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Heilloser Romantiker

von

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Kapitel 60

Kapitel 60
 

Vorsichtig stupste Joe seinen Freund mit seinem rechten Zeigefinger an. Schon seit einer halben Stunde versuchte er ihn wach zu bekommen, denn das Frühstück wartete bereits auf sie. Er war kurz nach neun wach geworden und hatte sich gleich daran gemacht, frische Brötchen beim Bäcker zu holen und Tee zu kochen. Und nun lag er schon über dreißig Minuten neben Rick, der keinen Anschein machte, jemals aufstehen zu wollen. Dabei lag der herrliche Duft von Essen bereits im Schlafzimmer und Joes Magen machte sich lautstark bemerkbar, wohl aber nicht laut genug, um den Kleineren damit wecken zu können.

Er ließ immer wieder eine Hand durch Ricks Haar streichen, hauchte ihm ab und an einen Kuss auf die Wangen oder die Stirn, doch alles war vergebens. Weder regte sich der Dunkelhaarige noch erwiderte er die Berührungen.
 

/Deine Lippen sehen dermaßen einladend aus, dass ich am liebsten die ganze Zeit an ihnen hängen würde. Solch einen Tanz wie gestern können wir gerne jederzeit wiederholen…/
 

Ein süffisantes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und seine Augen waren sofort mit einem glänzenden Schimmer versehen. Langsam legte er seinen Mund auf den des unter ihm Liegenden und leckte alsbald mit seiner Zunge über das Lippenpaar, das sich ihm sichtlich darbot. Zumindest war er der Meinung, dass es nur darauf wartete, liebkost zu werden.
 

/Ich weiß, dass ich mich zurückhalten sollte, um dir erst einmal die Möglichkeit zu geben, dich von all dem Schock zu erholen, aber ich habe noch nie einen Menschen so begehrt wie dich und ich weiß wirklich nicht, wie ich mich auf Abstand halten kann. Verrate mir, wie ich das anstellen soll, wenn mich bereits der Gedanke an dich in eine Sehnsucht versetzt, die unerträglich wird, wenn sie nicht gestillt wird.

Du hast mich dazu gebracht, die weiblichen Reize hinter dich zu stellen, einen Mann zu lieben, obwohl mir das vorher mehr als nur fern gewesen war. Niemals hatte ich damit gerechnet, je homosexuelle Neigungen zu haben und insbesondere auszuleben. Zwar habe ich dich niemals wegen deiner Liebe zu Männern verachtet oder fand das in anderer Weise abstoßend und doch konnte ich nicht ahnen, dass ich einmal derjenige welche sein würde, der mit dir alt und grau werden möchte. Der dich in Sphären schweben lassen möchte, die dich nach mehr lechzen lassen./
 

Gerade als er dabei war, seine Hände unauffällig an Ricks Seiten entlang gleiten zu lassen, knurrte sein Magen. Er verdrehte die Augen und stupste seinen Freund erneut mit einem Finger an die Stirn.
 

„Komm schon, Rick. Sonst verhungere ich noch…“
 

/… denn ich darf nicht mal von dir zehren./
 

Allmählich wurde er ein wenig brummig, denn allerspätestens dann, wenn sich sein Magen zu Wort meldete, brauchte er was zwischen den Zähnen. Doch ohne Rick wollte er nicht mit essen anfangen, denn alles stand für sie beide bereit und wartete nur noch darauf gemeinsam verzehrt zu werden.
 

„Ich kann auch härtere Bandagen auffahren“, meinte er schmunzelnd, auch wenn er es unterlassen würde, da das für eine Besserung des Zustandes des Kleineren gewiss nicht von Nutzen wäre.

Aber allein die Drohung schien gefruchtet zu haben, denn Ricks Lider begannen zu zucken, ehe Joe in ein dunkles Blau blicken konnte, das noch ziemlich verschlafen wirkte.
 

„Guten Morgen, Schlafmütze“, grinste Joe und forderte sogleich einen wilden Kuss ein, der den anderen sichtlich überforderte, denn er fing mittendrin zu gähnen an.

„Na, das ist ja mal eine Begrüßung“, murrte der Blonde und ließ sich rücklings neben seinem Freund auf dem Bett nieder.
 

„Du bist schon angezogen?“, fragte Rick ungläubig und richtete sich ein wenig auf, um sich Joe von oben bis unten ansehen zu können.
 

