Zum Inhalt der Seite

Der Jadejunge

Die Erzählungen, Teil 1 - Shounen-Ai
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

~Prolog~

"Wetten wir?"

"Niemals, Brüderchen, niemals."

"Komm schon, eine Wette unter Brüdern..."

"Nein, du kannst mich nicht dazu überreden."

"Oh, aber wieso denn nicht, großer Bruder?"

"Weil ich nur dann wette, wenn ich eine reale Chance auf Gewinn habe."

"Ach, du gibst also zu, dass du's nicht schaffen würdest?"

"Nein."

"Nein? Wieso dann nicht? Komm schon..."

"Nein. Weißt du, Brüderchen, ich habe noch einen zweiten Grundsatz."

"Ach ja? Und der wäre?"

"Keine Wetten mit dem Tod."

~1 - Jama tan'ka~

Ein leichter Windhauch glitt durch die Höhle und ließ einen Wassertropfen von der Decke tropfen. Die kleine Wasserkugel erzeugte ein leises Platschen, als sie auf der Pfütze am Boden landete. Ein dumpfes Geräusch zerriss die Stille in dem finsteren Gewölbe. Das Platschen wiederholte sich. Es klang fast so, als würde ein kleines Wesen durch Wasser laufen.
 

Ein Paar Augen erschien am Eingang der Höhle. Bläulich schimmerten sie in die Dunkelheit hinein. Der Besitzer der Augen grinste und zeigte so eine Reihe von strahlend weißen Zähnen. "Ai, jama tan'ka." Das Wesen lachte leise und schritt weiter voran über den nassen Höhlenboden. Sein Körper war in der Dunkelheit fast nicht auszumachen, nur eine schwache Silhouette deutete an, dass sich etwas bewegte. Wären nicht die schimmernden Augen gewesen, wäre das Wesen nicht erkennbar gewesen. Es hielt inne. Die Silhouette bewegte sich und plötzlich flammte ein Feuer auf.
 

Ein junger Mann stand in der Mitte der Höhle. Selbst jetzt, im Schein des Feuers, das in seiner Hand loderte, sah er mehr wie ein Schatten aus als ein normales Wesen: Seine schwarze Kleidung schien sich zu bewegen und bedeckte seinen Körper völlig. Selbst seine Hände steckten in tiefschwarzen Handschuhen. Der Kragen seines Hemdes war nach oben gerichtet und umschloss so seinen Hals. Lediglich im Gesicht war etwas blass-weiße Haut zu erkennen.

Die bläulichen Augen des Mannes waren auf die Mitte der Höhle gerichtet. Dort, vom Boden bis zur Decke reichend, stand ein riesiger, glasähnlicher Kristall. "Tan'ka, tan'ka, tan'ka.", murmelte der Mann wieder.

Mit zwei großen Schritten stand er vor dem Kristall. Lächelnd legte er eine Hand auf das silbrig-schimmernde Gebilde und schloss die Augen.
 

"Du bist unvorsichtig gewesen, Dieb."

Die bläulichen Augen flogen auf in Entsetzen. Ruckartig wirbelte der Mann herum. Im Eingang, wo er selbst gerade erst gestanden hatte, stand jetzt eine weitere Gestalt. Ein hochgewachsener, blauäugiger Mann mit blonden Haaren. Die Rüstung, die er trug, war mit verschiedenen Emblemen geziert, am größten war jedoch die goldene Sonne auf seinem Brustkorb.

"Diebe wie du sollten nicht in solch gefährliche Gegenden eindringen, Kleiner."

Der Schwarzgekleidete grinste. Es stimmte, dass er vielleicht halb so groß war wie der Hüne vor ihm, aber dass machte ihm noch lange keine Angst.

"Sieh an, sieh an, ein Ritterchen.", höhnte er.

Der Ritter zog sein Schwert und schritt auf den Kleineren zu. "Ein flottes Mundwerk nützt dir jetzt auch nichts mehr, Dieb. Du hättest nicht hier eindringen sollen. Es ist verboten, dies hier zu sehen."

Der Schwarzgekleidete hörte auf zu grinsen. "Dummkopf! Dein Orden wüsste nicht einmal, was das hier ist, wenn es hier geschrieben stünde!" Er hob seine linke Hand, auf der noch immer ein kleines Feuer brannte, und schloss sie. Das Feuer ging aus. Wieder war die Höhle in tiefe Dunkelheit getaucht.

"Das nützt dir auch nichts, Dieb. Mit deinen kleinen magischen Tricks wirst du-" Der Ritter verstummte und ein gurgelndes Geräusch war zu hören. "Jama si pueblo, con karano.", flüsterte eine Stimme.

Wiederum war das Platschen zu hören. "Nach dieser kleinen Störung widme ich mich wieder dir, Br-"

Ein Klirren hallte in der Höhle wieder. Dann ein dumpfer Schlag, schließlich ein leises Stöhnen.
 

Erneut flammte ein Feuer in der Höhle auf. Diesmal jedoch in Form einer Fackel.

Der Schwarzgekleidete lag am Boden. Ein Ritter stand hinter ihm, das Schwert mit dem er den ,Dieb' bewusstlos geschlagen hatte noch in der Hand. Zwei weitere Ritter knieten neben dem ersten, der mit aufgeschlitzter Kehle am Boden lag.

"Hauptmann, Kendrick ist tot."

Der Ritter am Kristall steckte sein Schwert wieder ein. "Das hier ist ein schlauer Bursche... Solches Packs müsste ausgerottet werden. Schurken wie er dürften nie Magie erlernen."

Die zwei anderen Ritter nickten bekräftigend.

"Was nun, Hauptmann?"

Der angesprochene grummelte. "Was wohl? Unsere Befehle sind klar: Niemand darf von diesem komischen Kristall erfahren." Sein Blick glitt hinunter auf den reglosen Körper. "Eigentlich sollten wir ihn hier und jetzt töten..."

"Aber Sir,", fiel im der dritte Ritter ins Wort, "der Magier sagte, in der Nähe des Kristall dürfe kein Blut vergossen werden."

"Ach was!", herrschte der Hauptmann ihn an, "Kendrick ist doch auch tot und nichts ist geschehen, oder? Dieses ekelhafte Pack hier sollte als Strafe dafür gleich sterben!"

Die beiden Ritter nickten. "Da habt ihr wohl Recht, Sir."
 

Der Hauptmann nahm wieder sein Schwert in die Hand. "Nein!", donnerte da eine Stimme vom Eingang her.

Drei Augenpaare richteten sich auf einen alten Mann in einer hellbraunen Robe. "Tut es nicht! Kein Töten in der Nähe des Kristalls!"

Der Hauptmann senkte sein Schwert wieder. "Alter Mann, unser Kamerad wurde von diesem Dieb hier getötet und nichts ist geschehen. Rache für unseren Freund ist also das mindeste, was hier geschehen sollte."

Der Zauberer hob beschwörend seine Hände. "Nein! Um Himmels willen! Schafft die Leiche eures Kameraden hier heraus und den Dieb ebenfalls! Beeilt euch!"

Die beiden Ritter sahen unschlüssig vom Zauberer zu ihrem Hauptmann. Dieser schüttelte erbost den Kopf. "Nein. Dieses elende Pack soll hier und jetzt sterben." Damit hob er wieder das Schwert und positionierte es über dem Kopf des Diebes.

"Ich flehe euch an! Ihr werdet ein großes Unheil über uns alle bringen!"

"Halt dein Maul, alter Mann!", fauchte der Hauptmann wieder.
 

Da geschah es.

Die Hand des toten Ritters regte sich. Ein Rucken ging durch den Körper des Toten. "Sir!", schrieen die Ritter und wichen einen Schritt zurück, gleichzeitig ihre Waffen ziehend.

"Ich sagte es euch doch! Nun sind wir zu spät, viel zu spät..." Der Zauberer sackte in sich zusammen während der Leichnam vor ihm sich langsam erhob. "Was? Alter Mann, was für ein fauler Zauber ist das?", schrie der Hauptmann.

"Schreit nicht, ihr Narr, sondern nehmt den Dieb und lauft! Ich haltet den Untoten auf - sorgt ihr dafür, dass der Eingang versiegelt wird und niemand mehr hier stirbt!"

Der Hauptmann sah den Dieb am Boden an. "Das Pack hier können wir hier lassen." "Nein! Keine weiteren Toten, dadurch würde unser Problem nur noch größer werden!" Der Zauber deutete auf den Bewusstlosen. "Ellar Tenias!" Ein weißer Staub legte sich auf den Mann in schwarz. "So, jetzt nehmt ihn und lauft. Der Untote beginnt, sich zu orientieren."
 

Die beiden einfachen Ritter, zu Tode erschrocken durch das Ungetüm vor ihnen, ergriffen die Flucht. Fluchend hob der Hauptmann den Bewusstlose auf und rannte ihnen hinterher.

"So, Untoter, hier endet dein kurzes Leben." Der Zauberer machte sich bereit zum Kampf.
 

Währenddessen rannten die drei Ritter durch ein Wirrwarr von Gängen und Korridoren, vom Licht ihrer Fackeln geleitet.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Erde. "Was...?" Einer der Ritter fiel. Erneut ging ein Rucken durch die Erde. "Welchen Unsinn zaubert der Magier jetzt wieder?", fluchte der Hauptmann und rannte weiter, den gefallenen Mann zurücklassend.

Keuchend erreichten die beiden letzten Ritter den Ausgang des Tunnelkomplexes. Der Hauptmann ließ den immer noch bewusstlosen Dieb auf den steinigen Boden fallen und verschnaufte. Unter ihnen, am Fuße des Berges, lag ihr Ausgrabungslager. Sie mussten so schnell es ging dorthin, um dem General von den Vorkommnissen hier oben zu berichten.
 

Ein Grollen durchfuhr den Berg hinter ihm. Weiter oben lösten sich Steine und purzelten hinunter. Einige von ihnen schlugen vor dem Eingang auf und verschlossen so den Weg in das Innere des Berges. Andere stürzten an den beiden Rittern vorbei in die Tiefe, auf das kleine Lager am Fuße des Berges. Wiederum andere schlugen auf den Felsvorsprung ein, auf dem die beiden Ritter standen. Als der Vorsprung nachgab und zerbröselte, fielen sie schreiend, zusammen mit dem Dieb, in die Tiefe.
 

~*~
 

"Halt!"

Die Gruppe Männer blieb stehen und lauschte dem Grollen und Dröhnen vor sich. Unsicherheit machte sich unter ihnen breit, sie waren seit zwei Wochen unterwegs durch die Ödlande und hatten gehofft, hier auf die Ausgrabungsstätte eines Engelsordens zu treffen. Sie mochten zwar keine Engel, brauchten aber dringend neu Vorräte.

"Wir sollten sehen, was dort vorne passiert ist." Der Sprecher war, wie alle anderen Männer, großgewachsen und muskulös. Genau wie die anderen trug auch er einen schweren Rucksack auf seinem Rücken. Schwarze, stumpf aussehende Haare fielen ihm ins Gesicht und über seine ebenso schwarzen Augen. Seine Kleidung hatte schon einmal bessere Tage gesehen, aber trotzdem war sie noch als Lederpanzer erkennbar.

"Na los! Bewegt euch!"

Der Trupp setzte sich in Bewegung. Die zehn Männer sahen sich alle ähnlich, ihre Gesichter verfügten alle über das gleiche kantige Antlitz, sie waren alle groß und muskulös gebaut. Nur ihre Haar- und Augenfarben unterschieden sie deutlich: Beides war beim Anführer schwarz, bei den anderen jedoch war beides rötlich-braun. Am Ende des Trupps lief ein Mann ohne Gepäck, seine Haare grau wie seine Augen.
 

Die Gruppe umrundete den Berg langsam, bis sie schließlich von einem Hügel aus die Zerstörung sehen konnten.

"Bei der Eisdame...", hauchte der Anführer.
 

Die Ausgrabungsstätte war vollkommen zerstört. Augenscheinlich war fast die ganze Südseite des Berges auf das Lager hinab gestürzt. Staub lag in der Luft und behinderte die Sicht.
 

"So wie es aussieht, Lana, ist das gesamte Lager zerstört.", meldete sich ein rothaariger Mann links neben dem Anführer zu Wort. "Wir gehen trotzdem hin. Wir brauchen dringend Vorräte und vielleicht finden wir in den Trümmern etwas."

Die Männer murmelten ihre Zustimmung und setzten sich wieder in Bewegung. Der Anführer ließ sich zurückfallen, bis er neben dem Grauhaarigen herlief. "Was meinst du, was hier passiert ist, Nostradamus?" Der Grauhaarige ließ seinen Blick über den Berg schweifen. "Ich verspüre die Reste von großer Magie hier... der Berg wurde durch einen Zauber so weit zerstört."

Der Anführer wurde grimmig. Seine Truppe war erschöpft und auf eine Konfrontation mit einem durchgeknallten Magier nicht vorbereitet. Er hoffte, der Magier hatte sich selbst mit unter dem Geröll begraben.
 

"Lana! Herr!" Der Schwarzhaariger wandte seinen Blick von dem Berg ab und joggte bis zu dem rufenden Mann. "Was ist?" "Lana, dieser Junge dort..."

Junge? Die Augen des Anführers folgten denen des Rothaarigen. Tatsächlich, mitten auf den Ruinen eines Zeltes lag, ausgestreckt auf einem Stein, ein Junge. Oder ein junger Mann, korrigierte der Anführer sich gedanklich, als er näher kam.

"Er atmet noch. Los, stellt ein Zelt auf ihr drei. Daniel," er deutete auf einen braunhaarigen Mann, "untersuch den Jungen hier mal. Der Rest von euch durchkämmt die Trümmer hier. Los!"

"Molokosh, lass mich einmal den Jungen ansehen...", meinte Nostradamus plötzlich. Der Anführer, Molokosh, trat zurück. Daniel wartete geduldig neben den beiden. "Hm... Das ist komisch. Magie wurde an ihm angewandt, vor nicht all zu kurzer Zeit. Mächtige Magie... etwas an ihm ist verändert worden. Und nicht in guter Absicht."

Molokosh nickte. "Lass Daniel ihn einmal untersuchen, Nostradamus." Der Grauhaarige nickte. Daniel kniete sich neben den Jungen und legte seine Hände auf seinen Brustkorb. Ein grünes Glühen umfasste den Jungen und Daniels Blick schweifte ab in die Ferne.

"Er musste einen harten Schlag auf den Kopf einstecken... mehrere Prellungen an Armen, Beinen und Rippen... ein paar blaue Flecke... Das Alter seines Körpers beträgt 20 Jahre... Er ist kein Engel, kein Elf, kein Drache und kein Werwolf... Diese Rasse ist mir unbekannt. Ein Mischling vielleicht...?." Daniels Augen rollten schnell von einer Seite zur anderen. "Sein Gedächtnis ist magisch blockiert. Ich kann nichts ausrichten."

"Wahrscheinlich ein Dieb, der etwas sah, was er nicht hätte sehen sollen. Gedächtnislöschung ist eine normale Praxis bei den Engelrittern...", dachte Molokosh laut nach. Nostradamus nickte. "Gut möglich. Aber etwas an dem Jungen stimmt nicht... Er sieht zu jung für 20 Jahre aus. Und er scheint mir komisch..."

Molokosh zuckte mit den Schultern, während Daniel sich aufrichtete. "Egal. Wir kümmern uns um ihn... Er kann uns vielleicht erzählen was hier passiert ist." Während Molokosh den Jungen aufhob, sprach Nostradamus wieder. "Sein Gedächtnis wurde gelöscht, Molokosh. Ich bezweifle, dass er uns irgendetwas erzählen kann."
 

Die beiden Männer betraten das eben fertig errichtete Zelt. Molokosh legte den Jungen sachte auf den Boden während Daniel einige Decken aus seinem Rucksack holte und sie in einer Ecke des Zeltes als Bett ausbreitete. "Legt ihn hier hin, Lana. Er muss sich ausruhen." Molokosh nickte und befolgte die Anweisung des Heilers. Nostradamus verschränkte seine Arme und stellte sich in den Zelteingang.

Er mochte diesen Jungen nicht. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er ihn.

"Kannst du seine Prellungen versorgen, Daniel?"

Der braunhaarige runzelte die Stirn. "Etwas. Aber meine Salben und Tinkturen sind fast aufgebraucht... viel werde ich nicht tun können, Lana."

"Dann tu was du kannst.", befahl Molokosh und setzte sich neben den Jungen auf den Boden.

Augen aus Edelsteinen

2 - Augen aus Edelsteinen
 

Ich fiel... fiel und fiel und fiel... immer tiefer stürzte mein Körper wie ein Stein.

Das war falsch. So abgrundtief falsch. Ich durfte, konnte nicht fallen.

Ein sengendes Feuer breitete sich in meinem Rücken aus...

Meine Lungen brannten. Meine Beine und Arme loderten. Ich verbrannte...

Nein! So nicht... nicht... ich durfte... nicht... ich... ich...

...

Wer war ich?
 

~*~
 

"Sch..." Eine beruhigende Stimme an seinem Ohr. Starke Arme, die ihn umschlungen.

Schmerz. Eine Welle heißen Schmerzes durchzuckte seinen Rücken. "Ahh!" Mit einem Ruck krümmte er sich und wimmerte.

"Daniel!"

Eine kräftige Hand massierte ihm mit kreisenden Bewegungen den Rücken. "Sch, ruhig, gleich wird's besser."

"Tschi'Eki..."

"Was?" Die Hand stoppte ihre sanfte Massage.

"Tschi'Eki."

"Dschieh-Äjieh?" Ein kümmerlicher Versuch seine Muttersprache nachzuäffen.

... Seine Muttersprache...? War es das...?

...Er war ja so verwirrt...
 

"Molokosh-Lanar?" Eine zweite Stimme. Nicht so beruhigend wie die erste, aber sanft.

"Daniel, kümmere dich um ihn." Die Hand verschwand und er wimmerte leicht. Sein Rücken, er brannte...

"Ruhig..." Eine Hand legte sich auf sein Gesicht und alles, was er spürte war angenehme Kälte...
 

Als er das nächste Mal aufwachte, war das Feuer in seinem Rücken verschwunden.

Mit geschlossenen Augen versuchte er zuerst, sich zu orientieren.

Wo war er? Was war geschehen?

In seinem Kopf herrschte diese fürchterliche, abgrundtiefe Leere. Er war verwirrt und verängstigt.

In seinem Geist herrschte einfach ein heilloses Durcheinander.

Langsam atmete er ein und aus und versuchte, sich zu beruhigen.
 

Ohne Erfolg. Seine Verwirrung blieb, er wusste noch immer nicht, wo er war oder was er hier zu tun hatte. Und mit einer Welle von Panik brach eine neue Erkenntnis über ihn herein: Er wusste nicht, wer er war.
 

Sein Atem beschleunigte sich rasant. Er fing an zu zittern. Und alles, was er spüren konnte war diese gähnende Leere.

Sie lauerte in seinem Geist, seinem Wesen und wartete darauf, ihn gänzlich verschlingen zu können. Wie ein gefährliches Tier, eine Bestie der Gedanken, die nicht ruhen konnte oder wollte bis all seine Identität ihr zum Opfer gefallen war.
 

Doch war das nicht schon geschehen?
 

Lag er nicht hier, wo auch immer das war, reglos und mit geschlossenen Augen, zitternd vor Angst?
 

Ein leises, abgehackt klingendes Geräusch entsprang seiner Kehle. Seine Knie an seinen Körper ziehend rollte er sich so klein wie möglich zusammen, presste seine Hände an sein Gesicht und fing an zu wimmern.

Von dem Verlust seines Selbst überwältigt, hörte und sah er nicht, wie ein massiver Schatten hinter ihm sich bewegte.

Erschrocken und verängstigt zuckte er zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
 

"Sch. Du bist in Sicherheit."

Er wusste nicht wieso, doch die Stimme beruhigte ihn. Ihr Klang war warm, beruhigend, angenehm. Und die Hand auf seiner Schulter strahlte eine gewisse Sicherheit aus, eine Sicherheit, die ihm sehr gelegen kam.
 

Langsam wurde seine Atmung wieder regelmäßiger, doch er verharrte noch immer in seiner gekrümmten Position. Die Hand an seiner Schulter wanderte tiefer, seinen Rücken entlang und begann, kleine Kreise auf seinem Rücken zu ziehen.
 

Allmählich entspannte er sich und nahm die Hände von seinem Gesicht. Blinzelnd öffnete er die Augen und erkannte als erstes, dass es dunkel war.
 

Er lag auf einem improvisiertem Lager aus Decken, vor ihm, in seinem Sichtfeld, schlummerte eine andere Person. Er konnte das Rauschen eins leichten Windes hören und wie etwas im Wind flatterte - er lag in einem Zelt, einzige Lichtquelle war das hereinfallende Mondlicht.
 

"Geht es wieder?", wisperte es da hinter ihm und erneut zuckte er leicht, fing sich jedoch schnell wieder.

"Ja - ich... was...wo...?" Sich umdrehend blickte er seinen... Retter? Reisebegleiter? Freund? Feind? an.

In der Dunkelheit war so gut wie nichts zu erkennen, abgesehen von der Größe des hünenhaften Mannes und seinem schwarzen Haar und ebenso schwarzen Augen.

"Wir befinden uns im Ödland, in einer zerstörten Ausgrabungsstätte. Ein... Erdrutsch hat sie vernichtet.", erklärte der Hüne sanft, "Wir haben dich unter den Trümmern gefunden."
 

Ein erneutes Gefühl der Leere stieg in ihm auf.

Bis gerade hatte er den Hoffnungsschimmer gehabt, sein... Gefährte könne wissen, wer er sei. Doch dem war nicht so. Denn sein Gefährte war gar nicht sein Gefährte.

Ein, zwei heiße Tränen liefen seine Wangen hinab und wie ein Besiegter sank sein Kopf tiefer in sein Nachtlager.

Er hatte keine Erinnerung, kam von einem zerstörten, ausgelöschten Ort.
 

Er war ein Nichts.
 

Der Hüne blickte ihn mitleidig an. "Woran erinnerst du dich?"

Er schluchzte. "Gar... nichts."

Die Hand des Hünen wurde sanft wieder auf seine Schulter gelegt. "Wir vermuteten dass bereits."

Sollte ihm das helfen? Wenn ja, es tat es nicht. Es füllte seine Leere nicht.

Die schwarzen Augen seines Gegenübers wanderten über seinen Körper, bohrten sich in seine Augen.
 

"Dakkas."

"Da-was?", brachte er hervor.

"Dakkas." Der Hüne lächelte. "Es bedeutet ,Jade', in der Sprache meines Volkes. Deine Augen... sie sehen aus wie Edelsteine. Wie zwei kleine Jadestücke."

Plötzlich verharrte der Hüne und schwieg.

"Dakkas...", flüsterte er nun das Wort, in dem Versuch, den Klang nachzuahmen.

Der Hüne lächelte. "Nicht schlecht. Sehr gut sogar, eigentlich. Nur das ,s' müsste noch schärfer werden..."

Ein Grummeln vom anderen Nachtlager des Zeltes unterbrach die beiden.
 

"Ithigash dyone!"

Der Hüne seufzte. "Danke für diesen Kommentar, Nostradamus."

Verwirrt drehte er sich von dem Hünen weg und in die Richtung des anderen ,Bettes'.

In diesem hatte sich gerade ein weiterer Mann mit augenscheinlich grauem Haar aufgesetzt.

Mit einem Nicken deutet er zu ihm. "Gomahs ith lak?"

"Es geht ihm körperlich gut, soweit ich weiß. Geistig... Nostradamus. Dyagahs shto nyar."

"Pa'dro?"

Er blinzelte. Worüber redeten sie? Er verstand nicht ein Wort.

"Gosteg Dakkas."

Der Hüne neben ihm legte verwirrt seinen Kopf schief. "Wie bitte?"

"Gosteg Dakkas. Und lass mich schlafen."

Diese Worte schienen die Angelegenheit, was auch immer sie war, für den Grauhaarigen zu besiegeln, den er legte sich wieder hin und zog sich die Decke über den Kopf.
 

Verwirrt, noch verwirrter als vorher und von einem noch stärkerem Verlorensein-Gefühl gepackt, starrte er den Hünen neben sich an.

"Mein Bruder, Nostradamus.", erklärte dieser, bevor er lächelte. "Und mein Name ist Molokosh."

Er nickte. "Ich..." Kläglich drückte er sein Gesicht wieder tiefer in den Boden. Nicht einmal einen Namen hatte er.

Der Hüne lachte leise. "Dakkas. Du heißt Dakkas." Er zögerte. "Wenn du den Namen annimmst, heißt das."

Sein... Dakkas Herz fing an zu rasen und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Ich... gerne. Ich... ich habe sonst... nichts."

Mit einem mitfühlenden Blick zog Molokosh ihn näher zu sich heran und schloss seine Arme um ihn. "Keine Sorge. Bei uns bist du gut aufgehoben."
 

Schluchzend presste sich Dakkas an Molokosh.

Er hatte nichts, keine Vergangenheit.

Aber trotzdem gab ihm die ruhige Stimme dieses Mannes eine gewisse... Sicherheit.

Und sein letzter Gedanke, bevor Dakkas erschöpft wieder einschlief, war die ferne Erinnerung an eine andere, immer ruhige Stimme die summend ein Lied sang...
 

~*~
 

Das zweite Erwachen brachte für Dakkas zwar nicht mehr so viele quälende Fragen mit sich, doch noch immer brannte die Leere in seiner Seele.
 

Eine Zeit lang blieb er still liegen, die Wärme seines Nachtlagers in sich aufnehmend und seine derzeitige Lage beklagend.
 

Das raue Lachen einiger Männer brachte ihn zurück in die Realität und veranlasste ihn dazu, seine Augen zu öffnen.
 

Der Platz neben ihm war leer, das Nachtlager längst abgebaut. Während er sich aufrichtete sah er, dass auch das zweite ,Bett' am anderen Ende des Zeltes bereits weg war.
 

Hastig stand er auf und stöhnte. Sein Körper schmerzte immer noch, wahrscheinlich von dem Schaden den er bei diesem... Erdrutsch davongetragen hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen sah Dakkas sich selbst zum ersten Mal bei Licht an.

Seine Kleidung sah nicht besonders wertvoll aus und war zudem auch noch schwarz und zerrissen. Er hatte keinen Beutel und abgesehen von einer Innentasche an seinem Hemd auch nichts dergleichen.

Kurz hoffte er, in der Tasche einen Hinweis auf sich selbst zu finden, doch sie war leer. Abgesehen von dem, was er trug, schien er nichts zu besitzen.
 

Was ihm jedoch auffiel, waren seine Hände.

Die Finger waren lang und fein, fast elegant. Er hatte keine Schwielen oder Narben und schloss daraus, dass er wohl wenig harte Arbeit gewohnt war. Zumindest keine, die mit den Händen zu tun hatte oder mit Sonnenlicht, denn seine Haut war blass, fast bleich.

Und zart, stellte er fest, als er über seinen Handrücken strich.

Auch der Rest von seinem Körper zeigte an, dass er kein Feldarbeiter oder ähnliches war: Er war dünn, schien nur wenige Muskeln zu haben und ein kurzer Blick unter sein Hemd zeigte eine haarlose, zeichenlose Brust.
 

Geistig fasste er diese neuen Fakten über sich selbst zusammen.

Er war klein und schmächtig, nicht sehr kräftig und schien nur wenig körperliche Arbeit zu verrichten. Aber von seiner Kleidung her war er kein Adliger oder derlei.

Hatte der Hüne in der vergangenen Nacht nicht von einem Ausgrabungslager geredet? Vielleicht war Dakkas ja ein Gelehrter?
 

Kritisch schaute er noch einmal an sich herunter. Irgendwie fühlte sich ,Gelehrter' nicht richtig an. Und müssten seine Finger nicht Federkielschwielen vorweisen, wenn er viel schrieb? Seine Finger waren aber glatt, eben.
 

All das Grübeln brachte Dakkas nichts weiter als Kopfschmerzen und die Erkenntnis, dass er weder dumm noch jemand war der bei jedem Problem sofort aufgab.
 

Ein Trost zumindest.
 

Als er aus dem Zelt trat, sah er, was der ,Erdrutsch' angerichtet hatte.

Der Berg, an dem die Männer lagerten sah aus als hätte ein wildgewordener Erzmagier mit zuviel Wein im Bauch Feuerbälle verschossen. Man konnte genau sehen, welche Teile des Berges abgerutscht waren und der verbliebene Berg erweckte den Eindruck, dass er jederzeit hinterher rutschen könnte.

Der Boden war spröde und mit nur wenig gelblichem Gras bedeckt. Die aufgehende Sonne schickte ihre Strahlen auf eine karge, trostlose Landschaft - die Ödlande.

Die angebliche Ausgrabungsstätte lag unter Stein und Geröll verschüttet. Hier und da konnte man einige aus dem Gestein herausschauende Zeltteile, Gefäße oder Körperteile erkennen.

Es mussten viele Leute gestorben sein, so wie es aussah.
 

Machte ihm das nichts aus?

Ein kurzes Nachdenken seitens Dakkas bewies: Nein, die Tode dieser Leute kümmerten ihn nicht. Hätte er sich mit ihnen verbunden fühlen sollen? Sollte er jetzt vielleicht trauern, anstatt teilnahmslos dazustehen?
 

"Dakkas."

Fast erschrocken wirbelte der Angesprochene mit seinem Kopf herum und gab dem herannahenden Molokosh ein schüchternes Lächeln.

"Ähm... guten Morgen?"

Bei Tag und in gutem Licht sah Molokosh noch hünenhafter aus. Der Lederpanzer, den er jetzt trug, unterstützte sein gefährliches Aussehen nur noch.

"Ja, guten Morgen. Wir haben darauf gewartet, dass du aufwachst." Der Hüne lächelte.

"Eh..."

Der Schwarzhaarige seufzte. "Natürlich. Du musst noch furchtbar verwirrt sein. Entschuldige mich bitte." Stirnrunzelnd fuhr er sich durch die Haare.

"Wie ich dir vergangene Nacht bereits sagte, bin ich Molokosh de'Sahr. Der grauhaarige Mann dort hinten an dem Stein ist mein Bruder Nostradamus. Und der braunhaarige Mann neben ihm, der mich gerade mit Blicken aufspießt ist unser persönlicher Arzt, Daniel Daragan."
 

Dakkas schaute in die von Molokosh gezeigte Richtung und dort stand tatsächlich ein Mann mit verschränkten Armen der sie böse anstarrte.

"Was hat er denn?"

Molokosh lachte leise und zog Dakkas etwas mit sich von dem Zelt weg, während zwei Männer anfingen, dass Zelt abzubauen. "Daniel ist ein guter Arzt und Heiler, ein zu guter. Wenn es nach ihm ginge würde wir dich durch die Gegend tragen.

Der Rest unseres Trupps sind nur Söldner, die wir angeheuert hatten für die Reise durch die Ödlande. In ungefähr einer Woche sollten wir in der nächstgelegenen Stadt ankommen. Das hier sollte eigentlich nur ein Zwischenstopp zum Rasten werden, aber..." Achselzuckend deutete Molokosh auf das zerstörte Lager.

"Habt ihr... ich meine... lag irgendetwas bei mir?" Erwartungsvoll sah Dakkas auf.

"Leider nein. Um ehrlich zu sein waren wir sehr verwundert, wie... unversehrt du warst."

Unversehrt? So bezeichnete Dakkas sich selbst nicht. Er starrte auf das Trümmerfeld und hatte plötzlich den Drang, hysterisch zu lachen, doch erstickte er ihn.

So besaß er also definitiv nichts.
 

Molokosh legte eine Hand auf seine Schulter. "Und du kannst dich an nichts mehr erinnern?"

Dakkas lachte verbittert. "Nein. Gar nichts. Ich weiß nicht einmal welcher Tag heute ist oder welches Jahr wir schreiben. Es ist alles... verschleiert, weg."

"Es ist das 87. Jahr von Hepai Hohensonns Herrschaft. Nach dem Sonnenkalender ist es der vierte Monat im Jahr, Erstsaat."

Dakkas schaute ihn verwirrt an. Der Name des derzeitigen Herrschers sagte ihm gar nichts und noch weniger das Jahr seiner Regentschaft. Molokosh schien sein Problem zu bemerken.

"Was ist das letzte, an was du dich erinnerst? Vielleicht hilft das ja weiter."

Warum war Dakkas nicht selbst darauf gekommen?
 

Weil er sich einfach an nichts mehr erinnerte, deshalb. Aber einen Versuch war es doch wert, oder?
 

Er schloss die Augen.
 

Was war das letzte, an dass er sich erinnerte? Und warum erinnerte er sich überhaupt nicht mehr an sein Leben, aber noch an solche Sachen wie Sprache, Verhalten und Geographie?
 

Was war geschehen?
 

Warum war er überhaupt hier?
 

Woran erinnerte er sich?
 

Der Geruch von verbrannten Federn stieg ihm in die Nase.

Es war Zwielicht, die Sonne ging unter und ein Tosen war in seinen Ohren zu hören.

Nein, kein Tosen sondern das Gebrüll von Leuten, von Lebewesen, die sich auf dem Schlachtfeld vor ihm massakrierten.
 

Blonde Männer in goldenen Rüstungen preschten über die mit Gras bewachsene Ebene und stürmten in eine bunte Ansammlung von Wesen hinein . Fast alle Farben waren vertreten und mit ihnen auch unterschiedliche Völker: Er sah Zwerge, Elfen, Drachen, Werwölfe - sie alle kämpften gegen die anstürmende blonde Horde.

Er drehte seinen Kopf leicht nach rechts und sah in zwei kalte aber amüsierte Augen, eines so violett wie ein strahlender Amethyst und das andere sanft gelb wie ein Topas.
 

"Was meinst du, wie viele darf ich diesmal mitnehmen, großer Bruder? "


 


 

"Dakkas? Dakkas, was ist los?"

Verwirrt öffnete der Angesprochene wieder seine Augen. Hatte er sie geschlossen? Es war alles so neblig in seinem Gehirn...

"Dakkas?"

Molokosh hielt ihn in seinen Armen und ein besorgter Daniel stand neben ihm. "Ich sagte ja, er solle noch liegen bleiben."

"Bin... bin ich umgekippt?" Vorsichtig verließ Dakkas die Sicherheit von Molokoshs Armen und rieb sich die Augen.

"Ja, vor kaum zehn Sekunden.", antwortete ihm Daniel. "Aber du scheinst in Ordnung zu sein..."

"Was war??", fuhr Molokosh dazwischen.

"Ich..." Dakkas rieb sich abermals die Augen. "Ich weiß nicht so recht... Ich hab etwas gesehen... ein Schlachtfeld oder so, glaube ich..." er seufzte, " Ich habe keine Ahnung, wo das war, wieso man kämpfte und was ich gemacht habe."

Daniel legte seinen Kopf leicht schief. "Was für ein Schlachtfeld?"

"Es kämpften Männer in goldenen Rüstungen... Engel... gegen eine Ansammlung von verschiedenen Lebewesen."

Molokosh lächelte. "Dann wissen wir ja schon mal wie alt du mindestens sein muss. Die letzte Schlacht, an der die weißen Engel teilgenommen haben, war vor ungefähr 100 Jahren."

Irgendwie brachte das Dakkas keine große Befriedigung. "Wunderbar.", murrte er mehr zu sich selbst als zu den beiden Drachen.
 

Drachen?
 

Dakkas Kopf zuckte hoch und mit einem prüfenden Blick sah er die beiden nun verdutzten Männer an. Ja, das kantige Gesicht, die Größe, die irgendwie natürlichen Muskeln... das waren Drachen.

"Ihr seid Drachen."

Daniel schnaubte und Molokoshs Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. "Hat mein Vater zumindest immer behauptet."

Dakkas blinzelte. "Ah, das... hatte ich vorher nicht so ganz... realisiert."

Daniel wandte sich kopfschüttelnd und mit einigen gemurmelten Worten über starrköpfige de'Sahrs ab und gesellte sich zu den anderen, reisefertig dastehenden Drachen. Nostradamus stand mit verschränkten Armen am Ende des Trupps und blickte mit offensichtlichem Missfallen auf Dakkas.
 

Während Molokosh ihn anwies in der Mitte des Trupps zu laufen und Bescheid zu geben, falls ihm schwindlig wurde oder er nicht mehr konnte, beschlich Dakkas das ungute Gefühl, dass das eine lange Reise werden würde.
 

~*~
 

Seit drei Tagen marschierte er mit diesen Drachen nun schon durch eine öde, eintönige Landschaft aus leicht begrastem, braunen, trockenen Boden mit dem gelegentlichen Hügel oder Bäumchen dazwischen.

Die Ödlande waren tatsächlich ein öder Landstrich.
 

Während dieser Zeit hatte er einiges über sich entdeckt.

Trotz seines schmächtigen, unscheinbaren Körperbaus hielt er einiges aus. Daniel war erstaunt gewesen, als er mit den Drachen hatte Schritt halten können, obwohl er noch verwundet war. Dakkas Ausdauer und Konstitution mussten sehr gut sein.

Außerdem war ihm etwas an der Art, wie er lief aufgefallen. Mit so wenigen Bewegungen wie möglich glitt er fast neben den Drachen her - seine Schritte waren leise und setzten sanft auf den Boden auf. Fast, als wäre dieses stille ,Schleichen' normal für ihn.

Sein Balancegefühl war ausgezeichnet und die wenigen Muskeln, die er besaß, waren an den richtigen Stellen.

Aus all dem hatte er gefolgert, dass er wohl ein Athlet oder ähnliches gewesen sein musste. Nur was hatte er in einem Ausgrabungslager zu suchen gehabt? Diese Frage konnte er immer noch nicht beantworten.
 

Dafür hatte er aber einen Schwachpunkt entdeckt: Dakkas hatte fast panische Angst vor Feuer. Als Molokosh ihn beim Rasten am ersten Abend ans Lagerfeuer hatte ziehen wollen, hatte er sich von seiner Hand losgerissen und wäre wohl fliehend in die Ödlande gerannt, wäre er nicht mit voller Wucht in Nostradamus gerannt. Der Grauhaarige war nicht erfreut über dieses 'Zusammentreffen' gewesen.

Woher seine Feuerangst kam, konnte Dakkas nicht sagen, aber es war, als wenn ein Instinkt ihn warnen würde, dass Feuer schädlich war. Wann immer er einem Feuer zu nahe kam spürte er dieses warme Ziehen in seinem Rücken und eine tiefsitzende Atemnot machte sich in ihm breit.

Laut Daniel war das wahrscheinlich ein Trauma von der Zerstörung des Ausgrabungslagers.
 

Laut Nostradamus war Dakkas ein weinerlicher Störenfried.
 

Der grauhaarige Drache sprach nicht sonderlich viel, aber von den fünf Sätzen, die er in den vergangenen drei Tagen gesagt hatte, waren vier sicherlich etwas Negatives über Dakkas gewesen.
 

Nicht, dass Dakkas die grollende Sprache der Drachen verstanden hätte, in der Nostradamus vorzugsweise sprach, allerdings konnte man einiges an Nostradamus feindlichem Ton und den finstren Blicken erkennen, die in Dakkas Richtung geschickt wurden.

Frustrierend war für Dakkas nur, dass er absolut keine Ahnung hatte, was er dem Grauhaarigen getan hatte.
 

Oder mochten Drachen generell keine Fremden? Er erinnerte sich nur an weniges, was Drachen anging... ihre kantigen Gesichtszüge, an denen man sie erkannte. Dass ihre Augen- und Haarfarbe fast immer die Selbe war. Dass sie stolze Kämpfer und Magier waren.

Aber ansonsten?

Nichts.
 

Und die Braunhaarigen Drachen, die sie begleiteten, waren mit der Ausnahme von Daniel nicht gesprächiger als Nostradamus. Die meiste Zeit marschierten sie stur geradeaus, Molokosh hinterher.

Entweder war Dakkas also in der Gesellschaft von vielen einzelgängerischen Drachen oder aber die meisten Drachen waren Einzelgänger und Molokosh und Daniel lediglich eine Ausnahme.
 

"Dakkas?"

Der Angesprochene sah auf. Die Sonne verschwand wieder im Westen hinterm Horizont und erneut würden sie ihr Lager aufschlagen. Sie reisten immer gen Westen, auf eine kleine Hügelkette hinzu, die bereits in der Ferne sichtbar war. Hinter diesen Hügel sollte Kish-Laro liegen, eine ehemalige Drachen-Stadt, die schon vor langer Zeit von den weißen Engel eingenommen worden war. Ihr Name seit diesem Tag war ,Sonnenhügel', allerdings bevorzugten die Drachen wohl immer noch ihren Namen.

"Ich weiß, Molokosh. Ich werde Daniel beim Zelt helfen."
 

Lächelnd gesellte Dakkas sich zu dem Heiler, während Molokosh etwas Feuerholz aufschichtete.

Das Errichten ihrer Zelte geschah wie alles andere bei den Drachen in Stille. Selbst Daniel sprach nur in leisen Tönen.

"Sobald wir in Kish-Laro sind, können wir dir etwas bessere Kleidung besorgen, Dakkas. Und wir werden wohl das zerstörte Lager melden müssen... vielleicht kennt dich ja sogar jemand in der Stadt oder weiß etwas über dich. Das wäre gut möglich. Und wenn nicht..." Daniels Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, "... werden wir sicherlich noch genug Kontakt mit Engeln haben in nächster Zeit, um deine Identität herauszubekommen."

"Was meinst du damit?" Darüber hatte Dakkas sich schon lange gewundert. Die Drachen schienen nicht sehr gut auf Engel zu sprechen zu sein.

Daniels Stirn runzelte sich, während er die einfachen Stöcke, die als Haltungen für das Zeltleder dienten, aufstellte.

"Die meisten Engel sind der Meinung, sie wären das Oberste und Beste." Er schnaubte. "Da sie praktisch ganz Kvi'sta beherrschen haben sie da schon irgendwie recht. Aber eigentlich sind sie eingebildete Tyrannen."

Er vollführte eine wegwerfende Handbewegung. "Andere Völker zählen für sie nichts und sind immer Schuld an allem, was passiert. Sehr wahrscheinlich wird Molokosh-Lanar lange reden und erklären müssen, bevor sie glauben, dass nicht wir das Lager zerstört haben."
 

Schweigend half Dakkas Daniel bei der Befestigung des Zeltleders.

Seine Erinnerungen an Engel waren genauso verschwommen wie die an Drachen, aber das stimmte mit seinen negativen Eindrücken von ihnen überein. Wann immer er an Engel dachte, sah er diese blonden, in Gold und Weiß gekleideten Personen, die mit siegessicheren Mienen ihre Schwerter schwenkten.

Wenn Daniel ihm doch nur ein wenig mehr erzählen würde. Jede kleine Information schien hilfreich zu sein für Dakkas, aber diese schweigsamen Weggefährten halfen wenig.
 

"Das ist auch der Grund, warum ich nicht hier wäre, wenn Molokosh Lanar mich nicht zu seinem persönlichen Heiler ernannt hätte.", fing Daniel auf plötzlich wieder an. Seine Stimme war noch leiser als zuvor und sanft, fast verletzlich.

Dakkas legte seinen Kopf schief. "Wieso das denn?"

"Eigentlich erkennt man es schon an meinem Namen,", lächelte Daniel traurig, "Er ist nicht gerade drakonisch. Man sieht es mir sonst nicht an, aber ich bin ein Mischling. Meine Mutter war ein Engel."

"Oh."

Und in der Tat, was sollte Dakkas in diesem Augenblick sonst noch dazu sagen?

"Aber... müsstest du nicht wenigstens deine Mutter nett finden?"
 

Es war heraus, bevor Dakkas über Takt und gute Manieren nachdenken konnte. Verlegen presste er eine Entschuldigung zwischen seinen Zähnen hervor, aber Daniel winkte ab.

"Nein, die Frage ist verständlich. Außerdem ist es schon lange her. Aber meine Mutter wurde verstoßen, weil sie meinen Vater liebte. Mein Engelsgroßvater ließ sie kurz nach meiner Geburt umbringen. Für ihn war die Beständigkeit von reinem Engelblut sehr wichtig." Zum Ende hin wurde Daniels Stimme immer bitterer.
 

Dakkas schwieg und befestigte nachdenklich den Rest des Zeltes, in dem er mit den beiden adligen de'Sahr Brüdern schlafen würde.
 

Daniels Großvater hatte seine Tochter, Daniels Mutter, ermorden lassen.
 

Was für eine Kreatur musste man sein, um so etwas tun zu können?
 

Der Raum war dunkel, feucht und roch nach verbrauchter Luft.
 

Die ihm gegenüber liegende Person war klein, fast noch ein Kind. Kurzes Haar hing ihr gerade so übers Gesicht, dass die Augen verdeckt wurden. Die Kleidung der Person war abgeschabt, zerschlissen und ihre Hände waren mit schweren Eisenketten an die Wand gefesselt.

Der Kopf der Person hob sich und Dakkas erkannte zweifarbigen Augen: Das eine ein Amethyst, das andere ein Topas. Zwei Edelsteine in einem zerkratzen, aschfahlem Gesicht.

"Du bist gekommen!" Die Freude in seiner - denn es war ein Junge - Stimme war überschwänglich, erleichtert und ein wenig ungläubig. Wie in Trance hörte Dakkas sich antworten:

"Ja dachtest du denn, ich würde dich vergessen?

"Du bist nicht gekommen und sie sagten..."

Kalte Wut stieg in ihm hoch. Er wusste nicht, wieso dieses Gefühl kam, aber er fühlte, dass es berechtigt war.

Wer wagte es, IHM Lügen über Dakkas zu erzählen?

"Was haben sie gesagt?!"

"Die goldenen Hände meinten, du würdest nicht kommen, weil du deine eigene Haut retten willst..."

"Ich werde dich niemals irgendwo, egal wer dich festhält, versauern lassen, hörst du? Ich werde dich immer retten. Immer!"
 

"Ich werde dich immer retten."

"Kannst du mir helfen, großer Bruder?"

"Ich werde dich immer retten!"

"Ich brauche dich, großer Bruder..."

"Ich werde dich IMMER retten!"

"Du wirst mich immer beschützen, oder, großer Bruder?"

"Ich werde jeden töten, der es wagt dich auch nur falsch anzusehen."
 

"Gib deinen Bruder raus und beende dieses kümmerliche Versteckspiel."
 

"Nein, Vater."


 

"DAKKAS!"

Die Stimme schnitt wie ein Messer durch weiches Brot und Dakkas öffnete mühselig wieder seine Augen.
 

Erneut sah er in das tiefe Schwarz von Molokoshs Augen. Einige Schritte neben ihm prasselte das Feuer. Daniel kniete halb über ihm und irgendwo im Hintergrund murmelte Nostradamus wieder etwas vor sich hin, das Dakkas zwar nicht verstand, aber wahrscheinlich nicht sehr nett war.

"Es geht wieder.", krächzte Dakkas.

Daniel sah ihn kritisch an. "Das ist jetzt das zweite Mal, dass du einfach so umkippst. Von alleine passiert das sicherlich nicht."

Dakkas lächelte. "Nein. Ich hatte wieder eine Erinnerung, glaube ich."
 


 


 

Puh-Schells kleines Drakonisch-Wörterbuch:

Da es diesmal ja schon mehr Drakonisch im Kapitel gab, werde ich einige Sachen mal übersetzen, da sie auch desweiteren oft auftauchen werden. Wer das alles im späteren Verlauf der Geschichte erfahren will (ja, es wird natürlich auch da erklärt!) der liest jetzt lieber nicht weiter ^^
 


 


 


 

Nostradamus: Ithigash dyone! - Ihr seid verrückt/dumm!

Nostradamus: Gomahs ith lak? - Geht es ihm gut?

Molokosh: Dyagahs shto nyar. - Er erinnert sich nicht mehr.

Nostradamus: Pa'dro? - Ja und? bzw. Was interessiert mich das?!

Nostradamus: Gosteg Dakkas. - Nenn (ihn) Dakkas. Das 'ihn' ist eingeklammert, da der Satz wörtlich übersetzt 'Nenn es Dakkas' heißen würde. *g*
 

Daniel: ... Molokosh-Lanar... - 'Lanar' heißt so viel wie 'Meister' oder 'Herr', ist aber eher eine 'einfache' Höflichkeitsanrede unter Drachen. Man kann jemanden damit ansprechen oder es wie ihm japanischen als Suffix Anhängen.

'Lana' - direkt übersetzt: Infinitiv von 'dienen', umgangssprachlich wird es auch als Kurzform von 'Lanar' benutzt.
 

Kish-Laro: Blutiger Hügel / Der mit Blut bewässerte Hügel

Laro - Adjektiv, blutig, blutbefleckt, mit Blut getränkt o. bewässert

Kish - hier: Kurzform von Kishlar (das -Laro ist sozusagen ein drakonisches Wortspiel), Kishlar: Hügel

Geflügel

3 – Geflügel
 

Kish-Laro war eine mäßig große Stadt, die in einer Senkung zwischen zwei Hügeln lag und von braun-grünem, kurzen Steppengras umgeben war. Die Stadtmauern waren alt, brüchig und von der Sonne im Laufe der Jahre zu einem hellbraunen, trockenem Gestein ausgebrannt worden. Die beiden alten Stadttore, von denen eins nach Nordwesten führte und an die Handelsstraße angeschlossen war, standen meistens weit geöffnet, egal, welche Tageszeit es war.
 

Das weiter hinten, südlich gelegene, zweite Stadttor führte zu einem nicht-gepflasterten Pfad, der die wenigen außerhalb gelegenen Bauernhöfe an die Stadt anschloss, auf denen größtenteils Braunrüben, das einzige, was im Ödland gut wuchs, angebaut wurde.
 

Auf eben einer der Hügel, die Kish-Laro einschlossen, standen Molokosh, Nostradamus, ihre Reisegefährten und Dakkas, der die für ihn fremde Stadt bestaunte.
 

Im Licht der mittäglichen Sonne arbeiteten die Bauern auf ihren Feldern, die Rüstungen einiger Wachsoldaten, die auf den Mauern patrouillierten, glänzten im Tageslicht und das geschäftige Treiben der Stadt war bis zu diesem Punkte auf dem Hügel zu hören.
 

Am Rande schaute Dakkas nach seinen drakonischen Begleitern, die jedoch tief in ein Gespräch in ihrer Sprache vertieft waren und ihn weniger beachteten.
 

Das hieß, Molokosh, Nostradamus und Daniel waren in ein Gespräch vertieft – der Rest der Drachen stand scheinbar unbeteiligt daneben und beobachtete stattdessen das umliegende Ödland.
 

Mit der leisen Ahnung, das Gespräch könnte noch länger dauern, setzte Dakkas sich auf einen nahen Stein und beobachtete weiter das Umland.
 

In der Ferne schallte der Klang einer Glocke und vor seinen Augen beendeten die meisten Bauern ihre Arbeit, um in die Stadt hinein zu wandern. Die braun-grünen Felder wurden leerer und leerer, bis nur noch vereinzelt die ein oder andere Person Feldgeräte beiseite räumte.
 

Die Sonne brannte auf Dakkas Kopf und Schultern und seine Augenlieder wurden bedrohlich schwer. Nur mit Mühe zwang er sich, nicht vor sich hin zu dösen und benutzte die freie Zeit stattdessen, um seine bisherigen Erinnerungen einzuordnen.
 

Er hatte sich zwei mal an etwas erinnern können, das erste Mal eine Art Schlacht und das zweite Mal an einen Jungen in Ketten. Frustrierend war nur, dass er sch sicher war, einen Teil der Erinnerung wieder vergessen zu haben und dass es nur kleine Bruchstücke seines… früheren Lebens waren?
 

Nicht zu wissen, wer er war, war frustrierend, entmutigend und erdrückend. Aber was ihm inzwischen fast noch verheißungsvoller schien, war die Tatsache, dass er in einem zerstörtem Ausgrabungslager gefunden worden war. Denn, was machte man in Ausgrabungslagern? Man forschte nach der Vergangenheit. Und gerade in so einem hatte er seine Vergangenheit verloren – und einige andere Wesen ihr Leben.
 

Konnte er hinter dieser Symbolik etwas mehr vermuten? Oder war das nur ein Hirngespinst, das sein verwirrtes Gehirn ihm auferlegte?
 

Er wusste es nicht. Er wusste so viel nicht.
 

Was er mehr brauchte als alles andere, waren Antworten.
 

Vielleicht sollte er dafür erst ein mal ein paar Fragen aufstellen?
 

Dieser Gedanke kam ungebeten, plötzlich und rüttelte ihn auf. Dahinter war jedoch eine gewisse Logik.
 

Wen sollte er nach seiner Identität fragen? Und was sollte er dafür fragen? Solange er keine bekannte Person war, würde man ich wohl nicht einfach so auf der Straße erkennen.
 

Seufzend gab er diese Überlegungen vorläufig auf und schaute wieder zu den Drachen. Er würde das genauer überdenken sobald er irgendwo war, wo er in Ruhe Nachdenken und vielleicht etwas aufschreiben konnte – nur um seine Gedanken zu ordnen.
 

Molokosh und Nostradamus waren inzwischen wieder dabei zu streiten und ein leicht entnervt aussehender Daniel versuchte seinerseits, den Streit zu schlichten.
 

Fast schon amüsiert schaute Dakkas den beiden Brüdern zu. Molokoshs Hände flogen unterstreichend und aufgeregt in der Luft umher, während Nostradamus zwar körperlich still blieb, seine Augen jedoch furchterregend aussahen. Dieser Gegensatz zwischen den beiden wurde durch ihre unterschiedliche Haarfarbe nur noch verstärkt.
 

