Träume
NEON GENESIS EVANGELION : DIMENSIONEN basiert auf purer
Fantasie. Sämtliche Ähnlichkeiten mit realen Personen oder
Begebenheiten sind reiner Zufall.
Sämtliche Urheberrechte und Copyrights der originalen NEON
GENESIS EVANGELION liegen bei GAINAX.
Autor : Thomas Ryssel, Radebeul 2001
EMail : ThomasRyssel@web.de oder eastsoft@tripod.de
Homepage: http://members.tripod.de/EastSoft
WARNUNG: Dieses Kapitel besteht zu ca. 99.89% aus Spoilern (was
heißt das eigentlich auf Deutsch? Ich weiß nur, was es
ist ;-).
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Neon Genesis Evangelion
Dimensionen
Buch 1: Feinde
Kapitel 3: Träume
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27
"AUFWACHEN!". Verschlafen rieb Shinji sich die Augen,
bevor er den Blick auf die Quelle des Lärms richtete.
"Misato?" fragte er nachdem er herzhaft gegähnt hatte "ich
bin müde. Lass mich noch ein wenig schlafen." Ohne eine Antwort
abzuwarten, drehte er sich wieder um und versuchte, erneut
einzuschlafen.
Bevor er aber auch nur den geringsten Erfolg damit
verbuchen konnte, meldete sich Misato wieder zu wort:
"Aufstehen, du Schlafmütze! Du weist genau, dass heute ein Test
ansteht."
"Jetzt schon?"
"Der Test beginnt um zehn Uhr und jetzt ist es schon halb
zehn."
"WAS? Schon so spät?" Mit einem Mal war Shinji wach. Bevor
Misato in der Lage war zu reagieren, sprang er aus dem Bett und
rannte aus dem Zimmer.
"Er wird sich nie ändern." dachte sie. "Ach ja, Shinji...!",
doch der war schon außer Hörweite.
"Hmm... Das wird wieder Ärger geben." Misato konnte sich
ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Shinji stürmte derweil wie ein Verrückter ins Bad, wo er
beinahe auf den Fliesen ausrutschte. Am Waschbecken angekommen,
drehte er sofort das kalte Wasser auf, um sich erst einmal so
richtig zu erfrischen.
Doch nachdem er sich das Gesicht gewaschen hatte, bemerkte
er, dass plötzlich seine linke Wange enorm schmerzte.
Verwundert
blickte er sich um und bemerkte dabei eine äußerst wütend
blickende Asuka, deren weibliche Reize nur spärlich von einem
Handtuch bedeckt wurden.
"WAS FÄLLT DIR EIGENTLICH EIN!" wetterte sie los. "DU
PERVERSLING!"
Nun bemerkte Shinji auch, dass in der Dusche Wasser lief,
was ihm zuvor aufgrund der Hektik entgangen war.
"NICHT NUR, DASS DU DICH HIER HINEINSCHLEICHEN MUSST, NEIN,
DU DREHST AUCH NOCH DAS WASSER AUF KALT."
"Entschuldige." war alles, was der Unglückliche
hervorbrachte. Merkwürdigerweise fiel ihm in diesem Moment auf,
dass er gar keinen Schrei von ihr gehört hatte, der ihn
vorgewarnt hätte. Aber das war jetzt sowieso zu spät.
"ENTSCHULDIGE, ENTSCHULDIGE!" äffte Asuka ihn nach. "DU
SOLLTEST DIR MAL ETWAS ANDERES AUSDENKEN."
"Entschuldige." stammelte Shinji. Dann beschloss er, dass
er nicht unbedingt jeden Tag eine Morgenwäsche brauchte und
stahl sich, so schnell er konnte, aus dem Badezimmer, und ließ
eine
extrem schlecht gelaunte Asuka zurück.
"Ich denke, es ist nun zu spät, dich zu warnen, dass Asuka
gerade unter der Dusche steht" schmunzelte Misato.
"Ich habe es auch ohne deine Hilfe herausgefunden." Shinji
rieb sich die schmerzende Wange, die inzwischen eine ziemlich
dunkelrote Färbung angenommen hatte. In seinem Gesicht stand
ein
sichtlich verärgerter Ausdruck.
Irgendwie gelang es ihnen dann doch noch, Frühstück zu
essen. Asuka ließ natürlich weitere Tiraden auf Shinji ab, doch
der tat so, als würde es ihn einfach nichts angehen.
Fünf vor zehn, fünf Minuten bevor der Test begann, rannten
sie dann zu Misatos Auto und die beiden Kinder ahnten, dass
ihnen eine ziemlich "angenehme" Fahrt zum Hauptquartier
bevorstehen würde.
28
Beinahe majestätisch schlängelte er sich durch die
Luft. Rei beobachtete von ihrer EVA aus den Engel, dessen
Vernichtung ihr Ziel war. Er schien aus purer Energie zu
bestehen. Während der Großteil der bisherigen Engel wenigstens
ein bisschen sinnvoll erscheinende Körperformen hatte, war
dieser hier ein Unikat.
Er ähnelte stark einem überdimensionalen Regenwurm, seine
Länge betrug gut und gerne hundert Meter. Während er durch die
Luft flog, bildete sein weiß leuchtender Körper zahllose
Schleifen. Es schien beinahe so, als wäre es ihm völlig egal,
dass er von EVA-00 bedroht wurde. Er zog seine Bahnen, als wäre
es ein fest einstudiertes Programm, das er schon tausendmal
durchgezogen hatte.
Rei befand sich mit ihrer EVA in einem Wald am Rand von
Tokyo-3. Der Himmel war blau, die Bäume und Wiesen grün und
kein
Wölkchen trübte das schöne Wetter. Optimal um ein Picknick zu
machen. Doch dafür hatte Rei jetzt keine Zeit. Sie musste den
Engel beobachten.
Plötzlich änderte er seine Verhaltensweise. Er flog auf
EVA-00 zu und berührte die Panzerung des Kampfroboters. Doch
dass genügte ihm nicht. Er verschmolz mit der Einheit und ihrem
Piloten, drang tief in sie hinein. Rei sah sich plötzlich
schier unmenschlichen Schmerzen ausgesetzt, während ihre Adern
verkrampft unter der Haut hervortraten. Sie war weder in der
Lage, sich zu bewegen, noch sich gegen den psychischen Angriff
des Engels zu wehren.
"Du willst mit mir reden?" interpretierte sie die Gefühle,
die sie durchfluteten. Aus den Augenwinkeln konnte sie
beobachten, wie EVA-01 aus einem der Schächte hervorkam. Ikari.
Sie musste ihn unbedingt beschützen.
Unvermittelt ließ der Engel von EVA-00 ab. Rei atmete tief
durch. Sie war nicht fähig, zu glauben, was sie eben erlebt
hatte. Der Engel hatte sie wieder freigegeben.
Statt dessen wandte er sich nun EVA-01 zu. Mit einer
Wucht, die man ihm nicht zugetraut hätte, prallte er auf den
Kampfroboter und verschmolz vollständig mit ihm.
"NEIN! IKARI!" schrie Rei noch, als sie Shinji's
grauenerregenden Schrei durch die Kom-Verbindung hörte.
Einen Moment später zerbarst EVA-01 in einer atomaren
Explosion der Superlative. Rei sah eine riesige Energiewelle
auf sich zukommen, hatte aber absolut keine Chance, ihr
auszuweichen.
Als sie wieder etwas erkennen konnte war es finster. Sie
konnte lediglich eine Wüste erkennen.
"Ikari? Nerv? Tokyo-3?" fragte sie flüsternd in die Stille
hinein. Alles war verschwunden, nur die endlose Weite der Wüste
tat sich vor ihr auf.
Dann regte sich etwas. Mitten in der Luft entstanden zwei
Energiekugeln, die eher engen Schlitzen glichen. Beinahe wie
zwei Augen starrten sie Rei an und sie starrte zurück in das
rote, feurige Lodern, auf ihrem Gesicht den Ausdruck nackter
Angst.
29
Shinji hatte schon vieles erlebt, aber diese Autofahrt
mit Misato war der Höhepunkt alles bisher Dagewesenem.
Nach der hundertsten missachteten Verkehrsregel hatte er
aufgehört, mitzuzählen, außerdem hatte er genug Probleme
damit, seinen Mageninhalt für sich zu behalten. Als sie dann
endlich ankamen, musste er sich, nachdem er ausgestiegen war,
dementsprechend erst einmal übergeben.
"Ich werde mich an deinen Fahrstil nie gewöhnen können,
Misato!" stöhnte er.
"Du bist eben doch bloß ein Weichling und ein Perversling!"
rief eine sichtlich amüsierte Asuka.
"Gar nicht wahr!" gab Shinji beleidigt zurück. "Außerdem
bist du selbst auch ganz blass. Und deine Knie zittern!" setzte
er hinterher.
"WAS? MEINE KNIE ZITTERN?!" rief Asuka.
"Ruhe jetzt, ihr beiden!" fuhr Misato dazwischen.
Keiner der drei hätte es hinterher erklären können, doch
irgendwie schafften sie es, grade so rechtzeitig zum Test zu
erscheinen. Toji Suzuhara, das Fourth Child, war auch schon da.
Nur Rei Ayanami fehlte noch.
"Ah, da seid ihr ja!" begrüßte Dr. Ritsuko Akagi die drei
"Neuankömmlinge".
Sie blickte sich um und bemerkte ebenfalls, dass Rei noch
fehlte. Dann schaute sie auf ihre Uhr und seufzte.
"Na gut, ich werde euch schon mal erzählen, worum es heute
geht." fing sie ihren Bericht an. "Rei wird eben etwas später
zu
uns stoßen."
Sie blickte die anderen an. "Also:" begann sie "Wie ihr ja
alle wisst, werden wir in drei Tagen zum ersten Mal EVA-03 mit
Piloten aktivieren. Der Pilot ist unser ehrenwerter Mister
Suzuhara." Mit einer Geste deutete sie auf Toji, der sich
verlegen am Kopf kratzte.
"In diesem Test geht es darum," fuhr sie schließlich fort,
"dass seine Fähigkeiten im Kampf in einer Gruppe verbessert
werden müssen. Die letzten Ergebnisse waren nicht gerade sehr
zufriedenstellend. Ihr anderen" sagte sie, während sie ihren
Blick über Shinji und Asuka streifen ließ, "und Rei, falls sie
kommt, habt die Aufgabe, ihn dabei zu unterstützen. Der Test
dauert fünf Stunden und verlangt von euch absolute
Konzentration." schloss sie, "gibt es noch Fragen?"