„Und habe für dich Frühstück gemacht.“
 

Die Augen des anderen wurden immer größer, ehe er zu lächeln begann. „Und die Sonne scheint.“
 

Verwirrt sah Joe aus dem Fenster auf einen Regenschleier, ehe er Rick knuffte. „Nein, im Ernst. Steht schon alles in der Küche bereit.“
 

Wohlig seufzte Rick auf, als er seinen Kopf auf die Brust des Größeren bettete. „Ich danke dir für alles.“
 

Während Joe nicht umhin konnte, eine Hand ständig auf Ricks Rücken auf- und abzustreifen, verwandte er die andere dazu, das Kinn des anderen anzuheben. Alsbald sahen sie sich fest an.

„Bitte, bedanke dich nicht ständig. Weder bei mir noch bei meinen Eltern. Allein aus dem Grund, weil ich dich gern habe, würde ich dir eine Freude machen wollen. Und da du niemand bist, der das als selbstverständlich ansieht oder es nicht würdigt, bist du keineswegs zu Dank verpflichtet. Und nun küss mich endlich richtig.“

Neckisch hob er eine Braue an und wartete darauf, dass sich Rick zu ihm hinabbeugte, um ihm endlich den verdienten Morgenkuss ohne lästige Unterbrechungen zukommen zu lassen. Aber dieses Mal war sein Magen der Störenfried und er seufzte ergeben in Ricks Mund hinein.

„Gewonnen“, stöhnte er dann. „Dann lass uns endlich was essen.“
 

Bevor sie allerdings wirklich in die Küche gingen, genossen sie noch ein paar Minuten lang die einvernehmliche Nähe des jeweils anderen. Gerade als es den Anschein hatte, dass Rick niemals entführt worden war und Joe niemals irgendwelche Rätsel hatte lösen müssen, stand der Dunkelhaarige auf und schlurfte aus dem Zimmer.
 

/Noch steckt die Angst in deinen Gliedern. So gut du sie auch verbergen magst, ich spüre sie dennoch. Zum Glück bist du nicht in dem Moment aufgewacht, wo ich einkaufen war…/
 

Nachdem sich Joe auch in der Küche eingefunden hatte, ließ er sich seinem Freund gegenüber am Tisch nieder und stopfte sich nebenbei gleich ein paar Weintrauben in den Mund. Mit ein paar frischen Brötchen hätte er sich niemals zufrieden gegeben, weswegen er noch schnell einen Zwischenstopp im Supermarkt gemacht hatte.

„Ich habe alles da: Marmelade, Nutella, Honig, Käse, Wurst, Cornflakes, Milch, Tee, Joghurt, Äpfel und Weintrauben.“
 

„Die du schon halb aufgegessen hast“, erwiderte der Dunkelhaarige lächelnd. „So schnell wie du isst, habe ich gar keine Chance, was abzubekommen. Ich frage mich ernsthaft, wie du das machst. Du redest und dennoch schwindet das Essen in Lichtgeschwindigkeit.“
 

Joe griff nach dem letzten Treubel Trauben und zupfte sie feinsäuberlich ab, ehe er mit einer von ihnen zwischen den Fingern vor Ricks Gesicht herumwedelte.

„Mund auf!“
 

„Und was ist, wenn ich keinen Appetit auf sie habe?“

Dennoch gehorchte er dann und spürte alsbald zwei Finger von dem Blonden in seinem Mund, die die Weintraube sachte auf seine Zunge legten. Ehe Joe sie zurückziehen konnte, schlossen sich die Lippen wieder und ließen ihn erst nach und nach wieder hinaus gleiten. Kauend fixierte er ihn.

„Lecker.“
 

„Ich habe hier noch viel mehr Leckereien“, erwiderte der Größere und griff nach dem Glas Honig. „Süß und-“
 

„Wage es ja nicht!“, warf Rick ein und tadelte ihn mit einem abwertenden Blick. „Wenn du es jemals versuchen solltest, schmiere ich dich damit ein und setz’ dich so vor die Tür und hoffe auf einen ganzen Wespenschwarm, der sich auf dich stürzt.“
 

„Das würdest du nicht tun.“
 

„Willst du das wirklich austesten? Dann komm’ her, aber sobald ich einen Tropfen von dem Zeug auf mir habe, kannst du dich gar nicht schnell genug in Acht nehmen.“
 

„Spielverderber.“
 

„War ja klar, dass das jetzt kommt, denn irgendwie musst du ja von deiner Feigheit ablenken.“

Rick nahm sich ein Brötchen aus dem Korb und schnitt es auf, Joe dabei vollkommen ignorierend.
 