„Griesh!“(1), schrie Molokosh dann fast und schien damit den Streit zu beenden, denn Nostradamus Augen verloren ihr wütendes Funkeln, das zu einem leichten Glimmen abschwächte.
 

„Wie du willst.“, sprach der Grauhaarige dann. Dakkas war erstaunt, dass er einen Satz in der Handelssprache gesagt hatte, kommentierte dies jedoch nur in seinen Gedanken.
 

Molokosh schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus und gab dann schließlich den Befehl: „Alle sofort los, wir müssen eine Unterkunft und neue Vorräte bekommen.“
 

Erneut reihte sich Daniel neben Dakkas ein und stapfte mit dem jungen Mann an seiner Seite auf die Stadt zu.
 

Fragend schaute Dakkas ihn an. „Nur ein Streit unter Brüdern…“, murmelte dieser abwesend und Dakkas konzentrierte sich wieder auf das Ziel vor ihnen.
 

Der kleine Trupp von ausgelaugten Wanderern erregte kaum Aufsehen beim Betreten der Stadt. Die Wachen blickten nur kurz gelangweilt auf sie hinab, bevor sie sich wieder ihrem Zeitvertreib widmeten. Die verschiedenen Stadteinwohner auf den Straßen sahen vielleicht auf, nahmen aber ansonsten keine Notiz von den Drachen.
 

Molokosh ließ den Trupp zielstrebig zum Stadtzentrum zu steuern. Als Dakkas jedoch gerade die ersten Marktschreier hören konnte, bogen sie ab in eine Seitengasse und ein verwinkeltes Netz aus kleinen Gässchen. Nach gut zehn Minuten eiligen Marschierens standen sie dann vor einem leicht heruntergekommen aussehenden, alten Gebäude. Wie auch der Rest der Stadt war es aus hellbraunem Lehmsteinen gebaut, die wahrscheinlich früher dunkler ausgesehen hatte.
 

Was Dakkas jedoch komisch auf das Haus schielen ließ, war nicht die augenscheinliche Baufälligkeit oder der Schmutz an der Wand, sondern die Tatsache, dass das Haus nicht einfach vier Wände und ein Dach hatte, sondern an komischen Stellen Kanten und Winkel. Einige der Fenster waren dreieckig, andere rund, wieder andere sechseckig. Einige Aufbauten standen einzeln auf dem Dach und erst ein paar Schritt weiter links oder rechts war wieder etwas auf das Haus angebaut.
 

Mittig über der ovalen Eingangstüre hing ein Schild mit den schwarzen Buchstaben: „Salzkessel“.
 

„Chaositektische Architektur ist glücklicherweise nur halb so schlimm wie sie aussieht und doppelt so kompliziert wie sie scheint.“
 

„Hm?“ Dakkas blinzelte und wandte seinen Kopf Molokosh zu. „Ich sagte, es ist nicht annähernd so schlimm, wie es aussieht. Der Kessel ist eine der noch wenigen drakonischen Gaststätten hier.“
 

Wortlos nickte Dakkas, um anzudeuten, dass er verstanden hatte und ließ sich von Molokosh in die Taverne führen.
 

Das erste, was er bemerkte, war die einfach unglaubliche Hitze in dem Gebäude. Fast, als würde man plötzlich in einen kleinen Raum mit einem riesigem Ofen treten, schwappte ihm heißwarme Luft entgegen. Mit ihr kam ein süßlicher, fast schon beißender Geruch.
 

Bänke, Tische und Stühle standen wild verteilt im Raum umher und das Gemurmel von Männer- und Frauenstimmen schwappte durch den Raum. Die Fenster waren von innen mit einer tiefroten Farbe bestrichen, so dass es ein schummriges, dunkles Licht ergab.
 

Molokosh murmelte den Drachen hinter sich einige kurze Befehle zu und zog Dakkas dann weiter mit sich durch den Raum, bis zu einem schmalen Tresen neben einer Treppe.
 

Hinter dem Tresen putzte eine kleine, etwas rundliche Frau mit einem Lappen ein grünes Glas. Ihr Haar war lockig, rot und sah relativ ungekämmt aus. Als Molokosh sich ihr näherte, blickte sie auf und lächelte.
 

„Meister de’Sahr!“
 

Die Gespräche der naheliegenden Leute verstummten und Dakkas fühlte einige Augen auf seinem Rücken ruhen. Aus irgendeinem Grund wurde ihm plötzlich eiskalt.
 

„Wir bräuchten ein paar Zimmer, wenn es möglich ist.“
 

Die Frau überschlug sich fast, als sie das hörte und eilte sofort zu einem kleinen braunen Buch, dass sie enthusiastisch aufschlug. „Natürlich, Meister de’Sahr. Wie viele?“
 

Molokoshs Stirn runzelte sich. „Einen der Gruppenschlafräume und zwei Zweibettzimmer, sofern möglich.“
 

„Natürlich, natürlich.“ Dakkas sah zu, wie sie in großen, krakeligen Buchstaben ‚Molokosh de’Sahr samt Gefolge’ in ihr Büchlein schrieb, während sie fröhlich weitererzählte. „Der Gruppenschlafraum im Erdgeschoss hinten links ist noch frei,“ noch während sie sprach marschierten die braunhaarigen Drachen ab durch die Tür neben der Treppe am Tresen, „und was die beiden Zweibettzimmer angeht... zwei der Dachalkoven sind frei.“
 

Molokosh nickte. „Die nehmen wir.“
 

Wieder lächelte die Frau glücklich. „Geht bitte beide Treppen hinauf und dann im Gang links ab, die beiden letzten Treppen führen zu den jeweiligen Dachalkoven.“
 

Molokosh nickte erneut, drückte mit der Hand, die immer noch mehr oder weniger um Dakkas geschlungen war, feste auf die Schulter des Grünäugigen und setzte sich in Bewegung.
 

Da ihm nichts anderes übrig blieb, folgte Dakkas dem Drachen, doch konnte er deutlich einige gemurmelte Gesprächsfetzen der näheren Leute hören.
 

„…die wohl wollen? So weit weg von den Drachenlanden…“
 

„…nichts Gutes, sage ich dir! De’Sahr, pah! Haufen von…“
 

„…dieser Junge. Könnte ein Aina’ba sein, is’ aber viel zu klein…“
 

„…du diese Augen gesehen? Grün wie Jade!“
 

Dakkas wurde über zwei enge Treppen und durch einen schmalen Gang geführt, bis er, zusammen mit Molokosh, Daniel und Nostradamus, vor den beschriebenen beiden Treppen stehen blieb.
 

Es herrschte ein Augenblick des Schweigens, bis Molokosh unsicher zu Nostradamus schaute. „Gromares…“(2)
 

Nostradamus zog eine Augenbraue hoch und schnaubte. „Nein.“, war dann alles, was er von sich gab, bevor er seine Arme kreuzte.
 

Bevor ein erneuter Streit der Brüder ausbrechen konnte, kam Daniel dazwischen. „Schon gut, Molokosh-Lanar. Dakkas wird sicherlich nichts dagegen haben, ein Zimmer mit mir zu teilen, oder?“
 

Sprachlos und verwirrt nickte Dakkas, woraufhin Molokosh ihn freigab und einem rapide entschwindenden Nostradamus die Treppe hinauf folgte. Daniel seufzte und deutete Dakkas an, ihm zu folgen.
 

Die kleine, enge Treppe mündete in einen eng wirkenden Raum, in dem zwei schmale Betten gegenüber standen. Zwischen den beiden Betten war ein halbrundes Fenster, durch das Sonnenlicht hinein fiel. Die Treppe nach unten ließ sich mit einer Holzluke schließen, aber ansonsten war der Raum leer.
 

„Du musst müde sein. Leg dich am besten erst mal hin.“, murmelte Daniel, während er sich auf eins der Betten setzte und durch das Fenster starrte.
 

Dakkas runzelte seine Stirn beim Anblick des zwar sauberen, aber sehr alt aussehenden Bettes und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Erstaunlicherweise war die Matratze weich und angenehm.
 

Stirnrunzelnd zog er seine Beine an und setzte sich im Schneidersitz auf die braunen Laken. Daniel war immer noch damit beschäftigt aus dem Fenster zu schauen und scheinbar schwer am Nachdenken.
 

Da Dakkas ihn nicht stören wollte, lehnte er sich mit dem Rücken an die braune Wand und schloss die Augen.
 

~*~
 

Es war ein dumpfes Aufprallgeräusch, das Dakkas aufweckte.
 

Gleich danach kam ein leichter Schmerz in seiner Seite und nach und nach realisierte er, dass sein Körper dieses Geräusch hervorgerufen hatte, als er aus dem Bett gefallen war.
 

Mit einem leichtem Stöhnen raffte er sich vom Boden auf und schaute verwirrt durchs Zimmer.
 

Schwaches Sonnenlicht fiel durch das kleine Fenster und auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers schnarchte Daniel friedlich vor sich hin.
 

Schmunzelnd hievte Dakkas sich wieder in sein Bett. Den Heiler weckte so schnell nichts auf, schien es. Dann rieb er leicht verärgert seine rechte Seite, auf der er gelandet war.
 

Wie wohl Molokosh mit diesen dünnen Betten klar kam? Der Drache war groß und muskulös, wahrscheinlich würde er bei jeder kleinen Bewegung herunter fallen.
 

Dakkas rieb seine Seite und schaute aus dem Fenster. Den lebhaften Geräuschen nach zu urteilen war es gerade früher morgen, was bedeutete, dass er recht lange geschlafen hatte – gut 16 Stunden. Er musste eingeschlafen sein, als er sich an die Wand gelehnt hatte. Das würde auch seinen steifen Nacken erklären, der sich darüber beschwerte.
 

Ein kleines Bündel mit einem daraufliegenden Stück Papier fiel ihm ins Auge. Es lag am Ende des kleinen Bettes, besser gesagt: hing halb davon herunter. Neugierig zog er es zu sich heran.
 

Dakkas
 

Ich war so frei und habe dir neue Kleidung besorgt. Du schliefst tief und fest und Daniel war dagegen, dich zu wecken, da der Schlaf wegen deinen Verletzungen dringend nötig war..

Falls Daniel noch schläft oder schon weg ist, wenn du aufwachst: Am anderen Ende des Ganges gibt es einen kleinen Waschraum. Du kannst ihn ruhig benutzen. Mein Bruder und ich werden den ganzen Morgen mit Einkäufen beschäftigt sein. Du kannst in der Taverne auf uns warten.

Molokosh
 

Dakkas lächelte. Das war eine sehr nette Geste von Molokosh, ihm neue Kleidung zu besorgen. Vorsichtig entfaltete er das Stoffbündel.
 

Der Stoff war einfach und schlicht, aber fühlte sich angenehm an. Es waren ein dunkelgrünes Hemd mit silbernen Verzierungen an Ärmel und Saum sowie eine schwarze Hose mitsamt Gürtel und Gürtelbeutel. Mit eingewickelt in das Bündel war ein kleines, ansteckbares Wappen, dass eine Art Auge auf rotem Untergrund zeigte, umrahmt von einer grau-silbrigen Kette aus Rosen.
 

Irgendwie hatte der Grünäugige das Gefühl, dass ihm hier eine tiefere Bedeutung verloren ging, aber das Wappen sah hübsch aus und er sollte es offensichtlich tragen.
 

Und ein Besuch dieses Waschraumes konnte ihm auch nicht schaden.
 

Der Waschraum bestand aus einer Holzbadewanne auf einem zartgrün leuchtendem magischem Kreis, an die eine Wasserleitung angeschlossen war. Das erstaunte Dakkas, solchen Luxus hatte er nicht in so einer… Spelunke erwartet. Entweder bekam der Besitzer mehr Einnahmen als nur die der Gäste, oder er kannte einen guten Magier – oder einen nicht so guten, billigen. Aber wegen einem Bad mit warmen Wasser würde er sich sicherlich nicht beschweren.
 

Als Dakkas wenig später den Schankraum betrat, konnte man von draußen schon wieder das geschäftige Treiben der Stadt hören. Einige Gäste saßen bereits wieder an den Tischen, von denen nur wenige vom Vorabend gereinigt waren. Er erkannte oder sah keinen seiner drakonischen Reisegefährten und setzte sich erst einmal an den Tresen.
 

Die Wirtin stand bereits wieder dahinter und putzte Gläser. „Frühstück, junger Herr?“
 

„Gerne.“, lächelte Dakkas und wenig später hatte er frisches Brot mit Käse und Wurst vor sich stehen.
 

„Seid ihr neu in der Stadt, junger Herr?“, fragte die Wirtin beiläufig während sie weiter putzte. Dakkas erkannte trotzdem, worum es ihr ging. Dass er neu hier war, zumindest in diesem Teil der Stadt, hatte der gestrige Abend bereits klar gemacht. Und das Molokosh… zumindest einigen Leuten bekannt war.
 

de’Sahr, pah! Ein Haufen von…
 

Das hatte er doch gestern gehört… Vielleicht sollte er, bevor er etwas über sich herausfand, erst einmal etwas über die Leute herausfinden, mit denen er reiste?
 

Mit dem so gefassten Entschluss lächelte Dakkas die Wirtin offen an. „Ja, ich bin zum ersten Mal hier… Molokosh meinte, er könne die Vorräte hier gut aufstocken, bevor wir weiterziehen.“
 

Die Rothaarige nickte freundlich. „Ah, der Markt… hattet ihr bereits Gelegenheit, ihn zu sehen? Das Angebot ist nicht das Berauschendste, aber die alte Architektur ist gut erhalten… Sorgt für viele drakonische Besucher in der Stadt.“
 

„Leider hatte ich noch keine Möglichkeit, den Markt zu besuchen. Wir hatten auf dem Weg hierher einen kleinen… Unfall und Molokosh wollte schnellstmöglich weiter.“
 

Wie Dakkas es sich gedacht hatte, wuchs die Neugier der Frau ins Unermessliche, als sie von dem ‚Unfall’ hörte. „Ein Unfall? Hoffentlich nichts schwerwiegendes, junger Herr.“
 

Der angesprochene Grünäugige gab sein Bestes, den besten Ton zwischen Amüsement und Scham zu finden. „Nein, nein. Es war sowieso mein Fehler… Ich bin bei einem Stopp auf einen Bergausläufer geklettert und herunter gefallen.“ Vorsichtig senkt er seinen Blick. „Gleichgewichtsinn zählt nicht zu meinen Stärken, fürchte ich.“
 

Dakkas hielt seinen Atem an. Aber anscheinend kaufte die Wirtin ihm alles ab. „Oh, jeder von uns hat doch die ein oder andere Schwäche, nicht wahr? Ich meine, Meister de’Sahr soll… ach, nein, ich könnte doch nicht schlecht über euren Herren reden. Vergesst es, junger Herr.“
 

Er sah wieder auf. „Nein, nein, fahrt ruhig fort. Ich verstehe so etwas.“
 

Sie stoppte mit dem Putzen des Tellers, den sie gerade in der Hand hatte und lehnte sich zu Dakkas. „Nun, euer Herr ist sicherlich kein schlechter Mann, aber… nun, seine Wutausbrüche sind doch schon… bekannt. Nicht in einem überaus schlechtem Sinne,“ fügte sie hastig hinzu, „aber… bekannt.“
 

Dann lehnte sie sich wieder zurück und setzte ihr Putzen fort.
 

Molokosh hatte Wutausbrüche? Wann hatte Dakkas ihn bis jetzt wütend gesehen? Nur im Gespräch mit Nostradamus.
 

„Oh, manchmal ist er etwas… temperamentvoll.“, stieß er hervor und widmete sich dann seinem Frühstück.
 

Während der restlichen Mahlzeit unterhielt Dakkas sich fortwährend mit der Wirtin, jedoch nur über allgemeine und oberflächliche Dinge. Was vorteilhaft war, da er bei schwierigeren, tieferen Themas wohl kaum etwas gewusst hätte – sein Gedächtnis hatte mehr Lücken als nur seine Identität.
 

Es war vielleicht eine halbe bis eine Stunde vergangen, als die Tür des Wirtshauses aufgestoßen wurde und ein kleiner blonder Junge hineingehetzt kam.
 

„Geflügelpatrouille!“, schrie er dann quer durch den Raum und hetzte wieder heraus.
 

Dakkas Augenbraue zog sich wie von selbst hoch, als die wenigen Anwesenden hektisch anfingen, diverse Gegenstände in ihren Taschen, hinter Kisten oder sonst wo verschwinden zu lassen.
 

Und erstaunlicherweise verstand er sogar, was der Junge gerufen hatte.
 

Eine Wachtruppe der weißen Engel musste in das Gebäude unterwegs sein – Dakkas löchrige Erinnerung spuckte zu dem Wort ‚Geflügel’ heraus, dass es eine abschätzige Betitelung für weiße Engel sei – wegen der weißen „Hühnerflügel“.
 

Weiße Engel wurden in einem Etablissement wie diesem nur sehr ungern gesehen, schien es.
 

Er war nicht weit von der Tür hinauf entfernt... vielleicht sollte er sich lieber nach oben begeben? Aber wieso? Er besaß nichts Illegales oder Gefährliches, soweit er das von sich sagen konnte, und wenn ihn eh niemand in der Stadt kannte, konnte er auch keinem unangenehm aufgefallen sein.
 

Mit diesem Entschluss blieb Dakkas am Tresen sitzen und bat die Wirtin um ein Glas Wasser, die es ihm nervös brachte.
 

Wenig später wurde die Tür zur Taverne erneut aufgestoßen und fünf bepanzerte Wachen kamen hinein gestürmt.
 

Ihre Rüstungen waren alt und nicht im besten Zustand, aber frisch poliert und offensichtlich von einem Schmied gewartet. Das goldene Sonnenabzeichen war auf der Brust aufgemalt.
 

Der Anführer, ein braunhaariger Mann, sah sich misstrauisch und leicht angeekelt im Raum um, bevor er zur Wirtin marschierte. Diese stand inzwischen am anderen Ende des Tresens, entfernt von Dakkas.
 

„Sind gestern einige Drachen hier abgestiegen?“
 

Dakkas Hand verkrampfte sich um das Glas, welches er festhielt. Was hatte das zu bedeuten?
 

„Ja, Herr. Eine kleine Gruppe.“ Die Wirtin war offensichtlich nicht begeistert von dem Besuch der Patrouille und ihr Ton war alles andere als freundlich.
 

„Wir müssen wissen, wer genau alles zur Gruppe gehört.“
 

Die Wirtin starte die Engel einen Augenblick lang unverständlich an, dann erwiderte sie: „Herr Molokosh de’Sahr, sein Bruder Nostradamus de’Sahr, einige drakonische Begleiter… und ihr Heiler.“
 

Fast unmerklich atmete Dakkas erleichtert aus und positionierte seinen Arm so, dass das Wappen auf seiner Kleidung von der Patrouille nicht gesehen werden konnte. Irgendetwas sagte ihm, dass er lieber nicht auffallen sollte.
 

„Waren das alle Angehörigen der Gruppe?“, brummte der Anführer genervt und die Wirtin nickte.
 

Zwischen den anderen wenigen Gästen der Taverne hatte sich Getuschel ausgebreitet und Dakkas konnte die verhohlenen Blicke auf seinem Rücken förmlich spüren.
 

Die Wirtin war nett. Er würde sich später bei ihr bedanken.
 

„Wen haben wir denn hier?“
 

Inmitten seines Grübelns hatte er nicht mitbekommen, wie ein Mitglied des Trupps sich neben ihn gestellt hatte. Sein einziger Gedanke war ‚Bitte sieh nicht das Wappen!’, denn das war ohne Zweifel drakonisch.
 

Langsam drehte er seinen Kopf zu dem Mann in Rüstung hin.
 

„… Daniel, sir.“
 

Ein halb finsteres, halb süffisantes Lächeln lag auf dem Gesicht des Engels und seine braunen Augen musterten Dakkas abschätzig. Der Anführer des Trupps hatte angefangen, der Wirtin weitere Fragen zu stellen und war offensichtlich nicht daran interessiert, was sein Kollege hier machte.
 

„Daniel also. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“
 

Die anderen Wachmänner, die das Gespräch aus ihren Augenwinkeln verfolgten, grinsten. Anscheinend sollte dieser Kommentar beleidigend wirken oder war Teil eines geheimen Scherzes zwischen den Wachen.
 

„Aber sicher. Und eure?“ Unschuldig blinzelte Dakkas mit seinen Augenbrauen und sah die Wache mit großen Augen an.
 

Vollkommene Stille breitete sich in dem Lokal aus und in dem Grünäugigen machte sich das dumme Gefühl breit, dass er gerade eine große Dummheit begangen hatte.
 

Rage zeichnete sich auf dem Gesicht des Engels ab und wie in Zeitlupe sah Dakkas, wie der Mann seinen Arm zu seinem Schwert führte und es – fast nachdenklich anmutend – aus der Scheide zog. Dann hob sich das Schwert in die Luft über Dakkas Kopf und wie in Trance sah der junge Mann zu, wie sich der Knauf auf ihn herab senkte.
 

Erst in diesem Moment ließ die Lähmung von ihm los und war er wieder in der Lage, sich zu bewegen.
 

Er dachte nicht. Er handelte.
 

Reflexartig rollte er sich vom Stuhl und zur Seite, stützte sich mit einer Hand auf dem Boden auf und zog dem Engel das Knie unterm Körper weg. Scheppernd und mit einem dumpfen Knall landete die Wache auf dem Boden, noch während Dakkas wieder behände auf die Beine sprang und seine Balance wiederfand.
 

Die danach herrschende Stille wurde nur vom stöhnenden Schnaufen des zu Boden gegangenem Engels und dem irritierten Atmen des Patrouillenanführers durchbrochen.
 

Nach und nach erkannte Dakkas, was er da gerade getan hatte. Er hatte einen ausgebildeten, bewaffneten und gepanzerten Engel innerhalb weniger Augenblicke zu Fall gebracht.
 

Wer war er?!
 

„Wer und was bist du, Kleiner?“, brummte der Anführer genau die Worte, die der junge Mann sich gerade fragte. Die Sicht auf Dakkas Wappen war nun freigegeben und die anderen Wachen sammelten sich nervös bei ihrem Hauptmann.
 

Selbstsicher. Er musste selbstsicher wirken, sagte Dakkas sich.
 

„Ich heiße Dakkas. Ich bin mit Molokosh angekommen.“ Eine seiner Hände lehnte er an den Tresen neben sich, mit der anderen fuhr er sich durch die Haare.
 

Der Blick des Anführers wanderte wieder zur Wirtin. „Und warum erfahren wir das nicht?“ Sein Ton klang bedrohlich, aber noch hatte er keinen Befehl zum Angriff oder ähnlichem gegeben. Die am Boden liegende Wache rappelte sich langsam wieder auf.
 

„Sie wusste es nicht. Ich war ihr nicht vorgestellt worden.“, antwortete Dakkas dem Hauptmann.
 

Was die Wahrheit war. Molokosh hatte ihn nicht mit ihr bekannt gemacht.
 

Irritiert blickte der Mann wieder zu ihm. „Beantwortest du immer die Fragen anderer?“
 

Dakkas verschränkte seine Arme. „Redest du von dir selbst immer im Plural?“
 

Schwerfällig drehte der Hauptmann sich gänzlich zu Dakkas um und musterte ihn von oben bis unten. Währenddessen begann der vorhin ‚Niedergeschlagene’ mit einer Litanei aus Flüchen und Beschimpfungen.
 

„Jonas, sei ruhig. Wie alt bist du, Kleiner? Für einen Drachen siehst du noch sehr jung aus... selbst wenn du ein Mischling bist.“
 

„Alt genug um dir sagen zu können, dass ich gar kein Drache bin. Allein schon von meiner Körpergröße her sollte das auffallen.“
 

Der Hauptmann sah ihn einige Augenblicke stumm an und fuhr dann fort: „Molokosh de’Sahr war vorhin im Sonnentempel wegen eines… Ereignisses. Was kannst du dazu sagen?“
 

Dakkas blinzelte. „Oh. Meint ihr das Ausgrabungslager?“ Er zuckte mit den Schultern. „Es war verschüttet. Der halbe Berg war runtergekommen. Wieso weiß ich nicht. Wir haben uns nur einmal nach Verletzten oder Überlebenden umgeschaut und sind dann weiter.“
 

„Und? Gab es welche?“
 

Der Grünäugige schüttelte seinen Kopf. „Nein. Nur Schutt, Leichen und noch mehr Schutt. Sah aus, als hätte ein betrunkener Erzmagier im Berginneren ein Feuerwerk veranstaltet. Nicht schön.“
 

Dakkas wusste mit Bestimmtheit, dass er diesen Leuten nichts von sich erzählen wollte. Mit Sicherheit war er kein Freund von Engeln gewesen und garantiert selbst kein Engel. Ein Gefühl des Ekels und der… Abscheu wurde immer stärker, je länger er in der Nähe dieser Wesen blieb.
 

Noch immer starrte der Hauptmann ihn an. „Hm… warst du schon einmal in der Stadt?“
 

„Nicht, dass ich wüsste.“, gab Dakkas als Antwort und lächelte ein dünnes Lächeln.
 

Stirnrunzelnd kommandierte der Hauptmann seinen Wachtrupp wieder aus der Taverne hinaus und verließ seinerseits das Gebäude nach einem letzten, langen Blick auf Dakkas.
 

Kaum waren die Engel verschwunden, atmete die Wirtin auch schon hörbar laut aus. „Das war knapp… Junger Herr! Seid ihr… in Ordnung?“
 

Lächelnd nickte Dakkas und setzte sich wieder an seinen Platz. „Nichts passiert. Das Huhn war zu langsam.“
 

Schallendes Gelächter der anderen Gäste brach nach diesem Satz aus und plötzlich wurden ihm mehrere kostenlose Getränke angeboten.
 

~*~
 

Zwei Stunden später schleppte sich auch Daniel hinunter in die Wirtstube und betrachtete verwirrt Dakkas, der, umringt von einigen Männern und Frauen, von einem Glas Wasser trank.
 

„Dakkas?“, rief der Halbdrache verunsichert.
 

„Ah, Daniel. Auch schon aufgestanden? Setz dich doch.“
 

Seine Augen reibend nahm Daniel den ihm angebotenen Platz ein und bekam von der Wirtin eine herzhafte Mahlzeit aufgetischt.
 

„Ich ahne ja schon, aber… ist etwas passiert, während ich geschlafen habe?“, fragte Daniel zwischen zwei Bissen.
 

Ein naher Tavernengast, ein Mann mittleren Alters in grauer Kleidung, lachte herzhaft. „Ihr hättet es sehen sollen, Herr Heiler. Euer junger Freund dort hat’s der Wache richtig gezeigt. Kam’n hier rein wie immer – hochnäsig und wir-sind-besser-als-ihr. Aber ihr Freund da – zieht dem einen die Beine weg – Wumm! – und bietet dem Truppman die Stirn. Wunderbar!“
 

Die anderen Gäste stimmten mit ein in das Gelächter des Mannes und Dakkas lächelte Daniel entschuldigend an.
 

Der Heiler sah Dakkas erstaunt an. „Tatsächlich?“
 

Der Grünäugige nickte. Daniel brummte vor sich hin. „Na prima. Und Molokosh-lana sagte extra noch, wir sollen nicht auffallen.“
 

Abrupt verstummten die Gäste.
 

„Daniel… was hätte ich tun sollen? Zulassen, dass der Engel mir sein Schwert über die Rübe haut?“ Dakkas war beleidigt. Natürlich, Molokosh hatte ihn gerettet und schien freundlich, aber deswegen würde er garantiert nicht nach seiner Pfeife tanzen.
 

„Der Engel hat angefangen?“
 

Dakkas nickte und Daniel seufzte erneut. „Nun, du kannst dich wirklich nicht von einem Engel verprügeln lassen.“
 

„Schön, dass wir da einer Meinung sind.“, bemerkte der Schwarzhaarige trocken und erntete somit einige leise Lacher der Umhersitzenden.
 

Nachdenklich kaute Daniel weiter sein Essen.
 


 


 


 

Kleines Drakonisches Wörterbuch:
 

(1) Griesh! - Schluss jetzt! / Stopp! / Das war's!

(2) Gromares - Kleiner Bruder / Brüderchen

Erblindung

4 – Erblindung
 

Es war fast schon Abend, als Dakkas kurz davor stand, sich ernsthaft aufzuregen.
 

Nach Daniels Frühstück hatte der Schwarzhaarige den Halb-Engel dazu bewegen wollen, einen kurzen Rundgang durch die Stadt zu unternehmen – einerseits wollte Dakkas sich einfach nur umsehen und andererseits wollte er etwas finden, an dass er sich irgendwie erinnerte oder erkannte.
 

Doch der Heiler hatte sich vehement dagegen gewehrt und deutlich gemacht, dass es auch für den Grünäugigen besser wäre, wenn er in der Unterkunft bleiben würde. Angeblich wegen seiner Gesundheit, aber Dakkas hatte das Gefühl, dass es eher damit zu tun hatte, dass Daniel keine Zwischenfälle mit den Engeln haben wollte.
 

Anfangs hatte er sich gefügt und sich die Zeit im Gastraum vertrieben – beim Kartenspiel, das er erstaunlich gut beherrschte, wie er feststellte, und beim Plaudern mit der Wirtin, die nun viel offener war als vorher.
 

Daher besaß er nun nicht nur eine bescheidene Summe Gold – nicht viel, aber besser als das Nichts, das er vorher sein Eigen nennen konnte – und erheblich mehr Wissen.
 

Die weißen Engel hatten vor längerer Zeit das letzte Bündnis der „Feuervölker“ – Drachen, Werwölfe und rote Engel – zerschlagen und somit ihre Herrschaft gefestigt. Die roten Engel waren vollständig ausgelöscht worden, zumindest nahm man das an, da keine Überlebenden gefunden wurden. Die Reiche der Drachen und Werwölfe wurden zu Provinzen des Weiß-Engelschen Reiches erklärt und hatten jährliche Abgaben zu leisten, sowie die Gesetze der Engel anzuerkennen.
 

Natürlich nahmen die Drachen und Werwölfe dies nicht gut gelaunt auf. Engelssiedlungen, die in beiden Reichen angelegt hatten werden sollen, bestanden nicht lange. Besonders die Werwölfe schafften es innerhalb kürzester Zeit, die Engel von ihrem „Eingliederungsvorhaben“ abzubringen. Geleitet von einer königlichen Familie, die „Das Rudel“ anführte stellten sie eine geschlossene und äußerst aggressive Völkergruppe dar, von denen sich die Engel immer mehr distanzierten. Solange sie ihre Abgaben zahlten, schien es die Herren der weißen Türme nicht zu interessieren, ob die Wolfswesen freundlich zu Ihresgleichen waren oder nicht.
 

Bei den Drachen sah es anders aus.
 

Die Drachen bestanden nicht aus einem großen Volk, dass sich fast Bienenstock-artig hinter eine Familie stellte. Sie bestanden aus verschiedenen Klans, mit jeweils einzelnen adligen Familien, die untereinander um die Vorherrschaft über ihr Volk kämpfen – und eigene „Fürstentümer“ besaßen. Jeder Klan besaß eine eigene hoheitliche Familie und aus diesen konnte ein Drachenkaiser hervorgehen – konnte.
 

Der jetzige Kaiser sollte, laut der Wirtin, keinerlei wahre Macht besitzen, da zu viele Streitigkeiten die Drachen zersplitterten. Der jüngste Sohn und eigentlicher Thronerbe des Kaisers galt seit Jahren als verschwunden und der zweite, ältere Sohn des Drachen als arrogant und unbegabt was Regierungsgeschäfte anging.
 

Die Drachenlande waren immer vom Krieg beherrscht, entweder kämpften Drachen gegen Drachen oder Drachen gegen „Angreifer“. Dakkas hatte den Eindruck, dass dieses Volk dabei war, sich selbst auszubluten.
 

Und sein Begleiter und Retter, Molokosh de’Sahr, schien daran nicht unbeteiligt zu sein. Er war ein Adliger.
 

Sein Drachenklan war lange Zeit einer der Stärksten gewesen, hatte jedoch vor mehreren Jahrhunderten einen schweren Schlag erlitten. Nun kämpften sie mehr noch als ihre Artgenossen ums Überleben – war doch der Kaiser ein Mitglied ihres Erzfeind-Klans.
 

Alles in allem war die ganze Angelegenheit kompliziert, verworren und, nach Dakkas Ansicht, komplett sinnlos. Es war kein Wunder, dass die weißen Engel sie besiegt hatten. Dieses System war entgegensetzt zu jeder sinnvollen Überlebenstaktik.
 

Missmutig starrte er aus dem Fenster des kleinen geteilten Zimmers, in dem er noch mindestens eine Nacht verbringen würde. Die langsam schwindende Sonne tauchte die Häuser auf der anderen Seite des Glases in ein sanftes Licht.
 

Er fühlte sich erdrückt und er musste jetzt raus aus dem Gebäude, Drachen und Engel hin oder her. Im Notfall war er sich sicher, dass er schneller laufen könnte als ein Wachsoldat der Engel. Allein die Menge Metall, die sie mit sich herumschleppten, musste hinderlich genug sein.
 

Entschluss gefasst stieg Dakkas die Zimmertreppe hinab und huschte durch die engen Gänge des Hauses. Daniel saß noch immer im Schankraum des Gasthauses, aber es war ein Leichtes für ihn, sich hinter einigen größeren Männern zu verstecken und auf die Straße vor dem Haus zu gelangen. Das Sonnenlicht war angenehm, nicht zu heiß und wieder besser gelaunt blinzelte der Grünäugige, während seine Augen sich an den Lichtwechsel gewöhnten.
 

Er lief planlos eine Straße hinunter. Da er sich hier nicht auskannte, konnte er auch gleich einfach drauf los laufen. Falls er sich den Rückweg nicht merken konnte, konnte er immer noch jemandem nach dem Gasthaus fragen.
 

Die meisten Straßen waren ungepflastert, bloß platt getrampelte Erde und die Wände der Häuser sahen auch nicht mehr am saubersten und frischesten aus. Immer wieder waren spielende Kinder zu hören, hin und wieder schallte ein Lachen durch die Gegend und einige Frauen und Männer trugen Körbe durch die Gegend, während sie sich unterhielten. Dakkas hatte das Drachenwappen wieder abgenommen und die vorübergehenden Leute blickten nur kurzzeitig zu ihm, bevor sie sich wieder ihren Angelegenheiten widmeten.
 

Er erkannte einige Leute, die augenscheinlich von Drachen abstammten mit ihren großen, muskulösen Körpern. Andere wiederum schienen Werwolfblut zu haben, denn beim Lächeln sah er ihre spitzen Zähne, fast schon Reißzahn-ähnlich und ihr Haar schimmerte rötlich. Der Großteil von ihnen trug verstaubte, braun- bis gelbfarbene Kleidung. Angenehme, einfache und mit der Szenerie verschmelzende Farbtöne.
 

Langweilig.
 

Erst als er auf eine gepflasterte, größere Straße stieß, wurde es interessanter.
 

Auf dieser war eindeutig mehr Verkehr, von normalen Bewohnern der Stadt über Soldaten bis hin zu Händlern und Bauern mit ihrem Vieh. Es gab auch mehr Farbe in der Bevölkerung, wenn man das so sagen konnte. und einen Augenblick lang musterte Dakkas nur das Treiben vor ihm.
 

Es musste die Hauptstraße sein, auf die er gestoßen war. Zu seiner Rechten konnte er etwas weiter die Straße herunter ein großes Gebäude mit einem Kuppeldach sehen. Vor dem Gebäude schienen bunte Tücher im Wind zu hängen und Lärm drang außer dieser Richtung zu ihm.
 

Er tippte darauf, dass dort hinten der Markt lag und wanderte los.
 

Die bunten Tücher entpuppten sich als bunte Bedachungen der aus Holz gezimmerten, einfachen Marktstände. Nahrung, Kleidung, Hausrat und andere Kleinigkeiten wurden von verschiedenen Händlern angepriesen.
 

Nach einem Rundgang über den gesamten Markt machte Dakkas sich daran, sein Geld zu zählen.
 

Sein Gold reichte aus für etwas zu essen, einige Kleinigkeiten und neue Kleidung aber ansonsten nicht sehr viel mehr. Garantiert nicht genug um irgendeine Art von Verteidigungsmöglichkeit zu kaufen, wie er es gerne getan hätte. Der Gedanke, dass er komplett ohne Waffe oder Schutz durch eine ihm wildfremde Gegen lief, gefiel ihm nicht, auch wenn er einige gut ausgerüstete Drachen an seiner Seite hatte.
 

Hatte er vor dem Erdrutsch Waffen gehabt? Er schien keine unmittelbar dabei gehabt zu haben, aber er hatte das Gefühl, dass er normalerweise immer eine Waffe trug.
 

Die Frage war nur, was für eine?
 

„He, passt doch auf!“ Die ärgerliche Frauenstimme rauschte an Dakkas vorbei, dafür spürte er den Schmerz in seiner rechten Seite und brachte sich wieder in Balance. Während er gedankenverloren vor sich hin gelaufen war, war er einer Händlerin in den Weg ihres Karrens gelaufen.
 

„Entschuldigt.“ Schnell trat er einige Schritte zurück, um die griesgrämig dreinschauende Frau an sich vorbeiziehen zu lassen.
 

Erst als sie hinter einem Stand verschwunden war und die Umherstehenden wieder ihren Geschäften nachgingen, bemerkte er, dass er etwas in seiner Hand umklammert hielt.
 

Es war eine Kette mit einem kleinen, runden Anhänger. Dunkel erinnerte er sich, solche Kinkerlitzchen auf dem Handkarren der Händlerin gesehen zu haben, die ihn angerempelt hatte.
 

Er musste die Kette in die Hand genommen haben, als sie zusammen stießen. Und keiner hatte es bemerkt – nicht einmal er selbst.
 

Kurz dachte er darüber nach, der Frau hinterher zu rennen, aber zu welchem Zweck? Es war nur eine kleine Kette, nicht besonders wertvoll und absichtlich hatte er es ja auch nicht getan. Er hatte es eher… gefunden. Und was man findet, darf man behalten, sagte ihm eine innere Stimme.
 

Vielleicht konnte er es ja einem der anderen Händler verkaufen.
 

-------------------------------------------
 

Die Sonne war bereits untergegangen, als Dakkas in den Salzkessel zurückkehrte und im Schankraum hatten sich wieder etliche Gäste eingefunden. Im Gegensatz zu seiner vorherigen Ankunft beachteten die wenigen, die ihn überhaupt bemerkten, ihn nicht sonderlich. Nach einem kurzen Blick durch den Raum erkannte er einen grimmig dreinblickenden Molokosh, auf den Daniel beruhigend einzureden schien. Am Tisch des schwarzhaarigen Drachen saßen noch zwei der braunhaarigen, die leicht nervös um sich schauten.
 

Hatten sie etwas tatsächlich so viel Angst vor den Engeln? Dakkas erschienen sie mehr als Wichtigtuer, zumindest die Exemplare, denen er heute begegnet war.
 

Molokosh wirbelte seinen Kopf wütend herum, als Dakkas sich durch den Raum gewunden hatte und endlich ihm gegenüber auf einen Stuhl glitt.
 

„Wo warst du?“, zischte der Drache, noch bevor sein Hintern den Stuhl vollkommen berührte.
 

Dakkas blinzelte. „Danke, ich habe einen sehr angenehmen Abend verbracht. Ja, das Wetter war angenehm, nein, ich habe nichts weiter aufregendes erlebt.“
 

Die einzige Antwort des Drachen auf seine schnippische Begrüßungsrede war ein intensives, ärgerliches Starren und ein leises, tiefes Grollen.
 

Dakkas war nicht beeindruckt. „Es soll Kräuter geben, die gegen diese Art von Husten helfen.“ Beim Anblick der immer nervöser werdenden braunhaarigen Drachen und einem verzweifelt aussehenden Daniel seufzte der Grünäugige und rollte mit den Augen.
 

„Molokosh. Ich wage zu behaupten, dass ich in der Lage bin einen Fuß vor den anderen zu setzen ohne, dass man mich dabei stützen müsste.“
 

„Nur weil du es kannst sollst du es aber noch lange nicht tun.“, war die Antwort des Drachen.
 

„Wenn du ernsthaft erwartest, dass ich den ganzen Tag in diesem Gebäude verbringe, muss ich dich leider enttäuschen. Zumindest ohne guten Grund werde ich das nicht tun.“
 

Dakkas verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte den Drachen zurück an. Daniel murmelte etwas auf Drakonisch und wandte seinen Blick von den Beiden ab.
 

Molokosh brach sein böses Blicken ab, als ihm klar wurde, dass es ohne Erfolg blieb. Seine Finger trommelten auf dem Holztisch während er nachzudenken schien.
 

„Du erinnerst dich an nichts mehr von dem, was in dem Ausgrabungslager war?“
 

„Nein. Ich erinnere mich an gar nichts Konkretes.“ Verwirrt runzelte Dakkas seine Stirn. „Was ist los?“
 

Molokoshs Finger stoppten ihr Trommeln und dem Drachen entfuhr erneut ein tiefes, kehliges Grollen. Die beiden Braunhaarigen neben ihm warfen sich nervöse Blicke zu und selbst die an den Nachbartischen sitzenden Tavernengäste schauten verängstigt herüber.
 

Ein tiefes, brummendes Grollen von einem Drachen war also ein Warnzeichen, merkte Dakkas sich geistig und wartete auf die Antwort des Schwarzhaarigen.
 

„Die Engel im Tempel hätten uns fast in den Kerker werfen lassen. Aus irgendeinem Grund waren sie sehr… nervös, was das Ausgrabungslager anging. Irgendetwas ging da nicht mit rechten Dingen zu. Und sie waren sehr hellhörig darüber, ob es irgendwelche Überlebenden gab.“
 

Eis kroch in Dakkas Venen. Die Geräusche um ihn herum wirkten plötzlich so, als wenn sie von weit her kämen. Selbst Molokoshs Form verschwand aus seinem Sichtfeld, wurde schwammig und nebulös. Entfernt nahm er wahr, wie der Mund des Drachen sich bewegte, aber die Bedeutung und Klänge der Worte, die sich dabei formten, entglitten ihm.
 

Was hatte er da gemacht? Und warum hatte es den Erdrutsch überhaupt gegeben?!
 

Ein Hand berührte seine Schulter, aber er schüttelte sie ab. Es war fast so, als wenn eine unendlich große Menge an… Informationen direkt vor ihm lag und dennoch unerreichbar war. Die Welt war unwichtig, er musste diese Informationen haben. Dieses Wissen haben. Er musste…
 

Doch er erreichte das Wissen nicht, als wenn ihn eine Mauer von ihm trennte. Eine unzerstörbare Mauer, die er nicht überwinden konnte. Er kam sich vor, als wenn er blind wäre.
 

„Halmsdorf.“
 

Die Stimme war laut, deutlich und schnitt durch den Schleier, der sich über ihn gelegt hatte. Nach und nach kehrten die Geräusche der Taverne zurück, das Brummen, Lachen und Reden der Gäste, das Klirren der Gläser. Dann kam sein Sichtfeld wieder dazu, Farben und Formen – und zwei graue Augen, die ihn anstarrten.
 

„Nostradamus?“
 

Der grauäugige Drache war anscheinend hereingekommen von… wo auch immer er gewesen war und lehnte sich an den Tisch neben Dakkas, seinen Rücken zu seinem Bruder gewandt. Er hatte sich hinab und zur Seite gebeugt, so dass er dem kleineren Grünäugigen direkt ins Gesicht blickte.
 

„Wir gehen nach Halmsdorf.“ Die Stimme des Drachen war anders, als Dakkas sie vorher erlebt hatte. Nicht so tief und bedrohlich und sie erschien… klarer als vorher.
 

„Nostradamus, was soll das heißen, wir gehen nach Halmsdorf?“ Der Einwand seines Bruders wurde von dem Grauhaarigen überhört.
 

„Was gibt es in Halmsdorf, Nostradamus?“, fragte Dakkas seinerseits.
 

„Einen Mann, dem du es erlaubt hattest, einen Teil von dir kennen zu lernen. Er wird uns weiter helfen können.“
 

„Warum redest du hier kontinuierlich von einem ‚wir’, Nostradamus?“ Erneut wurde Molokosh außen vor gelassen.
 

„Woher weißt du das?“
 

Nostradamus lächelte leicht. „Ich kann Dinge wissen. Aber wenn ich sie weiß, erkenne ich das hier und jetzt nicht mehr. Und wenn ich das hier und jetzt erkenne, weiß ich die Dinge nicht mehr.“
 

Dakkas runzelte seine Stirn und nickte langsam. „Du bist ein Seher.“ Nostradamus lächelte und ließ sich im Stuhl neben ihm nieder. Dann endlich wandte er sich seinem Bruder zu. „Es ist zu spät, um uns von ihm zu trennen, Bruder. Du hast vieles ins Rollen gebracht, als du ihn gerettet hast.“ Nostradamus Stirn runzelte sich. „Ich kann noch nicht sagen, ob es besser gewesen wäre, ihn sterben zu lassen. Bequemer wäre es auf alle Fälle gewesen aber… bequem ist nicht immer das richtige.“
 

Nostradamus stilles Lächeln wurde von einem frustriertem und verwirrten Blick seitens Molokosh, einem nervösen seitens der drei anderen Drachen und einem etwas ängstlichen seitens Dakkas begleitet… Warum hätte es besser sein können, wenn er gestorben wäre?
 

-------------------------------
 

Früh am nächsten Morgen hatte er zwar immer noch keine Antwort auf diese Frage, aber ein festes Ziel vor Augen: Halmsdorf, eine Stadt mittlerer Größe die etliche Tagesreisen von Kish-Laro entfernt war und weiter in die Herzlande des Engelreiches hinein lag, jedoch nicht so weit, dass man von absolutem Hoheitsgebiet der weißen Engel sprechen konnte.
 

Molokosh und Nostradamus hatten sich, lange in die Nacht hinein, beraten. Dakkas war nur ein stummer Zeuge der Beratschlagungen gewesen, ebenso wie Daniel. Wie es schien machten die Brüder alle wichtigen Entscheidungen unter sich aus und Dakkas sah keinen Grund, sich einzumischen – obwohl es um ihn ging. Überhaupt war er überrascht, wie ruhig er war an diesem Morgen.
 

Die braunhaarigen Drachen – welche Cocak’ba Söldner waren, was auch immer das bedeuten mochte – waren von Molokosh entlassen worden. Stattdessen würden sie ihre Reise zu viert fortsetzen: Die Brüder, Daniel und Dakkas. Damit waren sie eine kleinere Gruppe, die schneller reisen konnte und sich vor allem leichter versteckt halten konnte.
 

Außerdem vertrat Nostradamus die Meinung, dass die Söldner ihnen eh keine Hilfe sein würden, würde tatsächlich etwas passieren.
 

Nostradamus. Ein Rätsel für sich. Von Daniel hatte Dakkas erfahren, dass der Grauhaarige Drache nicht ganz… normal war. Die meiste Zeit über war er schweigsam, mies gelaunt und leicht zu irritieren. Hin und wieder wurde er ansprechbarer und half seinem Bruder dank seiner seherischen Fähigkeiten. Aber egal ob er ansprechbar oder nicht wirklich ansprechbar war, anscheinend war er immer etwas… exzentrisch. Einige seiner Sätze sollten absolut keinen Sinn ergeben und viele seiner Taten ebenfalls nicht. Molokosh schätzte ihn als seinen Bruder und jeder Drache wusste um und schätze sein Talent für Blicke in die Zukunft, aber keiner wollte lange in seiner Gegenwart sein.
 

Dem konnte sich der Grünäugige nur anschließen. Der Drache war ihm unsympathisch, nicht zuletzt wegen seiner Kommentare darüber, dass man ihn auch gut hätte sterben lassen können.
 

„Nur weil ich kleiner bin als ihr bin ich nicht gleich wehrlos.“, murmelte Dakkas, als die Drachen das Gepäck unter sich aufteilten und ihm nur einen kleinen Beutel mit Karten und Ähnlichem gaben.
 

Daniel lächelte. „Das habe ich selbst gesehen, aber du solltest dich noch nicht zu stark belasten. Es ist eh schon verwunderlich, dass du den Erdrutsch überstanden hast.“
 

Grummelnd folgte er dem Heiler, beließ es aber dabei.
 

Zu viert durchquerten sie die Straßen Kish-Laros, bis sie schließlich durch das Nordtor hindurch waren und über eine schlecht gepflasterte Straße weiter marschierten.
 

Es war früher Morgen und einige wenige Bauern, die nördliche Gehöfte hatten, waren bereits auf dem Weg in die Stadt, aber größtenteils war die Straße leer.
 

Die Landschaft war genauso eintönig wie vorher und Langeweile schien der größte Feind zu sein, den sie während der Reise haben würde.
 

Die Reise würde diesmal länger dauern, Halmsdorf lag ein gutes Stück weiter nordwestlich, mindestens einen zwei Wochen-Marsch entfernt. Das enthielt zwei Wochen unangenehmen Schlafens auf dem Boden. Wenigstens waren die Temperaturen gut genug, dass man nicht frieren musste, obwohl Dakkas nachts eine dünne Decke bevorzugte.
 

Er lief am Ende der kleinen Gruppe, vor seinen Augen Daniels Rücken. Er war plötzlich mies gelaunt und starrte gedankenversunken vor sich hin. Hin und wieder spürte er das kalte Metall des Dolches, den er am Markt dann doch noch erstanden hatte, an seinem Handgelenk. Er hatte ihn mit einem Stückchen Leder, dass er in Daniels Beutel gefunden hatte, an seinem Unterarm festgebunden. Das erschien ihm als bester Platz für die kleine Waffe, die er solange wie möglich versteckt halten wollte. Er wusste zwar nicht wieso, aber es war wichtig, dass niemand die Waffe sah.
 

Sie waren bereits fünf Tage unterwegs und die Landschaft begann langsam, sich zu verändern und grüner zu werden, als Dakkas zum ersten Mal bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Er bekam leichte Kopfschmerzen und die Welt schien für einige Sekunden kurz zu schwanken, aber das war schnell vorbei und auch die Kopfschmerzen ließen nach wenigen Minuten wieder nach. Sicherlich kein Grund, um Daniel zu beunruhigen. Der Heiler war sowieso viel zu ängstlich, was den Gesundheitszustand seiner Reisebegleiter anging und Dakkas kam nicht umhin, sich zu fragen, woran das lag.
 

Das zweite Mal passierte es einen Tag später, als die ersten Ausläufer eines Gebirges in der Ferne sichtbar wurden und sie auf einen Hügel zumarschierten, über den sich die Straße wand. Inzwischen trafen sie vereinzelt auf kleinere Gruppen von Bäumen und Büschen, gepaart mit der ein oder anderen Abzweigung der Straße.
 

Zwei Mal war ihnen eine Gruppe Händler entgegen gekommen, beide Male schwer beladen und mit dicken Stoffplanen, welche die Karren umspannten und vor neugierigen Blicken anderer schützten. Beide Male waren die Drachen wortlos an den Händlern vorbei gelaufen, während die Händler sie argwöhnisch gemustert hatten.
 

Beide Male hatte Dakkas, kurz nachdem die Händler aus dem näheren Umfeld weg waren, laut seufzen müssen.
 

Wofür Nostradamus ihm beide Male einen bösen Blick geschickt hatte.
 

Drachen waren kompliziert.
 

Am Tag nach dem zweiten Kopfschmerzanfall wachte Dakkas abrupt auf und stürmte aus dem einfachen Zelt, das Daniel für sie beide mit trug.
 

Kaum außerhalb des Zeltes taumelte er an einem besorgt dreinschauenden Molokosh vorbei und übergab sich am nächsten Busch.
 

„Dakkas?!“, rief der schwarzhaarige Drache und Daniel steckte schlaftrunken seinen Kopf aus dem Zelt heraus.
 

Der Betroffene schnappte nach Luft und würgte noch ein paar Mal, bevor die Übelkeit in seinem Magen sich wieder legte und er zitternd und fröstelnd einen Schritt von dem Busch wegtrat.
 

Daniel reichte ihm sofort einen Wasserschlauch. „Trink ein paar Schlucke, aber langsam. War dir gestern schon übel?“ Dakkas schüttelte seinen Kopf und nahm ein paar Schlucke des Angebotenen. Fast sofort fühlte er sich besser und die letzten Reste der Übelkeit verschwanden. „Geht schon wieder.“, jappte er und schlang einen seiner Arme um sich selbst. Natürlich entging dem Heiler diese Geste nicht. „Ist dir kalt?“ Dakkas nickte. „Hast du noch irgendetwas anderes? Schwindelgefühle? Kopfschmerzen? Konzentrationsprobleme? Probleme beim Atmen?“
 

„Nein… ich… Schwindel und Kopfschmerzen, aber nur leicht und kurz, die letzten Tage.“
 

„Die letzten TAGE?“, brummte sofort Molokosh, während aus dem Zelt der Brüder ein sich beschwerender Ruf von Nostradamus kam.
 

„Och halt doch die Klappe!“, rief Dakkas zurück und überraschte damit alle Anwesenden, sich selbst eingeschlossen.
 