Ein allgemeines Kopfschütteln war die Reaktion.
"Gut. Dann zieht euch am besten schon mal um, während wir
hier auf Rei warten."
Die Kinder gingen, wobei Asuka natürlich noch jede Menge
Sprüche wie "der kriegt natürlich eine Extrawurst" und so
weiter
auf Shinji und Toji ablassen musste.
Als sie schließlich verschwunden waren, wandte sich Ritsuko
an Misato. "Hast du eine Ahnung, was mit Rei los ist?"
"Nicht den blassesten Schimmer" antwortete sie
achselzuckend.
30
Schweißgebadet und aufrecht im Bett sitzend wachte Rei
auf. Benommen sah sie sich in ihrem Zimmer um, ohne die
spärliche Einrichtung wahrzunehmen. Mit den Kopfschmerzen kamen
auch die Erinnerungen an das, was sie soeben durchgemacht
hatte.
Sie seufzte. "Nicht schon wieder diese Alpträume."
Schwankend ging sie zu dem kleinen Schrank, auf dem neben
verschiedensten Kapseln, Pillen und Tabletten auch eine Brille
lag. Sie starrte die Sehhilfe einen Moment lang an, bevor sie
eine der Tabletten zusammen mit einem Glas Wasser einnahm, in
der Hoffnung, die Kopfschmerzen würden nachlassen.
Dann fiel ihr der Test ein, der heute um zehn Uhr beginnen
sollte. Sie blickte auf den Wecker auf dem Nachttisch, der
neben
ihrem Bett stand. Es war bereits halb elf.
Erst realisierte sie gar nicht, was dies zu bedeuten hatte,
doch dann wurde es ihr mit einem Schlag klar.
"Schon so spät?" murmelte sie vor sich hin "das werde ich
nicht mehr rechtzeitig schaffen."
Hektisch zog sie sich an und verließ dann überstürzt ihre
Wohnung, ohne auch nur etwas gegessen zu haben oder etwas zum
Essen mitzunehmen.
Nach einem kurzen Moment lag die Wohnung wieder einsam und
verlassen da, auf dem Fußboden verschiedenstes Verbandsmaterial
und Papierknäuel verstreut, tapetenlose Wände und nackte
Fußböden. Ein Anblick, wie er trostloser nicht hätte sein
können.
31
Das Büro von Gendo Ikari war in etwa das, was jeder
Geschäftsmann als seinen Traum bezeichnet hätte. Naja,
abgesehen vom Fußbodenbelag vielleicht. Der war auf eine etwas
ungewöhnliche Art und Weise gestaltet. Verschiedenste
geometrische Formen wie Kreise, Rechtecke, Pentagons und
Quadrate waren verflochten in einem einzigartigem Muster, das
jede religiöse Gruppe oder Sekte zu Begeisterungsrufen
veranlasst hätte. Zwischen den Formen waren wie zufällig
irgendwelche Wörter mystischer Bedeutung eingestreut, ohne das
ein Außenstehender auch nur im geringsten einen Sinn darin
gefunden hätte. Während der Boden selbst schwarz war,
leuchteten die Symbole in einem goldgelben Farbton.
Das Büro besaß auch eine Reihe von Fenstern, von denen aus
man eine beeindruckende Sicht über den Geosektor hatte. Man
konnte alle Einzelheiten erkennen: die Pyramide, die
Einschienenbahn, die Häuser von der Oberfläche, die aus der
Decke herausschauten, und nicht zuletzt die glitzernde
Oberfläche eines einmaligen Sees.
Drinnen war es merkwürdigerweise immer dunkel. Bis auf
einen Schreibtisch und einen Stuhl gab es keinerlei
Einrichtungsgegenstände. Auf dem letzteren saß Kommandant Ikari
nun in seiner für ihn typischen Haltung: die Hände unter der
Nase gefaltet, während die Ellebogen auf dem Tisch ruhten.
Durch seine Brille hindurch schienen seine Augen alles
jederzeit zu beobachten.
Hinter ihm, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, stand der
Sub-Kommandant Kohzoh Fuyutsuki, die Hände auf dem Rücken. Er
war es am Ende auch, der das Schweigen zwischen ihnen als
erster
brach.
"Der Status des First Child wird immer
besorgniserregender." sagte er.
Ikari zog seine Augenbraue hoch . "Ja, ihre Synchronsrate mit
EVA sinkt in beängstigendem Tempo."
"Ihre Konzentration lässt stark nach. Was gedenkst du
dagegen zu unternehmen, Ikari?" fragte Fuyutsuki.
"Man wird sich darum kümmern." mehr ließ sich der Kommandant
dazu nicht entlocken.
"Ach ja? Diese Antwort höre ich von dir auf alle meine
Fragen. Vielleicht willst du dir nur nicht eingestehen, dass es
ein Fehler war, einen Klon mit solch unzureichenden Mitteln zu
erzeugen" erwiderte der Sub-Kommandant genervt. "Kiel und sein
Berater haben uns davor gewarnt, und ich war von Anfang an
dagegen."
"Ich werde mich darum kümmern." sagte Ikari mit der selben
monotonen Stimme, mit der er immer sprach.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ Fuyutsuki den
Raum.
32
Nachdem alle Piloten (außer Rei, die immer noch nicht
anwesend war) in ihren Testkapseln platz genommen hatten und
das Programm gestartet wurde, konzentrierten sich die Children
auf die vor ihnen liegende Aufgabe.
Der Computer generierte ihnen eine virtuelle Landschaft,
die sich durchaus mit der Realität messen konnte. Alle Details
waren vorhanden. Bäume, Sträucher, Wiesen, alles war
authentisch. Und über den Berg schwebte den virtuellen EVAs ein
virtueller Engel entgegen.
Über die Lautsprecher hörten sie Ritsukos Stimme. "Da Rei
immer noch nicht da ist, fangen wir jetzt einfach mal an. Euer
Ziel ist es den Engel zu dritt, ich wiederhole: zu dritt zu
besiegen, der Rest ist eure Sache. Verstanden?"
"Ja, Sir!" war die Antwort der Piloten.
Ihr Gegner war inzwischen nah genug gekommen, um ihn richtig
zu erkennen. Er besaß lediglich einen schwarzen, zylindrischen
Körper. Am oberen Ende befand sich ein Kopf, der in ungefähr
einer Kugel glich, bestückt mit fünf leuchtend blauen Augen,
angeordnet in einem Pentagon. Er besaß keine Beine, aber zwei
Arme. Diese hatten eine sehr merkwürdige Form. Ungefähr bis
zu einem Drittel ihrer Gesamtlänge bestanden sie aus einem
Stück. Danach teilten sie sich in zwei Stränge auf. Bis zur
Hälfte waren die Stränge noch in einer Doppelhelix ineinander
gewunden, dann standen sie parallel zu einander vom Körper ab.
Sie besaßen keine Finger oder Klauen, sondern nur spitze,
glühende Enden.
Es waren diese Arme, die Asuka plötzlich stutzig machten.
"Nicht schon wieder diese verdammte Lanze!" stöhnte sie
auf.
Die anderen Piloten wurden von diesem Ausruf völlig
überrascht. "Was hast du gesagt?" fragte Toji schließlich.
"Dummkopf! Merkst du denn garnichts? Die Arme von dem Vieh
sehen aus, wie die Lanze von Longinus!" antwortete Asuka.
"Die WAS?" riefen Shinji und Toji wie aus einem Mund.
Die Pilotin von EVA-02 war schon drauf und dran, den beiden
wieder irgendeine saftige Bemerkung zuzurufen, wurde dann aber
still. Die anderen hatten Recht. Woher kannte sie das Ding? Sie
wusste es ganz einfach, ohne zu wissen, wo sie davon schonmal
gehört hatte.
"Ich weis nicht. Irgendwo hab ich das Ding schon einmal
gesehen, kann es aber jetzt nicht mehr einordnen." sagte sie
nachdenklich.
"Also mich erinnert der Arm an nichts." gab Toji zu.
"Ich kenn das Ding auch nicht. Lanze von was hattest du
gesagt?" Shinji war sichtlich verwirrt.
Asuka strengte ihren Grips an, fand aber keine Antwort.
Naja, früher oder später würde es ihr sicherlich einfallen.
"Ist ja auch egal. Wir haben noch eine Mission zu erfüllen.
Wir sollten uns lieber darum kümmern!" sagte sie.
Und so wandten sich die Piloten wieder ihrer ursprünglichen
Aufgabe zu.
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So wunderschön das computergenerierte Szenario für die
drei Kinder aussehen mochte, so schlicht war die Umgebung der
Testkapseln, in denen sie sich befanden. Es war eine riesige,
graue Halle. Die Wände wurden durch zahllose Kabel und Rohre
verdeckt. Zwischendurch hing immer mal wieder eine Leiter, die
es Technikern ermöglichte, an die Leitungen zu gelangen, um sie
zu reparieren.
Die Kapseln selbst erstrahlten in leuchtendem orange. Sie
waren, ebenso wie die Pilotenkapseln, zylindrischer Form mit
abgerundeten Enden. Es waren vier Stück, auf denen mit
schwarzer Farbe die Nummern 00, 01, 02 und 03 aufgemalt waren.
Die Kontrollanzeigen der letzten drei Kapseln blinkten in
bunten Farben und in unregelmäßigen Abständen. Das Display der
Kapsel mit der Nummer 00 war allerdings schwarz, auf diese
Weise anzeigend, dass sie außer Betrieb war.
Auf einem erhöhten Podest saß Ritsuko vor einem Computer,
mit ihren Fingern unablässig Daten in das System einspeisend.
Die Zahlenreihen, die über den Monitor flimmerten, spiegelten
sich in ihrer Brille und gaben ihrem Gesicht einen gespenstigen
Schein. Auch ihre blonden Haare wurden in grünliches Licht
getaucht.
Hinter ihr stand Misato, ihre Aufmerksamkeit auf die vier
großen Kontrollschirme vor ihr gerichtet. Während der erste
leer
war, konnte man in den anderen drei jeweils ein Bild aus dem
Entryplug des jeweiligen Piloten erkennen und eine Übertragung
aus der virtuellen Welt, die zeigte wo und in welchem Zustand
die virtuellen EVAs sich befanden.
Gerade war zu hören wie Asuka irgendetwas über irgendeine
Lanze erwähnte. Misato wurde nachdenklich.
Doch bevor sie die Frage, die sich in ihren Gedanken
bildete, an Ritsuko stellen konnte, näherten sich rasch
Schritte. Im Laufschritt kam Rei angespurtet und blieb völlig
außer Atem stehen, als sie die beiden erreicht hatte.