/Aber die Idee hatte schon was für sich…

Vielleicht kann ich das doch irgendwann mal ausprobieren./
 

„Vergiss es!“
 

„…“
 

„So wie du mich angeschaut hast, war klar, was du denkst. Dazu brauche ich meine Augen gar nicht auf dich richten, dein verträumter Blick war überdeutlich zu spüren. Und nun iss weiter, sonst muss ich mir Sorgen machen, dass du noch vom Fleisch fällst.“

Endlich begann Rick wieder zu grinsen und baute zwei Brötchen auf Joes Teller.
 

„Jawohl der Herr.“
 

„Sag’ mal…“, begann Rick nach einer Weile. „Können wir heute einen Spaziergang machen? Ich möchte nicht noch einen Tag zwischen Wänden verbringen, die mich einzuengen drohen.“
 

„Wir können ja zum Krankenhaus laufen, denn hätten wir gleich ein vernünftiges Ziel.“
 

„Steven meinte…“

Er brach ab und nippte stattdessen an seiner Tasse Tee.
 

„Ich kann meine Vorwürfe auch nicht einfach abstellen. Das braucht seine Zeit, denke ich, zumal es wirklich mein Fehler war.“
 

„War es nicht.“
 

„Doch war es! Aber lass uns deswegen nicht streiten, ja? Wir können uns beide nicht einfach die Schuld absprechen, denn dazu müssten wir uns selbst verzeihen. Und das ist eben nicht leicht.“

Schulterzuckend biss Joe ein Stück von seinem Brötchen ab.

„Aba du hascht keine Schuld.“

Er räusperte sich.

„’Tschuldige, das kann ich mir wohl wirklich nicht mehr abgewöhnen.“
 

„Hätte ich mich niemals geoutet, würde ich vielleicht jetzt noch zuhause wohnen und hätte keinen gegen mich.“

Die Lippen nun fest aufeinander gepresst, las er mit einem Finger die Brösel auf seinem Teller auf, um sie wenig später wieder auf ihn fallen zu lassen.
 

„Es wird immer Menschen geben, die dir Böses wollen… Und außerdem hättest du niemals glücklich werden können, wenn du deine Neigungen unterdrückt hättest. Nehmen wir mal an, du hättest eine Freundin nach Hause gebracht, vielleicht hätte sie deinem Vater auch missfallen. Wissen wir es? Nein!“

/Aber dass er dich entführt haben soll, ist immer noch eine wagemutige Spekulation…/

„Wir können gerne alle möglichen Konjunktive durchspielen, doch an der Vergangenheit können wir nun mal absolut nichts ändern.“

/Was ich selber gerne täte.

Ich weiß sehr gut, wie du dich fühlst, denn mir ergeht es ja nicht anders. Und doch möchte ich, dass du dir vergeben kannst, damit du dich nicht mehr als Grund für die widerwärtigen Spielchen anderer Leute ansiehst. Wenn es dich nicht erwischt hätte, dann eben einen anderen. Denen ist es doch gleichgültig, wen sie quälen können, Hauptsache, sie können ihre abartigen Triebe ausleben…/
 

„Ich gehe mal ins Bad.“

Gesenkten Hauptes stand der Dunkelhaarige auf und verließ ohne weitere Worte die Küche.
 

/So gerne ich dir hinterher gehen würde, ich sollte dich jetzt mit deinen Gedanken alleine lassen, auch wenn sie mir garantiert nicht gefallen…

Auch du brauchst ein wenig Ruhe, um über die Lage Herr zu werden. Und ich gebe dir so viel Zeit, wie du benötigst. Seien es ein paar Tage, Wochen oder Monate.

Nur hoffe ich, dass du es irgendwann schaffst, mit all dem, was war, leben zu können, ohne ständig neuen Zweifeln zu verfallen./
 


 

„Wir können.“
 

Etwa eine halbe Stunde später kam Rick wieder in die Küche und Joe hatte bisweilen aufgeräumt, um die Zeit totzuschlagen.
 

„Du mutierst ja noch zum Hausmann.“

Stetig kam Rick näher und legte seine Arme um seinen Freund.

„Kann ich das jeden Morgen haben?“
 

Joe küsste ihn auf die Nasenspitze.

„Gewöhne dich nicht dran.“

Noch einen Kuss hauchte er auf seine Stirn.
 