Daniel kramte einige Kräuter aus seinem kleinen Tragebeutel hervor und gab sie Dakkas. „Normalerweise sollte man sie zu einem Tee aufkochen, aber ich denke, du kannst sie auch einfach kauen und schlucken.“ Der Grünäugige nahm die dargebotenen Pflanzen und beäugte den Heiler skeptisch. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich habe oder gibst du die Kräuter einfach nur auf gut Glück?“
 

Daniel lächelte. „Ich bin ein HeilZAUBERER. Wenn ich mich konzentriere und meine Kräfte benutze, kann ich die Lebensenergien deines Körpers… lesen, sozusagen, und somit herauskriegen, was falsch ist.“
 

„Ah. Interessant. Und was ist falsch?“ Dakkas machte keine Anstalten, die Medizin zu sich zu nehmen, bevor er nicht genau wusste, was Sache war. Der Heiler seufzte. „Deine Energien sind alle durcheinander. Das waren sie schon als wir dich fanden, aber sie verschlechtern sich. Das Kraut sollte mit den Symptomen helfen. Wir können nichts machen als abwarten und hoffen, dass deine Energien sich wieder ausbalancieren.“
 

„Na wunderbar.“, murmelte der kleinere daraufhin und steckte sich das Kraut in den Mund. Es schmeckte bitter, sehr bitter und fast hätte er es wieder ausgespuckt. Nach einigen Bissen aber wandelte sich der Geschmack in etwas süß-säuerliches, was zwar auch nicht angenehm, aber wenigstens besser war.
 

„Also ist es im Prinzip nur ein Schock, was er hat?“, fragte Molokosh eine halbe Stunde später, als sie wieder am marschieren waren. Daniel nickte. „Ja. Ich kann aber nicht sagen, wie lange es andauert oder wie schlimm es noch wird.“
 

Dakkas, der hinter ihnen lief, verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und blieb still. Er war garantiert kein Heiler gewesen vor der Amnesie, aber sein Gehirn sagte ihm eines ganz genau: Ein Schock trat kurz nach dem Ereignis ein und verschwand dann wieder. Dieses Ding hier baute sich aber erst langsam auf. Irgendetwas war also komisch.
 

Die nächsten zwei Tage gab Daniel ihm dreimal täglich, zu den Mahlzeiten, eine Portion des widerlichen Krauts, das anscheinend „Bitternelke“ hieß. Er beschwerte sich nicht und schluckte es, auch wenn es ihm am zweiten Tag Nachmittags trotzdem schlecht ging und eine leichte Übelkeit in ihm aufstieg. Von Daniels besorgtem Blick alle paar Minuten schloss er, dass seine ‚Energien’ sich weiterhin nicht beruhigen wollten.
 

Als sie am Anfang eines kleinen Wäldchens ankamen, durch welches die Straße direkt auf einen Berg hinzuführte, stoppte Molokosh ihren Marsch vorzeitig und ließ sie ein Lager etwas abseits der Straße, im Schatten der Bäume, aufschlagen.
 

Ihre Wasserschläuche waren im Prinzip leer und Molokosh machte sich auf den Weg, um sie aufzufüllen in einem nahe gelegenem Fluss. Nostradamus setzte sich unter einen Baum, lehnte sich an die runde und schloss seine Augen. Übrig blieben noch Daniel, der kritisch seinen Kräuterbeutel begutachtete und verkündete, dass er einige Dinge im Wald suchen gehen würde, und Dakkas, dem schon wieder übel war und der sich vorsichtig auf einen Stein setzte.
 

Ein sanfter Lufthauch fuhr durch den Wald und die Blätter der Bäume raschelten in den Ästen. Daniel war hinter den Baumstämmen verschwunden, ebenso wie Molokosh. Da Nostradamus ihn nicht weiter beachten zu schien musterte Dakkas seine Umgegend.
 

Gras, Bäume, Büsche, Straße. Es war nicht gerade ein aufregender Anblick.
 

Überhaupt war die ganze Reise extrem langweilig. Seine Reisegefährten redeten kaum mit ihm und es gab auch keine Abwechslung währenddessen. Einzig und allein die Landschaft hatte sich in den letzten Tagen verändert und dafür war er schon dankbar. Noch mehr von dieser braunen Einöde hätte er nicht ertragen – aber deshalb nannte man die Gegend ja „Ödlande“: Weil sie ein öder Landstrich waren.
 

Das hieß aber nicht, dass man sie mögen musste.
 

„…Dan…“
 

Dakkas Körper zuckte. Was war das gewesen? Hatte da jemand etwas gesagt?
 

Ein Blick zu Nostradamus verriet, dass der Drache immer noch mit geschlossenen Augen an den Baum gelehnt war und angenehmeres zu tun hatte als den Grünäugigen zu ärgern.
 

Von den beiden anderen waren nirgends etwas zu sehen. Der Rest der Landschaft war ebenfalls unverändert: Gras, Bäume, Straße.
 

Aber er hatte doch etwas gehört!
 

„…Dan…“
 

Es hörte sich an, wie eine Stimme. Sie war schwach und schien aus großer Entfernung zu kommen. Vielleicht war jemand im Wald? In den anderen Richtungen konnte er nichts entdecken und das Land war zu eben, als das sich jemand verstecken konnte. Nur wenige Hügel waren in der Gegend verstreut und diese zu weit entfernt, als das eine Stimme so weit hörbar gewesen wäre.
 

„…Dan!“
 

Es war eine männliche Stimme, aber… irgendwie klein, fast kindlich. Was hatte ein Kind hier zu suchen? Und woher kam diese Stimme?
 

Egal, wie oft er sich auch umschaute, da war niemand. So langsam machte sich ein mulmiges Gefühl in ihm breit.
 

„Dan.“
 

Es gab kein Rascheln, keine wegknickenden Zweige oder zur Seite gebogenen Äste. Von einem Moment auf den anderen stand plötzlich eine kleine, schwarze Gestalt zwischen zwei Bäumen neben Nostradamus und blickte Dakkas aus den Tiefen ihrer Kapuze bittend an.
 

„Dan?“
 

Dakkas war wie festgefroren. In den Händen der Gestalt ruhte eine große, schwarze Sense, was an sich bedrohlich hätte wirken können. Jedoch war die Sense fast doppelt so groß wie die kleine Figur und so erschien das Ganze eher lächerlich.
 

Dennoch überkam ihn ein böses Gefühl beim Anblick der Gestalt.
 

Fast ohne sein zutun stand er auf und trat einen Schritt zurück. Die Gestalt schien näher an ihn heran kommen zu wollen, stoppte sich jedoch.
 

„…beeilen… Dan,… Probleme…“ Unter der Kapuze schaute ein blasser Mund hervor, der sich angestrengt bewegte, doch war es Dakkas so, als wenn er nur Bruchstücke von dem hören konnte, was eigentlich gesagt wurde.
 

Die Gestalt schien dies auch zu bemerken, denn ihre Bewegungen wurden energischer und die wenigen Worte, die Dakkas verstand, verzweifelter.
 

„… beeilen… Drachen… nicht… Schutz… Dan!“
 

Am Ende war der Ton fast flehend und ein Zucken ging durch den Körper der Gestalt. Sie klammerte sich an die Sense und verkrampfte sich.
 

„… Halmsdorf… Seher… nicht… vertrauenswürdig. Drachen…“
 

Die Angst in Dakkas legte sich wieder. Wer auch immer diese Gestalt war – oder was – sie wollte ihm auf alle Fälle nichts Böses. Und wenn er sie richtig interpretierte, warnte sie ihn vor Nostradamus. Nun, dass der Drache nichts Gutes verhieß hatte er sich schon vorher gedacht.
 

Vorsichtig machte er einen Schritt auf den Robenträger hinzu, doch in diesem Augenblick flackerte die Erscheinung, als wenn sie ein Spiegelbild war, das kurzzeitig verschwand.
 

„Keine Zeit… finden… Prinzen… musst… Drachenprinz… finde… hilf…“
 

„Wenn soll ich finden? Was?!“, fragte der Grünäugige, nun mit gewecktem Interesse, doch die Gestalt flackerte noch einige Male mehr und verschwand. In Windeseile stand Dakkas an der Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch das Wesen war, doch es gab keine Anzeichen, dass überhaupt jemand dort gewesen wäre.
 

Verwirrt schaute der Schwarzhaarige sich um, doch konnte er nichts merkwürdiges oder außergewöhnliches entdecken.
 

„Was tust du?“, fragte dann plötzlich eine grollende Stimme zu seiner Seite. Aufgeregt blickte er in die grauen Augen Nostradmus, aber die Worte erstickten in seiner Kehle.
 

Was auch immer hier gerade vor gefallen war, er war sich sicher, dass er dem Drachen nichts davon berichten wollte. Der Seher war ihm unheimlich, noch unheimlicher als die Gestalt, welche er gerade gesehen hatte.
 

„Nichts, Nostradamus. Ich dachte… ich hätte etwas gesehen hier.“
 

Der Drache erschien davon überzeugt zu sein, kommentierte allerdings nicht weiter und schloss wieder seine Augen. „Dann sei bitte leise.“, war das letzte, was er sagte, bevor er sich wieder seinen Gedankengängen widmete.
 

Dakkas kehrte zurück zu seinem Stein.
 

Was war das für ein Wesen? Was hatte es von ihm gewollt? Was bedeutete ‚Dan’? Und wen sollte er finden und was hatte ein Drachenprinz damit zu tun?!
 

Diese Fragen packte er zu seiner immer größer werdenden Liste an Fragen hinzu. Für ihn gab es nur fragen, wie es schien – Wo kam er her, was war er, wer war er, was wollte er in dem Ausgrabungslager, warum hatte er überlebt, hatte er eine Familie, was sollte er als nächstes tun…
 

Die Fragen waren endlos. Und Antworten schien es nicht zu geben.
 

Er legte seinen Kopf in seine Hände. Das war zum Haare ausreißen und schreien. Zu allem Überfluss war ihm jetzt auch wieder schlecht und er bekam erneut Kopfschmerzen. Konnte er nicht wenigstens von denen verschont bleiben? War Amnesie nicht genug? Musste er auch noch diese dummen Schmerzen kriegen?
 

Er atmete in tiefen Zügen ein und aus. Sich selbst bemitleiden würde jetzt auch nichts bringen, sagte er sich selbst. Er musste einen klaren Kopf bewahren, wenn er überhaupt schlau aus dem werden sollte, was hier passierte.
 

Zuerst musste er nach Halmsdorf gelangen.
 

Auch wenn dieser Hinweis nur von einem komischen Seher kam, so war es doch der einzige, den er hatte. Was auch immer es dort in Halmsdorf gab, es musste ihm einfach helfen.
 

Und vielleicht würde er unterwegs noch etwas mehr über seine drakonischen Begleiter herausfinden können. Und diesen komischen Drachenprinz, den dieses Wesen so wichtig fand.
 

Vielleicht sollte er auch erst einmal etwas über das Wesen herausfinden. So viele kleine Wichte in schwarzer Kutte und mit großer Sense konnte es ja nicht geben.
 

-------------------------
 

A/N:
 

Ich möchte mich ganz herzlich für eure Kommentare bedanken! Ich hoffe, dass mein Schreibstil nicht mit der Zeit schlechter wird und ihr weiterhin interessiert bleibt. Es könnte sein, dass zwischen den Updates mal längere Zeitperioden liegen, aber momentan widme ich diesem Original meine größte Aufmerksamkeit... also kann man hoffen!

Noch mal vielen vieln Dank für eure Kommis

Guter Rat

Mehrere Wochen waren vergangen seit dem Tag, als Dakkas im Zelt des Drachen Molokosh aufgewacht war und bestürzt hatte feststellen müssen, dass er sein komplettes bisheriges Leben verloren hatte. Mehrere Wochen waren vergangen, in denen die Anzahl von offenen Fragen für ihn jeden Tag größer wurden und die Antworten immer weniger und weiter entfernt schienen.
 

Der einzige Lichtblick war die Tatsache, dass er so langsam anfing, seine Begleiter zu verstehen.
 

Er hatte sich dumpf an Allgemeinheiten über Drachen erinnern können – ihr Stolz, ihre Arroganz, ihre Fähigkeiten mit Waffen und Magie. Aber die andauernde Nähe zu einigen von ihnen schien sein Gedächtnis aufzufrischen.
 

Er wusste jetzt definitiv, dass er schon früher mit Drachen zu tun gehabt hatte. So wusste er zum Beispiel, dass der derzeitige Drachenkaiser Heliash Hekates hieß – und er ihn aus irgendeinem Grund nicht leiden konnte, wobei er den Grund in seinem löchrigen Gedächtnis noch nicht finden konnte. Auch an den vollen Namen des Engelsherrschers – König Hepai Hohensonn – und sein Aussehen erinnerte er sich wieder. Ein hochgewachsener Engel, mit kurzen, stoppeligem braun-blondem Haar und einem ebenso kurzem, stoppeligem Bart. Und einer Arroganz, die wahrscheinlich nur von einem Drachen übertroffen werden konnte.
 

Molokosh war ein typischer Drache: Er wurde schnell wütend, vor allem dann, wenn man ihn, seine Familie oder seinen Klan beleidigte. Nach einer nächtlichen Begegnung mit einem Wolfsrudel wusste Dakkas auch, dass er gut mit seinem Schwert umgehen konnte. Das wenigstens beruhigte ihn.
 

Aber trotz der vielen eher negativen Charaktereigenschaften war Molokosh dennoch freundlich. Er war bereit, Dakkas zu helfen, wenn auch nicht begeistert von der Idee und er schien einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu haben. Alles in allem war er kein schlechter Reisegefährte und Dakkas beglückwünschte sich, den adligen Drakonier getroffen zu haben.
 

Nostradamus war eine andere Geschichte. Der Seher ignorierte ihn seit einigen Tagen völlig. Je näher sie nach Halmsdorf kamen, desto abwesender und stiller wurde der Grauhaarige und sprach seit zwei Tagen nicht einmal mehr mit seinem Bruder. Traurig war Dakkas darüber jedoch nicht – ignoriert zu werden erschien ihm besser, als dass man ihm kryptische Beleidigungen an den Kopf warf.
 

Und Daniel… der Heiler war der freundlichste der drei. Aufgeschlossen, höflich, zuvorkommend… und einer der besten seines Faches, wenn Dakkas die Zeichen richtig deutete. Daniel hatte zugegeben, seit vielen Jahren im Dienste der de’Sahrs zu stehen und die Stelle ihres persönlichen Arztes und Heilers einzunehmen. Die beiden Drachen würden dies nicht jedem Beliebigem anvertrauen.
 

Inzwischen waren auch die Kopfschmerzen und Schwindelanfälle verflogen, die den Grünäugigen gequält hatten. Es war ein sonniger Morgen und die Hitze der vergangenen Tage war etwas abgeklungen.
 

Nach Dakkas Berechnungen musste es ungefähr Sommeranfang sein, der fünfte Monat des Jahres. Die Temperaturen der letzten Wochen, in denen sie gereist waren, waren eher untypisch für diese Jahreszeit, sagte ihm sein Gedächtnis. Er hoffte, dass es nicht noch heißer werden würde. Während seine Begleiter nichts dagegen hatten, schwitzte er tierisch und fühlte sich schnell müde.
 

„Kurz nach Mittag sollten wir in Halmsdorf ankommen.“, kommentierte Daniel von seiner Linken und mit einem Nicken zeigte Dakkas, dass er verstanden hatte.
 

Die letzte Zeit waren sie einem kleinen Fluss gefolgt, der neben der Straße her verlief und vor sich hin plätscherte. Es war der Süßstrudel, der bis kurz vor Halmsdorf ging und dann einen Bogen um die Stadt machte und weiter nach Westen floss, zum Brachmeer. Er war nicht sonderlich tief an dieser Stelle, doch schon kurz nach Halmsdorf sollte er angeblich so tief und breit werden, dass man ihn nicht mehr ohne Hilfsmittel überqueren konnte.
 

„Ich hoffe ja, die Reise hatte auch einen Sinn…“, murmelte der Grünäugige und wandte seinen Blick danach von Daniel ab, als der Heiler nur stumm lächelte. Nostradamus Kräfte als Seher waren anscheinend unbezweifelt und seine Worte von großer Bedeutung. Nun, wenn es etwas brachte…
 

Schon wenige Stunden später tauchten die Umrisse der Stadt am Horizont auf. Nach einem tagelangen Marsch ohne ein Anzeichen von Zivilisation löste der Anblick der Silhouette große Freude in Dakkas aus.
 

Er war kein Freund vom Leben in der Wildnis, so viel war klar.
 

Je näher sie der Stadt kamen, desto größer wurden ihre Umrisse. Die typischen, steinernen Stadtmauern einer Engelsstadt zeichneten sich bald am Horizont ab und über den Dächern der Steinhäuser thronte das runde Dach eines Sonnentempels.
 

Um die Stadt herum lagen, ähnlich wie in Kish-Laro, mehrere Gehöfte, Felder und Äcker. Auch diesmal konnte Dakkas das geschäftige Treiben der Stadt hören, bevor ihre Gruppe dort ankam.
 

Als sie das große hölzerne Stadttor passierten und von den Stimmen der Einwohner begrüßt wurden, musste Dakkas seufzen. Leicht grinsend sah er sich um. Auch hier erkannte er zwar nichts wieder, aber allein die Tatsache, dass er wieder in einer Stadt war, ließ ihn fröhlicher werden.
 

Halmsdorf war in der Architektur und in den verwendeten Materialien grundlegend anders. Als erstes gab es hier bei den Bauten viel Holz und Holzkonstrukte, was in der spärlich bewaldeten Gegend von Kish-Laro natürlich nicht möglich gewesen war. Ebenso waren die Steine der Häuser in einer normalen hellgrauen Farbe und nicht ausgebleicht von der Sonne, wie die Lehmziegel in dem ehemaligen drakonischem Dorf. Die Straßen waren anders angelegt, im Zentrum kreisförmig um den Sonnentempel gebaut und davon, sich entfernend, in klaren quadratischen Häufchen.
 

Die Einwohner, welche Dakkas erblickte, waren größtenteils in leichte Woll- und Lederkleidung gekleidet und betrachteten die Neuankömmlinge neugierig. Halmsdorf lag nah genug an den Grenzen, um Besucher und Reisende aller Völker anzulocken, war aber stark genug von Engeln kontrolliert, dass man solche ‚Andersartigen’ argwöhnisch beäugte.
 

Daniel quittierte Dakkas fröhliches Gesicht mit einem Lächeln, Molokosh mit dem Ansatz eines Grinsens. Nostradamus war wie immer halb weggetreten und blickte emotionslos die Straße entlang.
 

„Du erinnerst dich nicht zufällig schon an etwas?“, brummte der schwarzhaarige Drache, als sie an einer nahen Hauswand unweit des Tores eine Rast machten.
 

Der Grünäugige sah sich um und konzentrierte sich. Aber nichts kam ihm hier bekannt vor, weder Häuser noch Menschen. Die am Tor stehenden Engelswachen erweckten das ihm inzwischen bekannte abstoßende Gefühl von Ekel, aber ansonsten tat sich nichts.
 

Entmutigt schüttelte er seinen Kopf.
 

„Aber… wenn mich hier jemand kennt, sollte dieser jemand doch eigentlich mich erkennen, oder?“, sprach er dann zögerlich, während er kurz zu Nostradamus schielte.
 

Stirnrunzelnd nickte Molokosh und beließ es vorläufig dabei.
 

„Dann sollten wir zuerst eine Unterkunft besorgen.“, erklärte der Drache. „Es gibt einige Tavernen hier, wenn ich mich richtig erinnere… aber ich war längere Zeit nicht mehr hier…“
 

Nachdem Molokosh sich wieder das ungefähre Bild der Stadt vor Augen gerufen hatte, liefen sie wieder los, der schwarzhaarige Drache an ihrer Spitze.
 

Obwohl es sich bei Halmsdorf um eine andere Art von Dorf handelte als Kish-Laro stellte Dakkas doch einige Ähnlichkeiten fest. Die Marktschreier priesen ihre Waren auf die gleiche aufdringliche Art und Weise an, die Bewohner gingen ebenso eilig und konzentriert ihren Geschäften nach. Was störte waren jedoch die vielen versteckten und offenen Blicke, die er auf sich ruhen fühlte.
 

Er hatte das Gefühl, sich in dieser Stadt nie ganz sicher fühlen zu können. Jede Blöße wäre hier ein Risiko.
 

Der Straßenverlauf war nicht so verwirrend wie in Kish-Laro, allerdings bewegten sie sich auch nicht durch keine so kleinen und engen Gässchen, wie sie es in der Ödlandsstadt getan hatten. Stattdessen führte Molokosh sie auf einen Abzweig der Hauptstraße und danach an einem Brunnen vorbei. Nachdem sie dann eine letzte Ecke umrundet hatten, standen sie auf einem kleinen gepflasterten Platz. Ein einzelner Baum stand in der Mitte und hellte die triste Stadtgegend mit seinen rosafarbenen Blüten auf. Einige der zarten Blütenblätter waren vom Wind herab gerissen worden und lagen um den Baum herum auf dem Platz verteilt.
 

Ein paar Kinder saßen unter ihm und spielten mit einer Reihe von kleinen, hölzernen Kugeln. Eines von ihnen sah auf, als die Gruppe den Platz betrat und wisperte etwas zu seinen Spielkameraden. Mit neugierigen Blicken wurden Dakkas und seine Reisebegleiter gemustert.
 

Den Kindern schenkte der Grünäugige seinerseits keine große Beachtung, sondern viel mehr den drei großen Gebäuden, die um den kleinen Platz gruppiert waren.
 

Zu seiner linken stand ein Haus in der typischen Holz- und Steinbauart, mit spitz zulaufendem Dach und kleinen Fenstern. Es war jedoch etwas größer als die umherstehenden und hatte einen kleinen, mit einem Eisenzaun umringten Hof an sich angeschlossen.
 

Zu seiner rechten war ein etwas verziertes Haus, über dessen Doppeltür sogar ein bronzefarbenes Schild hing und mit großen Buchstaben „Gesellschaft Wellert“ verkündete. Zwei kleine Statuen standen links und rechts von dem Eingangsportal und schwere Vorhänge waren hinter den etwas größeren Fenstern sichtbar.
 

Worauf Molokosh jedoch zusteuerte, war das Gebäude ihnen direkt gegenüber.
 

Ein hohes Haus dominierte die gegenüberliegende Seite des Platzes. Es hatte keine Verzierungen oder Statuen vor sich und wirkte dennoch imposant. Beim Errichten war zwischen die normalen Steine eine kleine Menge dicker rötlicher Steine eingefügt worden, die es so erschienen ließen, als wenn hier und da ein Farbklecks an der Wand war.
 

Ein Schild war über der großen, aber einfachen, Eingangstüre angebracht, dass an einer Stange über der Straße baumelte. „Die Kirschblüte“, stand in großen Buchstaben quer darüber geschrieben.
 

Er spürte einen leichten Druck an seiner Schulter und bemerkte, dass die beiden Drachen bereits fast vor der Eingangstür waren und Daniel ihn zum Weitergehen auffordern wollte. Schnell schlossen sie zu den de’Sahr Brüdern auf.
 

Das innere der Taverne war nichts wie das des Salzkessels.
 

Die Luft war nicht annähernd so heiß und roch nicht so komisch, wie sie in der drakonischen Unterkunft getan hatte. Ebenso war die Inneneinrichtung verschieden, die Tische und Stühle nahmen nicht fast den ganzen Raum ein und waren sogar in einer festen Ordnung aufgestellt. Zwischen ihren Reihen gingen zwei Kellnerinnen auf und ab und ein sauertöpfisch dreinblickender Mann stand hinter der Theke.
 

Die Geräusche in der Taverne waren vorher schon leise gewesen, doch als das kleine Grüppchen zur Tür herein kam und Dakkas sich im Raum umsah, verstummten die Gespräche völlig, nur um danach in einem Flüsterton wieder anzufangen.
 

Es saßen nur wenige Gäste in der Wirtstube und anhand der Kleidung erkannte der Grünäugige sofort, dass sie Einheimische waren. Hatte diese Taverne keine Gäste von außerhalb?
 

Mit einem stoischen Gesichtsausdruck und einem finsteren Blick in den Augen bahnte Molokosh sich einen Weg bis zur Theke. Anscheinend bekam er diese Reaktion öfters zu sehen und war darauf vorbereitet, mit ihr umzugehen.
 

Neben sich bemerkte Dakkas, wie Daniel sich anspannte und subtil den Raum absuchte. Was bedeutete das? Rechneten sie mit Problemen?
 

„Zwei Zimmer bitte.“ Molokosh sagte ‚bitte’ aber sein Tonfall sagte: Zwei Zimmer, sofort. Stirnrunzelnd fragte der Grünäugige sich, ob das die beste Vorgehensweise war. Er selbst hätte in einer so angespannten Umgebung höflich und freundlich gehandelt, nur um die Spannung zu vertreiben.
 

Der Wirt musterte die vier eindringlich und grummelte dann etwas vor sich hin, während er zwei Schlüssel aus einer Schublade herausholte. „Letzten beiden Türen im rechten Gang, gegenüberliegend.“, murrte er, während er die Schlüssel überreichte. „Macht 11 Goldstücke.“ Daniels sanftes Seufzen verriet Dakkas, dass dieser Preis nicht der eigentliche war, doch kommentierte keiner von ihnen dies und stoisch überreichte Molokosh die geforderte Menge.
 

„Können wir das Bad benutzen?“ Der Mann mit dem kurzen, schmutzig blondem Haar schien diese Frage nicht wirklich hören zu wollen, stieß dann jedoch ein ‚ja’ heraus und machte ihnen deutlich, dass sie aus seinem Blickfeld verschwinden sollten.
 

Sofort führte Daniel den wieder einmal verwirrten Dakkas hinter seinen Herren her eine Treppe hinauf und einen Gang hinunter. „Immer das Gleiche…“, hörte er den Heiler neben sich murmeln, während sie die letzten beiden Zimmer im Gang erreichten. Molokosh schloss eines von beiden auf und bat die anderen herein.
 

Von der Einrichtung her war das Zimmer annehmbar. Zwei Betten, ein Schrank, ein Stuhl und zwei normalgroße Fenster bildeten die Grundausstattung, die durch einen etwas farblosen Teppich vervollständigt wurde. Das Zimmer war bedeutend größer als die kleinen Kammern in ihrer vorherigen Gaststätte, was Dakkas freute.
 

Nostradamus stellte den Stuhl mit einem Handgriff ans Fenster und ließ sich darauf nieder, während Molokosh eines der Betten belegte. Daniel blieb stehen und Dakkas, der nicht einsah, warum er nach dem langen Marsch noch unnötigerweise herumstehen sollte, setzte sich auf das andere Bett. Da Stirnrunzeln im Gesicht des Heilers zeigte ihm danach genau das, was er vermutet hatte: Für ihn war es nicht schicklich, sich auf ein bett der de’Sahr Brüder zu setzen, auch wenn es nur ein gemietetes war.
 

Nun, das interessierte Dakkas herzlich wenig.
 

„So unfreundlich hatte ich die Bewohner nicht in Erinnerung.“, kommentierte Molokosh dann. Der Heiler nickte und Nostradamus blieb, wie immer, still.
 

„Du sagtest, dass du länger nicht mehr hier warst…“, meinte Dakkas dann, „vielleicht hat sich in der Zwischenzeit etwas verändert.“
 

„So sieht es aus… obwohl mich das wundert. Normalerweise sieht man in Halmsdorf genug Wildblüter, dass die Bewohner daran gewöhnt sind. Und jetzt? Habt ihr auf die Leute geachtet, welche durch die Straßen gehen? Ich habe fast nur Engel und Elfen gesehen.“
 

Der Begriff ‚Wildblüter’ sagte Dakkas zwar nichts, aber er verstand, was Molokosh sagen wollte.
 

Und jetzt wo er daran zurück dachte, stimmte es tatsächlich. Ihnen waren auf dem Hinweg kaum Werwölfe, Drachen oder ähnliches begegnet. Selbst Mischlinge hatte er nur selten gesehen. Aber warum sollten diese Einwohnergruppen plötzlich verschwinden?
 

„Ich finde es sehr unwahrscheinlich, dass ein Teil der Einwohner dieser Stadt einfach weg gehen.“, sprach er dann, „Vielleicht halten sie sich nur woanders auf als auf den Straßen, die wir hierher benutzt haben?“
 

„Das lässt immer noch die Frage offen, was los ist. Irgendetwas stimmt hier nicht. Etliche Tagesreisen weiter in die Herzlande hinein, da wäre diese Begrüßung ja normal, aber noch so nah an den Grenzen?“ Daniel schüttelte seinen Kopf. „Nein, da muss etwas passiert sein.“
 

Molokosh nickte bekräftigend und Dakkas rieb sich am Kopf. Vom Herumsitzen würden sie nichts herausfinden – und waren es jetzt nicht schon wieder mehr Fragen, die ihm entgegen winkten und ihn belästigten? Wann würde er endlich ein paar Antworten bekommen?!
 

„Nostradamus? Gromaresh…“ Molokosh war aufgestanden und berührte den Seher sanft an der Schulter. Der Grauhaarige zeigte nicht, dass er den Kontakt spürte, aber der Schwarzhaarige begann trotzdem, in leisen Tönen in ihrer Sprache auf ihn einzureden.
 

„Er fragt ihn, wohin wir gehen sollen und ob er etwas über das komische Verhalten der Leute weiß.“, übersetzte Daniel leise für Dakkas. Der Grünäugige nickte dankend. Jedes Mal, wenn die Drachen unter sich Drakonisch sprachen, wollte er am liebsten seine Ohren spitzen und alles verstehen können. Leider war das nicht der Fall.
 

Dakkas hatte sich bereits auf eine längere Wartezeit bereit gemacht und im Stillen überlegt, wie sie ohne die Hilfe des Sehers an Informationen herankommen konnten, als Nostradamus plötzlich seine Stirn ans Fenster legte und „Dakosh“ seufzte.
 

Mehrere Dinge passierten auf einmal. Daniels Körper durchfuhr ein Ruck und die Hände des Heilers zitterten, als wenn etwas Furchtbares geschehen war. Molokosh riss seine Hand von der Schulter seines Bruders herunter, als wenn er verbrannt worden wäre. Wut stand dem Drachen aufs Gesicht geschrieben und seine Schulter strafften sich. Mit einem finsteren Blick in den Augen starrte er auf seinen Bruder und zischte einige leise, aber bedrohlich klingende Wort auf Drakonisch.
 

Dakkas war aufgesprungen, verwirrt von dem Wandel, der durch seine Reisegefährten gegangen war. „Was-?“ Er wollte sich danach erkundigen, was los war, doch Daniel griff nach seiner Schulter und zerrte ihn aus dem Raum. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel sah er noch gerade, wie Molokosh seinen Bruder am Handgelenk packte und vom Stuhl hoch riss. Dann versperrte ein Stück Holz die Sicht auf das Zimmer.
 

Draußen im Gang ließ Daniel ihn erst los, als klar war, dass er nicht wieder ins Zimmer stürzen wollte. Hinter der Türe drangen die leisen Geräusche von Molokoshs wütender Stimme hervor.
 

„Was… was ist denn los?“ Verwirrt und auch etwas besorgt starrte der Grünäugige dann den Heiler an. Dieser schüttelte jedoch nur den Kopf. „Das… Dakkas, das kann ich dir nicht erklären. Sei… Tu bloß eins nicht: Frage Molokosh nie nach ‚Dakosh’ oder um was es sich dabei handelt, bitte? Er… Es wäre nicht gut.“
 

Das Gesicht des Heilers war blass und seine Augen huschten immer wieder nervös zu der Holztüre. Eine seiner Hände zupfte am Ärmelsaum seines Hemds herum und Dakkas lief ein kalter Schauer den Rücken herunter.
 

„Er wird Nostradamus doch nicht ernsthaft verletzen?“ Ihm war gerade eingefallen, warum es für die de’Sahr Brüder vielleicht so wichtig sein konnte, ihren persönlichen Heiler immer dabei zu haben. Und diese Schlussfolgerung passte ihm gar nicht.
 

Daniel schüttelte den Kopf. „Nein. Molokosh wird manchmal vielleicht etwas… ausfallend, aber er hat Nostradamus noch nie verletzt.“
 

Der Grünäugige beruhigte sich etwas. Er mochte den Seher ja nicht besonders, aber bei dem Gedanken, dass dessen eigener Bruder ihm vielleicht etwas antun könnte, wurde ihm doch etwas mulmig.
 

„Und was machen wir jetzt? Sie haben unseren Schlüssel?“, fragte er schließlich den Heiler.
 

Der Braunhaarige seufzte leicht. „Wir können hinunter in die Wirtsstube gehen. Das wird hier oben vielleicht noch länger dauern…“ Achselzuckend willigte Dakkas ein und folgte dem Halbdrachen wieder den Gang und die Treppe hinunter. Für ihn gab es eh nicht sehr viele Optionen. Natürlich konnte er auf eigene Faust losgehen und schauen, ob er etwas wieder erkannte, doch war ihm in dieser Stadt etwas Gesellschaft lieber. Die Blicke der Stadtbewohner hatten auch ihn getroffen und er wollte nur ungern alleine unterwegs sein in einer Gegend, die ihn misstrauisch beargwöhnte.
 

Die Tavernengäste starrten auch diesmal, als sie den Tavernenraum betraten, doch waren die Blicke nicht mehr so bohrend und stark wie beim ersten Mal.
 

Daniel besorgte für sie etwas zu trinken, während Dakkas an einem etwas abseits stehendem, kleinen Tisch zurück blieb. Die Atmosphäre und Klientel des Salzkessels hatte im weitaus besser gefallen als die Besucher und Einrichtung der Kirschblüte, stellte er dann missmutig fest. Er konnte nur hoffen, dass sie möglichst bald herausfanden, was es über ihn hier herauszufinden gab und dann der Stadt auf Wiedersehen sagten.
 

Was hatte er in dieser Stadt überhaupt zu tun gehabt? Selbst wenn die Einwohner diese feindliche Einstellung nicht immer hatten, kam sie ihm nicht wie der perfekte Ort für sich selbst vor. Oder lag das nur daran, dass er im Moment nicht wirklich er selbst war? Würde er die Stadt unter anderen Umständen vielleicht doch ganz schön finden?
 

Das ganze Grübeln brachte ihm ja doch nichts. Innerlich seufzend legte er seine Arme auf den Tisch und ließ den Kopf darauf nieder sinken. Hoffentlich würde Daniel bald mit etwas zu trinken kommen, vielleicht wusste der Heiler noch etwas über die Stadt.
 

Wo blieb Daniel überhaupt?
 

Müde blickte Dakkas wieder auf und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
 

Der braunhaarige Halbdrache war nirgends zu sehen. Alarmiert richtete der Grünäugige sich wieder gerade auf und musterte das Geschehen in der Taverne eindringlicher.
 

Die meisten Leute saßen an ihren Tischen, tranken und aßen etwas. Wahrscheinlich kamen sie zum Mittagessen hierher und gingen danach wieder. Der Wirt polierte ein Glass hinter seiner Theke und blickte immer wieder ärgerlich zu Dakkas. Der Schwarzhaarige bemerkte diese Blicke, ließ sich jedoch nichts anmerken.
 

Wo steckte Daniel? War er vielleicht wieder hochgegangen, um nach den Brüdern zu sehen? Nein, da war eher unwahrscheinlich, dann hätte er ihm bescheid gesagt. Wohin sonst hätte der Braunhaarige gehen können, ohne dass er seinem Begleiter etwas sagte? Nirgends. Der Heiler fühlte sich schnell verpflichtet und Dakkas war in seinen Augen noch ein Kranker, dem er sowieso helfen musste. In der kurzen Zeit, die der Grünäugige mit ihm verbracht hatte, war klar geworden, dass Daniel ein hohes Ehr- und Pflichtgefühl hatte.
 

Dann blieb nur noch offen, dass der Halbdrache unfreiwillig irgendwo hin gegangen war. Aber hätte Dakkas da nicht etwas von mitkriegen müssen? Es war nicht lauter oder leiser geworden in der Taverne und er hatte auch keine komischen Geräusche mitgekriegt.
 

Der Heiler konnte doch nicht einfach so verschwinden!
 

„Hallo Kleiner.“ Die Stimme schreckte ihn auf und er konnte nicht verhindern, dass er etwas zusammenzuckte, als ein stämmiger Mann mit aschblondem Haar sich ihm gegenüber setzte.
 

Der Mann war muskulös, aber nicht besonders groß und zu dem aschblondem, matt aussehendem haar besaß er braune Augen. Von der äußeren Erscheinung her tippte Dakkas darauf, einen Engel vor sich zu haben.
 

„Nicht, dass ich unhöflich klingen möchte, aber der Platz dort ist bereits für meinen Begleiter gedacht.“ Seine Aufgeregtheit möglichst versteckend, versuchte Dakkas den Engel so höflich wie möglich abzuschütteln.
 

Doch der lachte nur leise in sich hinein. „Keine Sorge, dein Freund wird gleich wieder hier sein, wenn ich schon weg bin.“
 

Das machte Dakkas jetzt misstrauisch und er blickte sein Gegenüber mit verengten Augen an. „Was wollt ihr?“
 

Der Mann erhob seine Hände in einer abwehrenden Geste. „Ah, immer mit der Ruhe, junger Mann. Ich möchte mich nur ein wenig unterhalten. Daniel geht es gut, das verspreche ich dir.“
 

Dakkas linkes Auge zuckte leicht. „Woher kennst du seinen Namen?“
 

„Immer mit der Ruhe… wir sind alte Bekannte, kann man sagen. Schon bevor er mit den beiden de’Sahrs herumgereist ist… ich wollte lediglich wissen, wer der Kleine da ist, den Molokosh neuerdings mit sich herumschleppt.“ Dakkas wollte etwas sagen, doch der andere schnitt ihm das Wort ab. „Nein, nein, sag nichts. Du willst doch wohl nicht abstreiten, dass du zu ihnen gehörst? Ich habe euch zwar erst beobachtet, seitdem ihr in die Stadt gekommen seid, aber es ist klar, dass du mit Molokosh unterwegs bist.“
 

„Und ich möchte wissen, woher du seinen Namen kennst.“ Dakkas wurde immer unruhiger. Dieser Mann gefiel ihm nicht, etwas an ihm war falsch…
 

Der Blonde seufzte. „Ich kenne Molokosh ebenfalls von früher, sehr viel früher, Kleiner. So wie du aussiehst warst du da noch nicht geboren. Und es interessiert mich einfach, was der de’Sahr so treibt, ja?“
 

„Ich denke nicht, dass ich euch das sagen will.“, meinte der Schwarzhaarige jedoch bloß und verkreuzte die Arme.
 

Der Blonde lächelte wortlos und schien nachzudenken. „Na gut. Verrate mir also nicht, was Molokosh hier treibt. Aber deinen Namen darf ich doch erfahren?“
 

Darin konnte der Angesprochene keine Gefahr erkennen, wo es doch eigentlich nicht sein richtiger, sondern nur ein vorläufiger Name war. „Dakkas.“
 

Der Blonde kicherte. „Jade? Ist das sein Spitzname für dich? Nun, du bist hübsch genug, dass sehe ich ein… sag mir, du bist kein Halbdrache, oder? Nein, dafür sind deine Gesichtszüge zu fein und dein Körper zu grazil… Ich frage mich, warum Molokosh dich mitnimmt…“ Die Stimme des Mannes verlor sich und Dakkas wusste nicht, ob er sich beleidigt fühlen sollte oder gerade Komplimente gekriegt hatte. Er war also hübsch und grazil? Nun, ein Elf war er sicherlich nicht, so viel wusste er.
 

„Er hilft mir, wenn du es unbedingt wissen musst.“, presste er dann zwischen seinen Zähnen hervor und sah zu, wie die Mundwinkel des Blonden sich nach oben verzogen. „Tatsächlich? Der gute Molokosh hilft jemandem…? Das sind Neuigkeiten für mich, aber nun gut. Wenn du das denkst, wird es wohl so sein…“
 

Einige der Gäste erhoben sich in diesem Moment, um die Taverne nach dem Mahl zu verlassen und nicht wenige warfen den beiden am Tisch sitzenden Männern dunkle Blicke zu, bevor sie den Raum verließen.
 

Als die Gruppe weg war, schüttelte der Blonde ihm gegenüber seinen Kopf. „Schlechte Nachrichten können die Meinung der Leute am schnellsten beeinflussen.“, gab er von sich.
 

„Schlechte Nachrichten?“, hakte Dakkas nach.
 

„Habt ihr etwa noch nichts davon gehört?“, war die erstaunte Antwort des Blonden. Er schien ehrlich überrascht zu sein und der Schwarzhaarige fühlte sich dazu gezwungen, eine Entschuldigung zu sprechen: „Wir waren bis heute auf Reise und haben kaum jemanden angetroffen, geschweige denn Neuigkeiten gehört.“
 

„Nun, wenn das so ist…“ Der Blonde lächelte breit und zeigte dabei einige spitze Reißzähne in seinem Gebiss. Sofort revidierte Dakkas seine Einschätzung des Mannes – das war kein Engel, es war ein Werwolf, der ihm gegenüber saß.
 

„Die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, in jeder Stadt des Engelsreiches, die an das magische Nachrichtennetzwerk angeschlossen ist… nahe der Grauen Zone wurde eine Festung der Dogen vollkommen von den Aufständischen vernichtet. Die dortigen Magier und Soldaten wurden getötet, ein Großteil der Festung abgerissen und zu Schutt verwandelt. Die Forschungsunterlagen der Dogen sind verschwunden und ob zerstört oder geklaut weiß niemand.“ Der Blonde pausierte und ein finsteres Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. „Sie bekamen nur das, was sie verdienten, aber natürlich sehen die Engel das nicht so. Sie sind in Aufruhr, das war der erste direkte Angriff der Aufständischen und zugleich ein derber Verlust für sie.“ Anschließend lachte er wieder leise.
 

Dakkas indessen war verwirrt. Unter den Aufständischen konnte er sich etwas vorstellen, schließlich hatten die weißen Engel ihr Reich durch Eroberung begründet, und dass nicht jeder der Besiegten dies toll fand lag auf der Hand.
 

Doch was waren Dogen? Und was war die graue Zone?
 

Sein verwirrter Blick musste sich gezeigt haben, denn der Mann ihm gegenüber war verstummt und musterte ihn eindringlich.
 

Zögernd überlegte Dakkas und kam zu dem Schluss, dass es wohl besser war, diesem Mann die Wahrheit zu sagen: „Verzeihung… ich… ich leide an Gedächtnisschwund. Was sind Dogen und die graue Zone?“
 

Die Augen des Blonden wurden groß und er blinzelte. „Du… hast Gedächtnisschwund?“ Der Schwarzhaarige nickte. „Das… wie ist das passiert?“
 

Wenn Dakkas das bloß wüsste… soweit er wusste, war er nach dem Erdrutsch einfach damit aufgewacht. „Ich hatte einen… Unfall. Ein Erdrutsch riss mich einen Berg hinab.“
 

„Erstaunlich… und Molokosh hat dir nicht erklärt, worum es sich bei den Dogen handelt?“
 

Dakkas nickte und fragte sich gleichzeitig, warum Molokosh es ihm hätte erzählen sollen.
 

„Die Dogen sind die größte weiß-engelsche Zaubereigilde. Sie sind… mächtig und nicht gerade zu kurz gekommen was Vorurteile gegenüber anderen Rassen angeht. Sie stellen einen großen Teil der zaubernden Kampftruppen der weißen Engel dar und für jeden Werwolf, Drachen oder anderen Wildblüter ist es immer besser, ihnen aus dem Weg zu gehen.“
 

Seine Stirn runzelte sich. „Und die graue Zone… Das ist ein kleiner Landstrich zwischen der ehemaligen Reichsgrenzen der weißen Engel und dem Hoheitsgebiet der Drachen. Zu Kriegszeiten wurde dort eine Art Außenposten gegründet, der sich jedoch immer mehr zu einer Stadt entwickelt hat… die weißen Engel hatten jedoch kein Interesse an der Stadt und hinterließen sie denjenigen, die gerade da wohnten. Die Stadt entwickelte sich immer mehr zu einer Anlaufstelle von Flüchtlingen und Ausgestoßenen aus verschiedenen Ländern und heutzutage ist sie nicht nur verdammt groß sondern auch ein ziemlich rauer Ort. Die Landschaft um sie herum wird graue Zone genannt, weil eigentlich niemand dort das Sagen hat.“
 

„Also ein perfekter Ort für die Aufständischen.“, kommentierte Dakkas leise und der Blonde nickte. „Genau Kleiner, ein sehr guter Ort für die Aufständischen. So gut sogar, dass die weißen Engel es im Moment noch nicht wagen, dort nach ihnen zu suchen.“
 

Die Augen des Mannes fielen auf eine Ecke des Raumes und erst jetzt erkannte Dakkas, als er dem Blick folgte, dass dort eine Seitentür zur Taverne war, durch die gerade Daniel den Raum betrat.
 

„Siehst du, da kommt dein Freund wieder. Unversehrt und bei bester Laune… nun gut, der letzte Teil stimmt vielleicht nicht ganz so.“
 

Und in der Tat, Daniels Gesichtsausdruck hätte Wasser gefrieren lassen können und ließ die wenigen Leute, die noch im Gastraum waren, schnell ihren Blick von ihm wenden.
 

„So, Kleiner, dann sollte ich jetzt gehen bevor der Gute vergisst, dass er ein Heiler und kein Nekromant ist.“ Der Blonde stand auf. „Aber – wer seid ihr?“, war das einzige, was Dakkas noch herausbrachte, während der Mann sich schon zur Haupttür wandte.
 

„Ich?“ Der Blonde stoppte. „Ein guter Rat, Kleiner: Kümmere dich weniger darum, wer die Leute sind, denen du begegnest und stattdessen mehr darum, wer diejenigen sind, mit denen du reist.“
 

Mit diesen Worten tippte der Blonde sich an einen imaginären Hut und verschwand durch die Türe just als Daniel am Tisch ankam.
 

„Hat er was gesagt?“, fragte der Heiler kalt, während er sich mit zwei Humpen Bier an den Platz setzte, der gerade noch von dem Unbekannten eingenommen war.
 

„Ja – wer war das?“
 

Der Heiler presste seine Lippen aufeinander. „Ein sehr lästiges Wesen.“ Als er sah, dass Dakkas weiter nachhaken wollte, schüttelte er nur seinen kopf. „Sein Name ist unwichtig und Molokosh würde sich nur noch mehr aufregen, wenn er wüsste, dass er hier war… ich frage mich sowieso, was er hier zu tun hat…“
 

„Er hat mir etwas interessantes erzählt.“, meinte der Grünäugige dann schließlich, während er den Halbdrachen vor sich musterte und einen vorsichtigen Schluck von dem Bier nahm. Es schmeckte ihm nicht sonderlich und hinterließ einen komisch brennenden Nachgeschmack auf seiner Zunge, aber er war durstig.
 

„Was hat er gesagt?“
 

„Den Grund, warum die nicht-Engel Einwohner der Stadt sich nicht auf den Straßen blicken lassen. Eine Gruppe Aufständische hat eine Dogen-Festung zerstört.“
 

Der Heiler wurde wieder blass, wie er es schon bei Molokoshs Wutanfall wurde und trank eilig einen großen Schluck von seinem Bier. „Dann ist es kein Wunder…“, murmelte er und schien kurz gedankenverloren vor sich hin zu grübeln. „Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Das bedeutet bloß noch mehr Probleme für uns.“, meinte er dann und rieb sich mit einer Hand an seiner Schläfe. „Warum muss so etwas auch immer im unpassendsten Moment geschehen…“
 

„Wo warst du gerade überhaupt?“, wollte Dakkas dann wissen. Dass der Überfall der Aufständischen nicht zu einem guten Zeitpunkt gekommen war, war ihm schon klar. Doch warum war Daniel nach draußen gegangen?
 

„Ich… ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, jemanden sehr bestimmten… Eigentlich hätte mir klar sein sollen, dass diese Person nicht hier ist, aber ich musste dennoch kurz suchen…“ Die Stimme des Heilers hatte einen verbitterten Klang angenommen und Dakkas beschloss, nicht weiter nachzuhaken, auch wenn diese Antwort noch einiges offen ließ. Sein leben bestand zurzeit sowieso fast nur aus Fragen.
 

„Und nun?“, wollte er dann schließlich wissen.
 

Der Heiler seufzte. „Wer weiß schon, wie lange Molokosh und Nostradamus sich noch unterhalten werden… Manchmal kann so etwas sehr lange dauern.“
 

„Sollen wir etwa die ganze Zeit hier sitzen bleiben?“ Von dieser Idee war Dakkas ganz und gar nicht begeistert.
 

„Nein, natürlich nicht. Ich denke, wir können uns ruhig schon einmal in der Stadt etwas umsehen, vielleicht erkennst du ja etwas wieder… Falls nicht haben wir eben etwas Zeit verschwendet.“
 

Dem stimmte der Grünäugige zu. Da sie beide nicht genau wussten, wo sie mit der Suche von Dakkas Vergangenheit anfangen sollten, konnten sie auch genauso gut ziellos durch die Gegend laufen, bis ihnen vielleicht ein Teil jener in den Schoß fiel.
 

Außerdem würde Dakkas dadurch mehr Zeit haben, über die Worte des blonden Mannes nachdenken zu können, bevor er den adligen Drachen wiedersah, der sich gerade mit seinem Bruder stritt.

Stadtrundgang

Halmsdorf war eine ruhige Stadt. Trotz der schon recht großen Einwohnerzahl schien es keine schlimmeren Streitigkeiten zwischen den Bewohnern zu geben. Einzige Ausnahme war wohl die Behandlung von sogenannten ‚Wildblütern’, worunter alle Wesen fielen, die von den weißen Engeln nicht als ‚rechtschaffene’ Wesen betrachtet wurden.
 

So erklärte zumindest Daniel diesen Begriff, während sie durch die Straßen und Gassen Halmsdorfs schlenderten. Die Sonne stand inzwischen etwas tiefer und ließ die bunten Verzierungen des Sonnentempels im Herzen der Stadt aufleuchten. Sie liefen eine Seite des Baus entlang und Daniel erzählte mit unterstreichenden Handbewegungen eine alte Geschichte – oder Legende – über den Magier, der Halmsdorf einst vor dem sicheren Untergang gerettet haben soll, als die Stadt wirklich noch ein Dorf war.

„Hinter dem Sonnentempel wurde eine Statue für ihn errichtet. Damals war der Tempel natürlich noch nicht so groß und der dominierende Teil des hinteren Tempelplatzes war die Statue. Später rissen die weißen Engel sie teilweise ein – der Magier war kein Engel gewesen. Daran erinnern sich heutzutage aber nur noch wenige und die Priester des Tempels sorgen dafür, dass dem so bleibt.“
 

Dakkas hörte dem Heiler nur mit einem Ohr zu. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen und all die interessanten Dinge zu begutachten, die er entdeckte. Oder nicht entdeckte. Bis jetzt hatte er nur Engel und Elfen gesehen. Wo waren die anderen Städter?
 

„Das hier ist der hintere Tempelplatz.“, schnitten plötzlich Daniels Worte seinen Gedankengang ab.

Dakkas sah weg von einer Frau, die er so diskret wie möglich beobachtet hatte und richtete seinen Blink auf den Platz.

Seine Schritte starben ab und stumm starrte er erst einmal nur nach vorne.
 

Der Platz war groß, wenn auch nicht so groß wie der Marktplatz vor dem Tempel. Ein paar Bäume verzierten in regelmäßigen Abständen, gesäumt von jeweils zwei Bänken, den Platz, zusammen mit dem einen oder anderen bunte Blüten und Blätter tragendem Busch. Einige der Städter hatten es sich auf den Bänken bequem gemacht und unterhielten sich. Zwischen ihnen saßen Kinder auf dem Boden, die miteinander spielen und eine allgemein fröhliche Atmosphäre umgab den Ort.

Umso mehr irritierend erschien die alte, nur halb vorhandene und langsam weiter abbröckelnde Statue. Sie stand in der Mitte des Ganzen und bildete sich aus dem Sockel aus Stein und dem Rest der eigentlichen Statue, wovon nur noch die Beine und Teile des Oberkörpers erhalten waren. Die Arme fehlten gänzlich.
 

Fast wie von selbst schien sich Dakkas Körper auf die Statue hinzu zu bewegen. Als er vor ihr stand und Daniel, der still geworden war, sich neben ihn stellte, konnte er sie gänzlich

betrachten.

Der Mann – oder was von ihm übrig war – trug eine Robe mit Umhang und zwei kleinere Schwerter. Von seiner Kleidung her erschien er wie ein typischer Magier und selbst jetzt, in marodiertem Zustand, wirkte er immer noch eindrucksvoll. Am Sockel der Statue schien einmal eine Plakette oder eine Inschrift angebracht gewesen zu sein, aber ein großer Teil des Steins war methodisch herausgeschlagen worden und alles, was übrig blieb, war eine große Lücke. Ihre Ränder waren jedoch glatt und bewiesen Handwerkskunst, da der Steinsockel nicht weiter beschädigt wurde, als unbedingt nötig. Beim genauen Hinsehen erkannte Dakkas auch, dass Kopf, Arme und der obere Teil des Oberkörpers ebenfalls fein säuberlich abgetrennt worden waren. Unebene Kanten hatte die Statue nur an den Stellen, an denen aufgrund von Zeit einige Teile des Steins abgebröckelt oder von Wind und Wetter angegriffen worden waren.

Irgendjemand war sehr vorsichtig und sorgfältig darin gewesen, die Statue unkenntlich zu machen, ohne sie dabei zu zerstören. Waren die weißen Engel wirklich so sehr daran interessiert, dass niemand erfuhr, ob diese Person einer ihresgleichen war oder nicht?

Anscheinend schon
 

„Interessant, wie gründlich Engel sein können, hm?“, murmelte Daniel neben ihm. „Eines muss man ihnen lassen, sie sind ausdauernd, was ihre Pläne angeht und sehr, sehr sorgfältig.“

„Und gewissenhaft.“, fügte Dakkas geistesabwesend hinzu. Irgendetwas stimmte mit dieser Statue nicht – nur konnte er beim besten Willen nicht herausfinden was.
 

