe nur den Spruch hier gelesen.”

Ich reiche ihr den Flyer, den sie neugierig entgegennimmt.
 

“So unrecht haben die damit nicht”, meint sie nachdenklich. “Anfangs war es auch für mich eine Herausforderung, mit meinem Freund unter einem Dach zu leben. Aber mit der Zeit gleicht man seine Angewohnheiten an und irgendwann weiß man gar nicht mehr, wie es ohne den anderen wäre. Wenn ich so darüber nachdenke, dann finde ich den Spruch sogar ganz treffend.”
 

Dann hoffe ich nur, dass ich eine Ausnahme bilde und Joshua nicht ähnlich werde. So ekelhaft möchte ich wirklich nicht sein.

“Dann sollte der Partner aber keine schlechten Marotten haben.”
 

“Wer hat die nicht?”

Maren beugt sich vor und deutet auf ihre Haare.

“Ich weiß, dass ich immer mit ihnen spiele. Und was meinst du, was Kai nun abends vor dem Fernseher macht?”
 

Ich lächle sie an.

“Er übernimmt das Spielen mit deinem Haar?”
 

“Wenn es nur so wäre!”

Bei dem Gedanken muss Maren breit grinsen.

“Man übernimmt die Eigenheiten des anderen, ob man will oder nicht.”
 

Am Ende sind wir dann zwei ungehobelte, arrogante Menschen mit leicht ausgeprägtem Ordnungszwang und einem Hang für Nächstenliebe?
 

Was für eine Aussicht!
 


 

Auf dem Heimweg muss ich immer noch darüber sinnieren, welche Charaktereigenschaften ich Joshua vererben könnte. Da fällt mir eine Menge ein: Freundlichkeit, Anteilnahme, Manieren, Feinfühligkeit, Zurückhaltung, … Die Autofahrt von der Arbeit nach Hause ist einfach zu kurz, um alles aufzuzählen. Ich stelle den Motor ab, steige aus meinem Auto und öffne den Kofferraum, aus dem ich die Wasserflaschen, die ich vor zwei Tagen gekauft habe, endlich herausholen möchte.
 

“Habe dich schon erwartet.”
 

Erschrocken fahre ich herum und lasse eine Flasche fallen, die auf meinem Fuß landet. Mit einem kleinen Aufschrei hüpfe ich einmal im Kreis.

“Schleich dich nicht so an!”, knurre ich.
 

“Ich habe schon die ganze Zeit vor den Garagen gestanden. Kann ich was dafür, wenn du dich so darauf konzentrieren musst, dein Auto einzuparken?”
 

Die Garage ist nunmal saueng! Außerdem habe ich mich auf was ganz anderes konzentriert und es wäre wirklich nicht verkehrt, wenn er sich ein wenig was von mir aneignen würde.
 

“Wenn du schon mal hier bist”, ich sehe ihn fest an, “könntest du mir ein paar Flaschen abnehmen.”
 

“Ist der Konjunktiv nicht eine wunderschöne Erfindung?”

Er zwinkert mir zu und läuft dann schon mal voraus in Richtung Haustüre.
 

“Vielen Dank auch!”

Brummend baue ich alle Flaschen in meinen linken Arm und schließe den Kofferraum und anschließend das Garagentor.
 

“Schön, dass du es gleich auf den Punkt bringst”, meint Joshua, als ich hechelnd hinter ihm in meine Wohnung trete. Erleichtert stelle ich die Flaschen in der Küche ab.

“Du hast ein Versprechen einzulösen.”
 

“Ach, habe ich das?”

Ich gehe an ihm vorbei und streife meine Schuhe im Flur ab. Dann verschwinde ich im Bad und schaue dort in den Spiegel.

Ich habe es befürchtet. Kaum bin ich wieder in seiner Nähe, schon funkeln meine Augen und eine sanfte Röte bedeckt meine Wangen.