Was auch immer sie hätte sagen wollen, sie kam nicht dazu.
"Du bist spät." Ritsuko blickte von ihren Datenreihen auf.
"Ja, Sir!" antwortete das Mädchen, noch immer völlig außer
Atem.
"Wir werden jetzt zu Kommandant Ikari gehen."
"Ja Sir!"
Während die beiden gingen, starrte Misato hinter ihnen her.
Sie fragte sich, ob Rei jemals etwas anderes als "Ja, Sir"
antworten würde, wenn ihr irgendetwas gesagt wurde. Dann
schweiften ihre Gedanken zurück zu ihrer ursprünglichen
Verwirrung. Die Lanze von Longinus? Sie hatte noch nie davon
gehört. NERV brauchte ihr ja auch nichts zu sagen. Naja, früher
oder später würde sie es erfahren.
Sie kehrte zurück zu ihrer eigentlichen Aufgabe.
"Shinji! Deine Synchronisationsrate sinkt! Konzentrier dich
mal ein bisschen mehr!"
"Ich geb ja schon mein bestes!"
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Wenn man etwas wirklich geheimnisvolles sucht, dann
sollte man die Erde verlassen und sich in die Tiefen des
Weltalls begeben. Der äußerste Planet unseres Sonnensystems
hört
auf den Namen Pluto. "Hört" kann man eigentlich nicht sagen, er
heißt aber so. Die Wissenschaftler streiten sich inzwischen
darüber, ob es sich dabei überhaupt um einen Planeten handelt,
so abnormal sind seine Werte.
Nichtsdestotrotz schickte NERV im Jahre 2009 einen
Satelliten in Richtung des Winzlings mit dem Ziel einen
zuverlässigen Beobachter dort stationiert zu haben. Über fünf
Jahre lang ist dort aber nicht das geringste passiert, und so
geriet der Satellit, eigentlich untypisch für NERV, langsam in
Vergessenheit.
Aus diesem Grund bemerkte NERV auch nicht, dass sich dem
Metallkörper eine Art Lebensform näherte. Ihr Aussehen ähnelte
dem eines überdimensionalem Kruzifix, nur das kein Jesus an sie
genagelt war. Sie schien aus reinem Blut zu bestehen. Ihre
dunkelrote Oberfläche war ständig in Bewegung, ähnlich wie
Lava,
die den Hang eines Vulkans hinunterläuft. Nur erstarrte diese
hier nicht. Am oberen Ende befanden sich zwei gelb leuchtende
Kugeln. Man konnte bald der Meinung sein, dass es sich hierbei
um Augen handelte, doch dem war nicht so.
Plötzlich schossen aus den beiden Gebilden Energiestrahlen
heraus und trafen sich an einem Punkt direkt über der Mitte des
Kreuzes, dass der Engel bildete. Am Treffpunkt schien sich die
Energie zu konzentrieren und dort eine dritte Kugel zu bilden,
die allerdings um ein vielfaches größer als die anderen war.
Schließlich verschwanden die Strahlen wieder, während die
neue Kugel für einen Augenblick still stand. Dann setzte sie
sich mit einer Beschleunigung als wäre sie abgeschossen worden
in Bewegung, direkt auf den Satelliten zu.
Als sie seine Oberfläche berührte, wurde NERVs Beobachter
in einer gleißenden Explosion aus Licht und Wärme vernichtet.
Auch wenn man es ihm nicht ansah, konnte man meinen, dass
der Engel äußerst zufrieden mit seinem Werk war, als er sich
schließlich wieder in Bewegung versetzte.
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Ritsuko und Rei standen vor dem Schreibtisch im Dunkel
von Gendo Ikaris Büro. Der Kommandant saß dahinter, in seiner
typischen Haltung. Bereits seit ein paar Minuten lag eine
unangenehme Stille zwischen ihnen.
Es war am Ende Ikari, der das Schweigen brach.
"Warum bist du zu spät gekommen?" Mit keiner Geste deutete
er an, dass er soeben zu Rei gesprochen hatte.
"Ich habe verschlafen." ihre Stimme war kaum mehr als ein
Flüstern.
Gendo hob eine Augenbraue. "Verschlafen?"
"Ja, Sir."
"Du wirst ein Extratraining machen, nachdem die anderen
fertig sind."
"Ja, Sir."
Rei wandte sich zum Gehen, doch Ikari hielt sie zurück.
"Was ist mit dir los, Rei?"
"Es ist alles in Ordnung." Sie durfte ihn nicht mit ihren
persönlichen Problemen belasten. Sie hatte eine Aufgabe, die
sie
erfüllen musste. Nur für diese Aufgabe existierte sie. Sie war
das einzige, was ihrem Leben eine Berechtigung gab. Sie durfte
nicht versagen.
"Gut." Ikari schien irgendwie nicht so recht befriedigt.
"Du kannst gehen."
"Ja, Sir."
"Was gibt es, Dr. Akagi?" fragte Gendo schließlich, als Rei
gegangen war.
"Es geht um Asuka. Sie scheint etwas über die Lanze von
Longinus zu wissen." antwortete Ritsuko.
"Sie wissen, was zu tun ist?"
"Ja."
"Gut."
36
"Du, Shinji?" Irgendwie war Asuka langweilig. Nachdem
sie wieder zurück in Misatos Wohnung waren, gab es für die
beiden nicht allzu viel zu tun, außer vielleicht Fernsehen zu
gucken und darauf zu warten, dass es endlich Zeit fürs
Abendbrot
wurde.
"Hmm?" Shinjis Antwort kam ebenfalls ziemlich
uninteressiert.
"Mir ist langweilig."
"Hmm."
Plötzlich kam Shinji ein erschreckender Gedanke: er
erinnerte sich plötzlich daran, was geschah, als Asuka das
letzte Mal langweilig war.
"Du... Du hast doch nicht etwa vor, wieder zu... zu..."
"Ach, Quatsch! Ich finde, wir sollten etwas viel
Interessanteres tun."
Diese Antwort beruhigte Shinji nicht im geringsten, eher im
Gegenteil. Er spürte, wie sich auf seinem Nacken Schweißperlen
bildeten.
"Ähhmm... Und an was denkst du... genau?"
Asuka drehte sich zu ihm um.
"Nun, ich dachte, wir könnten vielleicht..."
Plötzlich gefror ihr Gesichtsausdruck. Falten bildeten sich
auf ihrer Stirn. Sie schien plötzlich ziemlich nachdenklich
geworden zu sein. Shinji entschloss sich, sie in diesem Stadium
lieber nicht zu stören. Er versuchte sich möglichst unauffällig
aus dem Zimmer zu schleichen. Es wäre ihm fast gelungen. Er war
schon zur Hälfte aus der Tür, als...
"JETZT HAB' ICH'S!!!"
Asuka blickte auf, konnte allerdings nur feststellen, dass
Shinji sich nicht mehr dort befand, wo er noch ein paar
Augenblicke zuvor war. Sie blickte sich um. Als sie ihn
schließlich in der Tür fand, wurde ihr Blick um einiges
finsterer. Shinji schien im Fußboden verschwinden zu wollen.
"Was meinst du?" fragte er, in der Hoffnung, die Situation
damit wenigstens ein bisschen zu entschärfen.
Asukas Blick hellte sich auf. "Mir ist wieder eingefallen,
wo ich diese komische Lanze schon einmal gesehen habe."
"Welche Lanze?"
Asuka verdrehte die Augen. Konnte Shinji denn wirklich SO
blöd sein?
"Die Lanze von Longinus. Heute, beim Training..."
"Achso! Das meinst du! Dieser Arm von dem Engel, der
niemandem außer dir bekannt vorgekommen ist."
"Ja, genau."
So richtig klug wurde Shinji damit noch nicht. "Und wo hast
du sie schonmal gesehen?"
"In einem Traum."
"Ein Traum?"
"Ja." Erneut verdrehte Asuka die Augen. "Das sind Bilder,
die die Menschen im Schlaf sehen."
"Ich weiß, was Träume sind!" Die Empörung auf Shinjis
Gesicht schien echt zu sein. "Ich träume allerdings nicht von
Engelarmen."
"Es war auch kein Traum von Engeln." Ihr Gesicht war
plötzlich traurig. Shinji glaubte, tiefe Schmerzen darin
erkennen zu können. Obwohl er es bezweifelte, hätte sie jeden
Moment losweinen können.
"Was hast du?" seine Stimme verriet Besorgnis.
"Es..." zum ersten Mal in seinem Leben sah Shinji, wie
Asuka nach den richtigen Worten zu suchen schien. Sie war sonst
viel spontaner. So nachdenklich hatte er sie noch nie gesehen.
"Es war mehr wie eine Erinnerung..." Asuka fand schließlich
die Sprache wieder. "Eine grausame Erinnerung."
"Du brauchst nicht darüber zu sprechen."
"Doch. Ich... ich weiß nicht genau, was ich davon halten
soll. Ich hatte gekämpft. NERV wurde angegriffen... von
Menschen. Von MENSCHEN, verstehst du? Ich habe alle ihre
Einheiten mit EVA-02 zerstört. Alle. Keiner hat überlebt. Ich
war so wütend. Ich... ich wollte die anderen beschützen. Ich
weiß nicht genau, wer diese Anderen waren. Aber ich habe das
Gefühl, dass... dass..."
Tränen suchten ihren Weg aus ihren Augen, doch irgendwie
gelang es ihr, sie zurückzuhalten. Ein leichtes Lächeln ummalte
statt dessen ihre Lippen.
"Ich glaube, dass auch du dazu gehörtest. Und irgendwie
sogar diese Streberin."
Shinji war sichtlich konfus. In dieser Verfassung hatte er
Asuka noch nie gesehen. "Ich... ich verstehe nicht ganz..."
"Ich auch nicht." Asukas Stimme verriet Entschlossenheit.
"Ich weiß nur, dass dann vom Himmel plötzlich neun andere EVAs
gekommen sind. Sie... sie hatten alle dieselben weißen Fratzen.
Ich... ich glaube, dass ich sie am meisten hasste. Also habe
ich
sie zerstört. Alle. Ich achtete nicht auf die Menschen, die
diese Maschinen steuerten und was sie durchleiden mussten."
Shinji war deutlich anzumerken, dass er nichts verstand.
Doch langsam machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihm breit.
Das, was Asuka da schilderte, kam ihm nicht unbekannt vor.
Nicht
diese spezielle Szene, aber das Gefühl mit der Erinnerung.