„Ich koche und du putzt hinter mir her. Wie klingt das?“
 

Lachend sah Joe ihm tief in die Augen. „No way.“
 

„Mhh… Vielleicht lass ich mich dann doch mal dazu überreden, nackt zu kochen.“
 

„Vor ein paar Wochen noch hast du das vehement abgelehnt.“
 

„Nunja, ich würde das auch nur tun, wenn du bis zu unserem Lebensende dafür für mich abspülst, die Wäsche wäschst und meine Wohnung sauber hältst.“
 

„Soll ich dir vielleicht auch noch die Schuhe putzen?“
 

„Das würde natürlich auch noch zu deinen Pflichten gehören.“
 

„Dann reiße ich dir lieber die Kleidung vom Leib, während du kochst“, schmunzelte der Blonde.
 

„Gehen wir, bevor meine Dusche eben völlig umsonst war.“
 

Da Joe Rick festhielt, konnte er nicht wie gewollt gehen, sondern spürte sogleich bestimmte Lippen auf sich, die ihn wild umwarben. Atemlos ließ ihn der Größere anschließend stehen und rief ein „Kommst du endlich?“ aus dem Flur hinterher.
 

„Rache ist süß“, meinte Rick beiläufig, als er an Joe vorbei aus der Wohnung trat.
 

„Ich bin schon darauf gespannt, was du dir einfallen lässt.“

Behände schloss er die Tür und eilte ebenfalls wie sein Freund die Treppen hinab.
 

Obgleich es immer noch in Strömen regnete, genoss Rick schon den ersten Atemzug an der frischen Luft. Schnee wäre ihm um einiges lieber gewesen als dieses kalte Nass, doch schon beim Gedanken an die tanzenden Flocken lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
 

/Erst nehmt ihr mir die Freiheit und nun noch die Freude an den herrlichen Eiskristallen. Es war der erste Schnee dieses Herbsts und ich durfte nicht einmal mit ansehen, wie er vor sich hinschmilzt. Immer, wenn ich mich an etwas erfreue, wird es mir genommen./
 

„Das ist nicht fair!“
 

„Was?“, fragte der Blonde.
 

„Dass…“ Er umklammerte den Regenschirm, der groß genug für sie beide war, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Eigentlich hielt Joe den Schirm, doch Rick hatte auf die Schnelle etwas gebraucht, um seine Aggression, die er unvermittelt verspürt hatte, zu mäßigen.

„Dass ich… Verdammt! Immerzu werde ich in irgendeiner Form an diese widerlichen Typen erinnert. Sie nehmen mir alles, was mir lieb und teuer ist, und ich kann nichts dagegen machen!“
 

„Das wird noch eine Weile dauern, ehe du nicht mehr ständig Assoziationen zu ihnen hegst. Aber…“

Aber? Im ersten Moment fielen Joe keine passenden Argumente ein, und im nächsten auch nicht.

„Du hast ja mich“, meinte er dann ein wenig verlegen und legte einen Arm um Ricks Hüfte. Eigentlich sollte das scherzhaft gemeint sein, doch nachdem Rick seinen Kopf an seine Schulter lehnte, kam ihm das selbst nicht mehr humoristisch vor. Denn an sich stimmte seine Aussage ja; der Kleinere hatte vor allem ihn und niemanden sonst, so traurig das sein mochte. Er zeigte auf viele Menschen, insbesondere auf ältere, eine große Wirkung, und doch war er die einzige wahre Bezugsperson.

„Die anderen werden auch noch entdecken, dass du eine wundervolle Person bist. Meine Eltern zum Beispiel haben das bereits erkannt und werden sich gleich freuen dich zu sehen.“
 

/Immerzu versucht Joe mich aufzumuntern und dennoch dringen seine Worte nicht bis in mein Herz hinein. Seine Nähe im Gegenzug hat diesen Effekt, denn sie erfüllt mich mit einer Wärme, die jeden Moment zu einer wahren Hitzeflut ausarten kann. Dazu braucht er mir nur seine Zunge aufzudrängen…/
 

Plötzlich fiel Ricks Herzschlag für ein oder zwei Schläge aus. Kräftig schluckte er, um nicht das Gefühl zu bekommen, sich übergeben zu müssen. Mit zu Fäusten geballten Händen sackte er halb in die Knie und rang schwer nach Atem.