Selbst das eiskalte Wasser, das ich mir ins Gesicht spritze, ändert nicht viel daran.

Obwohl es keine gute Idee ist, trete ich ihm so wieder vor die Augen. Ich setze mich sogar zu ihm aufs Sofa. Um ihn nicht ansehen zu müssen, greife ich nach meinem Buch und tue so, als ob ich darin lesen würde.
 

“Milly?”
 

Da er mich mit Namen anspricht, sehe ich ihn dann doch an.

“Ja?”
 

“Was sagt man, wenn jemand etwas für dich getan hat?”
 

Ich weiß genau, auf was er hinaus möchte, doch ich muss ja nicht mitspielen.

“Selbst schuld?”, erwidere ich.
 

“Ich weiß wirklich nicht, warum dich mein Opa derart verehrt. Mit Nettigkeit hat deine Wesensart ja fürwahr nichts zu tun.”
 

“Fürwahr”, äffe ich ihn nach. “Und du wirfst mir vor, geschwollen daherzureden?”

Kann man ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen?

Mir missfällt es zwar, schon wieder derart schnippisch zu sein, aber er lässt mir einfach keine andere Wahl. Er zwingt mich buchstäblich dazu, mich so zu verhalten.
 

“Ach, Milly.”

Warum muss er mir schon wieder auf die Pelle rücken? Ich sehe genau, wie seine Züge immer klarer werden und sein Bein nahe den Meinen kommt. Konzentriert atme ich ein und aus und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, was diese seine Geste in mir auslöst.

Ich lasse meinen Blick zurück auf mein Buch schweifen und starre die schwarzen Lettern an, ohne ihren Sinn zu begreifen.

“Komm schon. Sag es. Für mich.”

Seine Stimme wird immer liebreizender. Nur nehme ich ihm nicht ab, dass er es so meint, wie er es sagt.
 

“Es.”
 

Als er unerwartet zu lachen beginnt, schaue ich verdattert auf. Der Witz ist alt, wie kann man nur so darüber lachen?
 

“Du bist schlagfertiger als ich dachte, das muss man dir lassen”, erklärt Joshua gutgelaunt, nachdem er sich wieder beruhigt hat. “Und das darfst du ausnahmsweise als Kompliment ansehen.”
 

“Wie großzügig.”

Auch wenn ich es nicht zeige, seine Worte rühren mich zutiefst. Nicht umsonst kribbelt und krabbelt es in und auf mir überall.
 

“Aber ich warte noch immer auf die korrekte Antwort von dir. Du kannst mir das natürlich auch gleich auf andere Art und Weise mitteilen. Das überlasse ich ganz dir.”

Obszön lächelnd beugt er sich vor und streicht mir mit einer Hand durchs Haar.
 

“Ach, das meinst du.”

Mit aller Macht versuche ich, die Berührung in meinem Kopf aufzublenden. Wenn ich mich ihr jetzt hingebe, dann werde ich das definitiv bereuen.

Ich rufe mir in den Sinn, dass er kein Benehmen hat und mir ständig irgendwelche Gemeinheiten an den Kopf wirft.

“Das war wirklich nett von dir, mich zu wecken. Zwar weiß ich nicht, warum du das getan hast, aber ich danke dir.”
 

Abrupt löst er sich von mir und hinterlässt eine Kälte, die ich so nicht erwartet habe.
 

“Also, Milly, was machen wir heute?”

Er reibt die Hände und wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.

“Es ist Freitag abend und der Abend ist noch jung.”
 

Ja, ich bin froh, dass nun wieder ein Meter Abstand zwischen uns herrscht, doch das Frösteln, das mich durchzuckt, ist nicht das, was er zurücklassen sollte.
 

Gewiss nicht.
 

Vielleicht ist Weggehen und unter Leute gehen ja heute genau das Richtige.
 

“Gut. Fahren wir in die Stadt.”



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