Asuka sprach schließlich weiter. "Nachdem ich sie alle
vernichtet hatte, passierte das Unglaubliche. Sie... sie
standen
erneut auf. Sie reaktivierten sich alle. Und ihre Klingen
verformten sich plötzlich. Sie wurden länger und bekamen zwei
Spitzen. Ich... ich hatte... keine Chance. Sie zerfleischten
meine EVA und mich wie Raubvögel, die über ihre Beute
herfallen."
"Dieses Gefühl... es kommt mir irgendwie bekannt vor." Auch
wenn es kaum mehr als ein Flüstern war, Shinjis Stimme ließ
sich
kristallklar im Raum vernehmen.
Doch Asuka achtete nicht darauf.
"Der... Rest ist irgendwie total absurd. Ich war vermutlich
bewusstlos. Als... ich... wieder aufwachte, war alles dunkel.
Ich konnte lediglich erkennen, dass ich mich in einer Wüste
befand. Ein Wüste! So ein Schwachsinn!"
"Nein. Erzähl weiter." Shinji schien sich plötzlich zu
konzentrieren.
"Wie? Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Ich schaue mich
also in der Wüste um und plötzlich öffnen sich vor mir ein paar
roter Augen. Sie... sie glühten mir entgegen. Ich glaube, ich
muss völlig durchgedreht sein." Sie schüttelte ihren Kopf.
"Nein bist du nicht." Shinjis Blick war ernst. "Oder ich
bin ebenfalls völlig durchgeknallt."
"Wie, hast du auch solche Träume?"
Unter normalen Umständen hätte Shinji Asukas
Gesichtsausdruck urkomisch gefunden, doch nicht jetzt.
"Nun, zumindest teilweise. Das Ende ist identisch."
"Und was für Träu..." Asuka spürte, dass "Traum" hier
einfach nicht passte. "Erinerrungen hast du?"
"Es... ist... etwas schiefgelaufen. Bei der Aktivierung von
EVA-03. Ich... ich weiß nicht genau, was. Irgendwie muss ein
Engel die Kontrolle über die EVA übernommen haben. Er... er kam
direkt auf uns zu. Dich erwischte er als erstes, Asuka."
Er blickte ihr in die Augen. Sein Gesicht zeigte Bedauern.
"Dann folgte Rei. Ihr... ihr ward beide nicht in der Lage,
ihn aufzuhalten. Und ich hatte keine Ahunung. Ich wusste nicht,
dass der Gegner eine EVA war. Man hatte mich ganz hinten
aufgestellt und mir nichts gesagt..."
Tränen liefen seine Wangen hinunter.
"Man hatte mich betrogen. Ich... ich wollte nicht kämpfen.
Da... da war ein... ein... Mensch drin. Ich... ich kann doch
keinen Menschen töten, oder? Asuka! Das kann ich doch nicht
tun!!!"
Die letzten Worte schrie er beinahe. Die Tränen flossen
ungehindert aus seinen Augen.
Schnell beruhigte er sich wieder.
"Ich... ich wollte nicht kämpfen. Ich wollte lieber
sterben. Aber Vater... er hat es nicht zugelassen. Er
aktivierte
eine Art Autopilot. Ich hatte keine Kontrolle mehr. Ich... ich
vernichtete... meine EVA vernichtete... ich... ich... wollte
das
nicht, aber... Vater! Er hat es einfach getan... Er hat mich
nicht gefragt... Ich meine... er... er hätte mich doch fragen
sollen, oder?"
Die folgende Stille wurde nur von Shinjis Schluchzern
unterbrochen. Asuka war nicht in der Lage irgendetwas zu sagen.
Sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Emotionen beschäftigt.
Irgendwann war Shinji schließlich in der Lage, weiter zu
sprechen.
"Nun, zumindest... EVA-03 wurde vollständig vernichtet. Und
dann sah ich ihn. Den Piloten. Es war Toji. Ich... ich war so
wütend... Ich wollte Rache... und... und dann... war alles
schwarz, bis auf diese Wüste... Und dann sah ich die Augen...
Dieses Rot... dieses glühende Rot..."
"Es... es war nicht deine Schuld..." Asuka war wieder aus
ihren Gedanken zurückgekehrt und versuchte nun, Shinji ein
wenig zu trösten. "Ich... ich meine, das ist doch alles
garnicht passiert... genau wie bei mir..."
Dies schien Shinji ein wenig aufzubauen. Ein leichtes
Lächeln umspielte seine Lippen.
"Weißt du, was das merkwürdigste ist? Ich... ich wusste bis
zuletzt nicht, dass Toji der Pilot ist. Aber ich weiß es! Also
kann es doch garnicht passieren, oder?"
37
Rei machte in ihrem Training das selbe Szenario mit,
wie die anderen es ein paar Stunden zuvor machten. Nur mit dem
Unterschied, dass jetzt auch die anderen Einheiten vom Computer
gesteuert wurden.
Normalerweise findet Rei diese Tests entspannend. Sie sind
eine Flucht vor der Realität in eine andere Welt. Wenn auch nur
scheinbar. Doch diesmal brummte ihr der Schädel vor den
Gedankenfluten, die in ihr kursierten. Sie stieg immer tiefer
in ihr eigenes Ich ein.
"Wieso nehmen sie mich noch, wo ich doch immer schlechter
werde?"
Wie erwartet, erhielt sie keine Antwort. Manchmal wünschte
sie, dass es nicht so wäre.
"Wozu lebe ich"
"Um EVA zu steuern." Die Antwort kam völlig überraschend.
Ihre Seele hatte ihr noch nie geantwortet.
"Warum habe ich diese Alpträume?"
"Um die Wahrheit zu finden."
"Was ist die Wahrheit?"
"Du wirst sie finden."
"Wie kann ich sie finden?"
"Du wirst sie finden."
"Warum ausgerechnet ich?"
"Es ist deine Bestimmung, sie zu finden..."
"REI!" Die Stimme von Doktor Akagi unterbrach ihren
Gedankenfluss. "du solltest dich mehr konzentrieren!"
"Ja, Sir!"
Ritsuko drehte sich zu Misato um. Ihr Gesicht zeigte
ernsthafte Besorgnis.
"Ihre Synchronrate sinkt immer noch. Nicht mehr lange, und
sie wird außerstande sein, EVA zu kontrollieren."
Misato war tief in ihren eigenen Gedanken. Sie schien den
Doktor kaum wahrzunehmen.
"Was ist nur los mit dir, Rei...?"
38
Beinahe majestätisch schlängelte er sich durch die
Luft. Rei beobachtete von ihrer EVA aus den Engel, dessen
Vernichtung ihr Ziel war. Er schien aus purer Energie zu
bestehen. Während der Großteil der bisherigen Engel wenigstens
ein bisschen sinnvoll erscheinende Körperformen hatte, war
dieser hier ein Unikat.
Er ähnelte stark einem überdimensionalen Regenwurm, seine
Länge betrug gut und gerne hundert Meter. Während er durch die
Luft flog, bildete sein weiß leuchtender Körper zahllose
Schleifen. Es schien beinahe so, als wäre es ihm völlig egal,
dass er von EVA-00 bedroht wurde. Er zog seine Bahnen, als wäre
es ein fest einstudiertes Programm, das er schon tausendmal
durchgezogen hatte.
Rei befand sich mit ihrer EVA in einem Wald am Rand von
Tokyo-3. Der Himmel war blau, die Bäume und Wiesen grün und
kein
Wölkchen trübte das schöne Wetter. Optimal um ein Picknick zu
machen. Doch dafür hatte Rei jetzt keine Zeit. Sie musste den
Engel beobachten.
Plötzlich änderte er seine Verhaltensweise. Er flog auf
EVA-00 zu und berührte die Panzerung des Kampfroboters. Doch
dass genügte ihm nicht. Er verschmolz mit der Einheit und ihrem
Piloten, drang tief in sie hinein. Rei sah sich plötzlich
schier unmenschlichen Schmerzen ausgesetzt, während ihre Adern
verkrampft unter der Haut hervortraten. Sie war weder in der
Lage, sich zu bewegen, noch sich gegen den psychischen Angriff
des Engels zu wehren.
"Du willst mit mir reden?" interpretierte sie die Gefühle,
die sie durchfluteten. Aus den Augenwinkeln konnte sie
beobachten, wie EVA-01 aus einem der Schächte hervorkam. Ikari.
Sie musste ihn unbedingt beschützen.
Unvermittelt ließ der Engel von EVA-00 ab. Rei atmete tief
durch. Sie war nicht fähig, zu glauben, was sie eben erlebt
hatte. Der Engel hatte sie wieder freigegeben.
Statt dessen wandte er sich nun EVA-01 zu. Mit einer
Wucht, die man ihm nicht zugetraut hätte, prallte er auf den
Kampfroboter und verschmolz vollständig mit ihm.
"NEIN! IKARI!" schrie Rei noch, als sie Shinji's
grauenerregenden Schrei durch die Kom-Verbindung hörte.
Einen Moment später zerbarst EVA-01 in einer atomaren
Explosion der Superlative. Rei sah eine riesige Energiewelle
auf sich zukommen, hatte aber absolut keine Chance, ihr
auszuweichen.
Als sie wieder etwas erkennen konnte war es finster. Sie
konnte lediglich eine Wüste erkennen.
"Ikari? Nerv? Tokyo-3?" fragte sie flüsternd in die Stille
hinein. Alles war verschwunden, nur die endlose Weite der Wüste
tat sich vor ihr auf.
Dann regte sich etwas. Mitten in der Luft entstanden zwei
Energiekugeln, die eher engen Schlitzen glichen. Beinahe wie
zwei Augen starrten sie Rei an und sie starrte zurück in das
rote, feurige Lodern, auf ihrem Gesicht den Ausdruck nackter
Angst.
39
Für Shinji und Kensuke schien es ein Tag wie jeder
andere zu werden. Für Toji bestand diese Möglichkeit nicht.
Schließlich musste er heute seine EVA zum ersten Mal
aktivieren, ein großes Ereignis. Aber nicht nur deswegen war
für ihn dieser Tag etwas besonderes. Heute wurde seine
Schwester aus dem Krankenhaus entlassen. Er wurde sogar vom
Unterricht freigestellt. Nur die erste Stunde musste er
mitmachen, denn da wurde ein Aufsatz geschrieben. Mist!
Asuka hatte irgendwie wieder ihr altes Ich gefunden. Von
ihrer Selbstöffnung ein paar Tage zuvor war nichts mehr zu
spüren. Doch Shinji war es recht so. Mit dieser Asuka konnte er
viel besser umgehen als mit einer, die völlig sensibel ist.