„Versprich mir,“ meinte er schwach zu seinem Freund, „dass mich Alexandros nie wieder derart gierig küssen wird. Dass er mir nie wieder seine ekelhafte Zunge aufdrängt und ich glauben muss jeden Augenblick ersticken zu müssen.“
 

Sorgenvoll blickte Joe Rick an und wusste, dass er es nicht konnte. Ein solches Versprechen konnte er ihm, so gerne er es täte, nicht geben. Keiner wusste, was die Zukunft brachte, und er auch nicht.

„Tut mir leid, das kann ich nicht“, würgte er trocken hervor.

Ricks Körper zitterte in seinen Armen und ohne seinen Halt wäre er zweifelsohne zu Boden gesunken.

Ohnmächtig irgendwelcher probaten Mittel musste der Größere zusehen, wie er mit sich rang und krampfhaft versuchte, die Bilder von Alexandros loszuwerden.
 

„Ich… weiß… dass du das nicht kannst, aber ich hätte es verflucht gerne gehört.“

Ricks Gesichtsausdruck drückte richtige Wehmut aus.

„Es aus deinem Mund zu hören, hätte mich dennoch als Lüge erreicht. Und doch wollte ich es so. Wie töricht von mir.“
 

Der Regen prasselte rundherum um sie hernieder und verjagte viele Seelen, die ansonsten an ihnen vorbeigekommen wären. Im Schutz des Laubs mochten etwaigen ein paar Tiere zu ihnen spähen, aber das war schon das einzige Leben ihrer Umgebung, das sich ihnen darbot. Derart verlassen und kahl hatte der Park selten gewirkt. So trist, als ob er auch sie beide nicht beherbergen wolle.
 

„Nein, das ist es nicht.“

Joes Versuch, ihm die Verzweiflung zu nehmen, wurde abermals abgewehrt.
 

„Du weißt, dass es wahr ist, also streite es nicht ab.“
 

Nun war der Blonde in der Tat ratlos und konnte nichts außer Rick auf den Beinen halten.
 

Scharfer Wind blies ihnen die unangenehme Nässe ins Gesicht. Joe kniff seine Augen fest zusammen, um sich gegen das seltsame Gefühl von Regen in ihnen zu erwehren.
 

/Immer spiegelt die Natur mein Inneres wider… zumindest weint sie immer dann, wenn mir danach zumute ist. Ein Bild nach dem anderen jagt mich und immer dann, wenn ich denke, einmal frei atmen zu können, kommt das nächste und treibt erneute Angst und Wut in meine Glieder. Mein Herz schreit nach Ruhe, nach Frieden… Aber allmählich bezweifle ich, dass es ihn jemals bekommen wird./
 

„Warum kommen solche Menschen wie Serrat oder auch Alexandros fast immer ungeschoren davon?“

Erwartungsvoll hob Rick seinen Blick an und sah kurz in grüne Tiefen, die für einen Moment preisgegeben wurden, ehe der nächste Windstoß heraneilte.
 

„Weil sich Menschen mit nichts zufrieden geben können. Sie streben nach immer mehr Macht, auch wenn das bedeutet, sich kurzzeitig mit ihrem Feind verbrüdern zu müssen.“

Wenngleich Joe noch anfügen wollte, dass diese Männer vielleicht doch noch ihr blaues Wunder erleben durften, verstummte er.
 

„Das heißt, wir haben keine Mittel sie zu brechen.“

Resigniert seufzte der Dunkelhaarige auf.

„Dann möchte ich wenigstens noch einmal hören, dass du mich liebst.“
 

„Das kann ich dir tausend Mal sagen, wenn du das möchtest… Ich liebe dich“, hauchte er in Ricks Ohr hinein, der allmählich zu beben aufhörte.

„Ich liebe dich“, wiederholte Joe noch einmal.
 

Rick brauchte noch ein wenig, ehe sie weiter gingen, doch als er einen Fuß vor den anderen setzte, wirkte er wesentlich entspannter.

„Wollen wir Steven ein Buch mitbringen?“, fragte er, als sie die Innenstadt durchquerten.
 

„Du hast wie immer gute Ideen“, zwinkerte der Blonde und zog ihn schon am Arm in die nächste Buchhandlung hinein.
 


 

„Ich hoffe, es wird ihm gefallen.“

Unschlüssig blieb Rick vor Stevens Zimmertür im Krankenhaus stehen, die Augen auf den braunen Einband in seinen Händen gerichtet.
 