Der Heiler schaute ihm nur zu und verstummte vollends. War das eine Erinnerung, die in seinem Unterbewusstsein lauerte und nur darauf wartete, aktiviert zu werden? Würde der junge Mann, der nach einem Edelstein benannt worden war, sich gleich vielleicht an seinen wahren Namen erinnern?
 

Nein. Eine dunkle Ahnung war alles, was Dakkas verspürte und dabei blieb es. Seufzend wandte er sich von der Statue ab. „Was für einen Sinn macht das hier überhaupt, Daniel? Ich weiß doch gar nichts mehr. Vielleicht bin ich ein Waisenkind ohne Familie, Freunde oder sonst wen und finde nie heraus, wer oder was ich war.“

Niedergeschlagen wanderte er zu einer nahestehenden Bank und ließ sich darauf nieder. Daniel folgte ihm, tat es ihm gleich und versuchte, den Grünäugigen zu beruhigen.

„Das kann doch niemand mit Gewissheit sagen. Vielleicht läuft uns in wenigen Augenblicken deine Mutter über den Weg. Vielleicht erinnerst du dich von ganz alleine. Du solltest die Hoffnung nicht verlieren.“

„Hoffnung…“ Dakkas schnitt eine abschätzige Grimasse. „Was bringt mir diese Hoffnung? Gar nichts… Das ist doch Träumerei.“

Sein Sitznachbar runzelte die Stirn. „So hatte ich dich nicht eingeschätzt. Du klingst fast wie Molokosh, wenn er schlechte Laune hat.“

Ein Anflug von einem Lächeln huschte über das Gesicht des Schwarzhaarigen. „Du meinst, Molokosh hat auch mal gute Laune?“

Verdutzt starrte der Heiler ihn an, bevor sie beide leise lachten. „So schlimm ist der Herr nicht.“, murmelte der Halbdrache dann. „Manchmal ist er nur etwas… aufbrausend. Und bestimmend. Aber das muss er auch sein… er hat es nicht leicht.“

Für den Amnesie-Erkrankten hörte sich das stark nach Ausreden an, aber er kommentierte dies nicht weiter. Stattdessen ließ er seinen Blick noch einmal über den Platz schweifen.
 

Fast augenblicklich veränderte sich seine gesamte Körperhaltung. Eine Spannung breitete sich in ihm aus und ein ungutes Gefühl entstand in seiner Magengegend.

Unweit von ihnen waren einige der Mütter mit ihren Kindern von den Bänken gewichen und hatten sich mit einer Gruppe nervös aussehender Männer zusammen getan. Immer wieder schielten die Frauen und Männer zu einer anderen Gruppe von Leuten, während sie gleichzeitig ihre Kinder in ihrer Nähe hielten.
 

Der Grund für die steigende Nervosität und Anspannung der Städter war wohl eine kleine Gruppe von Kindern oder Jugendlichen, die jüngst den Platz betreten hatten. Der Älteste von ihnen konnte nicht mehr als 15 Jahre auf dem Buckel haben, dachte sich Dakkas. Umso unverständlicher war für ihn die Reaktion der anderen auf die Kindergruppe.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Die Kinder waren Wildblüter.
 

Der älteste war ein rothaariger Werwolf, der zwischen zwei Drachen herlief, die bereits in ihren frühen Jahren weitaus größer waren als ihre Altersgenossen. Hinter ihnen tapste ein kleines Mädchen, welches eine Art Puppe in der Hand hielt und eine weitere Jugendliche, die wohl gemischter Herkunft war.
 

Die Gruppe war wohl zum Spielen auf den Platz gekommen. Während die älteren begangen, ein Spiel mit kleinen Steinen und bunten Murmeln vor sich aufzubauen, setzte sich die Kleinste daneben und spielte mit ihrer Puppe.

Dakkas gefiel die Stimmung nicht, die auf dem Platz herrschte. Die Erwachsenen etwas weiter abseits tuschelten augensichtlich über die gerade angekommenen Kinder, und ihre Worten waren sehr wahrscheinlich nichts Gutes. Von den Engels- und Elfenkindern wagte sich keines näher an die fünf Neuankömmlinge heran, doch sein Gefühl sagte ihm, dass dies nicht lange anhalten würde.
 

Sein Gefühl behielt recht. Während er die Leute auf dem Platz beobachtete, fielen ihm zwei jugendliche Engel auf, deren Blicke immer zu den Neuankömmlingen wanderten und deren hämischer, verächtlicher Gesichtsausdruck nichts Gutes versprach. Als die zwei sich dann in Bewegung setzten und auf die kleine spielende Gruppe zuhielten, war es für den Grünäugigen mit der Ruhe vorbei.

So ganz wusste er nicht wieso, aber genauso wie er sich sicher war, dass diese beiden Bengel die anderen Kinder gleich ärgern würden, genauso sicher war er sich, dass er etwas dagegen unternehmen musste.
 

Kurz bevor die beiden ihren Zielort erreichten, erhob sich Dakkas.

„Was ist los?“, wollte der Heiler wissen, der anscheinend nicht so sehr auf seine Umgebung geachtet hatte, wie der Schwarzhaarige.

„Was die Halbstarken da vorne vorhaben, gefällt mir nicht.“, brachte dieser heraus und begann, ruhigen Schrittes auf die Kinder hinzu zu gehen.

„Was-?“ Hinter ihm blieb Daniel verdutzt sitzen, bis ihm nach einem kurzen Blick über den Platz klar wurde, was sein Begleiter gemeint hatte. Kaum hatte er dass verstanden, stand er auch schon auf und lief Dakkas hinterher.

„Dakkas… Das ist keine gute Idee. Wir sollten uns nicht in solche Angelegenheiten einmischen und die Engel unnötigerweise auf uns aufmerksam machen. Wir werden sowieso schon argwöhnisch beobachtet!“

Der Grünäugige lächelte grimmig, setzte seinen Weg aber weiter fort. „Werden wir das? Schau dich um, Daniel. Jetzt, wo Molokosh und Nostradamus nicht bei uns sind, blicken die Leute uns nur flüchtig an. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Den beiden erkennt man an, dass sie Drachen sind. Sie sind groß, riesig im Vergleich zu Engeln, haben ihre harten Gesichtszüge, die Muskeln und sonstiges. Aber bei dir hat man Zweifel – berechtigte Zweifel, möchte ich sagen und hoffe, dass du mir das verzeihst – und ich bin definitiv kein Drache. Nach Werwölfen oder ähnlichem sehen wir auch nicht aus. Kurz gesagt, die Leute auf dem Platz hier denken, wir wären fremde Engel. Solange wir diese kleine Vermutung nicht zerstören, brauch auch keiner wissen, mit wem wir hier sind.“

Die Worte des Grünäugigen überraschten nicht nur den Heiler, sondern auch ihn selber. Vor allem überraschte ihn die Einfachheit, mit der er diesen Gedankengängen folgte. Das war nicht das erste Mal, dass er jemanden in einem Irrglauben über sich selbst ließ, und er war sich sicher, dass er schon oft genug über seine Identität gelogen hatte.
 

Diese Erkenntnis – oder Erinnerung – traf ihn plötzlich und er lief etwas langsamer, aber dennoch zielstrebig weiter.

Wenn er sich so sicher war, andere belogen zu haben… gab es da überhaupt eine Chance, herauszufinden, wer er denn nun war? Was, wenn es einfach niemanden gab, der ihn wirklich kannte? Er würde nie wieder der sein, der er mal war.
 

Diese trübseligen Vermutungen schob er weit von sich. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Die beiden jugendlichen Engel waren längst bei den spielenden Kindern angekommen und hatten angefangen, diese zu beleidigen und zu ärgern. Gerade in diesem Augenblick nahm einer von ihnen der Kleinen die Puppe weg.

Der rothaarige Werwolfjunge sprang auf und schien die Puppe zurück zu fordern. Zur gleichen Zeit scheuchte er die Kleine hinter sich und die Drachen.
 

Dakkas gefiel der Werdegang des Ganzen überhaupt nicht. Er machte sich nicht Sorgen darüber, ob die Kinder unbeschadet eine mögliche Prügelei mit den Engelsjugendlichen überstehen würden. Neben ihrer Größe wiesen die meisten Drachen auch erstaunliche Muskelkraft auf und Werwölfe verfügten über eine angeborene Heilfähigkeit, die sie weitaus mehr einstecken ließ als Engel.

Die beiden halbstarken Bengel waren den Wildblüterkindern hoffnungslos unterlegen. Ohne die Kleine zu zählen waren es immer noch vier von ihnen und nur zwei Bengel.

Nein, worüber Dakkas sich Sorgen machte, war etwas anderes. Es waren die umherstehenden Erwachsenen, die nichts taten, um die beiden zurecht zuweisen, aber sicherlich einschreiten würden, sollte eines der Kinder sich handgreiflich wehren. Und dann würden diese den Ärger bekommen, nicht die beiden Bengel.

Das konnte er nicht zulassen.
 

„Warum braucht jemand wie ihr eigentlich eine Puppe, hm? Ihr könnt doch eh nicht mit so etwas spielen, ihre Barbaren.“, stichelte einer der beiden, als Dakkas und Daniel endlich in Hörweite waren. Nur noch ein paar Schritte…

„Meine Schwester würde sich sicherlich über ein neues Spielzeug freuen. Ich glaube, wir sollten es ihr mitbringen.“, fügte der zweite Engel hinzu und grinste seinen Freund an. Dieser pflichtete ihm bei. „Und die hier haben eh kein Recht, so ein kleines, nettes Ding zu besitzen.“

„Gebt mir die Puppe zurück!“, forderte der rothaarige Junge dann. In seiner Stimme schwang Ärger mit, aber sie zitterte auch leicht. Wahrscheinlich weil er wusste, dass die Lage eigentlich aussichtslos war.

„Oh, schau dir das an!“, der eine Engel sah seinen Freund an, „Der kleine Hosenscheißer hier meint, er könne sich die Puppe zurück holen!“

„Die gehört meiner kleinen Schwester, gebt sie zurück!“, wiederholte der Werwolf noch einmal.

„Sonst was, Hundebaby? Du fängst an zu heulen und rufst Mami?“
 

In dem Augenblick entschied sich Dakkas, einzugreifen. Er riss dem Engel, der abgelenkt war, die Puppe aus der Hand. „Sieh an, sieh an. Und ich dachte immer, dass Stehlen laut den Gesetzen der Engel verboten wäre.“

Die beiden fuhren rum. Auf ihren Gesichtern war zuerst Verwirrung, dann Häme zu sehen. „Geben Sie uns die Puppe zurück, das geht Sie nichts an.“, forderte einer der beiden.

Der Grünäugige lächelte nur und schüttelte seinen Kopf. „Oh nein. Ich habe sehr genau sehen können, was hier los ist. Und euch gehört das Spielzeug hier sicherlich nicht. Geht nach Hause und legt euch mit Jungen eures Alters und Fähigkeiten an, Puppen von kleinen Mädchen zu stehlen ist kein Zeichen von Größe, sondern eins von Feigheit.“
 

Das schmeckte den beiden Halbstarken gar nicht gut.

„Nennen Sie uns etwa Feiglinge?“, wollte einer von ihnen mit einem bedrohlichem Unterton in der Stimme wissen.

Dakkas Lächeln verformte sich. Er selbst konnte die Verwandlung nur spüren und nicht sehen, aber sie musste Eindruck machen, denn die beiden Bengel wirkten auf einmal nicht mehr so selbstsicher.

„Nein. Ich nenne euch zwei feige, ängstliche kleine Bengel, die nicht in der Lage sind, sich Respekt unter ihresgleichen zu verschaffen und deswegen auf fünfjährige kleine Kinder losgehen müssen, um zu beweisen, dass sie wenigstens stärker sind als eine Person. Zusätzlich dazu seid ihr auch noch dumm und ungebildet, denn sonst wüsstet ihr, dass Drachen weitaus stärker sind als Engel und Werwölfe sich selbst heilen können. Demnach wäret ihr unterlegen, solltet ihr sie tatsächlich soweit ärgern, dass ihr euch prügelt.“

Der eine Engel bekam einen roten Kopf und sah immer wütender aus, während der andere immer unsicherer wurde. Dakkas war mit ihnen aber noch nicht fertig.

„Ja was denn? Keine tollen Antworten mehr von euch beiden? Hat es euch die Sprache verschlagen, jetzt wo ihr einmal mit jemandem konfrontiert werdet, der nicht nur intelligenter und stärker ist als ihr, sondern auch keine Scheu hat, euch Einhalt zu gebieten? Geht nach Hause, weint euch bei eurer Mutter aus und lasst andere Kinder in Ruhe, die euch nichts getan haben.“ Mit einer Geste seiner Hand gab der Schwarzhaarige zu verstehen, dass das Thema hiermit für ihn erledigt war.
 

Die beiden Halbstarken sahen das leider nicht so. „Ich wird mir doch von einem eingebildetem Fatzke nichts sagen lassen!“, brüllte einer der beiden und setzte dazu an, Dakkas anzugreifen.

„Halt!“, tönte es da auf einmal von der Seite. Anscheinend waren jetzt, wo Dakkas eingegriffen hatte, auch andere hellhörig geworden. Plötzlich jedenfalls schien es einige Engel zu interessieren, was mit den Kindern hier los war.
 

Der Schwarzhaarige sah den älteren Herrn an, der zusammen mit zwei Müttern und einem anderen Mann dazu gekommen war. Typisch, dachte er bei sich, solange die beiden die Wildblüter ärgern, haben sie kein Problem, aber versucht jemand, ihre Kinder zur Ordnung zu rufen, werden sie gleich aktiv. Er gab sich Mühe, die Verächtlichkeit, mit der er über die Engel dachte, sich nicht anmerken zu lassen.

„Was ist denn hier das Problem?“, fragte der alte Mann erneut mit einer beschwichtigenden Stimme. Bevor die beiden Halbstarken auch nur einen Ton herausbringen konnten, hatte Dakkas bereits mit einer Erklärung angefangen.

„Ich musste mit ansehen wie die beiden hier ohne ersichtlichen Grund auf diese spielenden Kinder losgegangen sind. Sie haben sie beschimpft, angestachelt und dem kleinen Mädchen ihre Puppe geklaut. Da niemand sonst Anstalten machte, einzugreifen, habe ich es getan.“

Eine der Mütter schürzte ihre Lippen bei dieser Erklärung und schien überhaupt nicht zufrieden damit zu sein.

„Aber, aber.“, beschwichtigte der alte Mann erneut, „So schlimm wird es sicherlich nicht gewesen sein. Wahrscheinlich haben sie sich nur über eine Murmel oder so etwas gestritten und der Streit ist etwas ausgeartet.“
 

Der Grünäugige sah den Mann ungläubig an. „Denken Sie das wirklich? Wenn ja, müssen ihre Fähigkeiten, sich selbst zu belügen, grandios sein. Ich weiß, dass Sie tatenlos zugesehen haben, ich habe sie alle tuscheln sehen. Die beiden unreifen Bengel hier sind ohne Grund auf die Kinder losgegangen. Es tut mir Leid, wenn Sie darin nichts Böses erkennen können, aber bei mir ist das eine Ungerechtigkeit, die ich nicht zulassen kann.“

Dakkas wusste, dass er sich gerade keine Freunde machte. Die eine Mutter sah immer wütender aus, während auch der alte Mann schnell an Geduld verlor. Die weißen Engel nannten sich das ‚gerechte Volk’ und beriefen sich auf ihren Schutzgott, den Sonnengott, Herr des Lichts, der Gerechtigkeit und der Ordnung. Sie auf ihre eigentliche Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen war ein schneller Weg, um sie aufzuregen.

„Also, jetzt hören Sie mal-“, setzte die eine Mutter auch schon an, doch Dakkas winkte nur ab. „Nein, danke. Im Laufe meines Lebens habe ich mir viele Reden von vielen Engeln anhören müssen und die Inhalte haben mich nur selten begeistert.“ Der Satz kam, ohne dass der Schwarzhaarige ihn bewusst gedacht hatte, dennoch spürte er die Wahrheit dahinter. „Ich schlage vor, dass Sie die beiden hier einfach wieder zurück pfeifen, während ich der Kleinen ihre Puppe wieder gebe und sie nach Hause bringe. Ihre Eltern werden die arme vielleicht wieder beruhigen können.“

Das hoffte der Grünäugige wirklich, denn die Kleine weinte stumme Tränen und klammerte sich an dem älteren Mädchen fest. Sie versteckte sich fast gänzlich hinter dieser und wirkte eingeschüchtert und verstört.
 

Der alte Mann hatte ein Einsehen. „Nun gut, das ist vielleicht das Beste für alle… kommt ihr beiden.“ Er deutete den Bengeln an, ihm zu folgen, was diese nur widerwillig taten. Einer von ihnen sah Dakkas noch einmal durchdringend an, als wenn er sagen wollte: Ich krieg dich noch. Der Schwarzhaarige lächelte nur finster, bevor er sich zu den anderen Kindern wandte und dem rothaarigen Jungen die Puppe überreichte. „Da, du kannst sie deiner Schwester wiedergeben.“ Dankbar nahm dieser das Spielzeug an und reichte es an das weinende Mädchen weiter, das sich daraufhin etwas beruhigte.
 

Daniel, der bis dahin still gewesen war, stöhnte auf. „Dakkas, willst du uns Probleme bereiten? Der Lanar reißt mir den Kopf ab, wenn er hiervon erfährt.“

Die Köpfe der beiden Drachen waren hochgeschnellt, als sie das Drakonisch aus dem Mund des vermeintlichen Engels, der ihnen zur Hilfe geeilt war, vernommen hatten.

Der angesprochene Schwarzhaarige grinste nur. „Du bist zu paranoid. So. Wo wohnt ihr denn? Es wäre sehr ungünstig, wenn diese beiden Stänkerer euch auf dem Heimweg noch einmal begegnen würden, da begleite ich euch lieber. Ist das in Ordnung?“

Zögerlich sahen die Kinder sich untereinander an und nickten dann.
 

„Vielen Dank, dass ihr uns geholfen habt.“, sprach das ältere Mädchen dann zögerlich, während die kleine Gruppe durch die Straßen Halmsdorfes liefen. Der Rothaarige hatte wieder die Führung übernommen und brachte sie immer tiefer in einen schlecht erhalteneren Teil der Stadt. Dakkas hätte sich ja denken können, dass die Wildblüter in den schlechten Stadteilen leben mussten.

„Nicht der Rede wert. Jeder Erwachsene hätte euch helfen sollen.“

„Ihr seht gar nicht aus wie ein Drache.“, piepste plötzlich die Kleine, die ihre Puppe umklammerte. Dakkas musste lachen. „Ich bin auch kein Drache. Aber ich hatte vor einiger Zeit einen sehr schweren Unfall und einige Drachen waren so nett, mir zu helfen.“ „Dann ist Dakkas also Euer Spitzname?“, wollte einer der beiden Drachen wissen und der Angesprochene bejahte. „Wegen meinen Augen, wurde mir gesagt.“, fügte er noch hinzu und lächelte. Der Drache, der ihn gefragt hatte, nickte zustimmend. „Eure Augen sehen wirklich aus wie Jade.“ Der Ton, in dem er das sagte, verriet Dakkas, das hinter seinem Namen noch mehr stecken musste, als eine bloße Anlehnung an einen Edelstein. Die Drachen schienen dem Begriff ‚Jade’ eine besondere Bedeutung beizumessen. Sobald er Molokosh wieder sah, würde er diesen fragen müssen.
 

„Da vorne wohnen wir.“ Während der Rothaarige sprach, deutete er auf ein etwas größeres, aber alt aussehendes Steingebäude. Es hatte als einziges in der Umgegend einen größeren Vorgarten, in dem auch etliche andere Kinder spielten. Kinder unterschiedlicher Herkunft und Alters… Dakkas runzelte die Stirn. Ein Schild am steinernen Gartenzaun bestätigte seine Vermutungen: Das Gebäude war ein Waisenhaus. Die Kinder, denen er geholfen hatte, waren Waisen.
 

„Das Waisenhaus wird von Sia Theresa geleitet.“, erklärte der junge Werwolf. Sia… der Ausdruck sagte Dakkas etwas. Die Bedeutung dieses Wortes war ihm anscheinend nicht mit dem Rest seiner Erinnerungen verloren gegangen. Eine Sia war ein weibliches Ordensmitglied des Ordens der Kindergöttin. Die Mitglieder dieses Ordens leiteten fast alle Waisenhäuser im Reich der weißen Engel und zeichneten sich durch ihr Mitgefühl und ihr Engagement aus. Die Kindergöttin, Schutzgöttin der Kinder und Göttin von Hilfe, Unterstützung und Mitgefühl, war wohl die einzige Engelsgöttin, die Dakkas leiden konnte.

„Wie viele Sias hat euer Heim?“, wollte der Grünäugige wissen. „Nur zwei.“, erklärte der junge Werwolf, „und Ani Greshak. Er ist ein Halbdrache.“ Also wurde das Waisenhaus von nur drei Anhängern der Kindergöttin geleitet. Ziemlich beeindruckend, fand Dakkas, da es allem Anschein nach viele Kinder gab.
 

Sie durchquerten die Eingangshalle des Waisenhauses und folgten dem Rothaarigen in einen gemütlich ausgestattetem Raum. Die Sofas, Stühle und Kissen, welche überall herum lagen oder standen, sahen zwar nicht mehr gerade neu aus, doch waren sie gut erhalten und gemütlich. Eine ältere Frau mit blonden Haaren saß auf einem der Stühle und strickte an einem dicken Wollhemd, während sie ab und zu einen Blick auf die beiden spielenden Kleinkinder neben sich warf.

„Sia Theresa!“, rief die Kleine mit ihrer Puppe dann und sprintete auf die alte Dame hinzu. „Wir haben Gäste mitgebracht! Sie haben meine Puppe gerettet, Sia Theresa!“ Die Kleine wurde von der Dame auf den Schoß genommen und das Strickzeug weggelegt. „Dann wollen wir unsere Gäste doch begrüßen, Lisa.“ Ihre Augen waren freundlich und ihr Lächeln offen, als sie das kleine Mädchen an sich drückte. „Herzlich Willkommen im Waisenhaus von Halmsdorf.“ Ihr Gesicht war gezeichnet von vielen Linien und sorgenvolle Jahre hatten ihre Spüren hinterlassen. Trotz alledem wirkte sie noch lebendig und eine ruhige Wärme schien von ihr auszugehen.

„Vielen Dank, Sia Theresa.“, sprachen sowohl Dakkas als auch Daniel, bevor sie sich auf zwei der Stühle setzten, die der alten Dame gegenüber waren. Der rothaarige Junge nahm indessen die beiden Kleinkinder und gab jedes von ihnen einem der Drachen. Nach einem kurzen Blickaustausch mit seiner ‚kleinen Schwester’ nahm er diese auf den Arm und verschwand mit ihr und dem Rest der Kinder aus dem Zimmer. Er hatte effektiv dafür gesorgt, dass die Erwachsenen unter sich reden konnten und Dakkas musste schmunzeln.

„Er ist ein so lieber Junge,“ erklärte Sia Theresa, „und schon so verantwortungsvoll.“ In ihrer Stimme schwang Stolz mit, was der Grünäugige gut verstehen konnte.

Daniel lächelte ebenfalls. „Werwölfe werden auch schneller erwachsen, als die meisten anderen Völker… In nur ein bis zwei Jahren wird er wahrscheinlich schon eine Familie gründen wollen.“ Die Sia seufzte. „Ja, wahrscheinlich. Wir werden uns alle für ihn freuen, aber wir werden ihn vermissen, wenn er das Waisenhaus verlässt.“

„Oh, ich denke nicht, dass er das Waisenhaus verlassen wird.“, meinte Dakkas da plötzlich und überraschte die anderen. „Es ist klar, wie sehr er an allem und jedem hier hängt. Sein Familiensinn wird ihn nicht weit von hier weglassen.“

„Ihr macht einer alten Frau Hoffnung.“, schmunzelte die Sia.
 

„Ach, meine Manieren.“, meinte Daniel dann plötzlich und lächelte verlegen. „Verzeiht, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Ich bin Daniel Daragan und das hier ist Dakkas.“ Der Grünäugige lächelte freundlich.

„Sia Theresa, Leiterin dieses Waisenhauses. Aber das wissen Sie ja schon.“ Die alte Dame lächelte. „Was ist denn das nun für eine Geschichte, dass sie Lisas Puppe gerettet haben?“

Der Schwarzhaarige zog eine Grimasse. „Die Kinder wollten auf dem hinteren Tempelplatz spielen und zwei jugendliche Engel wollten sie ärgern. Einer von ihnen nahm der Kleinen die Puppe weg.“

Theresas Gesicht war ernst geworden und in ihren Augen stand Sorge geschrieben. „Dann muss ich Euch sehr danken, dass Ihr die Puppe wiedergeholt habt. Wir haben hier im Waisenhaus nicht viel Spielzeug und hätten die Puppe wohl auch nie wieder bekommen, hätten die beiden Jungen sie behalten.“

„Nicht der Rede wert.“, wiederholte Dakkas seine Worte noch einmal. „Wir wären immer dazwischen gegangen, wenn jemand Kinder bedroht oder piesackt.“
 

„Verzeiht, wenn ich zu neugierig bin, aber Ihr seht mir nicht wie ein Drache aus, Herr. Euer Name ist doch Drakonisch?“

Daniel lachte leise und sein grünäugiger Begleiter seufzte. „Nein, ich bin kein Drache. Der Name ist ein Spitzname, den mir meine drakonischen Begleiter gegeben haben.“ „Oh. Verzeiht mir noch einmal, aber was ist Euer wahrer Name?“

Der Humor wich aus Daniels Gesicht. „Das weiß niemand. Wir – mein Lanar, sein Bruder und ich – fanden Dakkas als einzigen Überlebenden eines Bergrutsches. Durch das Unglück hat er jedoch all seine Erinnerungen verloren.“

Dakkas fragte sich, ob es wirklich nötig war, jedem, den sie trafen, seine Leidensgeschichte zu erzählen. Er selbst konnte auch gut damit leben, wenn man es nicht tat.Darüber würde er auch noch mit den Drachen reden müssen.
 

Die Sia sog scharf Luft ein und sandte dem Schwarzhaarigen einen mitfühlenden Blick. „Das ist schrecklich! Kann man da nichts tun?“

Der Heiler schüttelte seinen Kopf. „Soweit wir wissen, nein. Mit der Zeit könnte er sich von alleine erinnern, oder etwas, das er sieht, könnte eine Erinnerung wachrufen, aber ansonsten…“ Hilflos zuckte der Halbdrache mit den Schultern.

Sia Theresa hätte wahrscheinlich erneut bekundet, dass dieser Schicksalsschlag ihr leid tat, wenn nicht in diesem Augenblick eine weitere Dame, diese jedoch etwas jünger, ins Zimmer gestürmt wäre.

„Theresa! Tobias Fieber ist wieder gestiegen und Greshak und ich wissen nicht, was… Oh, verzeiht. Ich wusste nicht, dass wir Gäste haben.“, stoppte die junge Frau sich selbst, als sie die beiden Männer bemerkte.

„Was ist mit Tobias, Evandria?“ Sia Theresa erhob sich.

„Es geht ihm schlechter. Die Medizin, die Greshak besorgt hat, hat nichts gebracht.“

Während die beiden Frauen über den erkrankten Jungen sprachen, stand Daniel auf. Seine Stirn war in Falten gelegt und er wirkte besorgt. „Entschuldigen Sie, ein Kind des Waisenhauses ist erkrankt? Ich bin Heiler, vielleicht kann ich helfen.“
 

Keine fünf Minuten später standen die zwei Frauen und die beiden Männer am Bette des kranken Jungen Tobias. Neben ihnen war der schwarzhaarige Halbdrache Greshak.

„Hm… sieht wie Sommerfieber aus…“ Daniel beugte sich bereits über den Jungen, befühlte dessen Stirn, öffnete vorsichtig seinen Mund und besah sich Zunge und Rachen. Die Sias schauten abwartend und hoffnungsvoll auf den Heiler, doch Dakkas hatte sich an die Wand des kleinen Zimmers gelehnt und beobachtete die Szene. Was ihm auffiel, war Greshak.
 

Der Halbdrache war offensichtlich besorgt um den kranken Jungen, aber immer wieder glitt sein Blick von diesem zu Dakkas und immer wieder schien er den Grünäugigen anzustarren. Das gefiel dem Schwarzhaarigen überhaupt nicht.

„Ah… Dachte ich’s mir doch. Ich weiß jetzt, was er hat.“, verkündete Daniel. „Sia Theresa, wenn Sie oder einer der anderen so gut sein könnten, ein wenig Wasser zu kochen? Die eigentliche Medizin gegen Sommerfieber habe ich nicht dabei, aber die anderen Heilkräuter sollten das Fieber lange genug senken, dass er die Krankheit unbeschadet übersteht.“

Die drei Anhänger der Kindergöttin atmeten erleichtert aus. Während Greshak lossprintete, um das Wasser aufzukochen, bedankten die Frauen sich herzlich bei Daniel.

„Aber wir haben leider wenig Geld, Heiler Daniel.“, begann Theresa, doch der Heiler schüttelte nur seinen Kopf. „Das macht nichts, Sia. Ich möchte kein Geld von Euch. Der Junge wird wieder gesund werden, dass ist das Wichtigste. Und abgesehen davon brauche ich auch keins, für mich ist gut genug gesorgt.“

Damit hatte Daniel sich zum Liebling der beiden Frauen gemacht, die ihm gleich noch einmal dankten. Schnell lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema um.

„Gibt es sonst noch Kinder hier, die Anzeichen des Sommerfiebers zeigen? Hohe Müdigkeit, Gelenkschmerzen, aber weder Husten noch Schnupfen? Wenn ja, dann sollten diese Kinder auch etwas von dem Kräutersud trinken, den ich zubereiten werde. Die Krankheit ist schnell ansteckend, aber für die meisten Erwachsenen harmlos. Nur Kinder und bereits Kranke sollten sich in Acht nehmen.“
 

Eine Stunde später war der Kräutersud zubereitet und jedes Kind mit den Symptomen, einschließlich des schwererkrankten Jungen, versorgt. Daniels Kräutervorrat war stark abgesunken und der Heiler schien gedanklich schon wieder aufzuzählen, wo er was wieder aufstocken konnte.

Momentan waren die Erwachsenen wieder in dem Aufenthaltsraum mit den vielen Sofas versammelt, zusammen mit ein paar von den Kindern des Waisenhauses. Daniel unterhielt sich mit der alten Theresa und Evandria, die jüngere Sia, war mit einem Kleinkind beschäftigt. Dakkas verspürte den Drang, mal an die frische Luft zu gehen und bemerkte erst zu spät, dass Greshak ihm gefolgt war.
 

Es war einige Zeit vergangen und langsam neigte sich die Sonne dem westlichen Horizont zu. Dakkas lehnte an der Hauswand und sah hinaus auf die Straße, wo nun keine bis kaum Engel zu sehen waren, dafür aber Wildblüter. Als Greshak an ihn herantrat drehte er seinen Kopf in die Richtung des Halbdrachen. „Ja?“

„Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr so früh wieder zurückkehrt, Herr.“

Der Schwarzhaarige spitzte seine Ohren. Zurückkehren? Herr? Der Halbdrache kannte ihn!

Er war sich unsicher, wie er auf das Gesagte reagieren sollte. Greshak war nicht dabei gewesen, als Daniel den Sias von seiner Amnesie erzählt hatte… und bis jetzt war es im Gespräch auch nicht aufgekommen. Ein Gefühl sagte ihm, dass es vielleicht besser wäre, nicht überall herum zu posaunen, dass er sich an nichts erinnerte.

„Es… ging schneller als erwartet.“, war daher seine ominöse Antwort.

Greshak nickte, als wenn das alles sagen würde. „Ihr… Seid Ihr hier, um Euren Schlüssel abzuholen? Ich frage nur, weil dies das erste Mal ist, dass Ihr persönlich hierher kommt.“

Das erklärte zwar, warum der Halbdrache ihn kannte und die Sias nicht, aber Dakkas verstand beim besten Willen nicht, was es mit diesem Schlüssel auf sich hatte. Doch dies war der erste Hinweis auf sein früheres Ich, dass er bekommen hatte – er würde den Schlüssel einfach nehmen müssen.

„Ja, bin ich. Ich bin diesmal nur deswegen gekommen, weil… ich es für nötig fand.“ Wieder nickte Greshak, als wenn das eine allumfassende Aussage wäre, und verschwand kurz darauf mit den Worten ‚Wartet bitte kurz’.
 

Zurück blieb der verwirrte Dakkas, in dem sich ein wenig Hoffnung regte. Vielleicht brachte dieser Schlüssel ihm ja schon alles Nötige, was er brauchte, um seine Identität wieder zu finden.

Wenige Minuten später stand Greshak wieder vor ihm und überreichte ihm einen silbern glänzenden Schlüssel, der in ein schwarzes, weiches Tuch gewickelt war. „Bitte sehr, Herr.“ Lächelnd nickte der Schwarzhaarige. „Danke, Greshak.“ Der Halbdrache wirkte noch etwas verunsichert. „Werdet Ihr den Schlüssel wieder bei mir abgeben?“, fragte er dann.

Der Grünäugige runzelte seine Stirn. „Das weiß ich noch nicht.“, war seine ehrliche Antwort. In Gedanken fügte er hinzu: Das kommt darauf an, was ich finde.

Für Greshak schien das Ganze damit abgeschlossen zu sein und mit einer angedeuteten Verbeugung ging er wieder ins Waisenhaus.
 

Dakkas starrte auf den Schlüssel in seinen Händen und erweiterte seine geistige Liste mit Fragen über seine Vergangenheit. Warum gab er einem Ani einen Schlüssel zur Verwahrung? Wofür war der Schlüssel? Warum nannte der Ani ihn ‚Herr’?

All diese Fragen konnten vielleicht durch den Schlüssel beantwortet werden. Vorsichtig untersuchte er das Stück Metall.

Der Schlüssel glänzte nicht nur silbern, soweit er erkennen konnte, war es Silber. Er war auch etwas größer als die meisten konventionellen Schlüssel und würde wahrscheinlich ein schweres, älteres Schloss öffnen. Die Zacken waren in keiner besonderen Formation angeordnet, soweit er erkennen konnte, aber da hatte er ja auch nicht sonderlich viel Erfahrung. Was ihm jedoch noch auffiel, war eine kleine Gravur, die am Schlüssel angebracht war.

‚Gesellschaft Wellert 107’, stand da in einer kleinen Kursivschrift. Gesellschaft Wellert… den Namen hatte er schon mal irgendwo gesehen.
 

Jegliche weiteren Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als eine starke und große Hand ihn an der Schulter packte und herumriss. Plötzlich starrte er in das wütende Gesicht eines Molokosh de’Sahr, der ihn mit Blicken aufzuspießen versuchte.

„Wie seid ihr beide eigentlich auf die außerordentlich dumme Idee gekommen, einfach zu verschwinden?“, zischte der Drache. Neben ihm stand Nostradamus, der dem Geschehen nicht allzu viel Beachtung zu schenken schien.

Dakkas sah jedoch nicht ein, warum der Drache ihn jetzt plötzlich zurechtweisen wollte.

„Wie wir auf die Idee gekommen sind? Oh, mal schauen… Das könnte an dem Drachen liegen, der angefangen hat, auf seinem Bruder herumzureiten, einen Wutausbruch bekommen hat und uns unseren Zimmerschlüssel nicht gegeben hat. Hätten wir die ganze Zeit vor eurem Zimmer auf dem Boden sitzen sollen, oder was?“

Molokosh blinzelte und nahm seine Hand von der Schulter des Grünäugigen. Seine Wut schien wie weggeblasen, ersetzt durch Verwirrung. Anscheinend gab es nicht viele Leute, die dem Drachen wiedersprachen.

„Ihr hättet in dem Gasthaus bleiben können.“, grollte er dann endlich, erreichte jedoch nur ein Augenrollen bei seinem Gegenüber. „Ja, natürlich. Wie lange waren wir jetzt weg? Vier Stunden? Sollen wir solange etwa am Tresen sitzen? Du hättest uns wenigstens unseren Schlüssel geben können, bevor du anfingst zu zetern.“ Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Außerdem ist dein Bruder ein Seher, hat man mir zumindest erzählt. Und dem Anschein nach hat er ja auch gut genug gesehen, wenn du uns hier gefunden hast.“

Neben dem verdutzten adligen Drachen formte Nostradamus Mund sich langsam zu einem Grinsen. Die grauen Augen huschten kurz über das Gesicht Dakkas, dann lächelte der Seher.

„Ich hab meine Meinung geändert.“

Auf diese Verkündung hin sahen beide Schwarzhaarigen den Grauhaarigen verwirrt an. Eine weitere Erklärung seitens Nostradamus gab es jedoch nicht.
 

Molokosh schien sich endlich wieder beruhigt zu haben. Zumindest hatten seine Augen das wütende Funkeln verloren und seine Stimme klang wieder normal.

„Was habt ihr hier überhaupt gemacht?“, wollte der de’Sahr wissen. Den Schlüssel immer noch fest in seiner Hand antwortete Dakkas: „Ein paar Waisenkinder geheilt. Das heißt, Daniel hat sie geheilt. Oder es versucht. Ich habe mehr zugesehen.“

Der Drache schüttelte seinen Kopf und seufzte gutmütig. „Daniel hat ein zu weiches Herz. Ist er noch drinnen? Natürlich. Ich hole ihn eben. Wartet hier.“

Schon war Molokosh im Haus verschwunden.
 

Etwas verärgert seufzte Dakkas. Dieser Drache konnte einen vielleicht aufregen… Und jetzt stand er hier draußen, mit dem Seher, der ihn sowieso nicht mochte. Hoffentlich würde Daniel sich beeilen mit dem Verabschieden.
 

Eine halbe Stunde später waren die vier schon fast wieder bei ihrem Gasthaus. Die Sonne neigte sich immer mehr dem Horizont zu und die Einwohner Halmsdorf strebten zum Sonnentempel, zur Abendmesse.

Der Schlüssel der Wellert Gesellschaft lag schwer in Dakkas Tasche – der sich immer noch nicht daran erinnern konnte, woher er den Namen kannte. Molokosh schien den Schlüssel vorhin vor dem Waisenhaus nicht bemerkt zu haben, oder aber er kommentierte ihn nicht. Erst als sie auf den kleinen Platz mit dem Kirschbaum bogen, fiel es Dakkas wie Schuppen von den Augen.

Die Gesellschaft Wellert lag direkt neben ihrem Gasthaus. Er hätte sich ohrfeigen können dafür, dass er sich daran nicht erinnert hatte.
 

„Hey!“ Daniels ärgerlicher Ausruf kam daher, dass der vor ihm laufende Dakkas gerade abrupt angehalten hatte. Zwei Augenpaare richteten sich auf den Kleineren, während Nostradamus bereits zur Eingangstür der Gesellschaft lief und dort wartete.

Im Nachhinein wurde Dakkas klar, dass der Seher schon längst gewusst haben musste, dass es diesen Schlüssel gab, wer ihn hatte und wann er ihn bekommen würde. Und der Grauhaarige hatte kein Wort gesagt.
 

Er holte den Schlüssel aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. „Hier. Den Schlüssel habe ich von Greshak, dem Halbdrachen Ani im Waisenhaus. Er schien mich zu kennen und sagte, der gehöre mir.“

Misstrauisch nahm Molokosh den Schlüssel in die Hand und inspizierte ihn. „Warum solltest du dem Halbdrachen diesen Schlüssel anvertrauen? Warum solltest du überhaupt einen Schlüssel von der Gesellschaft haben?“

„Wenn ich das wüsste, hätte ich keinen Gedächtnisverlust.“, erklärte Dakkas trocken und nahm den Schlüssel wieder an sich. Gemeinsam schlossen die drei zu Nostradamus auf und betraten dann, Dakkas an ihrer Spitze, das Gebäude der Gesellschaft Wellert.

Gesellschaft Wellert

Gesellschaft Wellert
 

Der Empfangsraum der Gesellschaft war genauso, wenn nicht sogar noch pompöser eingerichtet, wie die Außenfassade des Hauses geschmückt worden war. Polierte Holzdielen knarrten unter ihren Schritten und Kerzenleuchter erhellten zusammen mit großen Fenstern den Raum.

Gegenüber der Eingangspforte stand ein großer, hölzerner Schreibtisch, hinter dem ein gewöhnlich aussehender, ältlicher Mann in brauner Kleidung saß. Er richtete seine Augen auf, als die kleine Gruppe die Gesellschaft betrat und rümpfte abfällig seine Nase.
 

Innerhalb der Zeit, die Dakkas brauchte, um an den Tisch heran zu treten, war der Mann aufgestanden und hatte seine Hände erhoben.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich denke nicht, dass dieses Etablissement für Sie das richtige ist.“

Dakkas hob beschwichtigend eine Hand, damit Molokosh sich erst gar nicht aufregen konnte und schenkte dem Mann dann ein blendendes Lächeln. Er zückte den Silberschlüssel und hielt diesen dem Butler unter die Nase. „Ihnen auch einen guten Abend. Hier ist mein Schlüssel, wenn Sie sich bitte beeilen würden.“
 

Sprachlos starrte der Butler die kleine Gruppe an, bevor er behutsam den Silberschlüssel in die Hand nahm und begutachtete. „Also das…“ Nervös trat er wieder hinter seinen Schreibtisch und durchblätterte einige dicke Bücher. Urplötzlich dann wurde sein Gesicht aschfahl. „Oh je. Das tut mir furchtbar leid, Herr Pasea. Bitte, entschuldigen Sie meine Worte. Ich habe Sie nicht sofort erkannt. Bitte, bitte.“ Er reichte den Schlüssel an den amüsierten Dakkas zurück. „Ich werde sofort die üblichen Bestellungen an Ihre Unterkunft weiterleiten. Werden Ihre… Begleiter noch länger Ihre Gesellschaft genießen?“

Zumindest wusste Dakkas jetzt schon einmal, dass er anscheinend eine Art von Autoritätsperson war, auch wenn er nicht wusste, auf welche Art genau. Und was seine ‚üblichen Bestellungen’ anging, fiel ihm sowieso nichts Gescheites ein.

„Ja, sie werden noch etwas bleiben. Ich nehme an, das kleine Missverständnis hat sich geklärt?“

Der Butler überschlug sich fast mit seiner Antwort und verbeugte sich mehrfach. „Natürlich, natürlich. Entschuldigen Sie bitte noch einmal. Ihre Unterkunft im ersten Stock ist wie immer sauber gehalten worden. Falls etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit sein sollte, melden Sie es einfach. Einen schönen Abend noch, wünsche ich Ihnen.“

Dankend nickte Dakkas und setzte sich in Bewegung in Richtung der dunklen Holztreppe, die sich in den ersten Stock hinaufschraubte. Seine drakonischen Begleiter folgten ihm, genauso verwirrt wie er selbst.
 

So wie der Mann über sich selbst gefallen war, als es darum ging ihn zufrieden zu stellen, musste er ein großes Tier sein. War er am Ende etwas selbst ein Engel, noch dazu ein wichtiger? Nein, er fühlte sich nicht als Engel und konnte an sich auch keinerlei Anzeichen des selbigen erkennen. Vielleicht war er einfach nur sehr reich? Das wäre zumindest eine freudige Entdeckung. Und es würde bedeuten, dass er schnell und auf einfache Weise herausfinden würde, wer er war, denn dann würden ihn einige Leute kennen.
 

Die Treppe mündete in einem reichlich mit Bildern und Statuen ausgeschmückten Gang, der sich nach links und rechts aufteilte. In einigen Abständen waren Türen sichtbar, an die eiserne Ziffern angeschlagen waren.

Molokosh deutete nach links. „Da drüben ist 105 und 106, 107 kann nicht weit entfernt sein.“

Dakkas nickte und lief gemächlich den Gang hinunter.
 

Die Tür mit der Nummer 107 war aus dunklem Holz und wirkte auf den ersten Blick schlicht, was beim Vergleich mit der restlichen Ausstattung dieses Gebäudes eher überraschte.

Mit einem tiefen Atemzug um sich selber zu beruhigen, steckte Dakkas den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf.
 

Der Raum an sich war nichts besonderes. Geräumig, da er nicht mit Möbeln oder ähnlichem überfüllt war, aber etwas dunkel, da schwere Vorhänge vor den breiten Fenstern hangen. Einige Bücherregale und ein Schreibtisch nahmen Platz an den Wänden ein und ein breiter Sessel sowie ein Sofa mit einem Tisch dominierten den Platz vor einem kleinen Zimmerkamin. Zwei weitere Türen führten noch aus dem Zimmer heraus, eine sehr wahrscheinlich in ein Schlafzimmer, die andere möglicherweise in ein Badezimmer.

Dekoration gab es kaum welche und insgesamt sah das Zimmer, abgesehen von den vollen Bücherregalen und den anderen Möbelstücken, ziemlich kahl aus.
 

Daniel ließ die Tür wieder hinter sich ins Schloss fallen und blickte sich, zusammen mit Molokosh, im Zimmer um, während Dakkas sich vor eins der Bücherregale stellte.
 

Das waren seine Bücher. Zumindest waren sie das wahrscheinlich.

Seine. Er las so etwas. Interessierte er sich für bestimmte Themengebiete, oder war all das nur Lektüre zum Zeitvertreib? Wie viele seiner Fragen würde dieser Raum wohl beantworten können?
 

Was er sah, ließ ihn nachdenklich werden. Das waren keine Bücher für den Zeitvertreib, das waren Lehrbücher und Abhandlungen, Theoreme. Die Themen erstreckte sich über verschiedene Gebiete der Magie hin zu einigen Büchern über Mechanik und Architektur und endeten bei einigen historischen Werken. Er konnte sich gar nicht vorstellen, das alles gelesen zu haben. Stand das ganze am Ende etwa nur hier, damit etwaige Besucher seinen ‚Geschmack’ bestaunen konnten?
 

„Carogan Pasea.“

Dakkas wirbelte herum und starrte Molokosh verwirrt an. „Wie bitte?“

Der Drache stand am Schreibtisch und hielt ein Stück Papier hoch. „Laut diesem Brief hier heißt du Carogan Pasea.“

Dakkas Mund öffnete sich zu einem kleinen ‚o’, aber es kam kein Laut heraus.
 

Carogan Pasea? Das war sein Name? Was für ein Name war das denn?

Pasea. Carogan. Carogan Pasea.

So sehr er auch versuchte, sich an den Namen zu gewöhnen, es klappte nicht. Es lag keine Vertrautheit darin, nichts, das irgendein Gefühl in ihm weckte. Es war einfach ein Name. Und dabei noch nicht mal ein hübscher.
 

Irgendwie hatte er sich den Moment, in dem er seine wahre Identität erfuhr, anders vorgestellt. Er fühlte weder Erleichterung noch Freude, viel mehr… Enttäuschung. Nein, diesen Namen wollte und konnte er so nicht akzeptieren.

„Ich mag Dakkas lieber.“, gab er schließlich von sich, bevor er sich wieder dem Bücherregal zuwandte.
 

„Komm doch bitte mal herüber… Dakkas.“ Fragend blickte der Grünäugige Molokosh an, doch der Drache gestikulierte nur auf den Schreibtisch. „Ja?“

Er bekam einen Federkiel in die Hand gedrückt und ein kleines Fässchen Tinte – nicht vertrocknet – wurde auf dem Tisch abgestellt. Ein Blatt Papier lag bereits auf der Arbeitsfläche.

„Schreib etwas.“

Dakkas blinzelte den Schwarzhaarigen verständnislos an. „Bitte was?“

Der de’Sahr grollte lediglich und wiederholte den Befehl. Achselzuckend setzte Dakkas sich an den Tisch, tunkte den Federkiel in die Tinte und begann, zu schreiben.
 

Ich habe keine Ahnung, warum ich das tue.
 

Stirnrunzelnd begutachtete er den Satz.

Molokosh stützte seinen Ellenbogen neben ihm auf dem Tisch und hielt einen kleinen Haufen Papier daneben. Die oberste Seite war dicht beschrieben worden und mit einem Titel versehen: Erklärungsversuch zur Anwendung passiver Heilungsmagie.
 

Die Schrift auf dem Papier war etwas geneigt, aber gut lesbar und sauber. Es gab kaum verzierende Schnörkel oder Auffälligkeiten, stattdessen gab es aber auch keine Tintenkleckse oder durchgestrichene Wörter auf dem Papier.

Außerdem war die Schrift vollkommen identisch zu dem, was Dakkas gerade geschrieben hatte.
 

Daniel sog scharf Luft ein. „Unglaublich … dann kannst du also nicht nur lesen und schreiben, du hast auch selbst akademische Texte verfasst.“
 

Die Informationen kamen so langsam in Dakkas Gehirn an und er riss die Zettel aus Molokoshs Hand. Während die Drachen sich in ihrer Sprache aufgeregt unterhielten, studierte der Grünäugige den Text, den er anscheinend geschrieben hatte.
 

Noch beim Lesen kehrten einige seiner Erinnerungen wieder zurück. Nichts über sein Leben oder seine Familie, aber andere Erinnerungen… Bücher, unheimlich viele Bücher, die er früher gelesen hatte. Er selbst, wie er an Schreibtischen saß, unterschiedlichen, und Abhandlungen schrieb. Er selbst im Gespräch mit einigen Magiern und anderen Gelehrten.
 

Mit diesen Erinnerungen kamen Stückchen von Wissen wieder. Einst hatte er aus dem Stand heraus Reden über die verschiedenen Magiearten und –anwendungen halten können, wusste er. Fakten über die komischsten Dinge stapelten sich in seinem Kopf an.

Das Ganze war einfach zu viel für ihn.

Müde rieb er sich die Schläfe und sank im Stuhl weiter zusammen. Das Gerede der Drachen sank in der Lautstärke ebenfalls ab und Daniel blickte ihn besorgt an. „Alles in Ordnung, Carogan?“

Irritiert sah Dakkas auf. „Dakkas. Nicht Carogan. Ich… Ich habe keine Ahnung wieso, aber der Name gefällt mir nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Pseudonym zum Veröffentlichen der Texte ist – war, was auch immer. Bitte, einfach Dakkas.“
 

Woher auch immer die Vermutung kam, dass Carogan Pasea nicht sein richtiger Name war, war egal. Sie schwirrte in seinem Kopf herum und wurde mit immer wachsenderer Sicherheit zu einer Tatsache. Dieser Name war sein Pseudonym, unter dem er Bücher herausbrachte. Zumindest an diesen Teil seiner Vergangenheit konnte er sich inzwischen erinnern.
 

Wer war er und warum brauchte er einen Decknamen? Warum bei allem und jedem das heilig war, war er bei dieser Ausgrabung gewesen?! Akademisches Interesse? Was war da überhaupt ausgegraben worden?!

Dieser Schlüssel und das Zimmer hatten zwar ein wenig Wissen, aber noch viel mehr offene Fragen gebracht.
 

Herumsitzen und panisch werden würde ihn aber nicht weiter bringen.

Mit einem tiefen Seufzen sah er auf und blickte die Drachen an, die erwartungsvoll zurück starrten. „In Ordnung. Ich werde mich mal durch den Schreibtisch durcharbeiten und schauen, ob ich irgendwas Hilfreiches darin finde. Ihr… ihr könnt euch gerne setzen oder so, aber ich möchte lieber nicht dabei gestört werden.“

Molokosh nickte langsam. „Verständlich. Dann setzten wir uns halt, oder, Daniel?“ Der Halbdrache zuckte mit den Schultern. „Das hier ist deine Wohnung… Dakkas.“ Der Heiler erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Ich hoffe, du findest etwas heraus.“
 

Mit einem dankenden Blick wandte der Grünäugige sich damit dem Schreibtisch und den verschiedenen Zetteln und Briefen zu, die sich darauf und in der von Molokosh geöffneten Schublade befanden.
 

Zuerst inspizierte er den bereits geöffneten Brief an Carogan Pasea. Es war nichts weiter als eine Mitteilung von einem örtlichen Schneider, der davon sprach, dass die gewünschte Kleidung fertig wäre und jederzeit entweder von ihm abgeholt oder zu seiner Suite gebracht werden konnte. Das machte Dakkas neugierig darauf, was er in seinem Schlafzimmer und den Kleiderschränken finden würde, aber es verstärkte auch seine Vermutung, dass er vermögend war – oder zumindest nicht arm.
 

Des weiteren fanden sich noch ein paar Briefe von anscheinend begeisterten Lesern seiner Bücher. Ein Professor war dabei, der darum bat, Dakkas als Gast in seine Vorlesung aufnehmen zu dürfen; ein Gelehrter, der wohl in Hoffnung auf eine theoretische Diskussion einige Fragen in seinem Brief aufwarf und zu guter letzt einige Briefe von verschiedenen Personen, die ihre Liebe für ein Buch ausdrückten und auf einen weiteren Teil hofften. Von der Art, wie sie über das Buch redeten, war dieses kein akademischer Text sondern irgendeine Form von Roman.
 

All dies brachte Dakkas jedoch nicht wirklich weiter. Es war schön zu wissen, dass er so viel Erfolg hatte mit seiner Tätigkeit als Autor, aber mehr über sich selbst erfuhr er davon nicht. Die restlichen Manuskripte waren alle akademischer Natur und nicht von Belang.
 

Stirnrunzelnd stand er auf und öffnete die Tür, die dem Schreibtisch am nächsten war. Auf der anderen Seite der Türschwelle war ein einfacher, aber geschmackvoll eingerichteter Schlafraum mit einem großen Kleiderschrank, einer Kommode mit Spiegel darüber und einem großen, gegenüber dem Fenster hängendem Bild.

Das vom Fenster darauf fallende Sonnenlicht sorgte für eine wirklich schöne Aussicht. Dakkas hatte keine Ahnung, ob es den Ort auf dem Bild wirklich gab, aber die letzten Sonnenstrahlen gaben ihm einen sanften Schimmer.
 