Er selbst hatte seine Gefühle wieder im Griff und
versuchte soeben, die Türen zu schließen und die für ihn
typische mentale Mauer um sich aufzubauen.
Hikari und Toji standen in einer Ecke des Klassenzimmers.
"Toji, ich..."
"Was ist los, Hikari?"
"Ich weiß, dass ich dir da nicht reinreden sollte,
aber..."
"Du kannst mir alles sagen. Vertrau mir."
Hikari seufzte. "Ich... ich möchte nicht, dass du
dieses... dieses... Ding steuerst."
Sie blickte ihn besorgt an. So hatte er sie bisher nur
ganz selten gesehen. Sonst war sie immer die fröhlichste der
ganzen Klasse. Er blickte ihr tief in die Augen.
"Weißt du, ich werde EVA aus zwei Gründen steuern:
Erstens: Ich bin der einzige, der dafür geeignet ist und
zweitens, nun, Hikari, ich liebe dich."
"Dann tu es nicht!"
"Doch. Auf diese Weise kann ich dich beschützen. Auf diese
Weise kann ich dir einen geringen Teil von dem zurückgeben, was
du für uns getan hast, für mich und meine Schwester. Ohne dich
wäre sie noch längst nicht soweit, dass sie das Krankenhaus auf
ihren eigenen Beinen verlassen kann."
Tränen kamen aus ihren Augen. Sie konnte den Impuls ihn
heftig zu umarmen kaum unterdrücken. Er fasste sie an beiden
Schultern.
"Ich habe meinen Entschluss gefasst, Hikari. Du wirst mich
nicht umstimmen können. Mir ist lieber, ich tue es selbst, als
wenn ich dann sehen muss, wie ein anderer darunter leidet."
Zärtlich nahm er sie in seine Arme. "Es wird mir nichts
passieren. Das heute Nachmittag ist lediglich ein Test. Es kann
gar nichts passieren."
Sie schluckte. Es war ihr kaum mehr möglich, sich auf den
Beinen zu halten. Doch ihr war klar, dass sie ihn nicht
umstimmen konnte. Sie kannte ihn zu gut, um so etwas dummes zu
glauben.
Shinji blickte die beiden nachdenklich an. Sie zusammen,
seitdem Tojis Schwester bei dem Unfall mit EVA-01 schwer
verletzt wurde. Sein Blick wanderte zu Asuka. Würde er sie
jemals verstehen können? Oder sie ihn? Wohl kaum.
Er seufzte.
"Hey Shinji!" Er hatte Kensuke, der herangekommen war,
überhaupt nicht bemerkt. "Wie geht's?"
"Hmm? Nicht schlechter als sonst."
"Ach, komm! Was soll ich denn da sagen. NERV hat meinen
Antrag auf einen Posten als EVA-Pilot wieder abgelehnt. Statt
dessen hat man Toji genommen."
"Hmm..."
"Du bist heute nicht sehr gesprächig, oder?"
"Hmm..."
Kensuke verdrehte die Augen. Shinji war eben wieder dabei,
sein mentales Schutzschild zu errichten. Also versuchte er eine
Taktik, die schon oft funktioniert hatte: einfach unverhofft
das Thema wechseln.
"Wie geht's eigentlich dem rothaarigen Alptraum?"
Shinji schien plötzlich zu erwachen. Kensuke lächelte. Es
hatte wieder geklappt.
Zurück aus dem Land der Träume, bequemte sich Shinji zu
einer Antwort.
"Ich muss sagen, lieber einen Alptraum mit roten Haaren
als
einen mit roten Augen."
Er grinste. Kensuke wurde bleich. Er konnte... doch
nicht... etwa... Ayanami... Nein, das war unmöglich.
"Ein Alptraum mit roten Augen?" Ohne dass die beiden es
bemerkt hatten, war Toji zu ihnen gestoßen. "Das kommt mir
irgendwie bekannt vor."
Er versank in Gedanken. Die beiden anderen starrten ihn
an,
Kensuke fassungslos, Shinji interessiert. Asuka kam hinzu.
"Und über was quatscht das Idiotentrio jetzt schon
wieder?"
Ihre Stimme überschlug sich fast, so laut war sie. Shinji
und Kensuke sprangen beinahe an die Decke. Auf Asukas Gesicht
bildete sich ein befriedigtes Lächeln. Toji jedoch blickte ihr
ernst in die Augen.
"Über Alpträume mit roten Augen."
Asuka verschluckte sich beinahe. "Was? Du... du auch?"
"Ja."
Dann erzählte er den anderen von seinem Traum. Es war in
ungefähr genauso fürchterlich wie die von Shinji und Asuka.
"... ich... ich... hatte keine Chance. Und dann war da
diese... diese... Wüste. Und die Augen. Sie glühten mich an."
"Merkwürdig. Du bist jetzt schon der Dritte. Ob die
Streberin auch..."
In diesem Moment kam Rei ins Zimmer, dicht gefolgt vom
Lehrer. Asuka kam also nicht mehr dazu, ihre Frage zu stellen.
"Ok, Kinder. Wie ihr wisst, schreiben wir heute die letzte
große Arbeit für dieses Jahr. Einen Aufsatz. Ich will auf euren
Plätzen nichts außer einem Stift und ein paar Blatt Papier
sehen."
Asuka verdrehte die Augen. Sie hasste Aufsätze.
40
Der riesige, menschliche Körper von EVA-03 stand
unbeweglich an der Wand, mit Hunderten von Sperrvorichtungen,
die ihn in dieser Position hielten. Misato betrachtete ihn mit
gemischten Gefühlen. Schwarz war eine unpassende Farbe für eine
Maschine, auf der die Hoffnung der gesamten Menschheit lag. Sie
befand sich gemeinsam mit Ritsuko im Kommandoraum des
Testgeländes von Matsushiro. Die Wissenschaftlerin war soeben
dabei, die Daten auf ihrem Monitor zu überwachen. Die grünen
Zahlenreihen spiegelten sich in ihrer Brille.
"Irgendwie ist es unfair!"
"Wie?" Ritsuko wurde durch Misatos Ausspruch aus ihrer
Arbeit gerissen. "Was ist unfair?"
"Naja, der arme Toji." Das Lächeln auf Misatos Gesicht
zeigte irgendwie kein echtes Mitleid. "Er musste heute nur in
die Schule, um diesen dämlichen Aufsatz zu schreiben."
"Die schulischen Fähigkeiten eines EVA-Piloten dürfen
nicht
vernachlässigt werden." Ritsukos Stimme zeigte, wie ernst ihr
dieses Thema war. "Außerdem haben wir auch unsere Pflichten."
"Stimmt", lenkte Misato ein. "wie läuft's eigentlich?"
"Bestens. Die Tests zur Aktivierung von Stufe eins und
zwei
sind bereits erfolgreich abgeschlossen."
Misato nickte. "Und für Stufe drei benötigen wir den
Piloten." Sie grinste Ritsuko an. "Sieht mir nach einem
langweiligen Vormittag aus."
"Weit gefehlt." Ritsuko konnte sich ein Lachen nicht
verkneifen. "Wir haben noch ein paar Energietests zu machen.
Und
die werden uns auf den Beinen halten, glaub mir."
Misato atmete einmal tief durch. "Bloß gut. Ich dachte
schon wir könnten jetzt bis heute nachmittag dumm rumsitzen."
"Haha!" Ritsuko brach jetzt in Gelächter aus. "So
arbeitsam
heute!"
"He! Mach' dich nicht über mich lustig, ja?!"
"Mach' ich doch garnicht..."
41
In diesem Moment wurde Gendo Ikari wieder einmal
bewusst, wie undurchdringlich die Finsternis sein kann. Er
befand sich zusammen mit Kohzoh Fuyutsuki, dem Sub-Kommandanten
im Besprechungsraum. Lediglich der Raum um den Schreibtisch, an
dem er in seiner typischen Haltung saß und hinter dem Fuyutsuki
stand, war beleuchtet. Gemeinsam erwarteten sie, dass man sich
mit ihnen beschäftigte.
Plötzlich tauchte aus der Finsternis vor ihnen ein doppelt
mannshoher Monolith auf. Auf seiner Oberfläche leuchteten die
Worte "SEELE 07 - Audio only". Aus der selben Richtung kam eine
Stimme. Sie hatte eindeutig einen russischen Akzent, auch wenn
sie sehr gut japanisch sprach.
"In sieben Stunden wird EVA-03 aktiviert. Du hast
hoffentlich alles vorbereitet, Ikari?"
"Wir haben uns um alles gekümmert." Fuyutsuki erschien es,
als hätte der Kommandant diesen Satz in mühevoller Kleinarbeit
auswendig gelernt und ihn jetzt bei jeder Gelegenheit benutzt.
Seine Lippen verrieten allerdings nichts von diesem
Gedankengang.
In diesem Augenblick tauchte ein neuer Monolith auf,
diesmal neben dem Schreibtisch. Seine Aufschrift verriet ihn
als
SEELE 03. Seine Stimme kam aus der selben Richtung, diesmal war
ihr Akzent deutlich amerikanisch.
"Gut. Was ist mit dem Piloten?"
"Er wird rechtzeitig ankommen."
Ein neuer Monolith tauchte auf, diesmal hinter ihnen.
Hätten sich Ikari und Fuyutsuki umgedreht, dann hätten sie ihn
als SEELE 11 erkennen können.
"Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Die Amerikaner
sind nicht für ihre Qualität bekannt."
"WAS?" SEELE 03 meldete sich zu Wort. "Ich habe die
Bauarbeiten persönlich überwacht."
"Gut." Die Stimme von SEELE 11 schien nicht recht
befriedigt, aber entschlossen, dieses Thema nicht weiter zu
diskutieren.
Ein weiterer Monolith tauchte auf, diesmal direkt vor
Ikari. Wer ihn gut kannte, konnte erkennen, wie er erstarrte.
Eine für ihn sehr seltene Reaktion. Deutlich konnte er die
Worte
"SEELE 01 - Audio only" lesen. SEELE 01. Das musste Lorenz Kiel
sein. Unangenehme Schweißperlen bildeten sich auf seinem
Nacken.
"Ikari." Es klang nicht nach einer Anrede, was Kiel da
sprach, vielmehr nach einer Feststellung. "Wann wird EVA-03
endgültig einsatzbereit sein?"
"In spätestens zwei Wochen."
"Gut. Genau, wie unser Szenario es festlegt."
Es schien als würde er kurz nachdenken.