„Er bildet sich gerne weiter, also wird das schon das Richtige sein. Und nun mach schon auf, er beißt dir wohl kaum den Kopf ab, wenn es nicht nach seinem Geschmack sein sollte.“
 

„Nicht?“ Ganz naiv schaute er zu ihm.
 

Grinsend überwand Joe die wenigen Zentimeter und küsste ihn sanft. „Und wenn, dann flicke ich dich wieder zusammen.“
 

„Das will ich auch hoffen“, meinte der Dunkelhaarige nun auch lächelnd und klopfte sogleich an.

Eine lebendige Stimme bat sie um Einlass und als sie das Zimmer betraten, konnten sie wahrlich einen recht munteren Steven erblicken.

„Hey, du strahlst heute ja förmlich.“
 

„Dazu habe ich auch genug Anlass, denn nun ist die Familie wieder vereint.“
 

Joe sah sich nach allen Seiten hin um. „Wo ist denn der Rest?“
 

„In der Cafeteria, aber sie dürften demnächst zurückkommen.“
 

„Hallo Steven“, meinte Rick nun und trat auf ihn zu. „Wir haben dir eine Kleinigkeit mitgebracht.“

Er überreichte ihm das kleine Buch, das vom anderen interessiert inspiziert wurde.
 

„Der weiß grad nicht, ob er weinen oder lachen soll“, flüsterte Joe seinem Freund ins Ohr.

„Habe ich Recht, Dad?“
 

„Bitte?“

Mit einem seltsamen Blick sah er auf.
 

Joe lachte. „Und, ist das was nach deiner Fasson?“
 

„Meint ihr wirklich, dass ich alter Mann noch Latein lernen sollte?“

Dennoch blätterte er bereits in dem Buch herum.
 

„Naja…“, versuchte sich Rick zu erklären, wurde aber jäh vom Größeren unterbrochen.
 

„Sieh es doch mal so: Dir fällt hier doch die Decke auf den Kopf, du hast gerne ein breites Grundwissen und genau darum ist das das perfekte Geschenk.“ Neckend fügte er noch an: „Und so alt bist du nun auch noch nicht, als dass du dir keine Vokabeln mehr einverleiben könntest.“
 

„Einer toten Sprache!“
 

„Was macht das schon? Vielleicht kommst du ja mal in die Situation, hochintellektuell mit jemandem Konversation betreiben zu müssen, wer weiß. Und spätestens dann wirst du uns dankbar sein, dass wir dir den Einstieg ermöglicht haben.“
 

Alle drei begannen herzhaft zu lachen.

„Ja sicher“, meinte Steven mittendrin und schmunzelte weiter.
 

„Ich wusste doch, wir hätten den Krimi nehmen sollen“, brummelte Rick kleinlaut.
 

„Ach was“, erwiderte Steven. „Davon hatten wir in der letzten Zeit doch alle genug, oder nicht? Zudem finde ich eure Intention gar nicht mal schlecht, denn ich bin wirklich immer auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Und ich nehme sie an.“
 

Erleichtert lehnte sich Rick an seinen Freund und wollte ihm etwas zuraunen, doch genau in diesem Moment ging die Tür auf, hinter der laute Stimmen rege miteinander sprachen.

„Joe!“, rief Rebecca, als sie ihren Bruder erkannte, und lief stürmisch auf ihn zu.
 

„Hey.“

Er erwiderte ihre Umarmung.
 

„Hi Rick“, meinte sie dann zu dem Kleineren. „Schön, dass es dir gut geht.“
 

Ein wenig verlegen gab er ihr die Hand. „Hi Rebecca.“

Dass ihm wirklich keiner die Schuld zusprach oder zumindest sich nicht anmerken ließ, dass er eventuell sauer oder wütend auf ihn war, war ihm groteskerweise unangenehm. Irgendwie hätte er besser damit umgehen können, wenn ihn wenigstens Joes Schwester verbal konfrontiert hätte, denn dann hätte er sich einmal aufrichtig entschuldigen können oder was auch immer. Aber dieses immense Verständnis und die Sorge, die ihm entgegengebracht wurden, berührten ihn schlichtweg peinlich, da er nicht wusste, ob alles nur gespielt war oder sie ihm wirklich nichts vorwarfen. Und wenn letzteres der Fall war, dann entsprach das zu viel Behaglichkeit auf einmal.