Es war eine Art Burg oder Burgschloss, groß und imposant, aus Stein gehauen. Nur, dass es nicht an einem Berghang oder auf einem Berg stand, sondern inmitten einer rötlich-gelben Wüstenlandschaft. Normalerweise sollte so etwas ein karges, trostloses Bild sein, aber stattdessen wirkte das Burgschloss belebt, voller Energie. Farbige Schriftzüge waren auf den Mauern zu erkennen und bunte Fahnen wehten von den Zinnen des Gebäudekomplexes. Man bekam das Gefühl, als würde man von einem etwas erhöhtem, in der Luft liegendem Punkt auf das Schloss blicken, denn am unteren Rande des Gemäldes erkannte man weitere Häuser und Bauten vor dem Schloss.

Im Hintergrund des Bildes ging die Sonne gerade auf – oder unter – und die rötlichen Sonnenstrahlen fielen durch die im Bild gezeichneten Wolken, was den Himmel in ein erstaunliches rotes Leuchten tunkte.
 

Wer auch immer er war, Kunstgeschmack hatte er, entschied Dakkas für sich.

Voller Staunen trat er näher an das Bild heran, wofür er um das zentral gelegene Bett herum treten musste. Durch sein Staunen entging ihm auch Molokoshs Eintreten in das Zimmer und der überraschte Gesichtsausdruck auf den Zügen des Drachens.

„Nygartash Kashum!“ (1)

Erschrocken wirbelte Dakkas herum und sah den Drachen an. „Was ist?!“

Auf Molokoshs Ausruf hin war auch Daniel ins Zimmer getreten und bestaunte seinerseits das große Gemälde. Nur schien dieses auf die Drachen noch einen ganz anderen Einfluss zu haben

„Warum starrt ihr so?“
 

„Kaum zu glauben.“, murmelte der Heiler, während der Volldrache nah genug an das Bild heran trat, um mit einem Finger über die Oberfläche zu gleiten. „Ich wusste gar nicht, dass es ein Bild hiervon gibt.“, erklärte der Schwarzhaarige dann.

Auf Dakkas konfusen Blick hin erklärte Daniel: „Das ist der Kaiserhof – die Feste des Drachenkaisers. Warum hast du ein Bild davon?!“
 

Das fragte Dakkas sich allerdings auch gerade.

„Ich habe keine Ahnung. Also, ich nehme an, weil es hübsch aussieht. Nur woher ich es habe, kann ich euch nicht sagen.“ Der Grünäugige runzelte seine Stirn. „Da drin wohnt der Drachenkaiser?“ Die Worte des komischen Wichtes in der Robe, den nur er zu sehen gehaben schien, kamen ihm wieder in den Sinn. Er sollte einen Drachenprinzen finden. Damals hatte er davon kein Wort verstanden, aber wenn er schon ein Bild der kaiserlichen Feste in seinem Schlafzimmer hängen hatte, war hinter der Anweisung des Wichtes wahrscheinlich mehr, als er zuerst vermutet hatte.
 

Ein Grollen von Molokosh lies ihn erneut zu dem Drachen schauen. Der Schwarzhaarige hatte seine Arme verschränkt und machte einen verärgerten Eindruck. „Ja, da wohnt Hekatesh und nennt sich Kaiser…“ Ein tiefes, grummelndes Grollen entfuhr der Kehle des de’Sahr, fast schon einem Sturmgrollen gleich. Dakkas entschied sich, lieber keine weitere Fragen über den Kaiser und diesen Ort zu stellen.
 

Vielleicht fand sich hier ja auch ein Anhaltspunkt, was den Wicht anging. Während Molokosh und Daniel wieder ins Hauptzimmer entschwanden, ging Dakkas den Inhalt der Kommode durch.

Er fand Schreibkiele und Federn, einen wirklich lächerlich großen Vorrat an unbenutztem Papier, einige Fäden, Nadeln, etwas Garn, ein paar lose Knöpfe sowie Haarnadeln und Ohrringe. Die Ohrringe konnte er noch halbwegs verstehen, vielleicht trug er ja welche. Nach Ohrlöchern hatte er bisher nicht an sich gesucht. Doch wieso Haarnadeln? Die langen, metallenen Nadeln waren sogar angemalt und an ihren Spitzen mit einem kunstvollem Muster gearbeitet worden. Die einzige Vermutung, die er hatte, war, dass diese Haarnadeln nicht ihm gehörten.
 

Die Ohrringe holte er aus ihrer Schublade heraus und sah sie sich genauer an. Sie waren einfach, schlichtes Silber mit grünen Steinen. Ob es wirkliche Edelsteine oder nur buntes Glas war, konnte er nicht sagen, aber nach etwas Suchen fand er seine Ohrlöcher und steckte sie sich an.

Wenn es schon seine waren, dann konnte er sie auch tragen. Außerdem brachten sie seine Augenfarbe hervor.
 

Bevor er sich dem Kleiderschrank widmete, schloss Dakkas die Tür. Er war vielleicht einige Tage mit den anderen gereist, aber beim Kleiderwechseln mussten sie ihm nicht unbedingt zusehen. Und irgendetwas in ihm sagte ihm, dass er auf alle Fälle seine Kleidung wechseln sollte.

Ein Blick in den geöffneten Kleiderschrank bestätigte dies. Eine ordentliche Anzahl von Hosen, Hemden, Westen, Anzügen und Sonstigem starrte ihm entgegen. Das meiste war in einem dunklen Grün gehalten, mit einigen schwarzen oder dunkelgrauen Sachen dazwischen. Außerdem schien Seide sein Lieblingsmaterial zu sein.
 

Fünf Minuten später begutachtete er sich selbst im Spiegel über der Kommode und fühlte sich zum ersten Mal seit Tagen wieder einigermaßen gut. Gewählt hatte er eine grüne Hose mit schwarzen, aufgenähten Mustern, ein grünes Seidenhemd und darüber eine schwarze, kurze Weste ohne Ärmel. Das Rosenemblem, welches Molokosh ihm gegeben hatte, hatte er an der Innenseite der Weste angebracht.

Das einzige was ihm jetzt noch wirklich fehlte, dachte er bei sich, war ein langes Bad oder eine Dusche, zusammen mit seiner gesamten Vergangenheit. Aber die neuen Kleider waren schon mal ein guter Anfang.

Molokoshs Stimme rief ihn zurück ins Hauptzimmer, wo es gerade an der Tür geklopft hatte.
 

Seine Begleiter musterten seine neue Kleidung – mit der Ausnahme von Nostradamus, der sich den Stuhl vom Schreibtisch ans Fenster gezogen hatte und dort wieder in die Ferne starrte. Dakkas ignorierte ihre Blicke jedoch und öffnete die Tür zur Suite.

Auf der anderen Seite stand ein junger Engel mit gesenktem Kopf und einer Art kleinem Wägelchen vor ihm. Das fahrende Holzgerüst hatte mehrere Ablageflächen, eine oben und eine unten. Auf der unteren standen drei Flaschen und ein paar abgedeckte, große Platten, auf der oberen vier Teller samt besteck und Gläsern.

„Guten Abend, Herr Pasea. Hier ist Ihr übliches Abendmahl.“
 

Dakkas erkannte zwar, dass dies seine ‚Bestellung’ sein musste, die er wohl immer aufgab, wenn er hier war, doch was er ebenfalls erkannte, war die Stimme des Jungen. Und das brachte ein Lächeln auf sein Gesicht. Mit dem gesenktem Kopf erkannte er ihn zwar nicht direkt wieder, aber die Stimme gehörte dem einen streitsüchtigem Knaben von diesem Nachmittag.

„Wie nett.“ Die Art und Weise, wie der Kopf des Jungen hochschnellte und alle Farbe aus seinem Gesicht wich zeigte, dass auch er die Stimme wieder erkannte. Ein äußerst würdeloses, leises Quieken entfuhr ihm.

Dakkas grinste und trat beiseite. „Müssen meine Gäste und ich heute Abend im Flur essen?“

Der Junge schloss seinen vor Schock leicht geöffneten Mund und schluckte. „Nein, natürlich nicht. Verzeiht.“
 

Der Wagen wurde ins Zimmer geschoben unter dem sehr amüsierten Blick von Daniel und einem verwirrten von Molokosh.

Nachdem der Wagen neben dem Tisch zum Stehen gekommen war, zögerte der Engelsjunge einen Augenblick. „Verzeiht, aber gedenkt Ihr diesen Abend noch einen Brief loszuschicken?“

Dakkas blinzelte ob dieser komischen Frage, verneinte dann aber und sah zu, wie der Junge schnellstmöglichst aus der Suite verschwand.

Daniel schüttelte seinen Kopf. „Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mich vorhin nicht so sehr aufgeregt.“

Dakkas zuckte mit den Schultern. „So oder so egal… Hat jemand Hunger?“
 

Glücklicherweise lies Molokosh die Kommentare der beiden auf sich beruhen und konzentrierte sich stattdessen auf das Essen. Schnell waren die vier Teller auf dem kleinen Tisch verteilt und selbst Nostradamus schleppte seinen Stuhl herüber. Dakkas lies sich neben Daniel aufs Sofa fallen, während Molokosh im Sessel saß.

„Hoffentlich ist da kein…“ Daniels Kommentar über das Essen erstarb, als Dakkas den Deckel von der ersten Platte hob und einem interessantem Stück Braten entgegen blickte. Das Fleisch war in einer gelblichen Soße eingelegt und erschien in seinem dunkelrotem Zustand fast als nicht gekocht.
 

„Gut… was ist das? Und sollte ich das nicht eigentlich wissen, wenn ich es normalerweise esse?“ Fragend blickte Dakkas die anderen an.

Molokosh grinste wölfisch. „Rappata. Ein Reh-ähnliches Tier aus dem Heimatland der Werwölfe. Groß, schnell, schwer zu erlegen aber sehr lecker.“

Stirnrunzelnd nickte Dakkas und reichte die Platte herum. Auch unter den anderen Deckeln kamen kuriose Gerichte zutage, nicht zuletzt eine Gemüsemischung, die laut Daniel aus dem Lande der Drachen kam.
 

Gedanklich fügte Dakkas zu seiner Liste der Dinge, die er über sich selbst wusste, noch Vermögen, ausgewählte Kleidung, Autor und Geschmack für seltene Köstlichkeiten hinzu. All dies deutete langsam in eine Richtung, von der Dakkas sich nicht sicher war, ob er sie mochte.
 

Schweigend schnitt er das Fleisch an und nahm den ersten Bissen. Nach zwei, dreimal Kauen runzelte er jedoch verwirrt seine Stirn. Neben ihm hüstelte Daniel. „Was Lanar vielleicht noch hätte sagen sollen ist, dass das hier traditionelles Rappata ist.“ Dakkas kaute das komisch, aber nicht schlecht schmeckende Fleisch weiter und schluckte runter. „Das heißt? Eine seltene Soße oder so?“ Irgendetwas war anders an dem Fleisch. Es war etwas gewöhnungsbedürftig, aber Dakkas sah ein, warum er es wohl eigentlich mochte.

„Nicht ganz.“, erklärte Daniel. „Es ist gemacht, wie Werwölfe es machen würden. Roh.“
 

~*~
 

Nach dem ersten Schock über seine Mahlzeit und einigen weiteren Erklärungen seitens Daniels stand für Dakkas fest, dass er alles andere als normal war.
 

Er war kein Werwolf, aß aber das Selbe wie sie. Er war kein Drache, hatte aber ein Gemälde des Drachenhofes in seinem Schlafzimmer hängen. Er war kein Engel, wurde aber von anderen Engeln wie einer behandelt.

Was, im Namen aller Götter, Lebewesen, Geschöpfe und Mächte Kvi’stas, war er?!
 

Eben diese Frage geisterte ihm – mal wieder – im Kopf umher, als er in seinem Badezimmer stand und in seinen Spiegel starrte. Die Drachen waren gegangen, um die Nacht in der Heerberge nebenan zu verbringen und er hatte sich in sein Badezimmer zurück gezogen, wo es natürlich einen mit Magie betriebenen Badezuber gab.
 

Jetzt war er endlich wieder vollkommen sauber, in frische Kleidung gehüllt, satt und einfach nur müde. Wichtige, existenzielle Fragen würde er auf morgen verschieben müssen.
 

Seufzend wischte er einige Haarsträhnen aus seinem Gesicht und wandte sich zum Gehen. Das Bett in seinem Schlafzimmer war groß, weich und einladend. Vielleicht würde die Eingebung ja im Schlaf kommen.
 

Schon nach nur zwei Schritten wurde sein Vorheben jedoch jäh unterbrochen. Er achtete nicht darauf, wo er hin trat, rammte sein Knie in die kleine Kommode, die ihm Bad stand, rutschte aus und fiel auf den Boden, wo er sich das schmerzende Bein hielt.
 

„Na wunderbar. Bringt einen erwachsenen Engel mit zwei Bewegungen zu Fall, aber ist nicht in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen.“, fluchte er über sich selbst. Vorsichtig bewegte er sein Bein, aber der Schmerz war schon fast wieder weg. Warum auch nicht, schließlich hatte er es sich nur gestoßen.
 

Als er sich aufhieven wollte, blieb sein Blick an einem kleinen Schlüsselloch hängen. Ein Schlüsselloch, dass nur wenige Fingerbreiten vom Boden entfernt angebracht war und anscheinend ohne Grund dort hing. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wieso er ein Schlüsselloch, nur knapp über dem Boden gelegen, in seinem Badezimmer anbringen sollte.

Es sei denn, dass man damit etwas Geheimes aufschließen konnte.
 

Geschockt blieb Dakkas auf dem Boden sitzen, bis er plötzlich aufsprang und in Aktion trat.

Er hatte ein verstecktes Schlüsselloch, wo keins sein sollte. Was er jetzt brauchte, war ein Schlüssel. Ein passender Schlüssel.
 

Er durchsuchte alles. Schreibtisch, Kommoden, er guckte unter die Teppiche, unter den Tisch, er suchte jeden Platz, jede noch so kleine Fläche in seiner Suite ab. Wenn er ein Mauseloch gehabt hätte, hätte er hinein gegriffen.

Die Suche brachte jedoch keinen Erfolg mit sich. Einen Schlüssel konnte er nicht finden.
 

Irgendwann später – er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – ließ er sich auf einen der Stühle fallen. Dieses verdammte Schlüsselloch nützte ihm gar nichts, wenn er den passenden Schlüssel dazu nicht hatte.
 

Und wieder kam er auf die Frage zurück, was für eine komische Person er war, wenn er schon ein verstecktes Schlüsselloch in seinem Badezimmer einbaute. Da würde man doch nie nach so einem Ding suchen!

Noch in dem selben Augenblick, als er diesen Satz dachte, stöhnte er innerlich auf. Das war ja schließlich der Sinn und Zweck der Sache; dass niemand danach Suchen oder es Finden würde.
 

Vielleicht sollte er doch schlafen gehen. Molokosh oder Daniel würden morgen vielleicht eine Idee haben, wie er das Geheimfach würde öffnen können. Mit etwas Glück würde vielleicht sogar Nostradamus seinen Seher-Mund auf machen und ihm einfach verraten, wo er den Schlüssel für sein Versteck hingelegt hatte.
 

Noch müder als zuvor stand er auf und schlurfte in sein Schlafzimmer. Er zog die Bettdecke zurück und wollte sich bereits in die himmlische Schlafstätte legen, als sein Blick auf die Kommode in seinem Schlafzimmer fiel. Vorhin, beim Suchen, hatte er die Haarnadeln aus ihrer Schublade genommen und oben auf die Anrichte gelegt.

Ihre Enden zeigten zum Bett hin und sahen bei dem sanften Licht seiner Nachtkerze richtig künstlerisch aus. Ihre Form war etwas eigenartig, aber da er ja exotische Dinge zu mögen schien…
 

Stirnrunzelnd hielt er inne. Die Haarnadeln…

Nachdenklich nahm er eine von ihnen in seine Hand. Sie waren leicht, hübsch, interessant geformt… und passten nicht wirklich zu dem, was er sonst bei sich gefunden hatte. Trotzdem besaß er sie. Er besaß auch ein Schlüsselloch, wo keins sein sollte…
 

Da kam plötzlich die Erkenntnis über ihn. Mit den Haarnadeln in der einen und der Kerze in der anderen Hand raste er zurück ins Badezimmer und kniete sich vor die Wand mit dem Schlüsselloch. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die richtige Haarnadel erwischt hatte, aber dann rutschte sie ins Loch hinein und ließ sich mit einem leisen Klicken drehen.
 

Leise und für sich kicherte er. Ein Schlüsselloch, wo keins sein sollte und ein Schlüssel, der keiner war. Wenn er etwas tat, dann tat er es anscheinend gründlich.
 

Nach dem Klacken konnte er dank der Haarnadel ein kleines Türchen aufziehen, das vorher nicht sichtbar gewesen war. Die Fugen an den Rändern das Türchens waren praktisch nicht zu sehen, wenn das Geheimfach geschlossen war.
 

Das Fach war nicht sonderlich groß. Es war gerade genug Platz für eine kleine Schachtel, einen Beutel und einige dünne Blätter Papier darin. Erwartungsvoll zog Dakkas die Dinge heraus und trug sie mit sich, den Haarnadeln und der Kerze wieder ins Schlafzimmer, nachdem das Fach wieder geschlossen war. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass er für die Untersuchung dieser Gegenstände lieber in seinem Bett sein sollte – oder auf einer anderen komfortablen Oberfläche.
 

Nachdem er es sich einmal gemütlich gemacht hatte, widmete er sich zunächst dem Beutel. Dieser war aus einfachem, braunem Leder und wirkte harmlos. Als er ihn jedoch öffnete und den Inhalt herausschüttete, verschlug es ihm den Atem.
 

Edelsteine. Ein kleiner Haufen von glitzernden, schimmernden Edelsteinen. Selbst im Halbdunkel des Kerzenlichts war das Farbenspiel berauschend. Gelbe, orangefarbene, grüne, violette, rote, blaue… Sie waren zwar alle nicht größer als ein Fingernagel, dafür aber so dick wie Murmeln und roh angeschliffen.
 

Er ließ die kostbaren Kleinode durch seine Fingern gleiten und fragte sich innerlich, wie viel sie wohl wert wären. Mindestens einige hundert Goldstücke, alle zusammen. Vielleicht würde ein richtiger Juwelier auch mehr dafür zahlen. Auf alle Fälle beseitigten diese Schmuckstücke jedwede Geldsorgen, die er gehabt haben könnte. Jetzt hatte er den Beweis dafür, dass er reich war.
 

Behutsam verfrachtete er die Edelsteine zurück in ihren Beutel und zog diesen kräftig zu. Danach widmete er sich den Papieren.
 

Es waren ein gefalteter Zettel und ein Brief, auf dessen Umschlag ein seltsames Symbol prangte: Ein Kreis, umgeben von drei kleinen Dreiecken, deren Spitzen vom Kreis weg zeigten.
 

Dakkas nahm zuerst den gefalteten Zettel in die Hand und faltete ihn langsam auseinander. Was er sah, ließ ihn stocken.
 

Es war der Wicht. Die kleine Figur in der schwarzen Robe war unverkennbar, auch wenn sie diesmal keine Sense bei sich trug. Aus den tiefen der Kapuze starrten zwei gräulich leuchtende Augen hervor und um den Wicht herum war ein scheinbar absterbender Wald abgebildet.
 

Es war eine Buchseite. Auf der linken Seite konnte Dakkas noch die Ränder erkennen, an denen sie früher im Buch gehangen haben musste. Es war keine saubere Abtrennung gewesen.

Stirnrunzelnd las er den Text unterhalb des Bildes.
 

„Beauron, Gott des Todes und Verfalls. Jüngster Gott der bekannten Geschichte. Erlangte seine göttliche Macht durch tragische Umstände, die ihn geistig instabil und im Körper eines Vierzehnjährigen gefangen zurückließen. Im 13. Jahr der Herrschaft des Sonnenkönigs Johann zu einem der ‚Erzbösen’ erklärt worden. Jegliche Verehrung, Huldigung oder Glaubensbekenntnis zu ihm wird mit dem Tode bestraft.“
 

Das Papier glitt ihm aus den Fingern und ein eisiger Hauch legte sich auf seinen Körper. Der ‚Wicht’ war nicht nur ein Gott, sondern der Gott des Todes. Er hatte den Tod gesehen. Und das nicht nur im metaphorischen Sinne. Der tatsächliche, leibhaftige Tod war zu ihm gekommen.
 

Plötzlich hatte seine ganze Situation viel mehr Bedeutung. Seine Amnesie war nicht nur lästig, nervig und schlimm für ihn, sie hatte Ausmaße angenommen.

Er war augenscheinlich eine Person von einer bestimmten Wichtigkeit, die sehr wahrscheinlich in einige wichtige Dinge verwickelt war.

Er war reich und besaß ein gewisses Maß an Einfluss.

Er war einem Gott persönlich bekannt und wichtig genug, dass dieser vor ihm erschien und ihm persönlich Anweisungen gab.

Die ersten Personen, die er nach dem Eintreten seiner Amnesie traf, waren zwei adlige Drachen und ihr Gefolge – und inzwischen glaubte Dakkas nicht mehr, dass das ein Zufall war. Wenn der Wicht – der Tod, wenn der Tod ihm persönlich erschien, dann manipulierte er die Drachen vielleicht auch so, dass sie ihn finden mussten.
 

Dieser Gedankengang war erschreckend.
 

Dakkas rieb sich die Stirn und faltete das Bild wieder zusammen. Vom Untertitel her sollte er möglichst dafür sorgen, dass niemand dieses Bild zu Gesicht bekam.
 

Nach dieser neuen Erkenntnis fragte er sich, ob er den Brief überhaupt öffnen wollte, aber die Neugierde war zu stark.
 

Der Brief war auf einem etwas vergilbtem, eigentümlich aussehendem Papier geschrieben. Die tiefschwarze Tinte war an einigen Stellen in das Material eingelaufen und hatte den Buchstaben ein gequollenes Aussehen verliehen. Es gab keine Begrüßung, Datum oder irgendwelche Hinweise auf den möglichen Verfasser.

Das einzige merkwürdige waren einige seltsame Symbole am oberen Rand des Papiers.
 

Man hätte sie für simple Kritzeleien halten können, aber sie wiederholten sich teilweise, hatten klare Abstände zwischen ihnen und waren zu sauber, als dass sie nur Geschmiere waren. Das waren Buchstaben, auch wenn Dakkas das Alphabet und die Sprache nicht erkannte. Die Möglichkeit, dass er diese Schrift einmal hatte lesen können und nur durch seinen Gedächtnisverlust dies nicht mehr konnte, war jedoch beängstigend.
 

Der Kontext der lesbaren Nachricht ließ jedoch darauf schließen, dass er diesen Brief kurz vor seiner Reise zur Ausgrabungsstätte erhalten hatte.
 

Treffen, sobald du wieder von Ausgrabung zurück bist. Zwei Monate? Zweieinhalbe höchstens. Habe Wort gegeben: Tirin, Mitte der Woche, abends um acht am Garten vor dem alten Friedhof, jede Woche beginnend in zwei Monaten, für einen Monat.
 

Es waren offensichtlich die wichtigen Informationen für ein Geheimtreffen – mit wem oder warum, konnte er anhand der bloßen Nachricht nicht erkennen.
 

Seufzend packte er den Brief wieder in seinen Umschlag. Zumindest hatte er jetzt einen Anhaltspunkt, er musste nur noch nach Tirin gelangen. Molokosh würde ihm dabei sicherlich helfen können und falls nicht, hatte er immer noch die Edelsteine.

Und die kleine Schachtel. Nachdem, was er bis jetzt gefunden hatte, war er fast zu nervös, um sie noch zu öffnen.
 

Aber die Neugierde gewann. Vorsichtig öffnete er das einfache Scharnier und klappte den Deckel der Schachtel zurück.

Verwirrt starrte er den sich darin befindenden, roten Puder an. Roter Puder?

Vorsichtig steckte er einen seiner Finger in die rote Masse und holte ihn wieder heraus. Ja, es war ein feiner roter Puder oder Staub, der lose in der Schachtel lag und diese gut bis zur Hälfte noch ausfüllte.

Stirnrunzelnd roch er an seinem bestäubten Finger und leckte das rote Zeug nach einer kurzen Bedenkzeit dann ab. Es war würzig und ein wenig süß, schmeckte aber im Großen und Ganzen nicht schlecht. Ein wenig stark vielleicht, so im puren Zustand. Ein Gewürz? Er versteckte ein Gewürz in seinem Badezimmer, zusammen mit Edelsteinen und Geheimnachrichten.
 

Er war nicht nur reich und mysteriös, allem Anschein nach war er auch exzentrisch. Es gab schließlich keinen Grund, warum jemand ihm ein Gewürz stehlen sollte, selbst wenn es ein sehr seltenes war. Und außer dem interessanten Geschmack konnte er nichts an dem roten Puder feststellen. Es war einfach ein rotes, feingemahlenes Gewürz.
 

Achselzuckend dippte er seinen Finger noch einmal darin ein und leckte ihn ab, bevor er die Schachtel wieder sorgfältig verschloss und zusammen mit dem restlichen Zeug zur Seite legte. Gut schmecken tat es auf jeden Fall.
 


 


 

(1)

Nygartash Kashum! – Bei der (Familien)Ehre des Kashum! (Drakonischer Ausruf, so wie... im Namen Gottes oder so)
 

NOTIZ:

Eine Version dieses Kapitels mit den Schriftzeichen am Anfang des mysteriösen Briefes befindet sich auf meiner Homepage. Hier ist ein Direktlink (einfach kopieren):

http://www.puh-schell.de/Kvista/Jadejunge/kap7.htm

Verschleppt

NOTIZ: Nebengeschichte

Zu diesem Kapitel gibt es eine Nebengeschichte, die den Hintergrund von zwei Charakteren erklärt. Am Ende ist ein Link zu dieser Nebengeschichte aufgeführt.
 

Verschleppt
 

Ausnahmsweise mal in einem Bett aufzuwachen war ein Luxus, den Dakkas so schnell nicht mehr aufgeben wollte. Verglichen mit dem federweichen Bett erschien das Schlafen auf der Erde, in einem kleinen Zelt, geradezu barbarisch.
 

Ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass die Sonne vor noch nicht allzu langer Zeit aufgegangen war. Das geschäftige Treiben der Stadt hatte bereits wieder begonnen und die Geräusche drangen etwas gedämpft durch die Glassscheibe ins Zimmer.
 

Gemächlich schlurfte Dakkas ins Badezimmer um sich für den Tag bereit zu machen. Auch der Komfort von fließendem Wasser und vor allem einem Badezuber war nicht zu unterschätzen. So wie es aussah, war er halt doch ein etwas verwöhnter Adliger und kein Abenteurer, der sein ganzes Leben lang unterwegs war.
 

Bei der Idee des Adligen runzelte Dakkas seine Stirn, während er sich wusch. Dieser Gedanke war ihm schon gestern gekommen, obwohl er ihn verdrängt hatte. Alles sah danach aus, dass er adlig war, doch konnte er beim besten Willen nicht sagen, welchem Volk er zugehörte. Außerdem hinterließ das Wort einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund.

Vielleicht war er einfach nur ein Adliger, der sein Leben langweilig und einzwängend fand und Zerstreuung als anonymer Schreiber suchte. Was jedoch immer noch nicht seine Anwesenheit in diesem Ausgrabungslager erklären würde, abgesehen von akademischer Recherche vielleicht.
 

Das wäre alles viel einfacher, wenn er herausbekommen könnte, was da eigentlich ausgegraben wurde. In dem ganzen Chaos durch seinen Gedächtnisverlust hatte er vollkommen vergessen, danach zu fragen. Dabei war das doch ein wichtiger Punkt.
 

Und die geheime Nachricht musste auch noch bedacht werden. Was hatte die mit der ganzen Angelegenheit zu tun? Adliger und anonymer Autor war eine Sache, aber Beteiligter an irgendeinem Geheim…dingen war etwas ganz anderes. Nicht zu vergessen der Wicht – sollte heißen, Gott.

Plötzlich fiel ihm das Wortspiel eines ‚wichtigen Gottes’ ein und er musste laut lachen, was das Wasser im Badezuber überschwappen ließ. Kopfschüttelnd erstarb das Lachen zu einem stummen Lächeln. Es war schön zu wissen, dass sein Humor anscheinend nicht durch die Amnesie verschwunden war.
 

Dakkas stoppte sich beim Waschen. ‚Dass sein Humor nicht verschwunden war’ deutete irgendwie an, dass er vorher welchen gehabt hatte. Er hatte diesen hoffnungsvollen Gedankengang noch gar nicht zu Ende geführt, als ein Lied in seinem Kopf auftauchte. Bevor er es sich versah, begann er leise zu singen.

„Schockschwere Not, mein Eheweib ist tot!

Wer flickt mir jetzt die Socken und wer kocht mein Abendbrot?

Schockschwere Not, mein Eheweib ist tot!

Wer flickt mir jetzt die Socken und wer kocht mein Abendbrot?“
 

Verdutzt über das, was er da von sich gab, schloss er seinen Mund wieder und verharrte einige Augenblicke vollkommen regungslos im Badezuber, bis er seinen Kopf nach hinten schmiss und wieder lachte.

Das Lachen kam nicht nur wegen dem Lied, an das er sich jetzt wieder erinnerte, sondern auch, weil er sich an etwas erinnerte. Eine Erinnerung. Er hatte diese Dinger noch. Wo auch immer seine Vergangenheit begraben war, sie war nicht auf ewig für ihn verloren.
 

Die gute Laune hielt auch noch an, als er kurze Zeit später in frischer Kleidung die Herberge betrat und Daniel bereits an einem Tisch erspähte. Immer noch summend ließ er sich gegenüber des Halbdrachen auf einen Tisch sinken.

„Als ich des Nachts nach Hause kam

Und nicht wie sonst mein Weib vernahm.

Kein Zetern drang mir an das Ohr,

Kein Nudelholz schlug mir davor

Nur aus der Grube hinterm Haus,

Da lugten ein paar Füße raus.“
 

Der Heiler ihm gegenüber stoppte seine Hand auf halbem Wege zu seinem Mund und wandte seinen Blick ab von dem Stück Brot, das er gerade hatte essen wollen. Mit offenem Mund und einem schon preislosen Blick in den Augen starrte er den Grünäugigen an. Dieser unterbrach seinen Gesang und kicherte, bevor er grinste.
 

„Ich habe mich gerade an das Lied erinnert. Erinnert, Daniel!“

Der Heiler nickte, mehr oder minder verständnisvoll, und schloss seinen Mund, bevor er ihn wieder öffnete um zu sagen: „Das ist nett. Sehr gut sogar. Toll! Deine Amnesie geht zurück. Ein gutes Anzeichen.“ Der Mund des Halbdrachen verzog sich zu einer Grimasse. „Aber könntest du die schmutzigen Lieder vielleicht auf später verlegen?“
 

Augenrollend seufzte Dakkas. „Das sensible Moralgefühl eines Heilers, hm?“, stichelte er etwas. Daniel hatte das Stück Brot endlich bis zu seinem Mund geführt, stoppte aber wieder und sah Dakkas mit ernsten Augen an. „Nein. Der dringende Überlebenswille von jemanden, der Molokosh seit vielen Jahren kennt.“

Dakkas runzelte seine Stirn und sah sich um. Die Brüder waren noch nirgends zu sehen, also nutzte er die Gunst der Stunde, um Daniel ein paar Fragen zu stellen. „Also darf ich nicht fragen, was dieses ‚Dakosh’ ist und ich darf nicht singen in Molokoshs Nähe? Irgendetwas anderes?“ Er konnte sich nicht helfen – in seiner Stimme schwang Verletzung und Unverständnis mit.
 

Der Heiler legte das Brotstück zurück auf seinen Frühstücksteller und seufzte. „Der Lanar ist eine… komplizierte Persönlichkeit. Seine Familie… ist eine der ältesten. Und sehr… traditionsbewusst. Äußerst traditionsbewusst.“

Dakkas zog nur eine Augenbraue hoch. Sein Gedächtnis mochte er verloren haben, aber er wusste, dass Drachen keine Traditionen oder Gesetze bezüglich Liedern hatten. Abgesehen davon, dass es nur wenige drakonische Künstler gab. Verboten war es ihnen jedoch sicherlich nicht.
 

Daniel schien ihm die Zweifel anzusehen und stöhnte leise. „Lanar Molokosh hat ein kleines… Problem. Was seine… Wutbewältigung angeht.“

Dakkas grinste. „Was du sagen willst, ist, er ist tatsächlich jähzornig.“ Daniel schnitt eine Grimasse. „Nein, eher… dazu geneigt, wütend zu werden, wenn man bestimmte Themen anspricht.“

„Und diese Themen sind anzügliche Lieder, ‚Dakosh’ und…?“

„Alles, was irgendwie Spaß machen könnte.“
 

Diese Antwort kam nicht von Daniel, der vor Schreck vom Stuhl fiel, als plötzlich hinter ihm eine Stimme ertönte. Der Herbergswirt schaute missmutig zu den jetzt vier Gestalten herüber, beließ den Tumult jedoch auf sich beruhen, als einer der beiden Neuankömmlinge fiese zu ihm herüber grinste.
 

Derjenige, der gesprochen hatte, war der Halbwerwolf von neulich – war das erst gestern?, dachte Dakkas bei sich. Im Gegensatz zu gestern hatte er diesmal eine lange Wanderjacke aus Leder an und einen Rucksack auf seiner Schulter.

Außerdem waren die braunen Augen jetzt blau und seine Statur weniger muskulös, wenn auch immer noch athletisch. Jetzt verstand Dakkas auch, warum er etwas an dem Mann als falsch empfunden hatte. Er musste eine leichte Illusion auf sich gehabt haben.

Aber trotzdem erkannte Dakkas den Halbwerwolf wieder. Es war das Grinsen, die Stimme – und die Art, wie er sich als Begrüßung an einen imaginären Hut tippte, bevor er neben Dakkas Platz nahm.
 

Sein Begleiter war jedoch ein Unbekannter für Dakkas. Außerdem war er gut zwei Meter groß, grauhaarig, grauäugig, schwer bewaffnet und unverkennbar ein Drache. Seine Kleidung glich der des Halbwolfes, ein langer, brauner Ledermantel und Rucksack, darunter bequeme, aber abgetragene Klamotten. Seine zwei Schwerter klirrten, als er sich neben den Halbwolf setzte.
 

Daniel hatte sich inzwischen gefangen und wieder auf seinen Stuhl gerettet, auch wenn er nicht gerade froh aussah. „Was im Namen der drei Teufel tut ihr hier?“, zischte der aufgebrachte Heiler.

Der Halbwolf grinste frech. „Also wirklich. Wir sollten uns doch erst mal deinem Begleiter vorstellen, oder?“ Blaue Augen fokussierten sich grinsend auf den Schwarzhaarigen. „Jared mein Name, Zauberer mein Beruf. Der große schweigsame hier neben mir ist Sar’Shan, einer der besten Schwertkämpfer diesseits der Grauen Zone.“

Jared lehnte sich zu Dakkas herüber. „Und wir beiden sind diejenigen, die dafür sorgen werden, dass du und die drei reisenden Gaukler hier heil aus Halmsdorf rauskommen werden.“
 

Sowohl Daniel als auch Dakkas waren verdutzt. „Was soll das heißen?“, wollte der Heiler wissen und wurde unterstützt durch ein tiefes Grollen des gerade angekommenen Molokosh. Der adlige Drache hatte Nostradamus an der Hand. Der Seher wirkte noch geistesabwesender als sonst und ließ sich von seinem Bruder anstandslos auf einen Stuhl setzen, von wo aus er weiter in die Ferne starrte.
 

Der Halbwolf war sichtlich unbeeindruckt von Molokoshs Grollen und grinste nur noch breiter. „Hallöchen Koshi.“ Das Grollen des Drachen wurde eine Oktave tiefer. „Geht man so mit seinem Retter um? Wirklich.“ Eine Hand auf seiner Schulter stoppte Jared davor, noch etwas zu sagen und sich wahrscheinlich in ein frühes Grab zu reden. Die Hand war von seinem Drachenbegleiter.
 

„Was Jared meint, ist die vor einer Stunde in der Stadt eingetroffene Agentin des weißen Königs.“ Seine Stimme war ruhig, leise und eben, aber der Blick in seinen Augen äußerst ernst. Molokoshs Grollen erstarb. „Agentin?“, hakte er nach.

Sar’Shan lächelte grimmig. „Selena Windflügel. Hochelfe. Gefährlich. Und hinter euch her, seit ihr Stitch verlassen habt. Obwohl euer kleiner Umweg über Halmsdorf sie etwas verwirrt hat.“

Molokoshs schwarze Augen fielen auf seinen Bruder, der jedoch anscheinend nichts von der Diskussion mitbekam. Der Adlige fuhr mit einer Hand durch das Haar seines Bruders und seufzte. „Lass mich raten. Du hast mich nicht vorgewarnt, weil ich dich gestern angeschrieen hab, was?“ Die Frage war an Nostradamus und ihn selbst gerichtet. Keiner der anderen antwortete.
 

„Also gut. Woher wollt ihr das wissen und was genau habt ihr vor?“ Molokosh sagte dies, als wenn er zwei jugendliche Kriminelle ansprechen würde. „Nostradamus ist nicht der einzige Seher auf Kvi’sta.“, gab Sar’Shan als Antwort und Jared fügte hinzu: „Und da unser Herr und Meister euch nicht gerne tot sehen würde – auch wenn du das denkst, Koshi – sind wir hier, um euren Arsch zu retten.“
 

Für einen kurzen Augenblick schien alles still zu stehen – Molokoshs mörderischer Blick, Jareds selbstsicheres Grinsen, Sar’Shans ruhiger Blick, Nostradamus Abwesenheit, Daniels eiserne, angespannte Haltung, als wenn er eine straff gespannte Bogensehne war. Dann entfuhr Molokosh ein langer Atemzug und er nickte in Daniels Richtung. „Hol unser Zeug von oben, Daniel.“ Der Heiler schien die Gelegenheit zur Flucht gutzuheißen und verschwand hastig und ohne ein Wort. Molokosh belegte seinen nun leeren Platz.
 

„Ich will für euch beide und die Witzfigur, die ihr einen Anführer nennt, hoffen, dass wir nicht umsonst hier verschwinden.“, brummte der schwarzhaarige Drache. Jared grinste nur und öffnete seinen Mund, doch Molokosh schnitt ihm das Wort ab. „Und wenn du mich noch einmal Koshi nennst, werfe ich dich durch die Herberge.“ Das schien Jared nicht sonderlich zu beeindrucken, was auch daran liegen konnte, dass Sar’Shan warnend grollte, als Molokosh das sagte.
 

Dakkas wurde das ganze zu viel. „Halt, Stopp, Pause!“ Er fuchtelte mit seinen Händen zwischen den sich gegenseitig anstarrenden Drachen umher. „Bevor wir gleich wie ein Haufen Flüchtlinge aus der Stadt rennen – wohin soll die Reise gehen und wann habe ich dazu ja gesagt?“

Drei Gesichter sahen ihn erstaunt an. Dakkas dachte schon, er hätte sich irgendwie unklar ausgedrückt, als Jared plötzlich ein schelmisches Grinsen in Molokoshs Richtung sandte.
 

„Ko-…sh. Du erstaunst mich. Der Kleine darf auch entscheiden? Tsk, tsk. Du wirst doch wohl nicht sanft auf deine alten Tage?“

Molokosh grollte und trat Jared unterm Tisch gegen das Schienbein, Sar’Shan senkte seufzend seinen Kopf und Dakkas sah nur perplex in die Gegend, während Jared grinsend sein Bein rieb.
 

„Soll ich jetzt überhaupt fragen, worauf hier angespielt wurde oder sollte ich gleich lieber zurück in die Gesellschaft und meine Sachen packen?“, fragte Dakkas zögerlich. Er hatte die Frage noch gar nicht vollendet, als Molokoshs Kopf auch schon zu ihm herum schnellte. „Nein! Nein.“ Der Drache schüttelte seinen Kopf. „Entschuldige. Natürlich kannst du auch etwas dazu sagen. Und die beiden werden gleich damit herausrücken, wohin sie uns zu führen gedenken.“ Ein finsterer Blick des Schwarzhaarigen unterstützte diesen Satz und ein zweiter wohl gezielter Tritt brachte Jared zum Schweigen und ließ ihn sein Gesicht schmerzlich verziehen.
 

„Würde man mir erst mal erklären, warum wir fliehen müssen?“, fing Dakkas an.

Jared grinste, trotz der Schmerzen, die sein Bein ihm bereiten musste. „Weil dein großer Freund hier jemanden verärgert hat, der ihn jetzt verfolgen lässt.“

Molokosh schnaubte. „Das war lediglich ein kleiner… geschäftlicher Disput.“

„Wegen dem du jetzt verfolgt wirst. Von einer Agentin. Des Königs der Engel.“ Der monotone Ton von Dakkas Stimme sagte schon alles. Molokosh saß nur stumm da und blinzelte, sichtlich verunsichert darüber, was er sagen konnte, um diesen Vorfall zu erklären. Jared schien sichtlich amüsiert und selbst Sar’Shan erlaubte sich ein Lächeln.
 

Als Daniel schließlich mit dem Gepäck zurück kam und sich vorsichtig an den Tisch heran wagte – er sah eher aus, als wenn er langsam an ein wildes Tier heran treten würde – musste Dakkas plötzlich schmunzeln. „Also gut… wenn wir hier möglichst schnell weg sollen, sollten wir uns beeilen. Ihr wollt diese Agentin abschütteln, richtig?“, fragte der Grünäugige Jared. Der Halbwolf nickte. „Gut. Legt eure Fluchtroute über Tirin.“ Als der Blonde seinen Mund aufmachen wollte, schnitt Dakkas ihm das Wort ab. „Mich interessiert nicht, wie ihr es macht, macht es einfach. Ich will nach Tirin.“
 

Jared und Molokosh waren über seinen plötzlichen Befehlston merklich erstaunt und hätten wohl beide kommentiert, wenn Nostradamus nicht dazwischen gekommen wäre.

„Gut. Hol deine Sachen, Dakkas. Wir warten vor der Herberge auf dich.“
 

„Gut?!“, tönte es aus zwei Hälsen, einer drakonisch, der andere halb Werwolf. Daniel sah dem ganzen Prozedere nur halb verzweifelt, halb hoffnungsvoll zu. Sar’Shan seufzte und stand auf. „Der Herr hat gesprochen. Gib mir das Gepäck, Daniel.“ Wortlos überreichte der Heiler den größten Teil ihrer Habe, die der stämmige grauhaarige Drache problemlos auch noch schulterte. „Draußen vor der Herberge. Bis gleich.“, brummte der Schwertkämpfer und zerrte Jared mit vor die Tür. Molokosh und Daniel folgten Nostradamus, der ebenfalls aufstand und wieder ins Nichts zu sehen schien.
 

Dakkas stapfte zurück zur Gesellschaft Wellert und packte seine Sachen zusammen. Diesen plötzlichen Ausbruch von… irgendetwas konnte er sich auch nicht erklären, aber er musste nach Tirin. Schnell. Und diese Agentin war Molokoshs Schuld. Der Drache hatte irgendetwas getan, bevor er über Dakkas gestolpert war und das bereitete ihnen beiden jetzt Probleme.
 

Und hatte Jared nicht erst gestern vor so etwas gewarnt? Er solle sich mehr für seine Begleiter interessieren und diese hinterfragen, hatte der Halbwolf gesagt. Oder zumindest impliziert. Das erschien plötzlich wie eine verdammt gute Frage. Mit wem war er unterwegs?
 

Einem adligen Drachen. Aus einer alten adligen Familie. Der sehr wahrscheinlich nicht damit einverstanden war, dass sein Land von Engeln besiegt und im Prinzip besetzt war – auch wenn kaum welche dort lebten. Scheiße. Bei Dakkas Glück war sein Retter ein Aufständischer und auf der Abschussliste des Engelskönigs.
 

Aber die Geheimnachricht und die Buchseite aus seinem Geheimversteck deuteten ja auf etwas ähnliches in seinem Falle hin, nicht wahr? Vielleicht gab es wirklich einen höheren Grund für das Treffen mit Molokosh. Vielleicht hatte der Wicht- Gott… wirklich seine Hand im Spiel.
 

Und wo er gerade daran dachte… die Schachtel, die Edelsteine, die Buchseite und die komischen Haarnadeln wanderten mit in Dakkas Gepäck. Schließlich hatte er in dieser Suite nur ein Geheimversteck gefunden und da waren mehr Haarnadeln… Irgendwo gab es also wahrscheinlich noch weitere Geheimfächer, Schlösser oder etwas ähnliches. Und für die würde er die Schlüssel brauchen.
 

Den Schlüssel für die Suite packte er auch ein. Diesmal würde er ihn bei niemandem hinterlegen – warum hatte er das beim letzten Mal überhaupt gemacht? Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Jemand, der paranoid genug war, um ein Geheimfach in sein Badezimmer einzubauen, übergab seinen Wohnungsschlüssel nicht einfach irgendwem. Zumindest sollte er es nicht.
 

Draußen, neben dem Baum, stand der Rest seiner kleinen Reisegruppe, wie versprochen. Jared lehnte an Sar’Shan, der seinerseits an den Baum gelehnt war. Molokosh sah immer noch aus, als wenn man sein Todesurteil beschlossen hätte und Daniel drohte immer noch vor Nervosität einzugehen.

„Gut. Wohin zuerst?“, war das erste, was Dakkas sagte, als er bei ihnen angekommen war.
 

Jared löste sich von Sar’Shan und rückte seinen Rucksack zurecht. „Wir haben gerade schon drüber geredet. Tirin liegt ziemlich weit rein ins Herzland… viele Engel und Elfen, kaum bis gar keine Wildblüter.“

„Ich weiß. Gerade deswegen würden eure Verfolger uns dort nicht vermuten.“ Hoffte Dakkas zumindest.

Der Halbwolf runzelte seine Stirn. „Na ja, vielleicht… Nach eigentlichem Plan müsste Kosh ja schon längst wieder in Richtung Heimat unterwegs sein…“

Der schwarzhaarige Drache seufzte. „Dieser Umweg wird uns jetzt auch nicht umbringen. Wichtig ist nur, dass wir hier weg sind, bevor die Agentin uns erreicht.“
 

Jared nickte und schnippte mit den Fingern, woraufhin Sar’Shan eine alte, gelbliche Karte heraus holte. „In Ordnung… Tirin liegt hier, nahe der elfischen Grenze… wir sind hier unten… die direkteste Route würde uns direkt durch Großgaren führen und durch Singen. Wenn wir ein wenig außen herum gehen, könnten wir über Sellentin, Hutch und Kleingaren reisen… An einem der beiden Garen werden wir nicht vorbei kommen, wir müssen so oder so die Dern Berge überqueren. Außenrum ist zu riskant. Westlich würde es zwei Wochen extra dauern und östlich kämen wir zu Nahe am Aschenland vorbei.“
 

Der Halbwolf runzelte seine Stirn. „Ich schlage vor: Erst die west-nördliche Hauptstraße bis Sellentin, von da aus über ein paar kleine Umwege in Richtung Kleingaren, dann über die Schwarzwald-Gasse nach Hutch. Von da aus können wir durch den Stachelwald nach Tirin.“
 

Dakkas runzelte seine Stirn. Er hatte grob geschätzt drei Monate Zeit, um nach Tirin zu kommen, wenn er erst kurz im Ausgrabungslager gewesen war, bevor er sein Gedächtnis verlor. Die Reise würde auch gut zwei Monate dauern, eher noch länger.

Sie waren zu Fuß und wurden verfolgt. Die Drachen und der Werwolf mochten ihre naturgegebene Ausdauer haben, aber Dakkas würde irgendwann müde werden. Sie würden sich verdammt beeilen müssen, um die drei Monate zu schaffen.
 

So im Nachhinein war das ein massiger Umweg dafür, dass seine Begleiter ihn kaum kannten und verfolgt wurden. Und überhaupt, warum sollte man so lange weglaufen?

„Die Route finde ich gut, aber… warum überhaupt laufen? Könnte man nicht die Stadt verlassen, diese Agentin in einen Hinterhalt locken und sich ihrer entledigen?“
 

Seine Begleiter glotzten ihn – dafür gab es keine andere Umschreibung – verständnislos an.

„Du willst eine Agentin des Königs angreifen? Ganz abgesehen davon, dass man dann nur einen neuen schicken würde… Das wäre Selbstmord!“, erklärte Daniel in leiser, aber entsetzter Stimme. Jared grinste wölfisch. „Verrückt. Genial, mutig und heldenhaft, aber verrückt. Hör auf Daniel. Das wäre Selbstmord. Wenn Kosh ihnen lange genug durch die Finger geht, werden sie’s früher oder später auf sich beruhen lassen müssen.“

Dakkas zog ungläubig eine Augenbraue hoch, beließ es aber dabei. Vielleicht lag es an seiner Amnesie, aber er hatte nicht mal den Anflug eines unguten Gefühls bei dieser Agentin – oh, ein leichter Hauch von Hass lastete auf ihm, wann immer er an den Engelskönig und dessen Agenten dachte, aber keine Angst oder ein Gefühl von Gefahr.
 

„Na gut, dann sollten wir hier weg, bevor diese Agentin auftaucht.“ Die Route wurde einstimmig angenommen und man machte sich auf den Weg, während Jared noch die Karte wieder zusammenfaltete und Sar’Shan überreichte. Der grauhaarige Drache sah zwar mit dem zusätzlichen Gepäck von Molokosh mehr wie ein Packesel aus, schien sich aber an dem Ballast nicht zu stören.
 

Dakkas wunderte das nicht. Drakonische Kämpfer durchliefen ein mehr als nur hartes Training und wurden von Kindesbein an geschult. Das Resultat war eine wirklich erschreckende Kampfkraft, wenn man die natürliche Stärke ihres Körpers bedachte.
 

Erstaunlicherweise lag keine Nervosität über ihrer Gruppe, während sie Halmsdorf verließen. Sie beachteten die umherlaufenden Leute größtenteils nicht, obwohl Sar’Shan immer wieder seinen Blick kurz um sie herum kreisen ließ, als wenn er die geheimnisvolle Agentin jederzeit erwarten würde. Dann hatten sie die Stadt auch schon in nord-westlicher Richtung verlassen und liefen die Hauptstraße entlang.

Zu spät fiel Dakkas ein, dass sie sich von den Edelsteinen in seinem Rucksack auch Pferde hätten kaufen können. Aber jetzt noch einmal zurück zu laufen und vielleicht der Agentin in die Arme zu fallen, war zu riskant. Das würden sie eben im nächsten halbwegs großen Dorf erledigen müssen.
 

~*~
 

Drei Tage später vermisste Dakkas seine Suite, seinen Badezuber und sonstige Annehmlichkeiten. Außerdem fragte er sich, über welche Reisemöglichkeiten er normalerweise verfügen würde, wenn er sich erinnern könnte. Denn irgendwie glaubte er nicht, dass er drei Monate zu Fuß durch die Landschaft stapfen würde, wenn er er selbst wäre.
 

Hinzu kam noch die plötzlich unbehagliche Stimmung ihrer kleinen Reisegruppe. Molokosh benahm sich, als wenn ihre beiden neuen Begleiter eine ansteckende Krankheit hätten und die beiden schienen die de’Sahrs mit einer herablassenden Bemutterung zu behandeln. Es machte irgendwie keinen Sinn.
 

So kam es dann auch, dass die neue Gruppe von sechs Leuten die ersten Tage in relativer Stille verbrachte und vor sich hin trottete.
 

Am Abend des dritten Tages dann schlugen sie ihr Abendlager unweit der Hauptstraße, verborgen von ein paar Büschen und großen Steinen, auf. Dakkas verstand auch nicht, warum sie ein großes Stück auf der Hauptstraße reisen mussten, aber für die anderen schien es selbstverständlich zu sein. Anscheinend hatte er bei dem Erdrutsch doch mehr verloren als nur die Erinnerung an sich selbst. Oder Drachenlogik war einfach anders.
 

Die allgemein schlechte Stimmung in der Gruppe hatte sich auch auf Nostradamus ausgewirkt, vielleicht sogar insbesondere auf den wortkargen Seher. Als es jedenfalls an die Verteilung der Zelte für diesen Abend ging, schmiss der Grauhaarige seinen Bruder kurzerhand aus diesem heraus. Nicht tatsächlich körperlich, aber was auch immer er auf Drakonisch von sich gab ließ Sar’Shan und Daniel staunend gucken und Molokosh das Weite suchen.
 

Der Schwarzhaarige musste daher bei Daniel mit im Zelt schlafen. Dakkas hatte jedoch keine Lust sich das kleine Zelt mit zwei miesgelaunten Drachen zu teilen, weshalb er seinen Kram einfach in Nostradamus Zelt legte und dem Seher mit einem Satz erklärte, was dieser zu erwarten habe, wenn er dort nicht schlafen könne.
 

So kam es dann zu dem etwas ungewöhnlichen Arrangement für die Nacht – Molokosh bei Daniel und Dakkas bei Nostradamus. Jared betrachtete das ganze Spektakel nur mit hochgezogenen Augenbrauen und einem äußerst amüsierten Grinsen, bis er Sar’Shan am Handgelenk packte und in ihr eigenes Zelt zog.

Die Strapazen des praktisch tagelangen Marsches ließen Dakkas dann jedoch schnell einschlafen, wie es schon die vergangenen zwei Nächte der Fall gewesen war.
 

Der Schlaf hielt jedoch leider nicht lange – zumindest nicht so lange, wie Dakkas es gewollt hätte.