"Sie können gehen." Kiel entließ sie aus ihrer Position.
Die Lampen, die den Schreibtisch erleuchteten, gingen aus. Der
Raum wurde bis auf die leuchtenden Schriftzüge auf den
Monolithen völlig schwarz.
"Können wir ihm wirklich trauen?" SEELE 07 hatte seine
Zweifel.
"Wir brauchen ihn. Wir müssen uns um wichtigeres als die
Verteidigung der Erde kümmern." Kiels stimme klang
entschlossen.
"Trotzdem..."
"Im Moment können wir daran nichts ändern."
Die Säulen verschwanden. Nichts als völlige Dunkelheit
blieb im Raum zurück.
42
"Schrecklich! Ich hasse Aufsätze!"
Dennoch war es Asuka irgendwie gelungen, die letzten
beiden
Unterrichtsstunden zu überleben. Sie streckte sich. Ihre Hand
schmerzte fürchterlich. Sicher hatte sie wieder einen Krampf.
Dann blickte sie sich im Zimmer um. Toji war schon
verschwunden.
Klar, er wollte seine Schwester heute aus dem Krankenhaus
abholen.
"Wo ist eigentlich Ayanami?" Shinjis Stimme riss sie aus
ihren Gedanken. Sie verzog das Gesicht. Schon wieder diese
Streberin!
"Woher soll ich das wissen?!" rief Asuka ungehalten.
"Wahrscheinlich soll sie mit ihrer EVA aufpassen, für den Fall,
dass irgendwas in Matsushiro schiefläuft."
Bei diesen Worten nahm Shinjis Gesicht einen besorgten
Ausdruck an.
"Was meinst du mit 'wenn etwas schiefläuft'?"
"Mein Gott!" Asuka verdrehte (wieder mal) die Augen. "Nun
mach dir nicht in die Hose, nur weil du diesen Alptraum
hattest!"
"Du hast selbst gesagt, es war mehr als ein Traum!"
"Ach, Unsinn!"
Shinji starrte sie an. Der besorgte Ausdruck wollte nicht
von seinem Gesicht weichen. Irgendwie konnte er auch nicht
glauben, dass Asuka scheinbar zwischen ihren Persönlichkeiten
einfach hin- und herschalten kann.
"Aber, du hattest doch..."
In gewisser Weise hatte Shinji Glück, als in dem Moment
der
Lehrer das Zimmer betrat, einen ihm unbekannten Jungen im
Schlepptau. Er hatte blaue Augen, die den Eindruck erweckten,
als könnten sie alles durchschauen. Shinji sah genauer hin. Der
Junge konnte maximal siebzehn Jahre alt sein, doch seine Augen
sahen aus als hätten sie schon viele Jahrzehnte erlebt. Sehr
viele. Er hatte dunkelblonde Haare und war schätzungsweise
mindestens einen Kopf größer als Shinji. Er schien einer von
den
Typen zu sein, mit denen man sich lieber nicht anlegen sollte,
wenn man die eigene Gesundheit schätzt. Aber diese Augen... sie
passten überhaupt nicht zum Rest des Bildes. Für einen kurzen
Moment blickte er Shinji in die Augen. Er hatte das unangenehme
Gefühl, als würde dieser Junge bereits jetzt mehr über ihn
wissen als er selbst.
Dieser Eindruck wurde allerdings schnell durch das
Lächeln,
das er ihm zuwarf, wieder relativiert.
"Ich bitte um eure Aufmerksamkeit." die Stimme des Lehrers
ließ das Geflüster im Raum ersterben. "Wir haben von heute an
einen neuen Mitschüler."
Er trat beiseite. Der Neue trat an seine Stelle. Shinji
schaute ihn an, doch der Eindruck, den er zuvor noch von ihm
hatte, war wieder verflogen. Die Augen strahlten in die
Klasse wie die eines ganz normalen Jugendlichen.
"Mein Name ist Gregor Argusow." stellte er sich vor. "Ich
wurde in Russland geboren, bin aber von meinem zweiten
Lebensjahr an in Deutschland aufgewachsen."
Asuka wurde aufmerksam. Ein teilweise Deutscher, so wie
sie
selbst.
"Ich bin 16 Jahre alt," fuhr Gregor fort. "Wie ihr
sicherlich an meiner Aussprache bemerkt habt, ist mein
Japanisch
nicht allzu gut. Aus diesem Grund habe ich auch die Ehre, eure
Aufsätze zu lesen."
Ein Raunen ging durch die Klasse. Für einen Neuen machte
er
einen ziemlich selbstbewussten Eindruck.
"Ach ja, und noch etwas: Ich bin frei von Vorurteilen. Es
liegt ganz an euch, ob wir gut miteinander auskommen werden
oder
nicht."
Er setzte sich auf einen der vielen noch freien Plätze.
Der
Lehrer ging zurück an seinen angestammten Platz.
"Nun, da ihr euch kennt, können wir mit dem Unterricht
beginnen..."
43
"Wie hätte es auch anders sein sollen." Misato
grinste
Ritsuko an. "Alles läuft nach Plan."
"Sei dir nur nicht zu sicher. Das schwerste kommt noch."
antwortete die Wissenschaftlerin.
"Liste bis 3650 klar!" meldete einer der Techniker.
Ritsuko straffte sich. "In letzte Phase gehen.
Nervenverbindung etablieren!"
Ein tiefes Brummen meldete das Anspringen der Generatoren
für die zusätzliche Energie, welche benötigt wurde, um die
Synchronverbindung zwischen Mensch und EVA herzustellen.
"Liste bis 5680 klar!"
Ein Lächeln bildete sich auf Ritsukos Lippen.
"Liste bis 6420 klar!"
Es musste funktionieren.
"Liste bis 8930 klar!"
Es würde funktionieren.
"Liste bis 9540 klar!"
"Liste bis 9780 klar!" Die Stimme des Technikers war außer
dem Brummen der Generatoren der einzige vernehmbare Laut auf
dem
Testgelände, doch sie spiegelte die Spannung, die hier
herrschte
perfekt wieder.
"Liste bis 9890 klar!"
"Liste bis 9970..."
Plötzlich schallte gellender Alarm durch den Kontrollraum.
"Was ist los?" Ritsuko blickte sich hektisch um.
"Ein Engel, Sir!"
"Aber... das ist... UNMÖGLICH!!" Ihre Stimme war beinahe
verzweifelt.
"Doch!" Misatos Stimme war ruhig. "Er nimmt direkten Kurs
auf Tokyo-3."
"Ausgerechnet jetzt!" Ritsuko stöhnte auf. "Na gut, das
ist
dein Gebiet" wandte sie sich an Misato.
"Ja." Misatos Blick verhärtete sich. "EVA-01 und 02 sofort
zum vermutlichen Abfangspunkt schicken. "Rei? Du begibst dich
so
schnell wie möglich dort hin."
"Ja, Sir!"
Misato nahm sich nicht die Zeit, die Augen zu verdrehen.
"Sir?" einer der Techniker meldete sich zu Wort.
"Ja?"
"Die Piloten haben Sichtkontakt!"
"Welcher?"
"Ich weiß nicht... wie es aussieht... BEIDE!"
"WAS?! Aber... Shinji! Asuka!"
"Ja?" die beiden antworteten in perfekter Synchronisation.
"Wer von euch hat Sichtkontakt zum Ziel?"
"Ich habe ihn direkt vor mir!" Shinjis Stimme verriet
seine
Anspannung.
"Ich auch!" auch Asuka schien alles andere als ruhig zu
sein.
"Steht ihr an der selben Position?" In Misato begann ein
unheimlicher Verdacht aufzukeimen.
"Nein!"
Misatos Gehirn arbeitete fieberhaft. Einer der Techniker
löste schließlich das Rätsel für sie.
"Der Engel scheint sich geteilt zu haben. NERV meldet,
noch
ein drittes Objekt der selben Art entdeckt zu haben."
Misato schaltete schnell.
"Rei! Mach so schnell du kannst!"
Doch es kam keine Antwort. Misato sah auf einen der
Schirme
und erstarrte. EVA-00 hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
"Rei! Was ist los!?" Misatos Stimme überschlug sich
beinahe.
"Es ist ihre Synchronrate. Sie ist zu niedrig. Gerade mal
9,2 Prozent." Ritsukos Stimme war die ruhigste hier im
Kommandoraum.
In ihrer Pilotenkapsel saß Rei zusammengehockt mit
geschlossenen Augen.
"Warum...? Warum ich...?"
Misato schaltete erneut. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft.
Es kam auf jede Sekunde an.
"Status des Z... der Ziele?"
"Verhalten sich ruhig!"
"Ritsuko?" Misato drehte sich zu ihrer Freundin.
"Ja?"
"Wie sieht es mit EVA-03 aus?"
"Du... du willst doch... nicht... etwa..."
"Oh doch, ich will! Geht es?"
Ritsuko überblickte schnell ein paar Daten. "Nun ja. Die
Synchronisation ist stabil. Sämtliche Energiewerte normal. Der
Pilot..."
"Danke. Mehr wollte ich nicht hören. Toji? Hörst du mich?"
"J-ja?" seine Stimme klang nicht gerade allzu erfreut.
"Ich will, dass du so schnell wie möglich nach Tokyo-3
rennst und dort in den Kampf eingreifst!"
"Ja, aber..."
"Nach dem Start hast du exakt drei Minuten. Für mehr
reicht
deine Energiereserve nicht aus. Du musst dir, wenn du
angekommen bist, sofort ein Umbilikal-Kabel schnappen!
Verstanden?"
"Ja, aber..."
"Gut. EVA-03, START!!!"
"Das ist garnicht gut..." Tojis Stimme war voller Zweifel.
Es war ein idyllisches Plätzchen. Fernab von der
hektischen
Großstadt ist die Natur noch relativ unberührt. Ein Reh stillte
gerade seinen Hunger an einer Futterkrippe. Das Heu war so
herrlich frisch. Das Reh schnupperte die frische, gesunde
Waldluft.
Die Bäume und Wiesen strahlten ein beruhigendes Grün aus.
Ein paar Vögel flogen über den Wipfeln. Das Reh schaute ihnen
nach. Der Himmel war so herrlich blau. Kein Wölkchen hinderte
die Sonne daran, diesen Fleck Natur mit Licht und Wärme zu
versorgen.
Plötzlich erzitterte der Erdboden. Das Reh schaute
erschreckt auf. Erneutes Zittern. Diesmal viel stärker. Und
dazu
dieser Lärm. Wie ein Blitz, der in der Ferne einschlägt. Nur
war
weit und breit kein Wölkchen am Himmel. Wieder zitterte die
Erde, in immer kürzeren Abständen. Das wurde dem Reh zu viel.