Überhaupt diese ganze familiäre Atmosphäre stand dermaßen im Gegensatz zur Trostlosigkeit und Abscheu seiner Entführung. Fünf Tage lang hatte er nur Grausamkeiten erlebt; er war von jetzt auf nachher seinem Leben entrissen, sexuell belästigt worden und hatte keinerlei Freiheiten oder andere Selbstverständlichkeiten gehabt. Und nun fand er sich plötzlich in solch einer Idylle wieder. Es glich fast schon beschönigender Fantasie, entsprungen aus Angst vor der Wahrheit. Nur bildete er sich nichts von all der Harmonie ein, die ihn umgab. Sie war echt und keinem Hirngespinst entfleucht, um sich am Leben zu erhalten.

Ein wenig benommen besah er sich jeden einzelnen – die frohen Gesichter, die lebhafte Gestik und die unfassbare Leichtigkeit, regelrechte Beschwingtheit, die einen mitriss.

Mit geschlossenen Lidern kuschelte er sich dann an Joe und schlang sich beide Arme von jenem um seinen Körper.
 

„Möchtest du raus?“, hauchte der Blonde, so dass nur er ihn verstehen konnte.
 

„Ganz im Gegenteil“, flüsterte Rick zurück.
 

In leichtem Klang des Herzens das Weiß der Schwingen entfacht,

hinauf, hinab, nahe dem ersehnten Ziel der seligen Pracht.

In beflügelter Harmonie des Herzens ein Licht zum Lodern gebracht,

von neuem wurde ein Docht zum unbändigen Feuer gemacht.
 

In kurzweiligem Frieden des Herzens Luft zum Atmen erhascht,

nach und nach vom süßlichen Aroma des Lebens genascht.
 

In steter Ruhe der Gegenwart den Kuss der Freiheit erlangt,

sicherlich nicht für immer die Zunft des Herzens gebannt.
 


 

„Hast du meinen Schlüssel irgendwo gesehen?“

Hektisch eilte Joe von einem Zimmer zum nächsten, dabei immer wieder einen nervösen Blick auf seine Armbanduhr werfend. Die Arbeit rief und er war ohnehin schon zu spät dran.

„Wo habe ich den denn hingelegt?“
 

„Ich habe ihn!“, drang es laut aus der Küche.
 

„Gott sei dank“, keuchte Joe und nahm Rick den Schlüsselbund ab. „Du bist mein Retter.“

Leidenschaftlich drückte er seine Lippen auf das andere Paar.

„Kann ich dich denn wirklich alleine lassen?“, fragte er dann leise.
 

Mit den Augen rollend schob der Dunkelhaarige ihn zwei Meter gen Tür. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Außerdem bist du mir das ganze Wochenende über nicht von der Seite gewichen. Allmählich wird es Zeit, dass ich wieder aus eigener Kraft Spaß am Leben bekomme.“
 

„Mmhhh…“
 

„Wolltest du nicht schon vor zehn Minuten weg sein?“
 

„Mist… Mach’s gut, mein kleiner Romantiker.“

Joe holte sich noch einen kleinen Abschiedskuss ein, bevor er aus der Wohnung eilte.
 

Seufzend ließ sich Rick auf einem Stuhl nieder und starrte eine ganze Zeit lang zur Tür, durch die sein Freund gerade entschwunden war. Seit seiner Befreiung waren das mitunter die ersten Minuten, die er ganz allein verbrachte. Joe war ihm in der Tat die letzten Tage auf Schritt und Tritt gefolgt; es hätte nur noch gefehlt, dass er ihm auf die Toilette nachgegangen wäre, doch das hatte er sich glücklicherweise gerade noch verkneifen können.

Rick hatte diese Aufmerksamkeit und Nähe sehr genossen, doch irgendwann wurde selbst die größte Liebe einmal zu viel. Laut atmete er stetig ein und aus und erfreute sich daran, mal wieder gänzlich allein zu sein. Seine Gedanken waren bei Weitem noch nicht wieder geordnet, obgleich ihm die Zeit mit Joe sehr viel von dem zurück gebracht hat, was er so schmerzlich vermisst hatte und was ihm auf brutalste Art und Weise zerstört worden war. Doch mit ihm konnte er nun mal nicht vollkommen in sich gehen und sich selbst danach fragen, ob es ihm wahrlich gut ging oder er sich das nur vormachte. Am Vorabend hatte er Joe immer wieder versichert, dass er arbeiten gehen solle und ihn für ein paar Stunden verlassen könne, dass das kein Problem sei. Und nun musste er herausfinden, ob dem auch so war. Ob er wirklich schon so weit war, wie vorher leben zu können und selbst bald wieder arbeiten zu gehen.