Es war noch dunkel außerhalb des Zeltes, als ein ungutes Gefühl und komische Geräusche ihn aufweckten. Es dauerte einige Augenblicke, bis er neben der Dunkelheit und der noch andauernden Nacht bemerkte, dass die komischen Geräusche von Nostradamus kamen.

Der grauhaarige Drache redete im Schlaf. Jedoch nicht auf Drakonisch oder irgendeiner anderen Sprache, die Dakkas hätte erkennen können.
 

Zu dem Reden kam ein ständiges Drehen und Zucken hinzu, fast so, als wenn es ein Alptraum war – oder eine den Seher verstörende Vision vielleicht? Was auch immer der Grund dafür war, es war offensichtlich, dass Nostradamus keinen ruhigen und erholsamen Schlaf hatte.
 

Zögerlich robbte Dakkas sich an das Schlaflager des Grauhaarigen heran und betrachtete ihn nachdenklich. Sollte er ihn aufwecken? Vielleicht würde er ihm dadurch einen Alptraum ersparen, vielleicht würde der Drache sich dadurch aber auch nur fürchterlich aufregen. Und Dakkas war sowieso nicht seine Lieblingsperson.
 

Der Grünäugige musste keine Entscheidung fällen. Nostradamus öffnete auf einen Schlag seine Augen und setzte sich mit einem Ruck kerzengerade auf. Nur durch pures Glück und schnelle Reflexe gelang es dem Kleineren, ihre Schädel nicht aufeinander prallen zu lassen.
 

„Er kann es nicht finden, nicht finden, nicht finden. Keine Antwort, keine Lösung, keine Erklärung. Stärker, stärker, zu stark – kontrollier es – nein! Nicht geklappt, nicht gefunden, nicht gelöst. Nein, nein, nein.“

Komplett verwirrt und auch etwas verängstigt sah Dakkas mit zu, wie Nostradamus diese Worte zu sich selbst murmelte. Er verstand schon, dass der Seher über etwas sprechen musste, dass er gesehen hatte, aber er verstand kein Wort. Der Grauhaarige gab scheinbar Wirrwarr von sich.
 

„Warum sieht er es nicht? Warum? Weil- Nein! Nicht dran denken, nicht dran denken, nicht dran denken. Schließ die Augen. Schließ. Die. Augen.“ Nostradamus schien diesen sich selbst gegebenen Befehl befolgen zu wollen und presste seine Augenlieder aufeinander. Dakkas konnte nur hilflos zusehen, wie es dem Grauhaarigen keine Erleichterung brachte.
 

„Es geht nicht, geht nicht, geht nicht. Kein Ausweg. Nie da gewesen. Die Tür ist zu und hat keinen Schlüssel. Kein Schlüssel. Niemals ein Schlüssel. Nie einen Schlüssel. Das Schlüsselloch ist nur breit genug für ein Haar, aber niemand will sein Haar hergeben.“

Inzwischen war der Ton des Grauhaarigen von frustriert und verängstigt zu traurig über gegangen. Dakkas selbst spürte immer noch einen Hauch von Angst, aber inzwischen obsiegte die Hilflosigkeit – und pure morbide Neugier. Er wusste, dass er Molokosh holen sollte, der würde mit diesem… Anfall seines Bruders umgehen können. Aber der Grauhaarige war irgendwie… faszinierend in diesem Augenblick.
 

„Kein Ausweg, keine Hilfe, keine Rettung. Für niemanden. Der Kristall ist verschlossen und die Sonne auf ihm drauf und der Mond hat vergessen, dass er leuchten kann. Keine Rettung mehr. Für niemanden.“

Das hörte sich alles andere als gut an. Vorsichtig streckte Dakkas seine Hand aus und legte sie dem Drachen behutsam auf die Schulter. Weil er ihn beruhigen wollte. Er tat damit aber wohl nichts Gutes, denn Nostradamus zuckte sichtlich zusammen und sank dann in sich zusammen. Nur schwerlich verstand Dakkas die nächsten Worte des Sehers, da dieser nur noch flüsterte.
 

„Es sind so viele. Überall. Zugleich. Ohne Pause. Sie beobachten und sie hören zu und sie schauen hin und sie merken sich alles und sie interessieren sich nicht dafür, dass sie nicht verstehen. Sie sind hinter uns und vor uns und bei uns und unter uns und jetzt sind sie ganz allein unter sich.“
 

Erneut zuckte der Drache, sein Rücken krümmte sich fast schon unnatürlich und Schaum trat an seinen Mund.

„Fokus, Fokus, Fokus, Fokus, Fokus…“ Der Rücken wurde wieder glatt, normaler, doch der Schaum an Nostradamus Mund und ein wirrer Ausdruck in den Augen des Drachen blieb. Fast schreckte Dakkas zurück, als diese Augen auf ihm ruhen blieben. Sie waren nicht mehr grau – sie waren schwarz und leuchteten in einem unheimlichen, blassen Rot-Ton.
 

„Keine Zeit. Die Teufel können nicht warten. Keine Zeit. Der Wanderer hat seine Richtung geändert. Keine Zeit. Die Sonne bleibt am Himmel stehen. Keine Zeit. Der, der im Selbstexil lebt, kehrt zurück.“

Nostradamus Augen verloren langsam ihr Leuchten und wandelten sich von dem Tiefschwarz zu seinem normalen Grau zurück. Gleichzeitig schien die Stimme des Seher immer schwächer zu werden und die Worte schienen ihm immer schwerer zu fallen.
 

„Keine Zeit. Der Rädelführer ruft zu den Waffen. Keine Zeit. Der Prinz hat den Turm verlassen. Keine- Dakosh!“ Die Stimme des Sehers brach und ein Schluchzen entfuhr ihm. Kurzzeitig war der Augenkontakt mit Dakkas gebrochen, dann sah Nostradamus ihn wieder an. Das Leuchten hatte aufgehört und seine Augen waren fast wieder bei ihrer normalen Farbe angekommen.
 

„Wir haben keine Zeit. Die Sonne geht auf.“ Der Drache atmete einmal tief durch. „Rette meinen Bruder.“ Seine Augenlieder sanken langsam wieder hinab. „Bitte.“ Obwohl er saß, schien Nostradamus zu schwanken und fiel schließlich hinten über zurück in sein Bett. „Die Häscher sehen dich nicht.“, flüsterte der Drache noch, bevor er seine Augen wieder schloss und kurz drauf wieder einschlief – falls er denn während diesem ganzen Zwischenfall wirklich wach gewesen sein sollte.
 

Dakkas Atem ging in kleinen, unregelmäßigen Stößen. Er zitterte am ganzen Leib und das nicht nur, weil ihn gerade diese beiden unheimlichen Augen angeguckt hatten. Mehr stolpernd und stockend als wirklich gehend schwankte er aus dem Zettel und entfernte sich etliche Schritte von ihrem Lagerplatz, bis er sich hinter einem Busch niederließ. Das hieß, eigentlich fiel er mehr ins Gras, als dass er sich tatsächlich setzte.
 

Was tat man, wenn man gerade so etwas erlebt hatte? Wie sollte er auf so etwas reagieren? Und hätte Molokosh ihn nicht vorwarnen können, dass sein Bruder ab und zu verdammt erschreckende Visions-Anfälle bekam!?

Dakkas bezweifelte nicht, dass der grauhaarige Drache etwas gesehen hatte, was auch immer es war. Er würde sogar vermuten, dass der Seher mehr gesehen hatte, als er verarbeiten konnte. Soviel zumindest hatte er aus dem wirren Gebrabbel heraus gehört.
 

Nostradamus hatte irgendetwas gesehen, dass ihm unheimliche Angst eingejagt hatte. Und anscheinend gefährlich für Molokosh war, wenn Nostradamus Bitte ernst zu nehmen war. Und der Seher war bitter ernst gewesen. Nur wie ausgerechnet er, Dakkas, derjenige ohne Gedächtnis, den mehr als zwei Meter großen, gut ausgebildeten und wahrscheinlich äußerst fähigen Drachen retten sollte… Das überstieg einfach sein Denkvermögen.
 

Außerdem hatte Nostradamus viel… Zeug erzählt. Wie sollte er das verstehen? Konnte er das überhaupt verstehen, oder war das Ganze nur Gebrabbel von einem verrückten Mann?
 

Dakkas seufzte und beschloss, sich erst einmal zu beruhigen, bevor er mit Molokosh darüber sprechen würde. Der Schwarzhaarige würde hoffentlich wissen, was in so einem Falle wie diesem zu tun war. Jetzt brauchte Dakkas einfach mal fünf Minuten Ruhe, um sich wieder zu fangen.
 

Er legte sich mit dem Bauch nach oben ins Gras und rieb sich die Schläfe. Im Osten ging gerade die Sonne auf und sandte ihre ersten Strahlen über die Landschaft. Dakkas schloss die Augen und genoss die letzten Momente der Stille, die es nur zwischen Tag und Nacht gab.
 

Im Verlauf des Tages würde diese Sonne wieder unbeschreiblich heiß werden und ihm in den Nacken scheinen. Jetzt aber, kurz vor Sonnenaufgang, herrschte noch eine angenehme Temperatur, nicht zu kalt und nicht zu warm. Schon nach wenigen Minuten war Dakkas wieder entspannt und bereit, mit Molokosh über das Vorgefallene zu sprechen.
 

All diese Gespanntheit verflog jedoch, als er einen Ast oder Zweig oder was immer es war Knacken hörte, gefolgt von einem verärgerten, gezischten Befehl zur Stille.
 

Seine Augen flogen auf und jede Muskel seines Körpers spannte sich an. Jemand war hier, bei ihrem Lager. Jemand, der nicht entdeckt werden wollte.
 

„Wir haben keine Zeit. Die Sonne geht auf.“

Konnte Nostradamus etwa schon diesen Tag gemeint haben und keine ominöse Zukunft?
 

„Die Häscher sehen dich nicht.“

Vorsichtig rollte Dakkas sich auf seinen Bauch und sah, so gut es ging, durch den Busch, hinter dem er lag, auf ihr Zeltlager.

Er hatte sich vorhin nicht sehr weit entfernt, vielleicht dreißig Schritte, bis er hinter diesem Busch auf die Erde gefallen war. Es war einer der wenigen Büsche, die hier wuchsen und die sie am Abend vorher ausgewählt hatten, weil sie ihr Lager vor der Straße verbargen.
 

Sie hatten dabei nicht bedacht, dass andere Leute sich so auch besser anschleichen konnten.

Angestrengt suchte Dakkas seine Umgebung mit den Augen ab. Er hatte das leise Zischen hören müssen, wer auch immer hier war, musste also in seiner Nähe sein. Das einzige mögliche Versteck waren einige Büsche rechts ab von ihm, gut fünfzehn Schritte entfernt. So weit hätte er das Geflüsterte aber nicht hören können.
 

Ein Schatten ließ ihn aufschrecken und beinahe hätte er geschrieen, als zwei schwarzgewandete Füße vor seinem Gesicht auftauchten. Die Tatsache, dass diese Füße von dem Stab einer Sense begleitet wurden, beruhigte ihn dann doch etwas. Auch wenn es wahrscheinlich sehr fragwürdig war, wenn eine Erscheinung des Gottes des Todes ihn beruhigte.
 

Die kleine Gestalt stand direkt vor ihm und blickte mit ihrem komischen Augen auf ihn herunter, während sie mit der Sense in ihrer linken Hand spielte. Beauron trug wieder seine Robe, zeigte wieder sein Gesicht nicht – und sah immer noch wie ein kleiner Wicht aus. Dakkas schüttelte innerlich seinen Kopf. Über so etwas sollte er jetzt nicht nachdenken, jetzt gab es wichtigeres zu tun.
 

Beauron deutete auf die Büsche rechts ab von ihm und bestätigte somit Dakkas Vermutung, dass der Todesgott ihn das Zischen von gerade hatte hören lassen.

„Sind wir in Gefahr?“, fragte der Grünäugige. Beauron antwortete mit einem stummen Nicken und einem erneutem Wink in die Richtung dieser Büsche. Dann krochen auf einmal auch vier Männer aus den Gebüschen hervor, die Dakkas davor nicht bemerkt hatte.

„Verdammt.“, fluchte er so leise wie möglich und überlegte, wie viele der vier er wohl würde ausschalten können, bevor einer seiner Reisebegleiter aufwachte.
 

Beauron hielt ihn jedoch mit einem Stampfen seiner Sense auf, bevor etwas Derartiges Geschehen konnte.

„Was?“ Dakkas nahm sich fest vor, sich nicht für wahnsinnig zu halten, nur weil er mit der Erscheinung eines verrückten Gottes sprach, die außer ihm anscheinend keiner sehen konnte.
 

Der Gott schien unter furchtbaren Qualen einige Worte herauszubringen. Da Dakkas weder seinen Mund noch sein Gesicht sehen konnte, war es schwer, über den Zustand des Gottes etwas zu sagen.

„Zaubern…“ verstand der Grünäugige dann endlich und runzelte verwirrt seine Stirn. „Wer? Ich?!“ Er konnte nicht zaubern. Selbst wenn er es einmal gekonnt hätte – inzwischen erinnerte er sich nicht einmal an seinen Namen! Wie sollte er da vier Männer mit Zaubern überwältigen?
 

„Eis…“

Dakkas sah die Erscheinung des Gottes nur unverständlich an und brachte sich selbst langsam in eine kniende Position. „In Ordnung, Wi- Eure Todhaftigkeit. Ich würde wirklich gerne etwas tun, aber falls Ihr es noch nicht mitbekommen haben solltet: Ich habe da dieses kleine Problem mit meinem Gedächtnis. Ich verstehe also wirklich nicht, wie- KYASHE!“
 

Die Dinge geschahen so schnell, dass Dakkas nie so ganz dahinter kam, was wie passierte.

Er war sich jedoch sicher, dass Beauron mit seiner freien Hand nach ihm griff und sie durch seinen Arm hindurch streckte, bevor er wieder verschwand.
 

Plötzlich schien sein gesamter linker Arm aus Eis zu sein, wenn er seinem Gefühl glauben sollte. Es schmerzte. Es brannte. Es ließ ihn bis auf seine Knochen frieren. Es zuckten kleine Blitze durch sein Lichtfeld, durch die Dakkas nichts anderes mehr wahrnahm. Die ganze Welt war für ihn in diesem Augenblick auf seinen schmerzenden Arm zusammen geschrumpft.
 

Es dauerte vielleicht wenige Sekunden, bevor der Gott seine Hand wieder zurückzog und Dakkas seinen immer noch schmerzenden Arm vorsichtig an seine Brust heranzog. Aber es konnte auch länger gedauert haben; ein Zeitgefühl besaß der Grünäugige in diesem Moment nicht.
 

Dann fiel ihm auf, dass zwei der vier Männer schockgefroren und sehr wahrscheinlich tot zwanzig Schritte von ihm entfernt auf dem Boden lagen. Sar’Shan war damit beschäftigt, den restlichen zwei zu zeigen, warum es eine schlechte Idee war, einen Drachen überfallen zu wollen. Entweder das, oder er war einfach wütend darüber, geweckt worden zu sein. Als der Kämpfer nicht aufhörte, obwohl die beiden – es waren Engel, stellte Dakkas jetzt fest – bereits tot waren, entschied Dakkas sich für das letztere. Es gab wirklich keinen anderen Grund , warum Sar’Shan sie in Streifen zu schneiden versuchte.
 

Oder doch. Der Schmerz ließ langsam nach und Dakkas wankte langsam auf das Lager zu. Dann sah er auch, dass aus der anderen Richtung ebenfalls ein kleines Grüppchen gekommen war – vier Frauen. Nur, dass diese schneller gewesen sein mussten, als ihre männlichen Gegenstücke. Jared und Sar’Shans Zelt war zerrissen und der Halbwolf lehnte schwer an Daniels Seite, während er eine Elfe mit Feuerbällen beschoss. Sein Oberkörper wies eine tiefe Stichwunde auf, die Daniel verzweifelt mit seiner eigenen Magie zu heilen versuchte. Was sich als schwierig erwies, da Jared nicht stillhalten wollte.

Das erklärte dann auch Sar’Shans Wut. Die beiden schienen gute Freunde zu sein; Jareds Verletzung hatte ihn wahrscheinlich zur Weißglut getrieben.
 

Der Schmerz in seinem linken Arm war inzwischen ganz verflogen und langsam kehrte auch wieder das Gefühl von Wärme zurück. Dakkas torkelte an Sar’Shan vorbei, der sich inzwischen der letzten noch lebenden Elfe dieser Engel-Elfen Gruppe widmete. Dakkas hatte das Gefühl, dass er dem Grauhaarigen bei dieser Art von Arbeit lieber nicht zusah.
 

„Jared, wenn du nicht still hältst, kann ich dich nicht heilen!“, zeterte Daniel, während eine Schweißperle sein Gesicht herunter ran. Der Halbwolf zuckte nur mit den Schultern. „So wenig Werwolfblut hab ich nun auch nicht. Gib mir drei, vier Tage Ruhe und dann geht das wieder.“

Der Heiler grollte. Es war das erste Mal, dass Dakkas diesen Laut von dem Halbdrachen hörte. Es klang deutlich höher als das, was die Volldrachen von sich gegeben hatten, aber dennoch gefährlich.

„Wir haben keine drei, vier Tage Ruhe. Wir müssen Lanar retten.“

„Molokosh?!“, brachte Dakkas heraus.

„Rette meinen Bruder.“
 

Jared nickte seufzend, während er Daniel erlaubte, die Stichwunde zu versorgen. „Da waren noch zwei mehr. Ein Engel, etwas größer als normal, und eine Drakharuda.“

Daniel grollte erneut. „Das war keine Drakharuda, Jared. Das waren sehr wahrscheinlich Gehilfen von dieser Agentin, vor der du uns gewarnt hast…“

Der Halbwolf bleckte die Zähne und presste eine Mischung aus Gebell und Gejaule aus seinem Hals. „Ich hab sie am Arm erwischt. Das war eine Drakharuda, wenn ich’s dir doch sage. Konnte es riechen in ihrem Blut.“
 

Dakkas hielt sich seinen wieder munter werdenden Arm und blickte nur verwirrt rein. „Was ist eine Drakharuda? Wo ist Nostradamus und was ist mit Molokosh geschehen?“

Sar’Shan hatte aufgehört, die Leichen der Angreifer zu zerspießen und beantwortete Dakkas Fragen. Daniel kümmerte sich in der Zwischenzeit um den leise vor sich hin fluchenden Jared.
 

„Drakharuda ist ein drakonisches Wort, das aber eigentlich jeder Wildblüter kennt. Gemeint ist ein Drachen-Werwolf Mischling. Molokosh wurde von einer von ihnen und einem Engel gerade entführt… denken wir. Als dein Schrei uns weckte, hatten sie ihn bereits geknebelt und schleppten ihn weg. Solange Nostradamus nicht auch entführt wurde, sollte er noch schlafen. Hier draußen ist er jedenfalls nicht.“
 

„Molokosh ist entführt worden…?“, hakte Dakkas nach, sprachlos. Warum hatte er das nicht gesehen?! Er hatte doch freien Blick gehabt… auf zwei Zelte. Seins und das von Jared und Sar’Shan. Molokosh und Daniel hatten ihres ein Stück weiter weg aufgeschlagen, nachdem Nostradamus sich mit seinem Bruder gestritten hatte.

Er hatte es nicht sehen können.
 

„Ein Drachen-Werwolf Mischling?“, fragte er dann plötzlich, verwirrt. Es machte keinen Sinn. Kein Wildblüter würde einer Agentin des Sonnenkönigs helfen. Daniel wiederholte diese Worte laut, erntete jedoch nur humorloses Lachen von Jared.

„Daniel, verschließ doch nicht deine Augen. Es gibt immer mehr Wildblüter, die sich mit den Engeln und ihresgleichen gut stellen. So ein Auftrag ist doch perfekt, um die Gunst von einem ihrer Adligen zu kriegen.“
 

Daniel schien genauso geschockt über Jareds Worte zu sein wie Dakkas. Der Grünäugige hatte jedoch auch anderen Grund zur Sorge, abgesehen von diesen Neuigkeiten.

Drachen war kräftig, groß, magisch begabt und stark. Werwölfe waren ausdauernd, besaßen verbesserte Sinne und konnten sich selbst heilen. Ein Mischling dieser beiden Rassen konnte beliebige dieser Eigenschaften besitzen oder sogar alle.
 

Sie mussten Molokosh zurück holen. Sofort.
 

„In welche Richtung haben sie ihn geschleppt?“ Jared wies gen Osten, weg von der Hauptstraße. „Selena muss irgendwo hier in der Umgebung sein. Warum sie selbst nicht gekommen ist, habe ich keine Ahnung.“, brachte der Halbwolf hervor, während er sich auf seine Beine richtete.
 

Jared ging zwei Schritte und wäre wieder umgekippt, wenn Sar’Shan ihn nicht gefangen hätte. Dakkas schüttelte seinen Kopf. „Vergiss es. In deinem jetzigen Zustand wärest du eher eine Behinderung für Molokosh. Du bleibst hier.“ Jared fing mit einer Beschwerde an, aber Sar’Shan legte ihm die Hand auf den Mund. „Dakkas hat Recht. Du bleibst hier, zusammen mit den anderen. Ich werde ihren Spuren folgen und-“
 

Dakkas schüttelte seinen Kopf. „Nein. Du bleibst hier und bewachst die anderen. Ich geh und hole Molokosh.“ Alle drei Anwesenden sahen ihn an, als wenn er verrückt wäre.

Der Grünäugige lächelte nur grimmig. „Glaub mir, es ist das beste so. Jared ist verletzt, Daniel ist kein Krieger und Nostradamus hatte vorhin eine Art… Anfall mit… Vision denke ich. Jedenfalls scheint er noch schwer mitgenommen zu sein, wenn er hiervon nicht wach geworden ist.“
 

„Vision?!“, rief Sar’Shan. “Was für eine Vision?”, hakte Daniel nach. Jared klammerte sich nur an den Grauhaarigen Drachen und versuchte, auf seinen eigenen Beinen stehen zu können.

„Keine Ahnung. Größtenteils war er… unverständlich. Aber er bat mich, seinen Bruder zu retten und schien über den Angriff bescheid zu wissen. Wenn er mich nicht gewarnt hätte, hätte ich von alledem auch nichts mitgekriegt.“
 

Sar’Shan nickte zögerlich. „Das gefällt mir zwar nicht, aber was Nostradamus sagt, hat Hand und Fuß – auch wenn man es nicht immer versteht.“ Der Drache seufzte. „Ich passe auf den Rest unserer Gruppe auf, du holst unseren de’Sahr wieder zurück. Wenn du diesen Trick mit dem Eis noch mal hinkriegst, solltest du auch keine Probleme haben.“
 

Daniel schaute ungläubig. „Der Eisstrahl kam von Dakkas?“

Jared schnaubte. „Na von mir sicherlich nicht.“

Sar’Shan schenkte seinem Freund ein kleines Lächeln.

Dakkas rieb sich die Stirn. „Daniel, schau nach Nostradamus. Ich bin… so schnell wie möglich mit Molokosh zurück.“ Dann drehte er sich um und untersuchte Molokoshs und Daniels Zelt nach Spuren. Er fand auch tatsächlich welche, Kampf- und Schleifspuren, die gen Osten führten. Innerlich seufzend machte er sich auf den Weg, den schwarzhaarigen Drachen zu retten.
 

Er konnte nur hoffen, dass Beauron, der zur Zeit natürlich nicht sichtbar war, noch andere Tricks auf Lager hatte, um ihm zu helfen. Schließlich hatte er es mit mindestens drei Feinden zu tun, wenn diese ominöse Agentin keine weitere Unterstützung hatte.

Und er hatte immer noch keine Ahnung, was er vorhin eigentlich getan hatte. Er würde die Hilfe des Wichts nötig haben.
 


 

Kleines drakonisches Wörterbuch:

Drakharuda – Mischung aus den Worten „Drakhem“ und „Garudas“. Das erstere heißt „Drache“ (‚kh’ wie ein hartes ‚ch’ aussprechen, wie bei ‚Bach’). Das Letztere heißt „Werwolf“. Es gibt keinen Plural, da es (eigentlich) ein Adjektiv ist. Es wird manchmal auch für Volldrachen benutzt, die Werwolf-Verhalten an den Tag legen.
 

Das Lied, das Dakkas singt:

„Schockschwere Not“, deutsches Volkslied, um die 1890 entstanden. In späteren Kapiteln taucht es noch einmal komplett auf, ich füge es also hier nicht komplett an.
 

Nebengeschichte

Die Geschichte heißt "Kaum Einer Kannte Sar'Shan" und ist unter diesem Link zu finden (einfach kopieren):

http://www.puh-schell.de/Kvista/Nebengeschichten/KEKS.htm

Von Gesetzen und Gesetzlosen

Von Gesetzen und Gesetzlosen
 

Molokosh zu finden gestaltete sich einfacher, als Dakkas es angenommen hatte. Zuerst hatte er Probleme gehabt, den Spuren auf dem Boden zu folgen, doch dann hatte er einige Tropfen tiefroten Blutes gefunden. Ein so dunkles Blut, dass es fast schon ins Bräunliche hineinging. Drachenblut.
 

Molokosh war verletzt. Diese Erkenntnis trieb Dakkas dazu an, schneller nach dem Drachen zu suchen. So weit konnten seine beiden Entführer ja auch nicht mit ihm gekommen sein. Schließlich mussten sie einen zwei Meter Schrank mit sich durch die Gegend ziehen.
 

Kurz nach den Bluttropfen von Molokosh stieß Dakkas dann auch auf Anzeichen eines erneuten heftigen Kampfes. Das Gras und die niedrigen Büsche waren platt getrampelt, an einigen klebte Drachen- sowie helles, sanftrotes Engelblut. Molokosh wehrte sich also erfolgreich.
 

Aufgrund des Terrains hätte Dakkas die Entführer eigentlich schon längst sehen müssen, da es in dieser Gegend größtenteils spärlich bewachsene Grünflächen gab. Jedoch war die Umgegend auch stark hügelig und so war es gut möglich, dass Molokosh und die beiden Angreifer in einer nahen Senke oder hinter dem nächsten Hügel waren.
 

Er war vielleicht zehn Minuten durch die Landschaft geschlichen, als er es hörte. Ein tiefes, bedrohliches Grollen, wie ein aufziehender Sturm – oder ein äußerst wütender Drache.

So schnell wie möglich, ohne zu laut zu sein, näherte Dakkas sich dem Grollen.
 

Bald schon hörte er auch das Fluchen eines Mannes und ein Rascheln und Knacken, als wenn jemand in einen Busch gestoßen wurde. Dann hatte er die Spitze des kleinen Hügels erreicht und konnte von oben auf die drei Kämpfenden herab sehen. Schnell ließ Dakkas sich in die Knie hinter einen größeren Stein fallen und hoffte, dass man ihn noch nicht entdeckt hatte.
 

Als erstes erkannte er, dass Jared tatsächlich Recht gehabt hatte. Die Frau war eine Drakharuda.

Sie war größer als ein normaler Werwolf, aber kleiner als ein durchschnittlicher Drache. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten und wirr. Als Rüstung trug sie ein leichtes, freie Bewegung erlaubendes Lederensemble. In ihrer linken Hand lag ein Kurzschwert, doch ihre rechte Hand war es, die Dakkas Sorgen bereitete.
 

Die Hand war zu einer Klaue verformt. Jeder Werwolf besaß die Fähigkeit, sich in seine tierische Form zu verwandeln, doch nicht alle konnten ihre Verwandlung so gezielt steuern, dass sie nur einzelne Teile ihres Körpers verformten. Diese Frau hatte jedoch ihre eine Hand fast gänzlich zu ihrer Wolfsgestalt reifen lassen, um Molokosh damit attackieren zu können. Das bedeutete, dass sie wahrscheinlich auch die Werwolfs-Regeneration besaß.
 

Molokosh war von ihr wohl gerade in einen dornigen Busch geschmissen worden. Der schwarzhaarige Drache sah arg mitgenommen aus: Er blutete von einer Wunde am Kopf und kam nur schwerlich wieder auf die Beine, auch wenn Dakkas sonst keine Verletzungen erkennen konnte.
 

Der Engel stand etwas abseits von den beiden und hielt sich die linke Seite. Er krümmte sich sozusagen vor Schmerzen und Dakkas erkannte eine Stichwunde in seinem linken Oberarm.

„Beeil dich, Lara. Wir müssen das Schwein zu Dame Windflügel bringen.“, presste der Engel zwischen seinen Lippen hervor.

Lara, die Drakharuda, lächelte nur kalt. „Keine Sorge, wenn ich mit ihm fertig bin, wird er nicht einmal an Flucht denken. Jetzt sieht es nicht mehr so gut für dich aus, was, de’Sahr?“
 

Molokosh hatte sich inzwischen auf seine Beine gestellt und keuchte. „Meine Begleiter werden schon längst auf eurer Spur sein. Sar’Shan wird dir mit einem Hieb den Kopf von den Schultern trennen.“ Es erstaunte Dakkas, dass Molokosh dem grauhaarigen Drachen so ein Können zugestand, wo er ihn doch vorher fast schon verteufelt hatte.
 

Lara schien jedoch nicht beeindruckt zu sein und versetzte Molokosh mit ihrer Klaue einen Hieb ins Gesicht. Der Drache schwankte und torkelte ein paar Schritte rückwärts, blieb aber auf den Beinen. „Halt die Klappe, du nutzloser Drache. Deine kleinen Freunde werden gar nichts tun – wir waren nur der erste Trupp. Inzwischen wird der zweite sich bereits um deine Begleiter gekümmert haben.“
 

Dakkas sog scharf Luft ein und hoffte, dass Jared und Sar’Shan den zweiten Angriff abwehren konnten. Er musste Molokosh helfen, sofort. Sie mussten schnellstmöglichst zurück zu den anderen.
 

Molokosh selbst weitete etwas seine Augen und schüttelte nur seinen Kopf. „Mein Bruder wird sie aufhalten.“ Dakkas runzelte seine Stirn. Was sollte ein halb verrückter Seher da ausrichten können? Aber mit so etwas konnte er sich nicht aufhalten. Zuerst musste er irgendwie den bereits angeschlagenen Engel ausschalten, Molokosh und er würden dann gemeinsam mit der Drakharuda fertig werden – hoffentlich.
 

Lara lachte. „Dein Bruder? Der wird sich auf ein weiteres Leben als persönliches Orakel des Sonnenkönigs freuen dürfen. Du solltest froh darüber sein, seine Gabe ist wohl das einzige, was ihm den Tod ersparen wird.“
 

Molokosh stieß einen fürchterlichen, bestialischen Schrei aus. Eine Reihe von hoch stehenden, scharfen, schwarz glänzenden Schuppen sprang aus jedem seiner Arme hervor und zerfetzte die Ärmel seines Hemdes. Mit einer Kraft, die man ihm in diesem Moment nicht zugetraut hätte, rammte er seinen rechten Arm mit der Spitze der Schuppen in Laras Oberkörper und den anderen in ihre Seite.
 

Die Drakharuda grunzte nur und stieß den Drachen mit einem erneuten Klauenhieb von sich weg. Die nicht sehr tiefen Wunden auf ihrem Oberkörper schienen sie nicht zu stören und bestätigten Dakkas Vermutung: Sie konnte sich heilen.
 

Der Grünäugige hatte jedoch in dem Augenblick, als Molokosh vorwärts gesprungen war, seinen kleinen Dolch gezückt und gezielt und gehofft. Als Lara Molokosh von sich stieß, warf er das kleine Stück geschärften Stahls durch die Luft und sah zufrieden zu, wie der Engel getroffen zu Boden ging.
 

Lara und Molokosh sahen beide verdutzt zu dem braunhaarigen Mann hin, der ohne Zweifel tot sein musste – der Dolch hatte sein Auge getroffen. Darauf hatte Dakkas zwar nicht gezielt, aber er konnte nicht behaupten, dass er nicht froh darüber war, dass getroffen zu haben.
 

Lara und Molokosh sahen beide von der Leiche des Engels in die Richtung des Wurfgeschosses und erblickten Dakkas, wie er auf dem Hügel über ihnen stand. Der Grünäugige war aufgestanden, um besser Werfen zu können und grinste jetzt etwas schelmisch. „Tut mir Leid, aber ich fürchte, Nostradamus wird die Vornehmlichkeiten des Sonnenpalastes nicht so schnell kennen lernen.“
 

Lara öffnete und schloss ihren Mund wieder, bevor sie schließlich eine Frage heraus brachte: „Wer bist du?!“ Dakkas seufzte. „Diese Frage höre ich in letzter Zeit viel zu oft.“ Dann hechtete er den Hügel herunter, um Molokosh zu helfen. Dieser hatte der Drakharuda seine Armschuppen in den Rücken gerannt, während diese Dakkas angestarrt hatte.
 

Doch auch diesmal machte ihr dieser Angriff nicht fiel aus. Mit einem erbosten Schrei wirbelte sie herum und ließ ihr Kurzschwert fallen. Ihre zweite Hand verformte sich ebenfalls zu einer fast gänzlich tierischen Klaue, mit der sie erbarmungslos auf Molokosh einschlug.
 

Dakkas kam bei den beiden Kämpfenden an und musste dann etwas ratlos stehen bleiben. Seinen Dolch würde er wohl aus der Leiche des Engels heraus ziehen können, doch was sollte er dann tun? Mit dem Ding würde er kein wichtiges Organ von Lara treffen. Und um einen Werwolf zu töten, musste man ihm äußerst schlimme Wunden zufügen oder ein wichtiges Organ erwischen.
 

Aber es gab eine Schwachstelle, die Dakkas ausnutzen konnte.

Er holte seinen Dolch, hielt ihn fest in seiner Hand und sprang von hinten auf Laras Rücken, als die Drakharuda gerade Molokosh wieder einen Hieb versetzt hatte. So gut es ging klammerte er sich mit seinen Füßen und einer Hand an der größeren Frau fest und stach mit dem Dolch in ihr Auge. Lara schrie, zuckte, schwankte und stürzte dem Boden entgegen. Geschwind ließ Dakkas von ihr ab und federte sich auf dem Boden ab.
 

Eine Grimasse ziehend blickte er dann auf seine Hand. Laras dunkles Blut hatte nicht nur den Dolch, sondern auch seine Hand total verschmiert. „Igitt.“ Vorsichtig wischte er seine Hand an einem unbeschmutzten Stück von Laras Kleidung ab.
 

Von Molokosh kam ein keuchendes Lachen. „Irgendwie wundert es mich nicht wirklich, dass du sie erst von hinten nieder stichst und dich dann über das Blut ekelst.“, brachte der verletzte Schwarzhaarige gepresst hervor. Die Schuppen an seinen Armen verschwanden mit einem leisen, schmatzendem Geräusch wieder in seinen Armen.
 

Er sah mitgenommen aus. Kratzer und eine Platzwunde zierten sein Gesicht, er war in sich gekrümmt, und das Atmen schien ihm schwer zu fallen. Wie er sich überhaupt noch aufrecht hielt, war ein Rätsel für Dakkas.

„Danke. Für die Hilfe.“

Dakkas lächelte. „Nichts zu danken. Schließlich hilfst du mir schon viel mehr.“ Was Dakkas nicht sagte, war, dass er Nostradamus Augen und den Ausdruck in ihnen einfach nicht aus seinem Kopf bekommen konnte. Er hatte gar keine andere Chance, als den Bruder des Sehers zu retten.
 

„Wir müssen zurück zu den anderen.“, murmelte Molokosh und versuchte sein bestes, schnellstmöglichst vorwärts zu kommen. Dakkas eilte an seine Seite und stützte den mehrere Köpfe größeren, so gut es ging. „Keine Sorge. Sar’Shan und Jared sind noch bei ihnen und werden möglichen Angreifern schon gewachsen sein.“

Molokosh brummte etwas unverständliches und ließ sich von dem Kleineren zurück zum Lager helfen.
 

Im Endeffekt war die Ankunft in ihrem zerstörtem Lager etwas… anti-klimatisch. Anstatt eines lebensgefährlichen Kampfes mit neuen Angreifern oder einem siegreichen Sar’Shan fanden die beiden Schwarzhaarigen eine kleine Anzahl Engel, Elfen und Zwerge vor, die von Pflanzenranken gefesselt und geknebelt wurden.
 

Sar’Shan saß mit einem blutendem Arm und einer Beule am Kopf im Gras, der immer noch verletzte Jared an ihn gelehnt. Nostradamus, der wie immer geistesabwesend durch die Gegend starrte, schien sich an seiner Umgebung nicht im geringsten zu stören und blickte in den Himmel.
 

In der Mitte des Lagers, vor Wut keuchend und mit sanft glühenden Händen, stand Daniel. Der Heiler war damit beschäftigt, den Angreifern eine Predigt zu halten. Oder etwas ähnliches.
 

„Ich werde nie verstehen, wie ein Haufen erwachsener Personen, die alle sehr wahrscheinlich eine gewisse Bildung inne haben, sich zu solchen irrsinnigen Unternehmungen hingeben können. Ganz abgesehen davon, dass die Gründe für euren Angriff jedweder moralischen Legitimierung entbehren, kommt auch noch hinzu, dass ihr damit rechnen musstest, dass wir äußerst gefährlich sind.

Und dann hört ihr noch nicht einmal auf euren gesunden Verstand, wenn klar ist, dass ihr besiegt seid. So ein irrationales, wiedersinniges, unlogisches, arrogantes, dummes Verhalten können nur Agenten des weißen Königs an den Tag legen. Und jetzt darf ich wieder wochenlang irgendwelche eiternden Wunden versorgen, nur weil euer König nicht ganz klar im Kopf ist! Das ist zum Schreien!“

Und genau das tat Daniel dann auch, wobei er wütend mit seinem Fuß aufstampfte und die Pflanzenranken um die Gefangenen herum noch etwas enger zusammenzog.
 

Dakkas war vollkommen überrascht – und auch etwas verängstigt. „Erinnere mich daran, Daniel niemals ernsthaft aufzuregen.“, flüsterte er Molokosh zu. Der Drache grinste schwach. „Daniel ist nicht nur ein äußerst guter Heiler, er ist auch Absolvent einer der besten Magieschulen der Drachenlande.“, flüsterte er zurück.
 

In diesem Moment sah Daniel den wiedergekehrten Molokosh. Seine Hände hörten auf zu glühen und die Wut wich aus seinem Gesicht, Mitgefühl und Sorge Platz machend. „Lanar!“ In windesteile war der Heiler an Molokoshs Seite und untersuchte den Schwarzhaarigen, eine Litanei von Fragen auf Drakonisch aus seinem Mund kommend.
 

Von seinem Platz an Sar’Shans Seite aus schmollte Jared. „Warum bekomme ich nicht so eine gute Behandlung?“, murrte der Halbwolf. Sein grauhaariger Freund lächelte. „Vielleicht, weil du Daniel schon so oft genervt hast?“ Jared schnaubte nur pikiert als Antwort.
 

„Könntet ihr euren Streit auf später verschieben?“, kommentierte der langsam ermüdende Dakkas. „Ich bin nur ein kleiner Mann und das hier ist ein großer Drache.“ Das brachte Daniel dazu, von Molokosh abzulassen, sich mehrfach zu entschuldigen und nach möglichen Wunden des Grünäugigen zu fragen. Dieser verneinte und sah zu, wie Molokosh neben Sar’Shan ins Gras gesetzt wurde.
 

Der grauhaarige Krieger sah Dakkas mit Interesse an. „Du hast Molokosh gerettet, ohne eine einzige Schramme abzubekommen?“

Der Grünäugige blinzelte und lächelte schüchtern. „Also, der Überraschungsmoment war ein Vorteil. Und eigentlich hat Molokosh die ganze schwere Arbeit geleistet.“ Der schwarzhaarige Drache öffnete seinen Mund, schloss ihn dann jedoch wieder. Auf Sar’Shans fragenden Blick meinte er dann: „Dakkas hat einen günstigen Moment genutzt, um die Drakharuda ausschalten zu können. Es war eher gemeinsame Arbeit.“
 

Der Grauhaarige nickte langsam und Molokosh sandte Dakkas einen… komischen Blick. Er sollte wohl irgendetwas aussagen, aber Dakkas verstand beim besten Willen nicht was.

Innerlich achselzuckend widmete der Grünäugige seine Aufmerksamkeit den gefesselten Angreifern. Es waren sieben an der Zahl. Und sie sahen nicht freundlich aus.
 

„Wir sollten hier möglichst schnell weg, falls noch mehr von ihnen in der Nähe sind.“, kommentierte das kleinste Gruppenmitglied.

Sar’Shan nickte. „Nur werden wir nicht sehr schnell voran kommen mit unseren Wunden.“ Jared ächzte und schwang sich auf die Beine. Seine Wunde hatte bereits begonnen zu heilen, da Daniel es anscheinend geschafft hatte, mit seiner Magie die größte Verletzung einzudämmen.
 

Der Halbwolf brauchte einen Moment, um sein Gleichgewicht zu behalten und fing dann damit an, langsam ihr aller Hab und Gut aufzusammeln. „Je eher wir los gehen, desto schneller kommen wir von hier weg. Selena wird so schnell nicht noch einen Versuch unternehmen. Nicht, wenn sie so viele Leute verloren hat.“, erklärte der Halbwolf.
 

Molokosh grunzte seine Zustimmung, während Daniel ihn so gut es ging versorgte. Jared brachte Sar’Shan einige Bandagen aus den Überresten ihres Zeltes, die der Drache benutzte, um sich selbst zu verbinden. Dakkas runzelte seine Stirn. „Warte doch, bis Daniel Zeit für dich hat.“, kommentierte er.
 

Sar’Shan sah auf und deutete ein Lächeln an. „Ich nehme keine Hilfe von Heilern an.“, erklärte er und widmete sich dann wieder seinen Wunden.
 

Verwirrt blickte Dakkas zu Daniel, der aber nur mit den Achseln zuckte. „Ich kann keinem helfen, der meine Hilfe nicht will.“ Da hatte der Heiler natürlich recht. „Darf man fragen, wieso du das nicht willst?“, fragte der Grünäugige den Drachen.
 

Sar’Shan hatte die Blutung seines Armes inzwischen gestoppt und verband ihn sich. „Weil es gegen die Regeln meines Glaubens geht.“, war die Antwort des Drachen.
 

Der Grünäugige runzelte seine Stirn. Welcher Glauben verbat es seinen Anhängern, sich heilen zu lassen?

Erstaunlicherweise fiel ihm das Wort ‚Todeskult’ als erstes ein. Das machte sogar Sinn, auf eine morbide Art und Weise. Sehr wahrscheinlich war der Todeskult die Gefolgschaft des Beauron.

Aber Sar’Shan sah nicht wie jemand aus, der den Tod verehrte. Natürlich konnte Dakkas das nicht mit Sicherheit sagen, aber es war eine Art… starkes Gefühl. Dem er erst mal vertraute.
 

Ansonsten fiel ihm keine Gottheit ein, die ihren Anhängern Heilung verbieten könnte. Kopfschüttelnd ließ er diese Eigenart des grauhaarigen Drachen auf sich beruhen und half lieber mit, ihre Habe einzusammeln. Vor allem seinen eigenen Besitz wollte er keinem der anderen anvertrauen.
 

Sobald Molokosh soweit versorgt war, dass er wieder von alleine gehen, stehen und handeln konnte, sah Daniel einmal nach den Pflanzenfesseln und half dann dabei, das Lager abzubauen. Aufgrund der Verletzungen brauchten sie jedoch weitaus länger als sonst und die Möglichkeit eines dritten Angriffs brachte Molokosh dann dazu, ihre Zelte zurück zu lassen.
 

„Wir hätten eh nur noch zwei unbeschädigte,“ erklärte der Drache, „und wir müssten sie tragen, was momentan keiner von uns kann.“ Daniel und Dakkas beschwerten sich, doch war Molokosh nicht gewillt, den beiden ‚Schwächsten’ in der Gruppe so eine schwere Last aufzudrücken, solange sie verfolgt wurden.
 

So kam es dann, dass sie nur ihre Decken und sonstige Ausrüstung mitnahmen, die Zelte jedoch zurück ließen. Daniel hatte ihre Angreifer fest verschnürt zurück gelassen. Dem Zauber hatte er ein Zeitlimit von fünf Stunden gesetzt – in dieser Zeit waren sie hoffentlich weit genug weg, um den Häschern vorerst entgehen zu können.
 

Von den Verletzungen erholte Jared sich am besten. Schon nach einer halben Stunde unterwegs konnte der Halbwolf wieder fast normal laufen, auch wenn er noch deutlich blasser war als sonst. Sar’Shan und Daniel liefen langsam, der eine mitgenommen durch die Wunde, der andere müde und ausgelaugt vom Heilen und Zaubern. Molokosh schleppte sich eher durch die Landschaft, als dass er lief.
 

Mit Erschrecken stellte Dakkas fest, dass Nostradamus und er die beiden einzigen waren, die mehr oder minder unversehrt waren. Das sah nicht gut aus.

„Warum laufen wir eigentlich immer noch die Hauptsraße entlang?“, entfuhr es dem Schwarzhaarigen. „So finden sie uns doch am schnellsten.“
 

Der Rest der Gruppe warf ihm komische Blicke zu, bis Sar’Shan schließlich erwartungsvoll zu Molokosh schaute. Der schwarzhaarige Drache seufzte. „Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht daran.“, erklärte er.

Dakkas runzelte seine Stirn. „Woran?“

Molokosh seufzte. „Wir sind hier in der Baronie Ludgenstein. Laut Gesetzerlass des Barons Ludgenstein darf sich kein Wildblüter innerhalb der Baronie abseits der Straßen aufhalten, es sei denn, der Wildblüter wohnt in einer Stadt der Baronie.“
 

Das war... unerwartet und unerhört. „Was passiert, wenn ein Wildblüter abseits der Straße… erwischt wird?“ Er traute sich fast gar nicht, diese Frage zu stellen.

Molokosh verzog seinen Mund. „Gefängnis, wenn man Glück hat. Kerker, wenn man weniger Glück hat. Verkauf an die Dogen, wenn einen alles Glück verlassen hat.“ Den letzten Teil sagte Molokosh mit einer kaum hörbaren, wütenden Stimme. Jared und Daniel bekamen einen hasserfüllten Blick und Sar’Shan murmelte leise etwas zu sich.
 

Dakkas traute sich fast nicht zu fragen, tat es dann aber doch. „Verkauf an die Dogen?“

Molokosh presste seine Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander und der Rest ihrer kleinen Gruppe spannte sich auch merklich an. Was auch immer es mit dieser Zaubereigilde auf sich hatte, war anscheinend nichts gutes.
 

Es war Nostradamus, der Dakkas Frage in einer monotonen Stimme beantwortete.

„Sie halten nicht viel von den Leben anderer. Kaufen sie wie Vieh. Untersuchen sie. Experimentieren an ihnen. Brauchen immer mehr von ihnen für ihre Versuche.“ Der Seher stoppte seinen Marsch und schien ins Leere zu starren. „Ihre Festung brennt. Die Flammen sind wunderschön.“ Jetzt lag wieder Betonung in seiner Stimme, als wenn er ein besonders kunstvolles Gemälde betrachten würde.
 

„Welche Festung brennt?“ Der Rest der Gruppe hatte ebenfalls Halt gemacht. Die Frage kam von Sar’Shan.

„Die Dogenfestung am Fuß des Geierfelsen.“, antwortete der Seher. Er drehte seinen Kopf und blickte den anderen grauhaarigen Drachen an. „Es ist die zweite Festung, die brennt. Der General ist dort.“
 

Das brachte Sar’Shan zum Grinsen. „Gut für ihn. Weiter so.“ Molokosh sah besorgt aus.

Nostradamus beachtete die Welt um ich herum jedoch schon nicht mehr. „Unsere Verfolger formieren sich neu. Wir haben einen Tag Vorsprung, wenn wir uns jetzt beeilen.“, erklärte der Seher wieder in einer monotonen Stimme und marschierte weiter. Die anderen taten es ihm gleich.
 

Dakkas war zu geschockt, um noch weiter nachzufragen.

Diese Dogen kauften also Wildblüter wie Sklaven oder Vieh und benutzten sie für… keine Ahnung was. Experimente. Dakkas glaubte nicht, dass er Näheres darüber wissen wollte. Allein der Gedanke daran ließ ihn übel werden. Und Hass in ihm auflodern. Auf einmal war er sich schlagartig klar, dass das der Grund war, warum er die Engel so tief hasste, dass sogar eine Amnesie den Hass nicht auslöschte.
 

„Die Grenze der Baronie liegt kurz hinter Sellentin, richtig?“, riet Dakkas. Molokosh nickte. Das erklärte, warum sie bis dahin auf der Hauptstraße bleiben mussten. Auch wenn es dadurch fast unmöglich wurde, ihren Verfolgern zu entkommen. Die Agentin und ihre Dienerschaft mussten Pferde oder ähnliches haben, wenn sie innerhalb der letzten drei Tage aufgeholt hatten.
 

Molokosh sprach wieder. „Danach beginnt die Baronie Rauhenhoh. Die Baronin dort hält nichts von… solchen Gesetzen.“ Wenigstens das war eine Erleichterung für Dakkas. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihre Verfolger abschütteln mussten. „Gibt es Ausnahmen zu dem Gesetz?“
 

Molokosh runzelte seine Stirn. „Nur, wenn sich die Wildblüter in Begleitung eines Adligen, Sonnenpriesters oder Mitglied der königlichen Wache befinden.“, erklärte er nach einigem Nachdenken. Dakkas grinste und nickte. „In Ordnung.“ Die Drachen und der Halbwolf blickten sich zu ihm um, mit Ausnahme von Nostradamus. „Was soll das heißen, in Ordnung?“, fragte Molokosh argwöhnisch.
 

„Dann bin ich jetzt eben ein Adliger.“ Auf die ungläubigen Blicke der anderen hin erklärte er: „Also erstens müssten wir schon viel Pech haben, um hier irgendeiner Art von Patrouille zu begegnen. So regulär lasst der Baron seine Ritter doch nicht durchs Land reiten, oder? Und zweitens werden die wohl kaum beweisen können, dass ich kein Adliger bin, oder?“
 

Molokosh lachte humorlos. „Wenn wir auf eine Patrouille treffen, werden sie keine Beweise brauchen.“ Doch der Grünäugige grinste nur schlitzohrig. „Die werden wir schon überzeugen können.“ Dann trat ein nachdenklicher, kalter Ausdruck in seine Augen. „Und zur Not können wir sie immer noch töten, oder? Gefährlicher als die Gehilfen der Agentin können sie nicht sein und es wäre ja auch niemand in der Nähe, der uns anklagen könnte.“
 

Daraufhin lachte Jared lauthals los. „Kleiner, du bist ein Unikat. Da hat Koshi einmal was richtig gemacht, als er dich aufgesammelt hat.“ Der schwarzhaarige Drache ließ den ungewollten Kosenamen einmal unbeachtet und starrte stattdessen Dakkas an. „Das,“ erklärte er, „ist eine sehr gefährliche Idee.“

„Gefährlicher als ein Haufen wildgewordener Engel, Elfen und Zwerge?“, hakte Dakkas nach.
 

Molokosh seufzte. „Jared, die Karte.“ Der Halbwolf lachte erneut und kramte die Karte hervor. Nach einer kurzen Besprechung einigte man sich auf eine etwas direktere Route nach Sellentin, die zuerst durch die Schafsweiden der Baronie und dann durch einen Wald führen würde. Auf alle Fälle würden sie so bessere Chancen haben, was die Flucht vor Selena Windflügel anging.
 

~*~
 

Dieser Abend war anders als die Abende zuvor.

Zuerst einmal konnte die kleine Gruppe diesmal nicht einigermaßen geschützt in ihren Zelten schlafen, sondern musste mit ihren Decken vorlieb nehmen.
 

Hinzu kamen die Verletzungen. Molokosh hatte es schwer, eine einigermaßen angenehme Schlafposition zu finden. Sar’Shan bereitete dem Rest der Gruppe einfach dadurch Sorge, dass er weiterhin Daniels Hilfe ausschlug, obwohl sich sein Arm wohl langsam entzündete. Daniel befürchtete schon, dass den Drachen Wundbrand oder Schlachtfieber ereilen würde.
 

Jared war noch der Munterste von ihnen. Der Halbwolf schien wegen der verbleibenden Wunde weder besorgt noch großartig eingeschränkt zu sein. Laut seinen eigenen Worten würde man in drei Tagen eh nur noch eine kleine rötliche Verfärbung auf seiner Haut sehen. In vier Tagen wäre die Wunde schon gar nicht mehr da. Dakkas beneidete den Halbwolf um seine regenerativen Fähigkeiten.
 

Nostradamus hatte sich den restlichen Tag lang ausgeschwiegen, legte sich jetzt aber neben seinen Bruder. Damit schien der Streit der beiden beendet zu sein. Dakkas fiel erst jetzt ein, als er zusah, wie Jared sich an Sar’Shans gute Seite kuschelte, dass dem Schwarzhaarigen noch niemand etwas von der Vision seines Bruders erzählt hatte.
 

Moment mal. Der Grünäugige verharrte kurzzeitig im Sitzen und breite seine Decke dann langsam weiter aus. Seine Augen betrogen ihn nicht. Der Halbwolf und der Drachen schliefen tatsächlich eng umschlungen ein. Jareds Kopf war auf Sar’Shans Brust gebettet und der gute Arm des Drachen hielt den Halbwolf in einem engen Griff fest.

Das erklärte dann wohl auch Sar’Shans Wut auf die Engel, die Jared verletzt hatten.
 