Es
sprang auf und verschwand im Wald.
Kaum einen Augenblick später wurde die Futterkrippe
mitsamt
der sie umgebenden Lichtung von einem überdimensionalem,
schwarzen Fuß vernichtet. Er verschwand genauso schnell, wie er
aufgetaucht war.
Wäre das Reh noch da gewesen, hätte es die riesige Gestalt
von EVA-03 sehen können, die nach Tokyo-3 rannte.
"Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Überhaupt nicht
gut..." Asuka wurde immer unruhiger. Immer wieder wechselte ihr
Blick zwischen dem Engel vor ihr und ihren Anzeigen. Wieso
bewegte er sich nicht? Was wollte er? Worauf wartete er?
"Shinji?" Sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken
beschäftigt, um zu bemerken, wie monoton ihre Stimme klang.
"Ja?" Seine Stimme klang auch nicht viel anders.
"Was macht dein Engel?"
"Hängt reglos in der Luft. Hat sich nicht einen Millimeter
gerührt."
"VERDAMMT! WAS SOLL DAS!?" Asukas Nerven waren
mittlerweile
bis aufs äußerste gespannt. Sie war drauf und dran, auf den
Engel vor ihr loszuspringen, als sie beinahe von EVA-03 über
den
Haufen gerannt wurde.
"IDIOT! Kannst du denn nicht aufpassen?!"
"Ich habe nur noch zehn Sekunden!" mehr hielt Toji nicht
für nötig zu sagen. Seine EVA rannte noch ein paar Blöcke
weiter
und stöpselte sich dort an ein freiliegendes Umbilikal-Kabel,
sprichwörtlich in letzter Sekunde. "Puh... Das war knapp!"
"Seid ihr jetzt alle auf Position?" Misatos Stimme kam
durch die Kom-Verbindung.
"Ja!" antworteten die drei zugleich.
"Gut. Da Reis EVA streikt, müsst ihr euch allein um den...
die Engel kümmern." berichtigte sie sich.
Asukas Lippen formten ein kaltes, befriedigtes Lächeln,
als
sie die Bedeutung von Misatos Worten verstand. Die Streberin
hatte versagt. Geschah ihr Recht. Was würde nur Kommandant
Ikari
zu dem Versagen seines Lieblings sagen?
"... ihr werdet sie vorerst nur beobachten." Misatos
Stimme
holte sie in die Wirklichkeit zurück.
Plötzlich bewegte sich das rot glühende Kreuz vor Asuka.
"Misato... Mein Engel wird aktiv..."
"Meiner auch!" Shinji betrachtete seine Anzeigen.
"Der hier ebenfalls!" auch Tojis Ziel erwachte zu Leben.
"Ok... VERNICHTET SIE!!!" Misatos Befehl klang vielmehr
nach einem Schlachtruf.
Der Kampf begann. Asuka duckte sich hinter einem der etwas
niedrigeren Häuser. Der Engel schien das nicht zu beachten. Für
ein paar Sekunden war es still. Asuka wollte gerade wieder
hervorspringen, als das Gebäude vor ihr in einer
ohrenbetäubenden Explosion zerbarst. Die Druckwelle schleuderte
die EVA in einen der umliegenden Wolkenkratzer, welcher darauf
hin zusammenbrach und die Einheit unter sich begrub. Doch Asuka
wäre nicht Asuka wenn sie sich nicht blitzschnell wieder
befreit
hätte. So schnell es ging, rannte sie zu einem der Gebäude,
deren einziger Sinn die Versorgung der EVAs mit Waffen war und
entnahm ihm einen Raketenwerfer. Sie drehte sich um und blickte
dem Engel entgegen. Dann bemerkte sie die Energiekugel, die
sich
über der Spitze des Ziels bildete. Sie hob den Raketenwerfer
und
feuerte darauf. Ein paar Explosionen folgten, ohne aber
nennenswerten Schaden anzurichten. Als Asuka wieder etwas
erkennen konnte, bemerkte sie gerade noch, wie aus der Kugel
ein
Energiestrahl auf sie zuschoss. Im letzten Moment sprang sie
beiseite, doch der Strahl trennte fein säuberlich den Arm, in
dem sie den Raketenwerfer hielt, ab. Sie schrie vor Schmerzen.
Shinji erging es nicht viel besser. Er konnte zwar bisher
den Energiestrahlen seines Gegners entgehen, doch auch er
konnte
keinen effektiven Schaden anrichten. Er versuchte immer wieder,
mit dem Gewehr einen Treffer zu landen, doch die Projektile
prallten am AT-Feld des Ziels ab. Dann kam der nächste Strahl.
Der Gegner hatte zwar eine Feuerfrequenz von lediglich zwei
Schuss pro Minute, aber die Energiestrahlen waren so
zielsicher,
als wäre er eine Maschine und kein Lebewesen. Shinji warf sich
beiseite und schaffte es wieder haarscharf, dem Strahl zu
entgehen. Erneut schoss er auf den Engel. Wieder kein Erfolg.
Dann explodierte ein Gebäude neben ihm und sand ihn im hohen
Bogen in einen weiteren Wolkenkratzer, mit dem selben Effekt
wie
es zuvor bei Asuka geschehen war. Doch dieses Gebäude war
ungefähr anderthalbmal so hoch wie Asukas und sorgte so dafür,
dass er sich nur mühselig davon befreien konnte. Als er wieder
herauskam, hatte der Engel bereits den nächsten Energiestrahl
für ihn parat.
Toji versuchte, dem Gegner mit einem überdimensionalen
Schwert beizukommen. Doch wie bei den Anderen prallten seine
Hiebe am scheinbar unzerstörbaren AT-Feld des Gegners ab.
Aufgrund seiner relativ geringen Entfernung zum Ziel war er von
den Energiestrahlen nicht so gefährdet wie die Anderen.
Trotzdem
gelang es dem Engel, immer wieder verheerende Schläge gegen die
EVA zu führen. Doch Toji kämpfte verbissen weiter. Er hatte
nicht vor, seinen ersten Kampf zu verlieren. Der nächste
Energiestrahl. Diesmal traf er. In hohem Bogen flog EVA-03 in
den nächsten Wolkenkratzer. Doch der krachte nicht zusammen.
Vielmehr brach ihm die EVA die obere Hälfte ab, während das
Fundament und die ersten 30 Stockwerke unberührt stehen
blieben.
Hart prallte er weiter hinten auf. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Auch mit nur einem Arm war Asuka noch imstande zu kämpfen.
Wenn der Engel einen Faustkampf wollte, so sollte er ihn haben.
Immer wieder schlug sie in blinder Wut auf ihn ein. Sie
bemerkte
nicht die Streifschüsse der Energiestrahlen, die ihr beinahe
das
Leben kosteten. Wieder schlug sie auf ihn ein. Und wieder. Und
wieder. Sie erschrak sich regelrecht, als ihre Faust das AT-
Feld
des Engels zertrümmerte und so hart auf den Kern des Gegners
einschlug, dass sich Risse darin bildeten. Noch ein weiterer
Schlag. Der Engel verging in einer Explosion, die noch ein paar
weiteren Wolkenkratzern ihre Existenz kostete.
"JAAA!!!" schrie sie euphorisch. "ICH HAB' DICH!!!"
Plötzlich schoss ein Energiestrahl knapp an ihrer Schulter
vorbei un trennte ihr auch noch den anderen Arm ab. Von
Schmerzen gepeinigt drehte sie sich um. Das Kreuz eines der
Engel schwebte ein paar Meter über der Straße. Sie blickte auf
die Displays. Shinji und Toji waren noch im Kampf gegen ihre
Gegner verstrickt. Sie blickte zurück auf den Engel und auf die
Stelle, die die Explosion ihres Gegners kennzeichnete. Ihr
Gesicht war völlig blass geworden.
"Das ist merkwürdig..." Maya Ibukis Gesicht zeigte Spuren
von Besorgnis.
"Was ist?" Gendo Ikaris Stimme war so kalt wie immer.
"Nun... diese Engel... ihre Positionen bilden ein exaktes
gleichseitiges Dreieck."
"Und?"
"Der Mittelpunkt dieses Dreiecks, er liegt... genau..."
"Ja?" Die Stimme des Kommandanten erweckte einen leicht
genervten Eindruck.
"... genau... ÜBER UNS!!!"
Ein aufgebrachtes Raunen ging durch die Besatzung der
Kommandozentrale. Von irgendwo über ihnen war ein tiefes
Brummen
zu hören. Es wurde lauter. Und noch lauter. Immer lauter.
Irgendwann war es so laut, dass sich das Personal die Ohren
zuhalten musste, um nicht völlig taub zu werden.
Und dann geschah es. Erst bröckelte nur ein wenig Putz von
der Decke ab. Plötzlich und unter ohrenbetäubendem Lärm schien
die Decke zu explodieren. Staub und Gesteinsbrocken füllten
augenblicklich die gesamte Zentrale. Sie verletzten etliche
NERV-Mitarbeiter.
Dann sahen sie ihn. Er hatte nicht mehr die Form eines
Kreuzes. Er wirkte vielmehr wie eine Kugel. Und er glühte nicht
mehr rot sondern in gespenstigem Blau. Geschockt betrachtete
Maya das Bild, das sich ihr bot, außerstande, sich zu bewegen.
Für einige Minuten schien die Zeit stillzustehen.
Als sich der Staub gelegt hatte, konnten sie den Engel in
seiner vollen Schönheit bewundern. Doch er lies ihnen nicht die
Zeit dazu. Über seiner Spitze bildete sich, wie bei den anderen
zuvor, eine Kugel aus Energie. Sie wurde immer größer. Jeden
Moment musste der Energiestrahl abgeschossen werden...
Doch er kam nicht mehr dazu. In dem Moment. in dem er
seinen Strahl abgeschossen hätte, wurde sein Kern von einem
überdimensionalem roten Fuß zertrümmert. EVA-02 war den
Schacht,
den der Engel sich nach unten geschaffen hatte hinabgesprungen
und auf dem Engel, der noch genau darunter stand, gelandet.
Zufälligerweise hatte sie dabei den Kern des Gegners getroffen.
Triumphierend blickte Asuka auf den gefallenen Feind. Doch
plötzlich kam ihr eine beängstigende Vorstellung. Es wäre nicht
besonders gut, wenn der Engel ausgerechnet hier unten
explodiert. NERV brauchte seine Arbeiter noch.