Eines wusste er bereits sicher: Der Mensch von vor der Entführung konnte er nicht mehr sein noch werden. Es hatte ein neuer Lebensabschnitt begonnen, doch über seinen Inhalt und seine Form musste er sich noch gewahr werden.
 

/Ich kann mich aber nicht auf ewig in Joes Wohnung verkriechen und ihm auf diese Weise gar zur Last fallen. Es ist für mich an der Zeit, mich wieder in meinen gewohnten Ablauf einzufinden, zumindest was meinen Job und das Zugehen auf andere Menschen anbelangt.

Wenn ich mich von nun an vor jedem verschließe, mich von anderen Personen distanziere, dann kann ich mich gleich von allem lossagen…/
 

„Herumsitzen bringt doch nichts…“
 

Entschlossen erhob er sich und schaute anschließend orientierungslos umher. Was sollte er tun? Womit sollte er beginnen, um sich in die Realität zurückzuversetzen?
 

/In drei Tagen ist auch meine Krankmeldung passé und dann heißt es für mich, den Alltag wieder aufzunehmen. Vielleicht sollte ich mich einfach darauf freuen…/
 

Freuen…
 

Hatte er sich gefreut, als er Joe in dem Haus dieser Wahnsinnigen gesehen hatte? Hatte er sich gefreut, dass Steven ihm keinerlei Schuld zugesprochen hatte? Hatte er sich gefreut, dass ihn Joes gesamte Familie mit offenen Armen empfangen hatte?

Was war es denn in Wahrheit gewesen, das er gefühlt hatte?
 

Er glaubte, es war Erleichterung gewesen. Eine Erlösung, dass er endlich den Fängen kranker Kerle und eigenen Vorwürfen entkäme. Aber zu ernsthafter Freude war er nicht wirklich imstande gewesen.

Ein leichtes Zucken umspielte nun seine Mundwinkel. Sollte er lachen oder weinen? Zu was war ihm eher zumute?
 

Er konnte es schlichtweg nicht beantworten. Einerseits gab es freudenähnliche Züge in seinem Inneren, die auf Entspannung und die Anfänge von neuem Glück hinwiesen, und andererseits wallten ausgewachsene Zweifel in ihm, ob er sich je wieder wahrhaft frei fühlen konnte – frei bezüglich der entwundenen Tragik.

Dass er sich nicht darüber freuen konnte, dass Joe ihm so viel Liebe gegeben hatte, ließ ihn in seiner eben noch erlangten Entschlossenheit verzagen. Mit in Falten gelegter Stirn schlurfte er durch den Raum und begann damit, den Frühstückstisch abzuräumen. Wie in Trance stellte er Teller und Tassen in die Spüle, räumte Butter und Marmelade in den Kühlschrank. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Joe wegzuschicken…
 

Nach einer halben Stunde legte er sich zurück ins Bett, wo er sofort von Joes Geruch umgeben wurde. Jeglicher Tatendrang war aus seinen Gliedern gewichen und er wusste nicht recht, wie er ihn zurückbekommen sollte. Motivation, einmal erlangt, wurde doch sowieso meist wieder im Kern erstickt. Ebenso die Hoffnung, die man sich mühsam einredete.

Mit leeren Augen starrte er zur Decke und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Eigentlich wollte er sich nicht der Melancholie hingeben, die immer wieder sein Herz umwarb, aber gerade konnte er sich ihr nicht erwehren. Mit Joe hatte sich auch das Strahlen, das in ihm entfacht war, verabschiedet. Und diese seine Abhängigkeit war erschütternd. Er musste lernen, auch ohne Joe wieder Fuß zu fassen.
 

„Irgendwie…“, hauchte er in die kalte Luft hinein, die durch das gekippte Fenster ins Zimmer drang.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  inulin
2007-05-14T14:36:46+00:00 14.05.2007 16:36
Wie geil. XD
Joe küsst Rick inbrünstig und Rick gähnt. *lach*
Ich hab mich fast weggeschmissen. Wetten ich muss da jedes Mal dran denken, wenn ich gähne? X3

Also, du hast in diesem Kapitel wieder mit Worten gespielt, find ich... Unglaublich. Vor allem dann auch noch der Spruch dazwischen. Total schön.
Sicher dass du Mathe studierst und nicht irgendwas mit Lyrik, oder so? ^^
Ich freu mich auf den nächsten Teil. ^^


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