Stirnrunzelnd krabbelte Dakkas in sein Nachtlager. Er hatte vorher nie darüber nachgedacht… hatte er auch jemanden gehabt, eine Geliebte oder einen Geliebten? Wartete dort draußen irgendjemand auf ihn?

Wenn ja, dann sahen die Chancen nicht gut dafür aus, dass dieser jemand ihn finden würde. He, Dakkas war sich nicht einmal im Klaren darüber, ob er Männlein oder Weiblein bevorzugte, jetzt, wo er drüber nachdachte. Abgestoßen fühlte er sich von Jared und Sar’Shan jedenfalls nicht.
 

Daniel übernahm die erste Nachtwache. Im Nachhinein war es dumm und unverantwortlich von ihnen gewesen, schon am Abend vorher keine Nachtwache zu bestimmen. Aber die Straßen dieses Teil des Landes waren eigentlich ruhig und fast ohne Gefahren. Mit ihren Verfolgern so dicht an ihren Fersen hatten sie nicht gerechnet, nicht einmal Sar’Shan und Jared. Nostradamus war wohl der einzige, der im Endeffekt etwas gewusst haben könnte.
 

Am nächsten Morgen verfolgte die Gruppe das ungute Gefühl, dass ihre Verfolger jederzeit wieder hinter ihnen auftauchen könnten.

Molokosh wies sie an, heute besonders schnell zu sein, damit man noch bis zum Abend einen gewissen See erreichen könnte. Dort würde die Gruppe endlich in der Lage sein, sich richtig zu waschen.
 

Dakkas begrüßte diese Anweisung. Ein echter Badezuber war natürlich goldwert, aber ein See eignete sich doch auch zum Waschen. Wie Sar’Shan und Molokosh es so halb blutverschmiert aushielten, verstand der Grünäugige sowieso nicht. Aber sie hatten ja auch kein Waschwasser oder Zuber dabei.
 

Sie kamen den Tag über erstaunlich gut voran. Obwohl Sar’Shans Wunde beim Wechseln des Verbandes wieder aufsprang und der Drache erneut Blut verlor, was Daniel nicht im geringsten freute. Hinzu kam die stete Weigerung, Medizin oder Heilmagie zu akzeptieren, obwohl eine Entzündung bereits einsetzte.
 

Jared war erstaunlicherweise nicht besorgt und erklärte nur, dass der Grauhaarige schon weitaus schlimmere Wunden heil überstanden habe. Ein ‚Kratzer’ am Arm würde ihn nun auch nicht tot kriegen.
 

Es war am späten Nachmittag, als Dakkas sich den schwitzenden und etwas blass aussehenden Krieger genauer ansah und eine geheime Sorge aussprach. „Was, wenn die Klinge vergiftet war?“ Ein Ruck ging durch den kleinen Trupp – kein wirklicher, mehr ein plötzliches Aufzucken, als alle bis auf Nostradamus ihre Blicke zum Verletzten hin wandten.
 

Sar’Shan grollte. „Nein. Ich denke nicht, dass das der Fall war.“ Doch die Bleichheit des Drachen unterstützte seine Aussage nicht. Molokosh seufzte. „Sar’Shan, wenn wir am See ankommen, wird Daniel dich untersuchen.“ Auf die Einwände des Grauhaarigen hin erwiderte er: „Nur untersuchen, nicht behandeln. Falls es doch ein Gift ist, wird Daniel bestimmen, was zu tun ist. Verstanden? Wir können es uns nicht leisten, abzuwarten, bis dein Körper das Gift besiegt.“
 

Molokosh ging offensichtlich davon aus, dass Sar’Shans Körper diesen Kampf, sollte er stattfinden, gewinnen würde. Dakkas fand das erstaunlich. Selbst Drachen schüttelten nicht jedes Gift einfach ab. Aber normalerweise verweigerten sie auch keine medizinische Behandlung. Irgendetwas an Sar’Shan war anders.

Aber Dakkas konnte sich, was das anging, wirklich nicht beschweren. Er sah Erscheinungen des Todesgottes. Sehr viel mehr ‚anders’ konnte man nun wirklich nicht werden.
 

Nach einem schier endlosen Marsch durch saftige, grüne Wiesen, erreichten sie endlich einen größeren Hügel, von dessen Kuppe aus sie den friedlich daliegenden, schimmernden See sehen konnten. Einige Hasen hatten es sich nahe des Sees bequem gemacht, hoppelten jedoch blitzschnell von dannen, als die schweren Schritte der Drachen nahten.
 

Die Sonne war bereits dabei, im Westen zu verschwinden, als die kleine Gruppe endlich ihr Gepäck ablegte und sich dem See näherte. Während Molokosh und Sar’Shan sich eher vorsichtig ins Wasser wagten entledigte Jared sich kurzerhand seiner Kleidung und sprang hinein. Noch im Sprung verformte sich sein Körper langsam zu dem eines schmächtigen, grau-blonden Wolfes mit kurzem Fell. Als er ins Wasser platschte ließ der Halbwolf einen freudigen ‚Wuff’ aus und tauchte kurz darauf paddelnd wieder aus dem Wasser auf.
 

Daniel schüttelte über die Eigenarten des Zauberers nur seinen Kopf, machte sich dann aber daran, sich ebenfalls im See zu waschen. Dakkas kramte ein Stück Seife aus seinem Gepäck, dass er extra aus Halmsdorf mitgenommen hatte und fühlte sich eine halbe Stunde später endlich wieder einigermaßen sauber.
 

Als die Sonne bereits untergegangen war, saß Dakkas mit überkreuzten Beinen vor dem kleinen Lagerfeuer, das Jared aus Gestrüpp und Ästen von Büschen gemacht hatte. Kurz danach hatte der Halbwolf sich wieder in seine Wolfsform verwandelt und war Jagen gegangen. Es wunderte Dakkas, dass der Zauberer sich überhaupt verwandeln konnte. Bei Mischlingen mit Engeln war das nur selten der Fall.
 

Daniel hatte sich zuerst um Molokoshs Wunden gekümmert und versuchte nun, einen widerstrebenden Sar’Shan zu versorgen. Das erwies sich als äußerst schwierig.
 

Der Drache hatte seinen Arm neu verbunden, sobald er aus dem Wasser heraus war und weigerte sich beständig, den Heiler an die Wunde zu lassen. Molokosh war zu müde, um großartig Wiederworte oder Befehle zu geben und sah dem ganzen Spektakel nur mit einem säuerlichen Ausdruck zu.
 

Dann schaffte es der Heiler doch noch, Sar’Shan zum Kooperieren zu überreden. Erleichtert kramte Daniel sein eigenes Verbundszeug hervor und löste die Bandagen von Sar’Shans Arm.

Die Wunde war noch röter geworden. Der rote, infizierte Bereich hatte sich ein gutes Stück um die eigentliche Wunde herum ausgebreitet und es drang bereits grünlich-gelber Eiter aus ihr heraus. Daniel fluchte und ließ eine sanft glühende Hand über die Wunde hinweg gleiten, ohne den Arm tatsächlich zu berühren.
 

„Die gute Nachricht ist, dass du nicht vergiftet bist.“ Der Grauhaarige lächelte siegessicher und wollte seinen Arm schon wieder aus der Reichweite Daniels ziehen. Doch der Heiler hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest. „Die schlechte ist, dass das hier eine ernsthafte Entzündung ist und wenn ich sie nicht sofort behandele, wirst du Wundbrand kriegen.“
 

Sar’Shan stoppte und schien nachzudenken. Daniel redete weiter auf ihn. „Ich weiß genau, dass eure komischen… Regeln es euch nicht komplett verbieten Heilung anzunehmen. Bei akuter Lebensgefahr und falls die Verletzung eine weiterführende Schlacht behindern würde, gelten zum Beispiel Ausnahmen. Wir werden immer noch verfolgt, Sar’Shan. Das hier ist ein solcher Fall.“
 

Der Krieger starrte in die Nacht. Daniel seufzte. „Sollen wir warten, bis ich Jared davon erzähle?“ Das stimmte den Grauhaarigen dann doch um. Grummelnd stimmte er ein und ließ den Heiler seine entzündete Wunde versorgen.
 

Molokosh war dadurch auch beruhigter. Als Jared kurz darauf mit drei toten Hasen wiederkam, die kaum in sein wölfisches Maul zu passen schienen, jappte er zufrieden, als er den neuen Verband seines Freundes sah. Erst da lächelte Sar’Shan wieder und seufzte. „Ja, ich habe klein bei gegeben. Freu dich.“ Das tat der Wolf dann auch sichtlich, bevor er seine Schnauze im See waschen ging, sich zurückverwandelte und wieder anzog.
 

„Abendessen Koshi. Frischer Hase.“, erklärte der Halbwolf fröhlich und überließ zwei der toten Tiere Daniel, während er eines für sich zurück behielt. Der Heiler säuberte und bereitete die beiden Tiere mit erstaunlicher Schnelligkeit vor. Bald schon brutzelten sie über dem kleinen Feuerchen.
 

Jared hielt sich nicht mit solchen Feinheiten auf. Eine seiner Hände war zu einer Klaue verformt, mit der er dem Tier das Fell abzog, bevor er mit Reißzähnen hinein biss. Dakkas konnte seine Augen nicht von dem faszinierendem Anblick nehmen. Dann musste er schmunzelnd den Kopf schütteln. Werwölfe waren leicht zufrieden zu stellen, was ihre Mahlzeiten anging. Nur die Menge war problematisch.
 

Wie ein Textbuch oder eine Lehrvorlesung sprudelte es aus Dakkas Erinnerung in seine Gedanken über. Ein erwachsener Werwolf konnte am Tag gut zehn Pfund Fleisch essen, locker mehr. Im Winter stieg das bis auf 13 Pfund. Natürlich aßen sie nicht nur Fleisch, aber das Fleisch war notwendig.
 

Mit geringeren Mengen als diesen zehn bis dreizehn Pfund kamen sie zwar bis zu zwei Wochen lang aus, aber dann verloren sie langsam an Kraft und ihre Heilung wurde langsamer. Komplett ohne Fleisch hielt ein Werwolf es nur drei Tage lang aus.
 

Plötzlich wurde Dakkas klar, dass Jared in den vergangenen Tagen zu wenig Fleisch gegessen hatte. Auch wenn er nur ein halber Werwolf war, eine gewisse Menge Fleisch war nötig. Vor allem nach seiner Verwundung am Vortag.

Fragend blickte der Grünäugige Molokosh an. „Wann erreichen wir den Wald?“

Der Drache blickte zwar verwirrt ob dieser Frage, beantwortete sie jedoch. „Innerhalb der nächsten zwei, drei Tage. Wieso?“
 

Dakkas nickte nur und beantwortete die Frage nicht. Aber sein Blick fiel wieder auf Jared, der den Hasen in Windeseile verschlungen hatte. Sobald sie den Wald erreicht hatten, würde der Halbwolf vielleicht ein Reh oder einen Hirsch erlegen können. Das hatte er bitter nötig.
 

Nach dem Abendmahl bestand Molokosh darauf, das Feuer schnell zu löschen. Warm genug war es auch so und dem Drachen war dieses Leuchtsignal für ihre Verfolger von Anfang an nicht recht gewesen. Der Hunger hatte jedoch gesiegt. Bei dem Kampf waren viele ihrer Rationen unbrauchbar geworden, zertrampelt im Gefecht. Von jetzt an würde die Gruppe viel auf Jareds Jagdtalent vertrauen müssen.
 

~*~
 

Ihre Verfolger zeigten sich nicht die nächsten drei Tage lang, was jeden in der Gruppe beruhigte. Außer Nostradamus vielleicht, aber der Seher war sowieso nie beunruhigt gewesen und wusste wahrscheinlich von Anfang an, dass sie im Moment sicher waren.
 

Jareds Wunde war wie von ihm prophezeit schon fast vollkommen verschwunden. Der Halbwolf hatte es auf sich genommen, die Umgebung der Gruppe mit seinen Sinnen auszuspähen, Abends in seiner wölfischen Form zu jagen und die Landschaft noch weiter auszukundschaften.

Sar’Shan hatte trotz Daniels Behandlung ein hohes Fieber bekommen, was der Heiler dem Krieger und seinem Sturkopf anlastete. Molokosh erholte sich langsam von seinen eigenen Verletzungen, würde aber noch länger nicht vollkommen in Ordnung sein.
 

Die einzige Sorge der Gruppe war Sar’Shan, der am Nachmittag des dritten Tages, als sie endlich die Ausläufer des Waldes erreichten, gegen einen Baum sackte und eine Pause verlangte. Jared war sofort damit beschäftigt, um ihn herum zu laufen wie ein… besorgter Wolf wahrscheinlich.
 

Daniel murmelte etwas zu sich selbst, bevor er den Kopf schüttelte. „Ich hatte dich ja gewarnt. Du hättest mich die Wunde eher behandeln lassen sollen.“ Der Drache grollte schwach und schloss seine Augen. Dakkas schüttelte nur seinen Kopf. „Wo ist der nächste Bach, See oder so etwas?“, fragte er Molokosh.
 

Der Drache runzelte seine Stirn und schüttelte dann den Kopf. „Ich habe keine Ahnung.“
 

Jared hob seinen Kopf und schnüffelte. „Ich kann Wasser riechen. Östlich von hier.“ Der Grünäugige nickte. „Gut wir müssen dahin. Solange Sar’Shan in dem Zustand ist, kommen wir eh nicht wirklich voran.“ Daniels Augenmerk, ebenso wie Jareds, fiel auf Molokosh. Doch der Drache nickte nur langsam. „Dakkas hat Recht. Wir müssen abwarten, bis Sar’Shan wieder halbwegs auf den Beinen ist. Geh du voraus, Jared.“
 

Molokosh half dem fiebernden Sar’Shan auf die Beine und gemeinsam mit Daniel schaffte er es, den Grauhaarigen bis zu dem kleinen Bach im Wald zu tragen, zu dem Jared sie führte. Dort angekommen wurde Sar’Shan erneut an einen Baum gelehnt.

Dakkas sammelte ihr Gepäck am Fuße eines anderen, nahe stehenden Baumes und wandte sich dann an den Halbwolf. „Geh jagen. Etwas großes. Keine Kaninchen. Daniel, schau nach, was du für Sar’Shan alles machen kannst. Je schneller wir weiter kommen, desto besser.“
 

Diese Anweisungen fanden allgemeine Zustimmung. Molokosh setzte den wie immer stummen und widerstandslosen Nostradamus ins Gras, Daniel ließ seine glühenden Hände erneut über Sar’Shans Arm wandern und Jared entledigte sich seiner Kleidung für eine neue Jagd. Dakkas setzte sich auf einen Stein neben dem Bach und streckte seine Beine aus.
 

Es dauerte drei lange Stunden, bis Jared zurück kehrte. Daniel hatte Sar’Shans Wunde in dieser Zeit mit einem frisch gepressten Kräutersud beträufelt, neu verbunden und mit seiner Magie versorgt. Molokosh war seit einer halben Stunde damit beschäftigt, Kreise ins Gras zu laufen.

Die angespannte Ruhe der Gruppe wurde durch Rascheln und Getrappel unterbrochen. Dann stürzte ein stattlicher Hirsch durchs Unterholz, gefolgt von einem grau-blonden Wolf. Bevor der Hirsch den Schock über die unerwarteten Männer überwinden konnte, hatte Jared ihn erlegt.
 

Zufrieden setzte der Halbwerwolf sich neben seiner Beute ins Gras und zeigte stolz sein rötlich verschmiertes Maul. Von den Blutspritzern auf seinem Fell ausgehend war ziemlich klar, dass Jared selbst bereits gegessen hatte.
 

Molokosh betrachtete zuerst den Hirsch und dann den inzwischen gähnenden Wolf. „Wunderbar. Blut direkt neben unserem Schlafplatz. Wasch dich.“ Der Wolf schnaubte und trottete zum Bach. Dakkas musste lachen. „Und du beschwerst dich, weil ich meine Waffe putze?“ Molokosh lächelte dünn. „Das war keine… Beschwerde. Eher eine Beobachtung.“
 

Die nächste Stunde wurde damit verbracht, den Hirsch essfertig zu kriegen und zu rösten, ohne dabei den ganzen Wald niederbrennen zu lassen. Was durch Jared äußerst schwer wurde. Der Zauberer hatte bislang immer seine Magie benutzt, um das Feuer ans Laufen zu kriegen. Diesmal entzündete sein Feuerball jedoch etwas mehr als nur das gesammelte Feuerholz.
 

Etliche Minuten und Löschversuche später schalt Molokosh den Halbwolf für seine idiotischen Ideen und bestimmte Daniel von da an zum Feueranzünder – „Weil der wenigstens mit Zündsteinen umgehen kann!“.
 

Irgendwann dann hatten sie es tatsächlich geschafft, ihr Hirschfleisch gebraten zu bekommen. Dakkas war fast soweit gewesen, sich an rohem Hirschfleisch zu probieren. So unterschiedlich von rohem Rappata konnte es schließlich auch nicht schmecken.
 

Als ihre Abendmahlzeit eingenommen und das Feuer gelöscht war, übernahm Daniel wie immer die erste Nachtwache, während der Rest der Gruppe es sich so bequem wie möglich machte. Laut Aussage des Heilers würde Sar’Shan nicht sehr viel mehr als einen Tag brauchen, um wieder einigermaßen zu gesunden, jetzt, wo er endlich volle Heilmagie in Anspruch nahm. Wenigstens sein Fieber und der einsetzende Wundbrand wäre dann besiegt.
 

Dakkas schlief innerlich grummelnd ein. Wenn es nicht für diesen dickköpfigen Drachen wäre, könnten sie schon viel schneller und weiter unterwegs sein. Er könnte schon längst in Tirin sein und Rita treffen.
 

Dakkas war so müde, dass ihm dieser letzte Gedanke gar nicht als komisch oder besonders auffiel.

Sellentin

A/N: Ein herzlicher Dank geht an Suran, der das Kapitel hier freundlicherweise einmal Beta-Gelesen hat. Außerdem möchte ich anmerken, dass ich weiß, dass die Gottesanbeterin eine Unterart/Verwandte der Heuschrecken ist. Der Vergleich unten im Kapitel bleibt trotzdem stehen ^^
 

10 – Sellentin
 

„Findest du nicht, dass das etwas riskant ist?“

Die Frage war berechtigt, und der zierlich anmutende junge Mann mit den grünen Augen nickte langsam. „Natürlich ist es das. Wenn es das nicht wäre, wäre es nicht interessant.“ Seinen Mund umspielte ein Lächeln, während er das sagte, und das kunstvoll gearbeitete Glas in seiner Hand wurde spielerisch von links nach rechts geschwenkt.
 

„Manchmal verstehe ich dich nicht, Dan.“, gab sein Gegenüber, eine mittelgroße Frau von normaler Statur und mit rot-blonden Haaren zu. Dan zuckte nur mit den Schultern. „Das musst du nicht.“ Es verstand ihn sowieso so gut wie niemand.
 

„Wozu brauchst du den Edelstein überhaupt? Ich meine, hast du nicht schon genügend?“

Das war ebenfalls eine berechtigte Frage. „Es geht nicht darum, wie viele ich habe oder haben könnte.“, antwortete der junge Mann, „sondern darum, wie viel Spaß es macht, sie zu bekommen. Verstehst du?“
 

Die Frau schnaubte nur und leerte ihren Bierhumpen in einem Zug aus. Mit ihrem Handrücken wischte sie sich den Mund ab und zeigte dabei spitze Reißzähne. „Das ist sinnlos, Dan! Normalerweise steigst du bei reichen Adeligen ein, oder Kirchenvätern… das hier ist ein Magierlabor, Dan!“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Du bringst dich eines Tages noch um – oder schlimmeres! Und erzähl mir nicht, es wäre nicht was dran an diesem Edelstein. Und es geht dir garantiert nicht nur um deinen Spaß!“
 

Der Grünäugige lächelte trocken. „Wenn du die Auswahl zwischen ewiger Langeweile und keinem Risiko oder Spaß und etwas Risiko hättest, was würdest du wählen?“

Die Frau schnaubte erneut, ließ die offensichtliche Ablenkung von der Bedeutung des Steines jedoch zu. „Du könntest mit deiner Zeit auch sinnvolleres anstellen, als irgendwelche Klunker zu klauen.“

Der junge Mann lächelte nur geheimnisvoll. „Sicherlich. Ich könnte Bücher schreiben.“ Kurz glitzerten seine Augen, als wenn er einen privaten Scherz belächelte. „Aber das wäre nicht annähernd so aufregend.“
 

Die Werwölfin schüttelte nur verständnislos ihren Kopf. „Du könntest so viel erreichen, Dan. Wenn du dich nur an die richtigen Leute wenden würdest. Mit deinen Potenzialen, deinem… deinen… Ressourcen! Du… du könntest – Dakosh…“

Grüne Augen verengten sich zu dünnen Schlitzen und ein kaltes Funkeln trat in sie. „Dakosh? Große Worte, Rita.“
 

Die Werwölfin verschränkte ihre Arme. „Denk doch wenigstens darüber nach!“ Mit einer Verabschiedung erhob sie sich dann und ging wieder ihrer Wege. Zurück blieb der amüsiert drein blickende junge Mann mit den grünen Augen.
 

Dan seufzte. „Man kann nicht immer jedem helfen. Dadurch verlernt man nur, sich auf sich selbst zu verlassen, Rita.“ Mit einem Handzeichen bestellte er erneut ein Glas Wein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Nachdem sein Glas aufgefüllt worden war, schien es kurzzeitig so, als wenn Rauch durch seine Pupillen ziehen würde. Kurz darauf waren die gerade noch grünen Augen blau geworden.
 

„Dakosh…“ Dan schmunzelte. „Lass nicht hören, wie du das sagst, Ritaleinchen. Erst recht nicht gegenüber den richtigen Leuten. Dieses Wort ist gefährlich, und nicht nur hier.“ Der grinsende Mann lehnte sich nach hinten und reckte seinen Kopf über die Lehne seines Stuhles, so dass er gerade eben noch die hinter ihm sitzende Gestalt erkennen konnte. „Nicht wahr, Brüderchen?“

Dakkas erwachte plötzlich, schweiß gebadet und verwirrt. In seinem Kopf spukte noch die Erinnerung an rot-blonde Haare, eine Frau und eine dunkle Kneipe, dann war aber auch das wieder im Vergessen versunken.
 

Er hätte sich ohrfeigen und schreien können. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er mit einem komischen Gefühl erwacht war, aber das erste Mal, dass die Erinnerung an einen… Alptraum… oder was immer es sein sollte einigermaßen erhalten war. Vorher hatte er einfach nicht gewusst, weshalb er nachts aufgeschreckt war. Jetzt konnte er sich zumindest schemenhaft an einen komischen Traum erinnern.
 

Warum träumte er von dieser Frau? Die Frage blieb vorerst unbeantwortet.
 

Ein Blick durch ihr hastig errichtetes Lager zeigt Dakkas, dass es bereits später Morgen sein musste. Sar’Shan schlief noch und schwitzte offensichtlich stark. Jared lag, als Wolf in sich zusammen gerollt, neben ihm und hatte seinen Kopf auf den bauch seines Freundes gelegt. Molokosh und Nostradamus waren nirgends zu sehen, Daniel saß jedoch an einen Baum gelehnt unweit von Sar’Shan auf dem Boden.
 

Der Heiler sah besorgt aus und das gefiel Dakkas überhaupt nicht. Besorgt bedeutete wahrscheinlich, dass es ein Problem mit ihrem drakonischem Krieger gab. Das bedeutete wiederum, dass sie nicht nach einem Tag Ruhe würden weiter reisen können.
 

Innerlich seufzend stand der Grünäugige auf und begab sich zum Nahen Bach, um sich wenigstens ein bisschen zu waschen und frisch zu machen. Danach schlurfte er zurück zu den anderen und setzte sich neben Daniel ins Gras. „Morgen.“

Der Heiler nickte freundlich und Jared hob kurz seinen Kopf. Dakkas seufzte, diesmal laut. „Deinem Gesicht sehe ich an, dass etwas nicht gut läuft?“
 

Der Heiler schüttelte nur schwach seinen Kopf und reichte Dakkas ein wenig Brot und Käse als Frühstück. „Ganz und gar nicht.“ Der Schwarzhaarige aß ein paar Bissen, bevor er versuche, dem Heiler mehr zu entlocken. „Woran liegt es? Oder was bereitet dir so viele Sorgen?“
 

Daniel schloss kurzzeitig seine Augen und ließ seinen Kopf gegen den Baumstamm hinter sich fallen. „Etwas verhindert die komplette Heilung von Sar’Shan. Und ich habe keine Ahnung, was diese Idioten an ihre Waffen getan haben könnten, um diesen Effekt zu erzielen.“ Der Halbdrache seufzte. „Inzwischen denke ich, dass die Infektion der Wunde gar keine richtige Infektion ist, sondern auch durch die Waffe oder was an ihr dran war verursacht wurde.“
 

Das waren wirklich schlechte Neuigkeiten. Dakkas sah zu Sar’Shan. Dem Krieger ging es offensichtlich schlecht: Er schwitzte, hatte wahrscheinlich Fieber, schien nicht wach zu sein oder bald wach zu werden. Seine Haut hatte einen für Drachen krankhaften, leicht bläulichen Ton angenommen.
 

Plötzlich verengten die Augen des Schwarzhaarigen sich nachdenklich. „Warum nur er?“, fragte er den Heiler, der ihn verwirrt ansah. „Warum nur Sar’Shan? Jared wurde verletzt, Molokosh auch. Würde es nicht mehr Sinn machen, den Werwolf mit der giftigen Waffe anzugreifen, die Heilung verhindert?“
 

Jared hob erneut seinen wölfischen Kopf und gab ein leises Heulen von sich. Daniel blinzelte und nickte. Dakkas hatte Recht. Dass Sar’Shan alleine von diesem Gift oder was immer es war betroffen war, erschien merkwürdig.
 

Der Heiler erhob sich und kniete sich neben dem fiebrigen Krieger hin. Jared entfernte sich ein paar Schritte von seinem Geliebten, um dem Heiler Platz zu geben und ließ sich auf seinen Hinterläufen nieder. Das inzwischen altbekannte Leuchten umgab wieder Daniels Hände, während der Heiler seinen Patienten untersuchte.

„Ich kann nichts feststellen… nur eine normale Infektion. Wundbrand. Das ist alles. Dabei kann es nicht alles sein, nicht bei dem, was ich schon für ihn getan habe.“
 

Dakkas runzelte seine Stirn. „Vielleicht ist es gar kein Gift sondern etwas anderes, dass auf der Waffe war. Ich meine, wir wissen ja nicht, wo der Kerl, der Sar’Shan verwundet hat, die Waffe aufbewahrt hat.“

Daniel blinzelte verdutzt. „Du meinst eine zweite Krankheit oder Infektion? Durch Schmutz auf der Waffe?“

„Hast du eine bessere Idee?“, antwortete der Kleinere. Der Heiler verneinte seufzend.

„Das kann wirklich sein, ja. Dann… ich kenne ein Rezept für einen heilenden Sud, der fast jede Infektion oder Krankheit besiegen sollte. Aber die Kräuter habe ich nicht alle hier und sie wachsen auch nicht in diesen Gegenden.“
 

Jared heulte sanft und legte seinen Kopf auf seine Vorderpfoten. Daniel seufzte erneut. „Ich kann Sar’Shan natürlich mit Heilmagie voll pumpen… dann übernimmt meine Zauberkraft den Kampf gegen die Infektion. Aber das zögert den Krankheitsverlauf nur hinaus. Und ich werde es nicht ewig anhalten können.“

Dakkas legte seinen Kopf schief. „Wie lange würde es gehen?“

Daniel schnitt eine Grimasse. „Eine Woche, vielleicht anderthalb. Wenn es hoch kommt maximal zwei.“

„Also genug Zeit, um Sellentin zu erreichen und ihn da auszukurieren.“, entschied Dakkas.
 

„Zeit für was?“ Molokosh war mit seinem Bruder zurück gekehrt. Der Seher schritt an allen anderen unbeteiligt dran vorbei und fing an, seine Sachen zusammen zu sammeln. Als wenn er wüsste, dass sie bald weiter reisen würden.
 

Schnell hatte Daniel Dakkas und seinen Einfall erklärt und von Sar’Shans Chancen berichtet. Solange Daniel nicht wusste, was genau es war, konnte er den Körper des Drachen nur unterstützen und ihm Energie zuführen. Das sah auch Molokosh ein und hieß die kleine Gruppe bald darauf an, sich marschbereit zu machen. Je schneller sie in Sellentin ankamen, desto höher waren Sar’Shans Chancen auf eine komplette Heilung.
 

Jared war den Rest des Tages und auch die zwei weiteren in einer äußerst üblen Stimmung. Sar’Shan konnte dank Daniels Magie wieder gehen und war wieder ansprechbar, fast normal, doch es war jedem schmerzlich klar, dass der Drache nur durch die Magie des vermochte. Die Wunde auf seinem Arm war zu einer äußerst unschönen, eiternden, roten Masse geworden.
 

Bald schon zeigte sich jedoch, dass der Krieger Probleme beim Essen hatte – er behielt nichts unten. Kurz darauf klagte er bei Daniel auch über Gliederschmerzen und schien immer müde zu sein. Der Heiler erübrigte so viel seiner heilenden Energie, wie er konnte, aber der Drache wurde trotzdem immer schwächer und konnte nicht viel essen.
 

Am vierten Tag nach ihrer kurzen Rast im Wald verließen sie eben jenen und hielten über die hügelige Graslandschaft weiter auf Sellentin hinzu. Laut Molokosh würden sie in zwei bis drei Tagen dort ankommen, wenn sie ihr Tempo beibehielten. In anbetracht auf Sar’Shans Zustand versuchten sie, so schnell wie möglich zu sein.
 

Die Tage waren dabei noch heißer zu werden, und auf der größtenteils schattenfreien Landschaft schien die Luft schon vor Hitze zu flimmern. Damit war das Wetter perfekt für die wüstenstämmigen Drachen, die sich mit jedem heißen Sonnenstrahl wohler zu fühlen schienen. Selbst Jared machte das Wetter so gut wie nichts aus. Der einzige, der schwitzte und sich vor Hitze fast Tod fühlte war Dakkas.
 

Als sie am Ende des vierten Tages nach dem Stop im Wald Halt machten, fiel Dakkas erschöpft zu Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war so müde und abgematert. Sein Kopf schmerzte, seine Augen brannten und tränten. Ihm war schwindlig und etwas übel. Sein Hals war irgendwie kratzig.
 

Daniel sah ihn kurzzeitig besorgt an, doch Dakkas tat diese Probleme als durch die Hitze verursacht ab. Es war ihm eh unerklärlich, warum er noch keinen Sonnenbrand hatte.
 

Sie hatten gerade ihr Abendmahl zu sich genommen, als sich die Erklärung von Sar’Shans mysteriöserer Infektion abzeichnete.
 

Dakkas musste plötzlich fürchterlich husten und sich mit einer Hand abstützen, obwohl er bereits saß. Daniels Kopf wirbelte herum, als der Heiler das hörte und seine Augen bohrten sich in Dakkas grüne.

„Natürlich…“, flüsterte der Halbdrache und kniete sich neben dem kleinsten Gruppenmitglied hin. Seine Hände wanderten über die Brust des mitgenommen aussehenden Schwarzhaarigen und ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.
 

„Grippe. Es ist eine Grippe. Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Fieber… Husten. Sar’Shan muss sie irgendwie von einem der Angreifer bekommen haben – oder von der Klinge, oder… keine Ahnung. Er hat Dakkas angesteckt.“ Der Grünäugige blinzelte müde. „Wunderbar.“ Er hustete. „Warum hustet Shan nicht?“ Daniel kramte bereits in seiner immer präsenten Kräuter- und Medizintasche. „Nicht jeder Grippekranker hat Husten.“, erklärte der Heiler und stachelte dann das erlöschende Feuer ihres Abendmahls neu an.
 

„Das ist aber gut. Jetzt weiß ich, was ich tun muss. Sar’Shan und du werdet schnell wieder auf den Beinen sein.“ Jared atmete hörbar erleichtert aus und schüttelte seufzend seinen Kopf. „Die Infektion der Wunde muss ihn anfällig gemacht haben. Eine Grippe zwingt sonst keinen Drachen in die Knie.“ Daniel nickte bestätigend. „Was erklären würde, warum sich der Rest von uns nicht angesteckt hat… Keine Sorge Dakkas, dir geht es auch bald besser.“
 

Das war aber beruhigend, dachte der Grünäugige zu sich und ließ die Behandlung über sich ergehen. Wenigstens war geklärt, was den Drachenkrieger so krank gemacht hatte. Solange sie verfolgt wurden, war Sar’Shan eine ihrer besten Waffen.
 

~*~
 

Sellentin war so wie Halmsdorf, nur kleiner und mit noch weniger Wildblütern bevölkert. Von der Architektur, der Struktur der Straßen und den abweisenden Blicken kam es Halmsdorf gleich. Dakkas hoffte inständig auf ein Gasthaus mit einem ordentlichen Badezuber, da er sich den Staub und Schmutz der Reise von den Knochen waschen musste.
 

Der Grünäugige hatte sich noch nicht ganz von der Grippe erholt, obwohl Daniel sie frühzeitig bemerkt und behandelt hatte. Sar’Shan würde noch einige Tage Ruhe brauchen, bevor er wieder einigermaßen fit war.
 

Dakkas seufzte, als sie endlich durch das Stadttor Sellentins schritten.

So langsam hingen ihm diese Engelsstädte zum Hals raus. Was schlecht war, da ihm das Reisen durch die Landschaft auch zum Hals raushing. Ebenso wie verfolgt zu werden. Er war immer noch der Meinung, dass man diese Selena umbringen und es damit erledigt nennen sollte. Alles andere war einfach zu viel… Aufwand und Mühsal.
 

Als die Gruppe ihre Zimmer im Gasthaus „Zur lachenden Eiche“ bezog, ließ Dakkas sich zuerst auf das halbwegs weiche Bett fallen und schloss die Augen. Daniel wollte nach Waschmöglichkeiten schauen und ihre restlichen Reisegefährten waren auch erst mal geschafft von der Anreise. Alle hatten sich auf ihre jeweiligen Zimmer zurück gezogen.
 

Molokosh wollte nur so lange wie unbedingt nötig in der Stadt bleiben. Jared und er würden sich sobald wie möglich um weiteren Proviant und Ausrüstung für die Weiterreise kümmern, Sar’Shan und Dakkas sollten sich auskurieren.
 

Der Grünäugige hatte Molokosh gebeten, ihnen Pferde zu besorgen, da sie so weitaus schneller voran kommen würden. Der schwarzhaarige Drache war nicht optimistisch gewesen, was die Möglichkeiten für den Pferdekauf anging, hatte aber versprochen, sich umzuhören. Dakkas Angebot, für den Preis der Pferde aufzukommen, hatte er jedoch brüsk abgelehnt. Die de’Sahrs wären keine armen Adeligen, hatte er gesagt, auch wenn die Engel ihren Namen nicht respektierten.
 

Alles in allem verlief ihr kurzer Aufenthalt in Sellentin eher ruhig. Dakkas verbrachte die meiste Zeit im Gasthauszimmer, zusammen mit dem sich erholendem Sar’Shan. Der grauhaarige Drache hatte einige gute Ideen, um die Langeweile, die mit ihrer Bettruhe kam, zu vertreiben. Schon bald konnte Dakkas feststellen, dass er ein Naturtalent war, was das Kartenspiel anging.
 

Jared konnte erstaunlicherweise ganz passabel singen. Der Werwolf hatte mit Daniel das Zimmer getauscht, nachdem klar geworden war, dass Sar’Shan und Dakkas sowieso die meiste Zeit im gleichen verbringen würden. Seine Singstimme hatte Dakkas jedoch erst kennen gelernt, als der Werwolf die Melodie erkannt hatte, welche der Grünäugige ab und zu vor sich her summte.
 

„Hätte nie gedacht, dass ein Freund von Molokosh ‚Schockschwere Not’ kennt.“, kommentierte der Werwolf grinsend. Dakkas lächelte. „Das Lied ist eines der wenigen Dinge, an die ich mich erinnern konnte.“

Jared nickte mitfühlend. „Keine Sorge, der Gedächtnisverlust wird sich schon wieder richten. Wenn Daniel richtig zu verstehen ist, ist nur fraglich, wann genau du dich wieder an alles erinnerst.“

Der Grünäugige lächelte schwach und nickte. „Ich weiß… Aber das macht die Sache nicht erträglicher.“

Jared grinste wölfisch. „He, vielleicht hebt ja ein Liedchen deine Stimmung… Moment…“
 

Die Stimme des Werwolfs verlor etwas von ihrer Rauheit, die sonst immer in ihr mitschwang, während er sang. Sein verschmitztes Grinsen und der fröhliche Ton in ihr trugen nur zur Wirkung des Vorgetragenen bei. Wenn er kein Zauberer geworden wäre, dachte Dakkas bei sich, hätte er auch gut Spielmann werden können.

„Ein Mann - und das geschieht nicht oft -

Bekommt Besuch, ganz unverhofft,

Von einem jungen Frauenzimmer,

Das grad, aus was für Gründen immer -

Vielleicht aus ziemlich hintergründigen -

Bereit ist, diese Nacht zu sündigen.
 

Der Mann müsst nur die Arme breiten,

Dann würde sie in diese gleiten.

Der Mann jedoch den Mut verliert,

Denn leider ist er unrasiert.

Ein Mann mit schlechtgeschabtem Kinn

Verfehlt der Stunde Glücksgewinn,

Und wird er schließlich doch noch zärtlich,

Wird er's zu schwach und auch zu bärtlich.
 

Infolge schwacher Reizentfaltung

Gewinnt die Dame wieder Haltung

Und lässt den Mannen, rauh von Stoppeln,

Vergebens seine Müh verdoppeln.

Des Mannes Kinn ist seitdem glatt -

Doch findet kein Besuch mehr statt.“

(1)
 

Dakkas schnaubte, etwas amüsiert durch die kurzen Verse. Dann schüttelte er den Kopf. „Bereit ist, zu sündigen? Sag nicht, du teilst plötzlich die Ansicht der Sonnenpriester, was die Ehe und… ‚die Freuden des Körpers’, wie sie es nennen, angeht?“
 

Der Halbwolf schmunzelte. „Nein. Aber der Schreiber der Verse glaubte wohl daran.“ Ein entschuldigender Ausdruck trat in sein Gesicht. „Und mir fiel gerade nichts besseres ein.“

Sar’Shan lächelte still und schlang einen Arm um seinen Geliebten. „Jared sammelt Lieder und Gedichte. Es ist wie eine Art… Hobby für ihn.“, erklärte der Drache.
 

„Interessant. Merkst du sie dir nur oder sammelst du auch Bücher…?“

Der Halbwolf seufzte. „Ich habe Bücher – daheim. Auf Reisen lohnt es sich nicht, sie mitzunehmen. Aber vieles kann ich auswendig.“ Der Zauberer runzelte seine Stirn. „Und gerade ist mir ein gutes eingefallen.“ Er blickte hoch zu seinem Freund.

„Wer krank ist, wird zur Not sich fassen.

Gilt's, dies und das zu unterlassen.

Doch meistens zeigt er sich immun,

Heißt es, dagegen was zu tun.

Er wählt den Weg meist, den bequemen,

Was ein- statt was zu unternehmen!“ (2)

Beim letzten Wort stach Jared dem Drachen mit dem Finger in die Rippen und sah ihn böse an.
 

Shan zog eine Augenbraue hoch. „Normalerweise nehme ich weder etwas ein, noch etwas unter.“ Der Halbwolf grummelte. „Genau das ist ja das Problem. Sturer alter Sack.“ Shan lachte leise und gab als Antwort:

„Der Kranke traut nur widerwillig

Dem Arzt, der's schmerzlos macht und billig.

Lasst nie den alten Grundsatz rosten:

Es muss a) wehtun, b) was kosten.“ (3)

Jared seufzte. „Ja, ich weiß. Das ist ein Punkt, von dem ich dich nie überzeugen werde. Aber du musst dich doch nicht so penibel an den Wortlaut halten… schließlich sind eure ‚Regeln’ eher… starke Vorschläge.“
 

Dakkas hörte nur verwirrt zu. Anscheinend handelte es sich hierbei um ein altes Argument oder … Streitgespräch zwischen den beiden. Und anscheinend ging es um Sar’Shans Weigerung, ärztliche Hilfe anzunehmen.
 

Diesmal musste er aber weiter fragen. „Entschuldigt, wenn ich zu direkt bin – aber ich habe immer noch nicht ganz verstanden, warum du Daniels Hilfe ausgeschlagen hast, Shan.“
 

Der grauhaarige Drache verlor sein Lächeln, mit dem er gerade noch Jared angeschaut hatte und starrte auf die Wand neben Dakkas. „Ich dachte, es wäre offensichtlich, aber vielleicht…“

Der Grünäugige blinzelte, etwas verwirrt. „Tut mir leid. Manchmal verstehe ich Dinge nicht. Es muss an der Amnesie liegen – einige Dinge sind einfach nicht da bei mir.“

„Schon in Ordnung.“
 

Sar’Shan zog Jared auf seinen Schoß und beantwortete die Frage. „Ich bin ein Schmerzensjünger. Ein Anhänger des Gottes Vash.“

Vash. Ein Drei-Gott – Gott des Krieges, der Schmerzen und besessenen Liebe. Eine ungewöhnliche Kombination, aber seit Urzeiten nur in diesem Zusammenhang beständig. Wie bei allen Göttern Kvi’stas war ‚Vash’ mehr der Name der Stellung dieses bestimmten Gottes. Götter konnten sterben und neue empor steigen, sofern derjenige, der es versuchte, genügend Macht, Wissen und die richtigen Rituale hatte.
 

Schmerzensjünger waren die Elite-Krieger des Gottes. Sie waren gefährlich, nicht nur durch ihre Talente im Kampf. Schmerz von Verwundungen hielt sie nicht auf – stachelte sie eher noch an. Und ein extremer Teil von ihnen glaubte tatsächlich, dass die Heilung von Wunden, die Wegnahme von Schmerz, gegen den Willen ihres Gottes war.
 

Was in Dakkas Meinung äußerst idiotisch war, aber nun gut. Doch halt – seine Erinnerung war vielleicht löchrig, aber soweit er wusste, gab es momentan keinen Vash. Der letzte war doch… vor gut tausend Jahren getötet worden, mitsamt seiner Anhängerschaft. Seiner kompletten Anhängerschaft. Und die Aufzeichnungen über die nötigen Rituale für einen neuen Vash waren vernichtet worden.
 

Sein Unverständnis musste sich wohl auf seinem Gesicht gezeigt haben, denn sowohl der Halbwolf als auch der Drache sahen ihn vorsichtig an. „Dakkas…?“

„Ent… Entschuldigung. Ich… muss wohl mehr vergessen haben, als ich dachte… Vash – gibt es wieder?“
 

Die beiden sahen sich kurz an, bevor Sar’Shan sich wieder zu ihm wandte. „Seit zehn Jahren. Du wusstest das nicht mehr?“

Der Grünäugige öffnete und schloss seinen Mund. „Nein.“ Dann schüttelte er mit einem Lächeln den Kopf. „Was irgendwie schade ist. Ein Haufen Leute muss sich fürchterlich aufgeregt haben, als das passiert ist.“
 

Shan grinste und Jared lachte laut. „Du ahnst gar nicht, wie recht du da hast. Das Geflügel flattert heute noch aufgeregt durch die Gegend, um herauszufinden, wer der Gott ist und wo er steckt.“

„Das wissen sie also nicht?!“ Bei sich dachte Dakkas, dass es erstaunlich war, dass das vor den weißen Herren geheimgehalten werden konnte. Gerade bei so einem neuen ‚Gegner’ waren sie meist erpicht, alles zu erfahren.

Shan lächelte grimmig. „Der Ahnherr hält sich bedeckt und hat einige gute Verbündete.“
 

Dakkas lächelte. „Natürlich. Seit wann bist du ein Jünger?“

„Seit zehn Jahren.“ Der Drache lächelte. Dakkas nickte erstaunt. Das bedeutete, dass Shan kurz nach der Gottwerdung des Vash zu dessen Glauben übergetreten war – oder ihm von Anfang an angehörte.

Der Grünäugige runzelte seine Stirn. „Shan, nimm es mir bitte nicht übel – aber dein Gott würde sicherlich mehr davon haben, wenn du dich heilen lassen würdest, um gegen die Engel anzutreten, anstatt eine Grippe zu kriegen. Und um Schmerzmittel musst du Daniel ja nicht bitten.“
 

Der Drache seufzte, als sein Halbwolf-Geliebter diese Worte nachdrücklich wiederholte. „Jetzt seid ihr schon zwei. Wunderbar.“, grummelte der Krieger griesgrämig. Jared schmunzelte. „Unser graziler Begleiter hat trotzdem recht.“

„Ich bin nicht grazil!“, beschwerte Dakkas sich. Die beiden anderen sahen ihn nur ungläubig an und tauschten einen Blick aus.
 

~*~
 

Im Endeffekt blieben sie nur viereinhalbe Tage in Sellentin. Molokosh hatte tatsächlich Pferde für sie gefunden – sechs halbwegs gute, gesunde Tiere von kastanienbrauner Farbe. Außerdem hatte der adlige Drache neue Zelte und bessere Schlafrollen aufgetrieben – ein wahrer Luxus, verglichen mit den vorherigen Reisetagen.
 

Sie hatten Halmsdorf jetzt vor knapp zweieinhalbe Wochen verlassen. Laut Jared und Sar’Shans Karte war ihr nächstes Ziel Kleingaren, ein Bergdorf in den Dern Bergen, direkt an einem der beiden einzigen gefahrlos passierbaren Pässe über diese Gebirgskette gelegen. Es gab mehrere passierbare Wege dorthin, aber zuerst mussten sie Baronie Ludgenstein verlassen. Und dazu mussten sie den Zollposten auf der Straße kurz außerhalb Sellentins passieren.
 

Jetzt durch die offene Landschaft zu laufen war sinnlos. Wenn der Baron irgendwo seine Ritter patrouillieren ließ, dann an der Grenze. Dort konnte er schließlich noch Profit machen. Nur befürchtete Molokosh, dass ihre Verfolger ebenfalls an der Grenze auf sie warten würden, oder diese unpassierbar für sie gemacht hatten. Schließlich konnte der Baron die Ein- und Ausreise in seine Baronie verbieten.
 

Mit Erleichterung hatte Dakkas festgestellt, dass er reiten konnte. Zumindest eine Fähigkeit, die er wohl nicht vergessen hatte. Nostradamus jedoch auf ein Pferd zu kriegen, war umso schwieriger.

Der Seher war störrisch wie ein Esel und wollte sich den Tieren nicht einmal auf fünf Schritte nähern, geschweige denn aufsitzen. Als er sich doch dazu überreden ließ, seinem Reittier nahe zu kommen, scheute dieses. Dakkas verstand in diesem Augenblick, dass der Seher der Grund dafür war, dass Molokosh normalerweise zu Fuß reiste.
 

Nach einigem Fluchen und Versuchen saß jedoch auch Nostradamus im Sattel, wenn auch nur widerwillig und schlecht gelaunt. Das Pferd unter ihm war und blieb unruhig. Vielleicht spürte es das Unbehagen seines Reiters, vielleicht war es auch etwas an dem Seher… Auf alle Fälle schienen die Pferde ihn nicht zu mögen.
 

Den gleichen Widerwillen zeigten die Tiere in Jareds Nähe. Der Halbwolf konnte sie zwar mit einigen leisen Lauten beruhigen, aber froh über diesen Reisegefährten waren sie trotzdem nicht.
 

All dieser Umstände zum Trotz ritten sie jedoch am späten Vormittag aus Sellentin heraus und die gepflasterte Handelsstraße entlang, die zur Zollstation führte. Die Straße war gut befahren und bewandert, vor allem jetzt im Sommer, wo das Reisen noch einfacher war. Mehrere beladene Karren kamen ihnen entgegen, ebenso wie einige Wanderer und Händler mit Packeseln.
 

Gegen Mittag hatten sie die Zoll- und Handelsstation erreicht: Eine kleine Ansammlung von Gebäuden mitsamt einer Baracke, einem Lagerschuppen und einem Brunnen. Einige leicht gepanzerte Soldaten standen in der brütenden Mittagshitze und kümmerten sich um die eintreffenden Reisenden von beiden Richtungen der Straße. Wie diese Leute es in ihren Metallkästen aushielten, war Dakkas unverständlich. Ihm war es schon wieder zu heiß.
 

Ihre Ankunft wurde von den Soldaten nicht mit mehr Aufmerksamkeit beachtet als die der anderen Reisenden, also ging Dakkas davon aus, dass ihre Verfolgerin noch nicht hier angekommen war oder den Baron um Hilfe gebeten hatte.

Oder sich in einen Hinterhalt gelegt hatte. Was jedoch schwer war bei dieser kärglichen, wenn auch grünen Umgebung.
 

Die Soldaten waren mürrisch, schlecht gelaunt und unterbezahlt. Keine gute Kombination, aber da ihre kleine Gruppe nicht Händler mit zu versteuernden Waren war, gaben die gepanzerten Engel schnell ihr Einverständnis zum Weiterreisen. Am frühen Nachmittag hatten sie die Zollstation schon hinter sich gelassen und ritten gemächlich die Handelsstraße entlang.
 

Momentan kamen ihnen keine Händler oder ähnliches mehr entgegen oder zeichneten sich in der Ferne ab. Eine gewisse Ruhe war eingekehrt.

Sar’Shan hatte die Karte gezückt und erklärte geradem dass sie bald einen Abzweig nach Nordwesten nehmen würden, als Dakkas eine bekannte, kleine, Sense tragende Figur am Straßenrand stehen sah. Der Grünäugige wusste nicht, ob er seufzen oder schreien sollte. Wann immer der Totengott auftauchte, schien es Ärger zu geben.
 

Wie immer sah keiner der anderen ihn, nur Dakkas blickte auf die Kapuze des Gottes, während sie langsam an ihm vorbeiritten. Erst als Dakkas ihn fast ganz passiert hatte, hob der Gott seinen Kopf ein kleines Stückchen und deutete entgegengesetzt zu ihrer Reitrichtung die Straße hinunter. Zurück zur Zollstation.
 

Die Station war inzwischen nicht mehr sichtbar am Horizont, obwohl sie erst vor kurzem von dort verschwunden waren. Das Land war immer noch grün und größtenteils baumlos, jedoch inzwischen ohne so viele Hügel. Das war wohl auch der Grund dafür, dass Dakkas den Rauch aufsteigen sah.
 

Er hielt sein Pferd an und ließ es wenden. „Dakkas, was- Was ist das?!“ Jared hatte sein Pferd ebenfalls angehalten und es war sein Ausruf, der auch die restliche Gruppe zum Stillstand brachte.

Stumm und sprachlos starrten sie allesamt zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schwarzer Rauch stieg langsam in die Luft empor, schien sich in einer Wolke über dem Horizont anzusammeln und dort verhängnisvoll hängen zu bleiben. Zusätzlich zu der brütenden Hitze ging kaum Wind.
 

„Feuer?!“, fragte Dakkas mit einem Blick auf Molokosh. Der Drache runzelte seine Stirn besorgt. „So wie das aussieht… ich würde fast sagen, die Zollstation brennt.“

Sar’Shan schüttelte seinen Kopf. „Nein, schaut euch die Menge von Rauch an. Da brennt mehr als die paar Gebäude an der Zollstation.“

„Ein Waldbrand?“, riet Jared. Die anderen sahen ihn verständnislos an. „Hey! Ist gut möglich. Zumindest in den Brachsteppen. Wenn es im Sommer so heiß ist, fangen die Bäume manchmal sehr schnell Feuer.“, verteidigte der Halbwolf sich.
 

Daniel meldete sich mit ängstlicher Stimme zu Wort: „Das mag stimmen, aber wir sind hier nicht im Heimatland der Werwölfe. Waldbrände sind hier eher selten, auch wenn es mal heißer wird.“

Dakkas riskierte einen Blick zu der kleinen, schwarzen Gestalt am Wegesrand. Sie deutete noch immer die Straße hinunter und schien dabei etwas zu murmeln.
 

Der Grünäugige spitzte seine Ohren und glaubte zuerst, ‚Sellerie’ zu verstehen. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Sellentin.“, brachte er heraus. „Das Dorf. Sellentin brennt.“
 

~*~
 

Nach kurzer Besprechung hatte die Gruppe sich darauf geeinigt, zurück zu reiten, auch wenn Molokosh das nicht für schlau hielt. Jared und Dakkas bestanden jedoch darauf, zumindest nachzuschauen, was mit der Stadt passiert war.
 

Sie trieben ihre Pferde an und erreichten in kürzester Zeit die Zollstation. Wo vorher noch geschäftiges Treiben herrschte, herrschte jetzt Chaos.

Die meisten Leute versuchten, aus der Baronie heraus und nicht herein zu kommen. Die wenigen Soldaten, die noch da waren, versuchten verzweifelt, etwas Ordnung in die Massen zu bringen.
 

Unter den Fliehenden waren nicht nur Händler oder normale Reisende; auch Familien mit Kindern und nur wenig Hab und Gut hasteten über die Grenze der Baronie. An der Kleidung von einigen klebte Asche und Staub, viele der Flüchtenden hatten Kratzer im Gesicht, an den Armen oder am Oberkörper. Zerrissene Hosen und Hemden waren keine Seltenheit.
 

Molokosh und die anderen saßen von den Pferden ab und versuchten so gut es ging, gegen den Storm der Fliehenden anzulaufen. Die Rauchwolke war inzwischen noch größer geworden und von der Station aus konnten sie bereits die Flammen in der Ferne sehen. Sie sprangen in den Himmel und schienen das ganze Dorf zu umfassen.
 