Da der EVA die Arme fehlten, brachte Asuka den Engel mit
Fußtritten innerhalb weniger Sekunden zur Abschussrampe.
"MAYA! JETZT!!" schrie sie, ohne darauf zu achten, dass
sie
eigentlich mit einer Vorgesetzten redete.
Ohne erst irgendeine Route zu berechnen, löste Maya den
Abschussvorgang aus.
Irgendwo oben an der Oberfläche öffnete sich kurz darauf
eine Schleuse und entblöste einen Schacht, der tief in den
Untergrund führte. Nur einen Augenblick später schoss EVA-02
gemeinsam mit dem Engel hervor, kurz bevor dieser in einer
Explosion von gewaltigem Ausmaß verging. Keine Sekunde zu früh.
Puuh...
44
Die Bäume rasten vorbei. Nein, nicht die Bäume,
sondern der Sportwagen, der die Straße entlangraste. als säße
eine Verrückte am Steuer. Nun, in gewisser Beziehung konnte man
mit dieser Annahme recht haben, vor allem, wenn man in Betracht
zog, dass dieses Auto Misatos Auto war. Wie auch immer, der
Wagen raste also die Waldstraße mit einer Geschwindigkeit, die
jedem Streifenpolizisten die Freudentränen in die Augen
getrieben hätte (schließlich will der ja Bußgelder einsammeln),
entlang.
Ritsuko saß auf dem Beifahrersitz. Obwohl sie angeschnallt
war, stützte sie sich zusätzlich krampfhaft mit den Händen am
Armaturenbrett ab. Auch sie schien Misatos Fahrstil nicht so
ganz zu vertrauen. Ihr angespannter Gesichtsausdruck zeugte
ebenfalls von dieser inneren Einstellung.
Hinter Ritsuko, auf dem Rücksitz sozusagen, saß Rei und
starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Nicht einmal jetzt,
wo
sie doch offensichtlich in Lebensgefahr schwebte, entkam sie
ihrer Traumwelt.
Misato hingegen saß ganz lässig hinterm Lenkrad, in der
einen Hand das Steuer, in der anderen ein Funktelefon.
"Hmm... Ja... Verstehe... als der Engel in der Zentrale
vernichtet war, verschwanden auch die anderen... ja... hmm...
nein, natürlich fahr' ich nicht zu schnell, Asuka! Wir treffen
uns hinterher noch einmal zu einer Besprechung! In Ordnung? ...
Gut!"
Misato drehte sich um und grinste zu Ritsuko hinüber, die
ihr aber ein eher zurückhaltendes Lächeln entgegenbrachte.
45
Alle hatten sich versammelt: Misato, Ritsuko, Shinji,
Asuka, Toji, Gendo, Kohzoh und ein Großteil des NERV-Personals.
Nur Rei fehlte. Die Sektgläser, die überall herumstanden,
sprachen bereits ohne das man hätte hinhören müssten, für den
Charakter dieser "Besprechung".
Allerdings waren sie noch alle voll. Noch war man ernst.
"So, Asuka. Nun berichte uns mal schön genau, wie du
diesen
Engel erledigt hast." Misatos Stimme klang für sie ungewöhnlich
ernst.
"Nun... es fing bereits an, bevor der Kampf begann. Ich
meine, die Engel... verhielten sich passiv. Als ob sie auf
etwas
warten würden. Das hat mich schon stutzig gemacht. Das nächste
war... nun... die drei Kämpfe fingen genau in dem Moment an, in
dem EVA-03 hier war und sich angestöpselt hatte. Wie auf ein
geheimes Kommando."
Misato nickte. Soweit konnte sie die Sache auch
nachvollziehen.
"Das dritte war... ich... hatte mein Ziel vernichtet.
Trotzdem... war da ein neuer Engel. Es war keiner von den
anderen beiden. Es war vielmehr, als wäre er wieder
auferstanden. Und..." sie blickte in die Runde "... ich hatte
die ganze Zeit über das Gefühl, als wären das nur Köder. Als
würde der eigentliche Deal ganz woanders ablaufen."
Erneut allgemeines Nicken.
"Dann hörte ich über Funk, was Maya in der Zentrale
herausgefunden hat. Da wusste ich mit Sicherheit, dass wir ihm
auf den Leim gegangen sind. Ich bin so schnell wie möglich
dorthin gerannt und dann reingesprungen. Ohne Arme war das
ziemlich schmerzhaft. Naja, und den Rest kennt ihr ja..."
Misato klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. "Gut
gemacht, Asuka. Sehr gut. Ohne dich gäbe es NERV nicht mehr."
Auch die anderen ließen es sich nicht nehmen, ihr die Hand
zu schütteln und sie zu ihrem Sieg zu beglückwünschen. Asuka
grinste selbstbewusst in die Runde.
"Und vor allem: der Streberin habe ich's gezeigt!"
Während der Rest die Augen verdrehte blickte sich Shinji
plötzlich fragend um. "Wo ist eigentlich Ayanami?" fragte er
schließlich.
"Keine Ahnung", antwortete Misato. "Vorhin war sie noch
da."
"Vielleicht muss sie sich noch von der Fahrt erholen. Sie
ist das ja schließlich nicht so gewöhnt wie ich!" ließ sich
Ritsuko vernehmen.
Alle brachen in Gelächter aus und griffen zu den Gläsern,
um auf Asukas Sieg anzustoßen.
46
Die Vögel zwitscherten. Einer von ihnen setzte sich
auf ihren Fuß. Es kitzelte. Rei öffnete die Augen, um ihren
kleinen Besucher zu beobachten. Sie lauschte den Geräuschen,
die
seine kleine Kehle produzierte. Es war eine schöne Melodie.
Sie blickte sich um. Die Bäume waren grün. Das kleine
Bächlein neben ihr klar, sie konnte jeden einzelnen Kiesel am
Grund erkennen. Wieso war ihr die unendliche Schönheit des
Waldes bislang noch nicht aufgefallen?
Sie dachte zurück an den Nachmittag, an dem ihre Gedanken
ein Selbstgespräch geführt hatten.
"Wieso nehmen sie mich noch, wo ich doch immer schlechter
werde?"
"Wozu lebe ich"
"Um EVA zu steuern."
"Warum habe ich diese Alpträume?"
"Um die Wahrheit zu finden."
"Was ist die Wahrheit?"
"Du wirst sie finden."
"Wie kann ich sie finden?"
"Du wirst sie finden."
"Warum ausgerechnet ich?"
"Es ist deine Bestimmung, sie zu finden..."
Hatte sie wirklich ein paar Antworten gefunden. Der Wald
schien... so... rein. Wie die Wahrheit.
47
Durch Mayas beherztes Eintreten in den Verlauf der
Feier war es bei einem Glas Sekt geblieben. Für die Kinder,
zumindest. Shinji, Asuka und Toji wussten nicht so recht, ob
sie
das gutheißen oder bedauern sollten. Maya hatte es zumindest
gut
gemeint. Jetzt liefen sie durch den Park auf dem Weg nach
Hause.
Sie hatten diesen Weg vor allem gewählt, weil sie sich nicht
Misatos Fahrstil antun wollten, gewählt. Außerdem war die Natur
so herrlich frisch heute.
"Diese Träume sind schon merkwürdig. Ich meine... eine
Wüste... rote Augen... was hat das zu bedeuten?" Toji war
ziemlich nachdenklich.
"Wüste? Rote Augen?"
Erschreckt blickten sie auf. Gregor saß auf einer Bank am
Weg, wo er wohl bislang Zeitung gelesen hatte. Nun blickte er
sie an.
"Oh, Gregor, du bist es." Shinji fand als erster die
Sprache wieder. "Das hat nichts zu bedeuten."
"Das glaube ich nicht." Gregor blickte ihn ernst an. "Ich
habe in einem eurer Aufsätze von so etwas gelesen."
"WAS?" riefen die drei wie aus einem Mund.
"Ja. Es passte überhaupt nicht zur eigentlichen
Aufgabenstellung und war ziemlich konfus."
"Jemand hat in einem Aufsatz über diese Träume
geschrieben?"
"Ja. Es ging irgendwie um EVAs und Engel und um diese
Augen
und die Wüste. Ich glaube, wenn das ein Traum ist, dann hat er
jemanden ziemlich mitgenommen."
"Wer hat diesen Aufsatz geschrieben?" fragte Toji. Asuka
glaubte, die Antwort bereits zu kennen, überließ es aber
trotzdem Gregor, den Namen zu nennen.
Er dachte kurz nach. "A... Ayanami, glaube ich. Ja! Genau,
Rei Ayanami hieß sie. Sagt euch das was?"
Asuka, Shinji und Toji schauten sich an. Dann nickten sie.
48
Rei wusste nicht, wie spät es war, als sie an diesem
Abend nach Hause kam. Müde schleppte sie sich die Gänge auf dem
Weg zu ihrer Wohnung entlang. Plötzlich vernahmen ihre Ohren
etwas, das sie noch nie zuvor gehört hatte. Dennoch weckte es
vertraute Gefühle in ihr. War es das, was die Menschen als
Musik
bezeichneten.
Sie lehnte ihr Ohr gegen die Tür, hinter der die Klänge am
besten zu hören war. Nach einer Weile setzte sie sich hin und
lehnte ihren Rücken gegen die Tür. Diese Musik war irgendwie...
so... so befreiend.
Sie bemerkte nicht mehr, wie sie schließlich in die Welt
der Träume hinüberglitt...
=== ENDE KAPITEL 3 ===
Anmerkungen:
============
Viele von euch werden jetzt sagen: Moment mal, die EVAs, mit
denen
SEELE NERV angriff (oder besser: angreifen wird), haben doch
gar
keine Piloten. Das stimmt. Aber ich musste den Trend, den ich
gleich zu Beginn des ersten Kapitels angefangen hatte,
fortsetzen.
Aus dem Skript, dass ich vom Film "End of Evangelion" gelesen
hatte,
ging dies in keiner Zeile hervor, und bevor ich die korrekte
Info
fand, hatte ich das erste Kapitel bereits geschrieben. Und da
ich
zu faul war, das nochmal umzuändern, steckte ich es einfach in
die
Kategorie "dichterische Freiheit". Aus. Schluss. Vorbei.
Dank an:
========
Christian Schulze, für seine tatkräftige Unterstützung und
konstruktive Kritik. Dieses Kapitel war
wirklich harte Arbeit für ihn. Deswegen:
Vielen, vielen Dank!
Nächstes Kapitel:
=================
Kapitel 4 - Gedanken.
24.03.2001