Dakkas griff sich einen der verzweifelten Soldaten am Arm. „Was ist passiert?“

Der Soldat, ein älterer Mann, hatte Sorge und Furcht auf sein Gesicht geschrieben. Vor dem Hintergrund der schreienden und panischen Leute um sie herum konnte Dakkas ihn fast nicht verstehen.

„Niemand weiß das – plötzlich stieg Rauch auf, dann sahen wir die ersten Flammen und dann kamen schon die ersten Flüchtlinge an.“

„Wann war das?“, wollte der Grünäugige wissen. Der Soldat zuckte nur schwer atmend mit den Schultern. „Weiß keiner so genau. Der Rauch fiel zuerst nicht auf, als er noch wenig war – kurz nach Mittag vielleicht?“
 

Dakkas ließ den Soldaten los und dieser widmete sich wieder dem Versuch, die Flüchtlinge zur Ordnung zu rufen und zu versorgen – viele von ihnen hatten nicht vor, ihre Heimatstadt zu verlassen und blieben bei der Station.
 

Dakkas wechselte einen Blick mit Daniel. Der Heiler schien genauso wie er verwundert darüber zu sein, dass der Brand kurze Zeit nach ihrem Verlassen der Stadt und der Zollstation ausgebrochen war.

Sar’Shan und Jared hatten ihre Pferde halbwegs sicher untergebracht und, nach eigenen Worten, gegen Diebe ‚gesichert’. Dakkas interessierte sich nicht weiter für diese komischen Worte und sprach stattdessen Molokosh an. „Was jetzt? Sollen wir nachschauen, wie es in der Stadt aussieht?“
 

Der Vorschlag schien dem Drachen nicht zu gefallen. „Warum? Es ist nicht wirklich unser Problem und sehr viel helfen können wir auch nicht. Wir können so einen Brand jedenfalls nicht löschen.“

„Wir sollten wenigstens nachschauen, ob wir etwas tun können. Ich mag auch keine Engel, aber einige von denen sind so jung, dass sie noch nichts schlimmes getan haben können!“, konterte Jared, während er eine fliehende Mutter mit einem Kleinkind im Arm betrachtete.
 

Dakkas lächelte. Werwölfe waren sehr beschützerisch, was Kinder anging. Im Regelfall zumindest.

„Lanar, er hat Recht. Vielleicht können wir helfen. Außerdem – ist es nicht komisch, dass ein Feuer ausbricht just nachdem wir die Stadt verlassen haben?“

Molokosh grollte leise. „Gerade deswegen bin ich dafür, zu gehen. So etwas fehlt unseren Verfo- Selena gerade noch. Am Ende sind wir auf einmal Schuld daran.“
 

Das gefiel den anderen zwar auch nicht, aber Molokosh war überstimmt. Der einzige, der wie immer nichts zu sagen hatte, war Nostradamus.

Es war klar, dass die Pferde zurück gelassen werden mussten. Die Tiere würden bei dem Feuer scheuen. Selbst jetzt waren sie noch unruhig. Molokoshs Vorschlag, dass auch Nostradamus und Dakkas zurück bleiben sollten, fand noch weniger Anklang als sein vorheriger. Der Grünäugige wiedersprach vehement und Nostradamus sandte seinem Bruder einen bösen Blick.
 

Letztendlich machte die ganze Gruppe sich auf den Weg zur brennenden Stadt. Dakkas hielt weiterhin Ausschau nach einer kleinen Figur in schwarzer Robe und mit Sense, konnte jedoch auf dem Weg nichts entdecken.
 

Sie näherten sich vorsichtig dem loderndem Dorf. Je näher sie kamen, desto mehr Flüchtlinge kamen ihnen entgegen. Viele von ihnen schafften es nicht bis zur Station, hustend und mit schweren Verbrennungen blieben sie auf oder neben der Straße liegen und wurden von den Nachkommenden niedergerannt.
 

Daniel ballte seine Hände zu Fäusten und hing seinen Kopf, wahrscheinlich um das Elend um sich nicht sehen zu müssen. Er alleine hätte niemals all diesen Leuten helfen können, für viele kam sowieso jede Hilfe zu spät. Nicht einmal zehn Heilmagier hätten ihre Verbrennungen heilen können.
 

Zu den schreienden, kreischenden Flüchtlingen gesellten sich bald andere Geräusche: das Krachen von Häusern, die in sich zusammen stießen; Rufe von verzweifelten Soldat, die einem Feind gegenüber standen, den sie nicht besiegen konnten; das Knistern von undenkbar hohen Flammen. Und schließlich bestialische, schaurige Heulrufe, die sich keiner der kleinen Gruppe erklären konnte.
 

Gut fünfzig Schritte vom Stadttor entfernt rief Molokosh zum Halten auf. Es hatte kaum noch Sinn, weiter zu gehen. Hier würden sie nicht helfen können.

Dakkas erster Eindruck war richtig gewesen – das Dorf brannte. Das gesamte Dorf. Selbst das hölzerne Stadttor war bereits von den Flammen erfasst worden und stellte für die letzten Verzweifelten Einwohner Sellentins eher eine Feuerfalle als die Rettung dar. Selbst fünfzig Schritte vom Tor entfernt war die Luft bereits heiß, erfüllt von dem Geruch von Rauch und brennendem Fleisch.
 

Auch die Soldaten Sellentins, einige mit Brandwunden an Händen, Armen und in ihren Gesichtern, wagten sich nicht näher heran. Daniel schlug mit zittriger Stimme vor, zurück zur Zollstation zu gehen – dort konnte er vielleicht einigen Überlebenden helfen. Er bezweifelte, dass es momentan dort viele Heiler geben würde und gerade das würden die Dörfler nötig haben.
 

Dakkas musste ihm Recht geben. Hier kam alle Hilfe zu spät. Jetzt konnte man nur hoffen, dass das Feuer sich nicht über die Graslandschaft ausbreiten würde, auch wenn die Steinmauern das wenigstens zu verhindern schienen.
 

„Gehen wir zurück.“, brummte Molokosh und fasste Jared am Arm. Der Werwolf schien nicht gehen zu wollen und starrte traurig auf die nahe Leiche eines kleinen Kindes. Sar’Shan legte einen Arm um die Schultern seines Freundes und redete leise auf ihn ein. Endlich wandte auch der Halbwolf sich ab. Nur Dakkas riskierte noch einen Blick auf das lodernde Dorf und fragte sich, warum Beauron ihn überhaupt darauf aufmerksam gemacht hatte. Was war der Sinn hinter der Tat des Gottes gewesen?
 

Der Grünäugige hatte sich bereits halb von dem verheerenden Bild abgewandt, das der Rest Sellentins hergab, als er ein fürchterliches Krachen, gefolgt von einem dieser merkwürdigen Schreigeräusche hörte, die hin und wieder durch das Flammenknistern hallten. Dann sprang Dakkas auch schon zur Seite, um einem heranfliegendem Stück Steinwall auszuweichen. Jared war nicht so behände – das Mauerstück traf ihn im Rücken, schleuderte ihn zu Boden und begrub den Halbwolf unter sich.
 

Sar’Shan wirbelte herum, ein Stückchen schneller als die anderen und konnte Daniel noch rechtzeitig am Handgelenk packen, um den Heiler vor einem ähnlichem Schicksal wie Jared zu bewahren. Nostradamus stieß seinen Bruder in den Rücken und tat danach einen Schritt zur Seite, um einem weiteren Mauerteil zu entgehen.
 

Während Jared schnaufend und mühselig unter dem Stein hervorkroch, Blut aus seiner Nase und Mund triefend, stützte Dakkas sich auf seinen Händen ab und starrte auf das gut vier Meter große, insektenähnliche Wesen, dass gerade die Stadtmauer zerstört und durch die Bruchstücke geschritten kam.
 

Zwei grün-schwarz schimmernde, staksige Beine führten zu einem grün-schwarz schimmernden Torso, aus dem vier lange, in gefährlich aussehenden Scheren endende Arme entsprangen. Der Kopf sah aus wie eine Mittelding zwischen einer Heuschrecke und einer Gottesanbeterin.

Feurig glänzende Runen und Zeichen schienen auf den Oberkörper – das Außenskelett des Wesens – eingebrannt zu sein und die lodernden Flammen tat das Rieseninsekt ab, als wären sie nicht existent.
 

Dakkas löchrige Gedächtnis erkannte das Wesen als Dämon. Die Siglen auf seiner Brust kennzeichneten ihn als Mitglied des fünften Zirkels – hoch intelligente, magieanwendende Dämonen. Keine Wesen, mit denen Dakkas unbedingt zu tun haben wollte.
 

Der Gargat – denn so hieß diese Dämonenart, erklärte Dakkas Gedächtnis ihm – stieß einen fürchterlichen Schrei aus und hob seine vier Insektenarme. Im Hintergrund schrieen die verbliebenden Soldaten Sellentins und Sar’Shan zog Jared auf die Beine, um ihn aus der Reichweite des Ungetüms zu bringen. Molokosh war damit beschäftigt, Nostradamus zum Rückzug zu bewegen, doch der Seher wollte partout nicht von der Stelle weichen. Daniel hatte sich der Aufgabe gewidmet, die er ausführen konnte: Jareds innere Blutungen stoppen.

Nur Dakkas saß, starr vor Schreck oder Überraschung, auf der Straße, auf seine Arme gestützt und starrte empor zu dem Gargat.
 

Sellentin hatte nicht einfach Feuer gefangen. Der Gargat hatte es zerstört – mehrere von ihnen, verstand der Grünäugige plötzlich, als weitere Dämonenrufe aus der zerstörten Stadt kamen.

Wie konnten die Dämonen überhaupt hier sein? Normalerweise musste jemand sie beschwören – hatte ein übermütiger Zauberer den Untergang des Dorfes besiegelt? Vielleicht war es ein Unfall gewesen. Vielleicht Dummheit. Tatsache war, jetzt waren sie hier.

Und einer von ihnen war auf seinen staksigen Beinen bis auf wenige Schritte an Dakkas heran gekommen und blickte mit kränklich-gelblichen Augen auf den Grünäugigen hinab.
 

Dakkas schluckte, konnte sich aber immer noch nicht dazu bringen, weg zu laufen. Im Hintergrund hörte er, wie ein Schwert gezogen wurde und Sar’Shan Molokosh etwas auf Drakonisch zurief. Dann beugte sich der Gargat mühselig hinab und brachte sein Speichel tropfendes Maul bedrohlich nahe an ihn heran und plötzlich waren die Hintergrundgeräusche, das Schreien, das Knistern der Flammen und die Gargat-Rufe wie weggeblendet.
 

Der Dämon verharrte, kurz bevor sein Maul Dakkas erreichte, in einer fast unmöglich aussehenden Krümmung und starrte. Der Grünäugige starrte zurück und konnte sein eigenes Gesicht im Panzer des Gargats erkennen. Dann trafen sich ihre Blicke und der Dämon blinzelte. Dakkas ebenso. Sein Blick wanderte wieder tiefer und plötzlich waren die Augen, die ihm im Panzer entgegenstarrten, nicht mehr grün, sondern blau. Verwirrt sah Dakkas wieder hoch und musste erneut blinzeln. Der Gargat tat es ihm gleich und richtete sich wieder auf.
 

Der Dämon brüllte erneut und wartete die antwortenden Rufe seiner Artgenossen ab, bevor er sich abwandte und in das noch immer flammende Dorf zurück stapfte. Ungewollt musste Dakkas ausatmen. Dann packte ihn auch schon eine Hand an seiner Schulter und riss ihn hoch.
 

Molokosh stand vor ihm, sein Schwert in der Hand und einen ängstlichen Blick in seinen Augen. „Hast du überhaupt eine Ahnung,“ zischte der Drache, „wie gefährlich das gerade war? Wieso bist du nicht weggelaufen?!“

Dakkas öffnete seinen Mund, doch kein Laut kam heraus. Wie sollte er dem de’Sahr auch erklären können, dass er zwar erschreckt, aber nicht vor Angst um sein Leben gebangt hatte? Er konnte nicht einmal gedanklich in Worte fassen, was gerade passiert war.
 

Es war Sar’Shan, der sein Schwert langsam wieder in seine Scheide steckte und den Kleinsten ihrer Gruppe ansah. Jared war bereits wieder vor dem Schlimmsten gerettet, so schien es, und beschwerte sich wieder halblaut über unnötige Hilfe, die er als ‚Werwolf’ nicht bräuchte. Die Worte seines Geliebten ließen ihn jedoch verstummen.
 

„Das würde erklären, warum Daniel nicht feststellen kann, was Dakkas ist.“

Alle Augen richteten sich auf den Krieger des Schmerzgottes. Dieser fuhr fort: „Dämonen machen nicht vor vielem halt. Götter, Halbgötter – und Kinder von anderen Dämonen. Schließlich kann man nie wissen, ob die Eltern nicht böse werden, wenn man ihre Sprösslinge angreift.“
 

Dakkas Knie wurden weich. Er verstand kaum, was der Krieger da andeutete. Und doch würde es Sinn machen. Dämonensprösslinge waren selten und anders genug, dass Daniel sie nicht sofort erkennen würde.
 

Doch… „Ich soll von einem Dämon abstammen?“ Irgendwie konnte er das nicht glauben.
 

A/N:]/b]

(1)

„Kleine Ursachen“, von Eugen Roth. Hier der Original-Text (leicht abgeändert im Kapitel):

Ein Mensch - und das geschieht nicht oft -

Bekommt Besuch, ganz unverhofft,

Von einem jungen Frauenzimmer,

Das grad, aus was für Gründen immer -

Vielleicht aus ziemlich hintergründigen -

Bereit ist, diese Nacht zu sündigen.

Der Mensch müßt nur die Arme breiten,

Dann würde sie in diese gleiten.

Der Mensch jedoch den Mut verliert,

Denn leider ist er unrasiert.

Ein Mann mit schlechtgeschabtem Kinn

Verfehlt der Stunde Glücksgewinn,

Und wird er schließlich doch noch zärtlich,

Wird er's zu schwach und auch zu bärtlich.

Infolge schwacher Reizentfaltung

Gewinnt die Dame wieder Haltung

Und läßt den Menschen, rauh von Stoppeln,

Vergebens seine Müh verdoppeln.

Des Menschen Kinn ist seitdem glatt -

Doch findet kein Besuch mehr statt.
 

(2)

„Ausweg“, von Eugen Roth

Wer krank ist, wird zur Not sich fassen.

Gilt's, dies und das zu unterlassen.

Doch meistens zeigt er sich immun,

Heißt es, dagegen was zu tun.

Er wählt den Weg meist, den bequemen,

Was ein- statt was zu unternehmen!
 

(3)

„Einsicht“, ebenfalls von Eugen Roth. Das war es aber mit den Gedichten. Vorerst zumindest.

Der Kranke traut nur widerwillig

Dem Arzt, der's schmerzlos macht und billig.

Laßt nie den alten Grundsatz rosten:

Es muß a) wehtun, b) was kosten.

Inmitten der Flammen

11 – Inmitten der Flammen
 

„Sar’Shan, rede keinen Mist.“, unterstützte Daniel Dakkas Gedanken. Der Krieger sah den Heiler an. „Er hat keinerlei Anzeichen dafür. Keine Krallen, Flügel, Farbaugen – er ist an einer Grippe erkrankt. Nenn mir einen Dämonensprössling, den eine Grippe niederstreckt.“ Der Heiler schnaubte. „Verdammt, die meisten von denen können nicht mal mit Pestkrankheiten angesteckt werden.“
 

Molokoshs Griff auf Dakkas Schulter lockerte sich. Der adlige Drache nickte langsam. „Daniel hat recht.“ Sar’Shan schien unsicher zu sein. „Das muss nicht unbedingt was heißen. Vielleicht beeinflusst ihn irgendwas…“
 

Dakkas schüttelte den Kopf. „Shan, ich denke wirklich nicht, dass ich irgendwie mit einem Dämon verwand bin.“ Das… allein der Gedanke daran fühlte sich falsch an. Allerdings… Farbaugen, hatte Daniel gesagt. Und hatten sich nicht vorhin seine Augen verändert? Als er in den Panzer des Gargats geschaut hatte.

Doch keiner der anderen kommentierte darüber. Also mussten seine Augen noch grün sein. Vielleicht war das ja nur ein Lichteffekt gewesen. Wie hatte er überhaupt in dem schwarz-grünen Panzer seine Augenfarbe ausmachen können?
 

Molokosh lies ganz ab von Dakkas Schulter und Sar’Shan zuckte wortlos mit den Schultern. „Es war nur eine Idee. Schließlich gilt es ja, herauszufinden was er ist, oder?“, brummte der Drachenkrieger.

„Momentan würde ich sagen,“ fiel Jared den anderen ins Wort, „gilt es, schleunigst von den Amok laufenden Dämonen weg zu kommen. Bevor mich noch irgendetwas trifft – und warum immer ich?!“ Der Halbwolf lehnte schwer an Daniel und schien immer noch äußerst schwer angeschlagen zu sein.

Der Heiler selbst sah nicht viel besser aus. Erst die Anstrengung mit Sar’Shans und Dakkas Grippe, dann Jareds Verwundung… der Halbdrache brauchte dringend eine Pause.
 

„Jared hat einmal eine gute Idee.“, erklärte Molokosh und fasste Nostradamus am Arm. „Es ist hier nicht sicher…“ Die Worte des Drachen verloren sich, als ein mit bereits einigen Brandwunden versehener Engelssoldat auf sie zukam.
 

Die kleine Gruppe wurde sofort unruhig. In letzter Zeit hatten sie mit Engeln keine gute Erfahrung gemacht. Doch der Soldat machte einige Schritte von ihnen entfernt halt und nickte respektvoll mit dem Kopf. „Verzeiht, die Herrschaften.“ Seine Stimme war rau. Schmerz und Trauer schwangen in ihr mit. Dieser Mann hatte heute viel Leid und Verlust erlitten.
 

„Ich bin Offizier Ratken.“ Der Offizier stoppte kurz und verlagerte sein Gewicht auf sein linkes Bein. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was man in so einer Situation sagen soll.“ Er blickte Molokosh an. „Herr, unser Heimatdorf… ist hin. Wie ihr sehen könnt.“ Er lachte humorlos. Im Dorf krachte ein weiteres Gebäude tosend dem Boden entgegen.

„Herr, alle ranghöheren Soldaten, der Dorfvorsteher.“ Ratken verstummte. „Wir wissen nicht einmal, wie viele entkommen konnten. Es ging unheimlich schnell… Wir waren hier am Tor stationiert. Wir hörten Schreie, einige Leute rannten an uns vorbei… und dann war da dieses Ding.
 

Der Offizier schüttelte seinen Kopf, als wenn er sich aus einer unangenehmen Erinnerung befreien wollte. „Keine Ahnung wo es herkam – plötzlich schmiss es mit Feuer um sich und dann brannte alles… Wir hatten nie eine Chance.“ Der letzte Satz insbesondere schien den Soldaten zu stören.
 

Molokosh schien langsam begriffen zu haben, um was der Soldat bitten wollte, auch wenn er die Worte nicht herausbringen konnte. „Braucht ihr vielleicht Hilfe bei der Organisierung der Überlebenden?“

Der Offizier lies seine Schultern hängen. „Herr- Ehrlich gesagt wären wir schon froh, wenn Ihr uns sagen könntet, warum das geschehen ist. Aber ja, Eure Hilfe ist… willkommen. Und… einer der Männer sagte, Ihr wäret ein… wichtiger Drache. Eine Persönlichkeit, meine ich. Vielleicht… Wir… wir wissen bloß nicht, wie es weiter gehen soll. “ Pure Verzweiflung war in der Stimme des Mannes zu hören.
 

Molokosh runzelte seine Stirn und schien etwas überrascht zu sein. „Wenn wir helfen können, gerne… Auch wenn wir wohl bei den Dämonen auch nicht weiter wissen. Das… ist nicht unser Spezialgebiet.“

„Die Überlebenden sind eh wichtiger.“, mischte Daniel sich ein. „Vor allem die Verletzten müssen versorgt werden… Dieser Rauch kann sich auf die Atmung legen – wenn das nicht schnell behandelt wird, überleben die Betroffenen nicht lange.“
 

„Und gegen die Dämonen könnten wir eh nicht viel ausrichten.“, fügte Sar’Shan hinzu. „Ein Kampf gegen sie wäre sinnlos, Offizier Ratken. Selbst wenn wir genug Krieger hätten… wir müssten immer noch wissen, wie man sie besiegen kann und welche Art von Dämon sie sind. Und was sie hier überhaupt wollen.“ Der Krieger sah besorgt in die brennende Stadt hinein. „Ich hoffe nur, dass sie nicht auch die Zollstation angreifen.“
 

Der Offizier wirkte etwas erleichtert. „Wir gehen momentan nicht davon aus. Die… Dämonen sagtet ihr? Nun, die Dämonen haben die Stadt noch nie verlassen, bis gerade. Sie scheinen sich nicht für etwas anderes zu interessieren. Wir hoffen bloß noch, dass sie wieder schnell dahin verschwinden, wo sie hergekommen sind.“
 

Dakkas verstand die Welt nicht mehr. Für ihn war absolut klar, was das für Dämonen waren. Und was die einzige plausible Möglichkeit für ihre Anwesenheit war.
 

„Gargati.“ Alles drehte sich zu ihm um. „Die Dämonen sind Gargati. Intelligente, magiebegabte Dämonen des fünften Zirkels. So gut wie unmöglich mit Waffen zu bekämpfen. Die einzige Chance besteht darin, ihre Schutzzauber mit Magie zu durchdringen.“

„Du weißt das?!“, staunte Molokosh. Sar’Shan verschränkte seine Arme und schien etwas zu murmeln, dass sich stark nach ‚hatte es doch gesagt’ anhörte. Jared knuffte ihn schlaff in die Seite.
 

Dakkas nickte. „Ja… Außerdem können Gargati nicht von alleine hergekommen sein – man muss sie beschwören.“ Der Offizier zuckte zusammen. „Was?!“ Auch Molokosh und die anderen sahen geschockt aus.

„Die Gargati leben unter der Za-Za Wüste in den Dämonenlanden.“, spulte Dakkas aus seinem langsam arbeitendem Gedächtnis ab. „Sie kommen nicht gerne hier nach Kvi’sta und nur sehr selten freiwillig. Aber ein unerfahrener Beschwörer kann sich leicht vertun… Sie aus Versehen beschwören, obwohl er etwas anderes herbeirufen will. Ihr Beschwörungsritual ähnelt stark dem von anderen Dämonenarten.“
 

Der Grünäugige runzelte seine Stirn. Langsam wurde es schwieriger, in seinem löchrigem Gedächtnis die nötigen Informationen zu finden. „Sie mögen es nicht, wenn man sie beschwört. Und wer nicht die richtigen Schutzvorkehrungen hat, der lebt nicht mehr lange. Sie können sich nicht weit von ihrem Beschwörungsort entfernen, deshalb verlassen sie die Stadt wahrscheinlich nicht.“
 

Erst jetzt bemerkte der Grünäugige die erstaunten Blicke seiner Reisebegleiter, des Offiziers und einigen anderen Soldaten, die sich um sie versammelt hatten. Einer von ihnen schrie wütend auf. „Soll das heißen, irgend so ein unvorsichtiger Möchtegernzauberer hat diese Dinger hierher gebracht?!“

Dakkas verzog sein Gesicht. „Es tut mir leid, aber ja, das ist die wahrscheinlichste Möglichkeit.“
 

Die Soldaten gerieten in einen Aufruhr – verständlicherweise. Ihre Freunde, Familien und Heimat waren zerstört und das wegen einem dummen Fehler. Sie hatten jedes Recht, wütend zu sein.

„Wenn… wenn ich diesen Hurensohn in die Finger kriege…!“, schrieen nicht wenige von ihnen. Dakkas tat sein bestes, um sie zu beschwichtigen. „Der dürfte schon tot sein. Die Gargati werden ihn als erstes getötet haben.“
 

Natürlich besserte sich die Laune der Soldaten dadurch nicht. Das Dorf war auch nicht wieder repariert und die Toten wiederbelebt. Aber mehr konnte Dakkas ja auch nicht tun. Die Gargati würden verschwinden, sobald die Magie, die sie hier festhielt, verbraucht war.
 

~*~
 

Die Zerstörung der Stadt brachte für die Überlebenden nicht nur Leid, sondern auch ungemein viel Arbeit mit sich.
 

Molokosh schaffte es, die verbleibenden Soldaten und Stadtbüttel einigermaßen zu kontrollieren. Offizier Ratken war eine große Hilfe dabei, er war der älteste übrig gebliebene Soldat und überzeugte viele der Engel davon, auf den Drachen zu hören.

Der de’Sahr teilte die verbliebenen Kräfte in drei Teile ein. Den ersten schickte er einmal um das immer noch brennende Dorf herum, um nach weiteren Flüchtlingen zu suchen. Den zweiten Teil lies er damit beginnen, die Leichen möglichst an einer Stelle zu sammeln, abseits von der Zollstation. Der dritte Teil brachte die noch lebenden Dorfbewohner so gut unter wie es ging und fragte nach jedem mit irgendwelchen Heilfähigkeiten.
 

Daniel schaffte es, sich in zwei Stunden so zu übermüden, dass er fast umgekippt wäre, hätte Molokosh ihm nicht kurzerhand befohlen, eine Pause einzulegen. Jared war – sehr zum Leidwesen des Halbwolfes – Bettruhe angeordnet worden, weshalb er nicht viel mehr tat als murrend an eine Wand gelehnt in der Zollstation zu sitzen.

Sar’Shan war mit den Soldaten mitgegangen, die nach weiteren Überlebenden suchten. Der Drache hatte gemeint, dass er dort am meisten von Nutzen wäre.
 

Dakkas fühlte sich nutzlos und übergangen. Molokosh teilte ihn für gar nichts ein. Nein, vielmehr lies der Schwarzhaarige ihn komplett in Ruhe, ebenso wie Nostradamus. Nur dass der Seher sich daran nicht zu stören schien. Nicht, dass man es bemerkt hätte, wenn er sich daran gestört hätte.

Die unbeteiligte Haltung des Sehers und seine ausdrucklosen Blicke in die Ferne wirkten nicht nur auf Dakkas komisch. Viele der entflohenen Dorfbewohner waren abgeschreckt von der scheinbaren geistigen Abwesenheit des Grauhaarigen. Da ließ sich jedoch nach Dakkas Meinung nichts dran ändern.
 

Drei Stunden, nachdem sie die unheimliche Begegnung mit dem Gargat gehabt hatten, waren die Leichen zumindest abseits der Zollstation zusammengekarrt worden. Molokosh hatte endlich eingesehen, dass irgendjemand wohl oder übel zum nächsten Dorf reisen und dort nach weiterer Hilfe bitten musste. Der Drache fühlte sich sichtlich nicht wohl bei dem Gedanken an viele Engels-Soldaten und Ritter des Barons.
 

Die Überlebenden waren so gut versorgt, wie sie bei den spärlichen Vorräten, Medizin und Hilfskräften sein konnten. Daniel war schon längst vor Erschöpfung neben Jared eingeschlafen. Der Halbwolf selbst dämmerte nur vor sich hin, während sein Körper sich erholte.
 

Sar’Shan und der mit ihm ausgesandte Suchtrupp war noch nicht zurück gekehrt, was Dakkas und Molokosh etwas beunruhigte. Aus dem brennenden Dorf hallten hin und wieder die schaurigen Schreie der Gargati herüber. Doch inzwischen zuckte niemand mehr wegen ihnen zusammen. Stattdessen schienen sie schon fast zur Kulisse zu gehören.
 

Zwei weitere Stunden später schlief auch Nostradamus, nahe bei Jared und Daniel liegend. Der Halbwolf war auch in einen hoffentlich erholsamen Tiefschlaf gefallen. Das immer noch brennende Sellentin erhellte mit seinen Flammen die langsam dunkler werdende Umgebung.
 

Die Sonne ging gemächlich unter, und noch immer war kein Zeichen von Sar’Shan oder den anderen Soldaten zu sehen. Langsam breitete sich auch Unruhe zwischen den anderen Soldaten aus.
 

Es roch nach verbranntem Holz, Fleisch und einigen anderen unangenehmeren Dingen., die Dakkas gar nicht weiter einteilen wollte. Abgesehen von den Geräuschen aus dem Dorf hörte man nur vereinzelt ein Kind schreien oder jemanden weinen, die meisten waren zu mitgenommen um große Gespräche zu führen. Die meisten Tiere waren schon längst aus der Gegend geflohen, so dass nicht einmal das Zirpen von Grillen oder andere Tierlaute durch die Stille brachen.
 

Es war ein Wunder, dass ihre Pferde sich noch nicht losgerissen hatten, dachte Dakkas bei sich. Der Grünäugige saß auf einem Stein, etwas abseits von Molokosh und Offizier Ratken, die wohl darüber beratschlagten, was wegen dem fehlenden Suchtrupp getan werden sollte.
 

Dakkas ging einer – für ihn – viel wichtigeren Frage nach: Warum hatte Beauron ihm das hier überhaupt gezeigt? Sie hätten die Rauchwolke sonst nie gesehen und wären nicht zurück geritten. Vielleicht hätten sie erst Wochen später, in einer anderen Stadt oder größerem Dorf, davon erfahren. Aber anscheinend war es ja wichtig gewesen, dass sie das hier sahen.
 

Dass Dakkas das hier sah. Und damit kam der Schwarzhaarige zu der Frage zurück, ob er ein Dämonensprössling war. Floss tatsächlich Dämonenblut in seinen Adern…

Eine einfache Antwort auf diese Frage gab es nicht. Offensichtliche Anzeichen gab es jedenfalls nicht. Und er war an der Grippe erkrankt, wie Daniel schon gesagt hatte.
 

Außerdem war er sich sicher, kein Dämonensprössling zu sein. Schließlich sollte er ja die Kräfte des Dämonenblutes in sich spüren können, wenn er den Büchern glaubte, die er… früher, vor der Amnesie gelesen hatte. Wenigstens an die konnte er sich inzwischen erinnern.

Er spürte aber keine Kräfte. Nicht mal eine ganz kleine. Nicht mal den Hauch einer Kraft.
 

Genau genommen verspürte er in diesem Moment bloß Hunger. Sein Magen beschwerte sich über das verpasste Abendessen. Innerlich seufzend erhob er sich und kramte aus den Satteltaschen seines Pferdes etwas Brot und Käse hervor, dass er schnell aß. Hoffentlich kehrte Sar’Shan bald zurück. Diese Warterei bekam dem Grünäugigen nicht.
 

Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis ein grauhaariger Mann, gefolgt von einigen Engeln, in einem großen Bogen um das Dorf herum auf sie zugelaufen kam. In der Zollstation atmete man aus – viele hörbar. Sar’Shan war wohlauf, und so wie es aussah sein Trupp ebenfalls.
 

Die Soldaten, Sar’Shan an ihrer Spitze, bahnten sich ihren Weg zu Molokosh und Ratken. Es trat jedoch erneut Unruhe ein, als klar wurde, dass sie keine weiteren Überlebenden mit sich brachten.
 

„Sar’Shan… was ist los?“, war das erste, was Molokosh wissen wollte. Ein ernster Ausdruck lag auf dem Gesicht des Kriegers.

„Es gibt keine anderen Überlebenden.“, erklärte der Grauhaarige mit ebener Stimme.

„Wie könnt Ihr da sicher sein?“, fiel Ratken ihm ins Wort, während es bei den Zuhörern mehr Gemurmel gab. „Wie weit habt ihr das Umland durchsucht? Wart ihr deswegen solange fort?“
 

Shans Soldaten traten von einem Fuß auf den anderen und wirkten verstört. Das zeigte Dakkas als erstes an, das etwas ganz komisches passiert war.

„Wir brauchten nicht weit suchen. Das Stadttor auf der anderen Seite war barrikadiert.“ Ein Raunen ging durch die lauschende Menge. „Und zwar mit einige großen, schweren Steinen von außen. Die Schutzmauer war unberührt und es gab keine Anzeichen dafür, dass irgendjemand dort aus der Stadt herausgekommen ist.“
 

Sar’Shan rieb sich die Schulter mit einem leichten Verziehen der Mundwinkel. „Wir haben versucht, die Steine aus dem Weg zu räumen, aber sie waren zu groß. Dazu bräuchte man besseres Werkzeug - Kräne oder zumindest lange Holzstäbe, die man als Hebel benutzen kann.“

„So groß sind die Steine?!“, entfuhr es Ratken oder Molokosh zugleich.
 

Sar’Shan nickte und wandte seinen Blick zu Dakkas. „Diese Gargati… wie viel Gewicht können sie heben?“

Der Grünäugige blinzelte und runzelte seine Stirn. „Entgegen ihrer Größe nicht viel. Ihre Beine und Arme sind nicht kräftig genug für Heben und Stemmen.“ Es waren Feuer-zaubernde Dämonen, keine Kämpfer.
 

„Dann soll jemand anderes die Steine dahin-? Aber das wäre doch bemerkt worden!“, beschwerte Ratken sich und viele stimmten ihm zu. Molokosh ebenfalls.

Sar’Shan zog einen Hemdfetzen hervor, der wohl zum Beutel umfunktioniert worden war. „Das war uns auch klar. Außerdem gibt es hier keine so großen Steine in der Nähe. Das hier haben wir in der Nähe vom Tor, draußen vor der Mauer gefunden.“
 

Der Drache wickelte den Stofffetzen auf und förderte mehrere kleinere Stofffetzen sowie einen rötlichen Ring zutage. „Was soll das sein?“, wollte Ratken wissen und sah die beiden anwesenden Drachen fragend an.

Sar’Shan atmete schwer aus. „Keine Ahnung. Ich habe so etwas jedenfalls noch nicht gesehen. Du, Molokosh?“
 

Der Schwarzhaarige hob den Ring vorsichtig auf und hielt ihn gegen das Licht der Flammen Sellentins. „Nein. Zumindest erinnere ich mich nicht.“ Auch die Stoffstücke sagten ihm nichts. Stirnrunzelnd winkte er Dakkas näher heran. „Vielleicht kann unser ‚Experte’ uns etwas dazu sagen.“, brummte der Drache humorlos.
 

Während Dakkas das kleine Häufchen Stoff und Metall entgegen nahm, fragte Ratken: „Experte?“ Noch bevor Dakkas selbst etwas sagen konnte, hatte Molokosh bereits geantwortet. „Er… hat bereits einige Bücher herausgegeben, zu verschiedenen wissenschaftlichen Themen.“

Der Offizier nickte respektvoll. „Ah. Ein Gelehrter.“ Damit schien die Sache für ihn geklärt zu sein.
 

Dakkas beachtete die beiden erst mal nicht und hob den Ring auf. Wie auch Molokosh hielt er ihn gegen das Licht der Flammen, welche die Umgegend noch großzügig erhellten, trotz der späten Stunde.
 

Der Ring war aus keinem ihm bekannten Metall, ein komisches Rot-Gold Gemisch. Ein verworrenes Muster war auf ihm eingraviert, ein scheinbar sinnloses Wirrwarr an dünnen Linien… erst bei genauerem Hinsehen erkannte Dakkas darin eine Gleichmäßigkeit. Die Linien verwoben sich immer in den gleichen Abständen.
 

Stirnrunzelnd legte er den Ring zurück und begutachtete die Stoffstücke. Sie kamen wohl von einem dunkelrotem Hemd oder einer Hose vielleicht. Auch auf ihnen war ein Muster ersichtlich, mit etwas Mühe konnte Dakkas Flammen erkennen, sowie eine Rune.
 

Das sagte ihm etwas. Erneut hob er den Ring und suchte diesmal in der Innenseite nach einer Gravur. Er wurde fündig: Ein kaligraphisch hübsches ‚M’ umgeben von links und rechts zwei weiteren Runen war jetzt erkennbar, wenn man wusste, wonach zu suchen war.
 

Das war nicht gut. Eigentlich war das gar nicht gut. „Möchtet ihr zuerst die guten, die schlechten oder die wirklich schlechten Neuigkeiten?“, fragte Dakkas zaghaft.

„Dann sagt dir das also was?“, hakte Molokosh nach. Dakkas verpackte den Ring wieder in dem improvisiertem Beutel und nickte zögerlich. „Ja. Aber es ist nichts Gutes.“
 

„Raus mit der Sprache!“, herrschte Ratken und nahm damit wohl vielen Engeln das Wort aus dem Mund. So gut wie alle noch wachen Soldaten und auch einige Überlebende hatten sich in einem großen Kreis um Dakkas und die drei anderen Männer versammelt.
 

„Ich kann euch sagen, wer euer Dorf angegriffen hat.“ Ratken zog seine Augenbrauen zusammen. „Ich dachte, es wäre der Unfall eines nutzlosen Zauberers gewesen?“

Der Grünäugige nickte. „Ich auch. Wie gesagt: Diese Dämonen kommen nicht freiwillig hierher, man muss sie rufen. Ich ging davon aus, dass man sie aus Versehen gerufen hatte.“

„Aber dem ist nicht so.“, vermutete Molokosh. Ein Murmeln ging durch die Versammelten.
 

Dakkas rieb sich die Stirn. „Das ist ein Siegelring eines Dämonenkultes.“ Was die Sache schon schwer genug machte. Die aufgeregten Rufe der Zuhörenden machten es auch nicht leichter.

Molokosh rief zur Ruhe auf, damit Dakkas weiter erklären konnte. Ratken unterstützte diese Aufforderung mit einem Befehl an seine Soldaten.
 

Der Grünäugige versuchte, sich an so viel wie möglich zu erinnern, aber so langsam bekam er Kopfschmerzen. „Welcher Dämonenkult ist unklar. Es gibt genügend Leute und Wesen, die sich dem Dienst eines Dämons verschreiben würden.“ Erneut rieb er sich die Stirn. „Von den Runen im Ring und der Rune auf den Kleidungsfetzen würde ich sagen, der Kult eines Sieben-Zirkel Dämons oder höher.“

„Das heißt nichts Gutes, oder?“, fragte Ratken mit einer kraftlosen Stimme.
 

„Nein, gar nichts Gutes. Das bedeutet mächtiger, starker, richtig gefährlicher Dämon. Der Kult wird die Gargati herbei gerufen haben.“

„Das hätten wir bemerken müssen!“, rief einer der Soldaten dazwischen. Dakkas schüttelte langsam den Kopf. „Nicht unbedingt. Schlafzauber, Unsichtbarkeitszauber… es gibt zig Möglichkeiten, wie man das kaschieren kann, bis es zu spät ist. Sobald der erste Gargat erschien, hatten die meisten eh keine Chance mehr.“ Dakkas schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfe.
 

„Das heißt, irgendwo da draußen sitzen diese Dreckslöcher, die dafür verantwortlich sind?!“, hallte es aus der Menge. Molokosh schaffte es nur schwerlich, wieder Ruhe in die Menge zu bringen. Dakkas zog eine Grimasse. „Die werden bereits wieder dahin verschwunden sein, wo sie her kamen. Wir haben größere Probleme.“
 

„Was soll das heißen? Größere Probleme als einige gottlose Fanatiker, die diese Monster auf unsere Heimat losgelassen haben?“ Ratken war außer sich, mit Recht. Doch Dakkas hatte Kopfschmerzen und weder Zeit noch Lust für dieses Streitgespräch. Wenn das stimmte, was sein rostiges Gedächtnis ausspuckte, hatten sie keine Zeit zu verlieren.
 

„Ja.“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. „Diese Kulte beschwören Dämonen nicht einfach so. Irgendwo im Dorf muss ein Fokus stecken – ein magisches Gerät oder Gegenstand. Der hält die Gargati hier. Wenn der Fokus nicht zerstört wird, werden sie niemals verschwinden.“
 

Jetzt stand Ratken und nicht wenigen anderen Angst im Gesicht geschrieben. „Wa-was? Die können da doch raus – wenn sie… Was tun wir denn jetzt?!“

Molokosh und Sar’Shan schienen sich das gleiche zu fragen. Dakkas schloss kurzzeitig seine Augen. Die Kopfschmerzen verschwanden auch nicht mehr. Vielleicht war das doch etwas, dass Daniel sich irgendwann angucken sollte.
 

„Der Fokus ist sehr wahrscheinlich in der Stadt, das ist der sicherste Ort für ihn. Nicht vieles würde die Flammen überleben. Sobald er zerstört ist, werden die Gargati nach Hause geschickt. Was sie hier tun sollen – keine Ahnung. Das wird vielleicht der Kult wissen, aber gutmöglich, dass der von ihnen verehrte Dämon das nicht mal gesagt hat. Ich vermute, dass sie die Stadt verlassen werden, sobald sie komplett zerstört ist.“
 

Mit zusammengebissenen Zähnen reichte Dakkas den Ring und Stoffstücke zurück zu Molokosh, der sie gedankenverloren auf den neben ihnen aufgestellten Tisch legte. „Wie sollen wir das Ding finden? Wir kommen da noch nicht mal herein, bis die Feuer ausgebrannt sind. Und das könnte einige Tage dauern!“ „Ganz abgesehen davon, dass wir es wahrscheinlich nicht erkennen würden.“, fügte Sar’Shan hinzu.
 

Dakkas blieb ruhig und sah die anderen beiden nur mit einem entschuldigendem Achselzucken an. Er war auch nicht feuerfest oder allwissend. Und er hatte Kopfschmerzen. „Da kann ich auch nicht weiterhelfen… aber wenn wir an den Fokus nicht heran kommen, sollten wir hier verschwinden. Wer weiß, was die Gargati machen, wenn das Dorf zu ihrer Zufriedenheit zerstört ist. Und ob das die einzigen Dämonen sind, die herbeigerufen wurden.“

Denn nur weil sie noch keine anderen gesehen hatten, hieß das noch lange nicht, dass es keine anderen gab.
 

Dakkas überließ das Planen und die aufgebrachten Flüchtlinge den beiden Drachen. Seine Stirn massierend wanderte er bis zu dem Stückchen Wand, an dem der Rest ihrer Gruppe schlief und sank ebenfalls auf den Boden. Schlaf hörte sich plötzlich wie ein guter Ausweg an, doch verhinderten die Kopfschmerzen das.
 

Nach einiger Zeit wichen die Kopfschmerzen wenigstens ansatzweise zurück und Dakkas erhob sich erneut, um sich die Beine zu vertreten. Mit der Hoffnung, dass die Kopfschmerzen dann noch weiter zurück gehen würden.
 

Er umrundete das Haus, an dessen Wand sie lagerten und suchte sich ein Fleckchen etwas abseits von den schlafenden Flüchtlingen, die überall in der Zollstation anzutreffen waren. Etwas außerhalb der Station blieb er dann stehen und blicke zum brennenden Dorf herüber.
 

Das Wissen, das er angesammelt zu haben schien, tauchte immer häufiger auf. Die Erinnerungen kamen stockend und bruchstückhaft, in Etappen, aber sie kamen. Was ihn bedrückte war, dass es nur Erinnerungen an Wissen war – nicht aber an etwas, das mit seinem Leben zu tun hatte. Das verstand er nicht. Es war fast so, als wenn er diesen Teil nicht wieder gewinnen sollte, oder wollte. Aber so ein traumatisches Leben konnte er doch gar nicht gehabt haben.
 

Atemgeräusche rissen ihn aus seinen Überlegungen und er blickte zur Seite, in die Richtung der Station. Jared kam langsam auf ihn zugewandert. Oder geschwankt. Dakkas war sich nicht sicher, wie er es nennen sollte. Der Halbwolf war jedenfalls alles andere als fit.

„Hey, Dakkas.“ Mit einem schwachen Grinsen machte der Verletzte neben ihm halt und hielt sich mit einer Hand an der Schulter des Grünäugigen fest.
 

„Setz dich.“, befahl der auch schon und drückte den Halbwolf zu Boden. Kopfschüttelnd setzte er sich neben seinen Reisegefährten. „Was läufst du durch die Gegend? Daniel hat gesagt du sollst…“ Dakkas Stimme verlor sich, als der Halbwolf grinste und einen kleinen Beutel von seinem Gürtel nahm. „Daniel weiß ja auch nicht, dass ich das hier für Notfälle dabei habe…“
 

Vorsichtig öffnete der Zauberer den Beutel schüttete etwas von dem Inhalt in seine Hand. Es war ein rotes Pulver, das Dakkas nur zu gut kannte.

Fassungslos sah er zu, wie Jared die kleine Handvoll Pulver an seinen Mund führte und hinein schüttete. Den Rest leckte er vorsichtig ab und schloss den Beutel wieder. Grinsend verstaute er ihn danach an seinem Gürtel.

„Rotes Vulkansalz aus Den-Seng.“, erklärte der Halbwolf-Zauberer grinsend. „Eines der stärksten Heilmittel, die es gibt. Eine Fingerspitze reicht aus, um selbst die Purpurpest zu besiegen. Eine Handvoll und es dauert keine fünfzehn Minuten, bis selbst die inneren Wunden wie verschwunden sind.“
 

Dakkas schloss seine Augen und atmete einmal langsam und kontrolliert aus.

Er war sich absolut sicher, dass dieses Vulkansalz sein mysteriöses Gewürz war. Es sah gleich aus, roch genauso und falls er kosten würde, würde es sicherlich genau so schmecken.

Sein Gewürz war kein Gewürz sondern ein Allheilmittel. „Wie teuer ist so ein Beutel voll?“, fragte er zögerlich, als er seine Augen öffnete.
 

Jared zuckte mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Weitaus mehr, als ich jemals besitzen werde. Der Beutel war ein Geschenk von… dem Mann, dem Sar’Shan und ich dienen. In Notfällen soll ich es benutzen.“
 

Ein unbezahlbar teures Allheilmittel. Das würde dann erklären, warum er es im Badezimmer versteckt hatte.
 

„Und welche Dummheit hast du jetzt vor, wo du es benutzt hast?“ Beide sahen auf. Ein immer noch sehr verschlafener Daniel blickte auf sie hinab. Jared hatte den Anstand, beschämt auszusehen. „Tschuldige, dass ich dir nichts davon erzählt habe. Es war für Notfälle… und je weniger davon wissen, desto geringer ist die Chance, dass es mir geklaut wird.“

Der Heiler seufzte. „Das verstehe ich ja sogar noch… aber warum meinst du, es jetzt benutzen zu müssen?“
 

Jared runzelte kurz seine Stirn und wies den Heiler dann an, Platz zu nehmen. „Ich war vorhin schon wach, als Dakkas erklärte, was es mit den Dämonen auf sich hat.“

„Du meinst den Aufruhr, der mich geweckt hat?“, warf der Halbdrache ein und Jared nickte. „Ich konnte mithören – besseres Gehör.“, erklärte Jared kurz für Dakkas, der verstehend nickte. „Wen ich unseren Jadestein richtig verstanden habe, werden wir die Dämonen erst los, wenn wir einen magischen Fokus in der Stadt zerstören.“
 

Dakkas nickte. Den Kosenamen übersah er geflissentlich – Jared gab so gut wie jedem und allem einen Spitznamen. Daniel sah von einem zum anderen. „Du willst doch nicht etwa in die Stadt rein?!“ Der Heiler schrie fast laut auf und Jared legte schnell eine Hand über seinen Mund.

„Sch, wenn Molokosh das hört passiert hier gar nichts.“
 

„Jared, das Dorf brennt noch!“, flüsterte Dakkas mit energischer Stimme. Der Halbwolf schnaubte. „Dafür gibt es Schutzzauber – einfach und praktisch, wenn man viel mit Feuer umgeht.“ Dakkas stöhnte. Es hätte ihm klar sein sollen, dass der Zauberer so etwas kannte. Feuer schien seine Lieblingswaffe zu sein.
 

Daniel nahm die Hand von seinem Mund weg. „Auf keinen Fall! Jared!“ Der Heiler senkte seine Stimme, als die Hand des Werwolfs erneut in seine Richtung kam. „Die Dämonen sind noch da drin und wer weiß was sonst noch! Die Gebäude stürzen ein! Das ist alles andere als sicher oder auch nur lohnend! Das ist Selbstmord!“
 

Der Halbwolf schnaubte. „Du brauchst ja nicht mitkommen! Dakkas, würdest du den Fokus erkennen, wenn du ihn siehst?“

Der Grünäugige dachte kurz nach. „Ja, das würde ich. Und er würde an einer sicheren Stelle stehen – nicht in einem einstürzendem Gebäude. Wahrscheinlich mit Runen gekennzeichnet – das ist Teil des… Brauches.“ Die Kopfschmerzen waren noch nicht vollkommen verschwunden, aber inzwischen war das Denken wieder einfacher.
 

„Ihr könnt doch nicht wirklich da rein wollen…“, jammerte Daniel verzweifelt. Doch Jared zuckte nur mit den Schultern. „Hast du eine bessere Idee? Molokosh und Sar’Shan werden nicht gehen, es wäre für sie zu riskant – obwohl sie als Drachen das Feuer aushalten sollten.“, grummelte der Halbwolf.

„Ihre Kleidung schafft das aber nicht. Und den Rauch würden sie auch nicht überleben.“, entgegnete Daniel. „Und dem werdet ihr auch ausgesetzt sein, falls ihr da wirklich rein wollt.“
 

Das brachte Jared dann doch zum Schweigen. „Die Kleidung ist kein Problem. Die Schutzzauber dürften auch an ihr wirken.“ „Ja, und wie oft wirst du die nachwirken müssen? Falls ihr auch nur einem Dämon begegnet, seid ihr beide hinüber… das ist Idiotie, Jared!“

Der Halbwolf grübelte kurz. „Ich weiß genau, dass du den Vollsphären-Schutzzauber beherrschst. Der dürfte uns vor dem Rauch schützen.“ Daniel starrte ihn noch entgeisterter an als vorher. „Wie bitte?“
 

Jared grinste schief. „Ich kümmere mich um unsere Haut und die Kleidung, du dich um den Rauch und Dakkas findet den Fokus. Allem, was da drin noch rumkriecht, weichen wir einfach aus.“ Der Heiler vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Ich höre nicht zu, ich träume noch – Ich gehe zu Lanar und lasse ihn diesen Wahnsinn beenden!“ Er kam nie dazu, aufzustehen.
 

Jared lächelte nur trocken. „Glaubst du, Koshi kann mich aufhalten, wenn ich da wirklich rein will? Zur Not spreche ich eben alle Zauber selbst, auch wenn ich dadurch müde werde.“ Der Zauberer hatte das wirklich vor. Verständnislos schüttelte Dakkas seinen Kopf, seufzte dann aber. „Zu dritt hätten wir auf alle Fälle eine bessere Chance.“, meinte er dann zögerlich.

„Du nicht auch noch!“, zischte Daniel. „Der Lanar bringt uns um, wenn wir da lebendig wieder herauskommen. Ganz abgesehen davon, dass es nichts bringen wird. Wir würden unser Leben ohne Sinn aufs Spiel setzten!“
 

„Es ist bis jetzt die beste Idee, die ich gehört habe.“, gab Dakkas als Antwort und brachte den Heiler so zum Schweigen. Doch nur für kurze Zeit. „Nein. Das kann ich nicht zulassen, es tut mir leid, aber-“

Das Gespräch der drei stockte, als Nostradamus langsam auf sie zukam und in die Hocke ging. Sein Blick war, überraschenderweise, klar. Der Seher war geistig ausnahmsweise mal voll anwesend – was auch immer das bei ihm hieß.

„Wenn wir jetzt gehen, wird Molokosh unser Fehlen erst bemerken, wenn es zu spät ist.“ Die deutliche, kalkulierend klingende Stimme des Grauhaarigen schreckte die drei anderen doch etwas auf.
 

„Herr? Lanar Nostradamus, Ihr meint doch nicht…“ Daniel schluckte, als klar wurde, dass der Drache genau das meinte.

„Du hast den Herrn gehört, Daniel. Auf, auf mit uns.“ Der Halbwolf sprang auf die Beine und schien tatsächlich von seinen vorherigen Wunden erholt zu sein. Dieses Salz musste wirklich unheimlich stark sein… Ein Grund mehr, die kleine Kiste gut versteckt und verschlossen zu halten.
 

„Lanar?“ In Daniels Stimme schwang Verzweiflung mit, doch Nostradamus lächelte nur und richtete sich ebenfalls wieder auf. „Beeil dich, Daniel. Der Fokus ist am anderen Stadttor und wir müssen durch die Stadt durch, um ihn zu erreichen. Je eher wir losgehen, desto eher kommen wir wieder zurück.“

Dakkas blinzelte. Manchmal war so ein Seher doch praktisch.
 

Jared sprach einige schnelle Zauber auf ihre Kleidung und sie selbst, die sie hoffentlich vor den Flammen schützen würden. Daniel belegte sie wiederwillig mit einem Zauber, der es ihnen erlauben würde, auch in dem Rauch zu atmen. Nostradamus gab das Zeichen zum Aufbruch.
 

Das brennende Dorf zu betreten war einfacher, als Dakkas gedacht hatte. Den Rauch konnte er weder riechen noch spüren, lediglich seine Sicht wurde davon behindert. Die Hitze der Flammen war zwar noch spürbar und unangenehm, aber obwohl sie an ihm empor leckten fing er nicht Feuer. Alles in allem war es eine komische Erfahrung, als sie die brennenden Trümmer durch das Loch in der Steinmauer betraten, welches der Gargat vorher hinein gerissen hatte.
 

Nostradamus führte sie zwischen schon fast ganz abgebrannten Trümmern entlang und mitten durch Flammenwände hindurch. Die Ruinen hatten keine Ähnlichkeit mehr mit dem Dorf, dass Dakkas erst vor kurzem verlassen hatte. Ohne den Seher hätte er sich hier nie zurecht gefunden.
 

Der Schrei eines Gargat hallte durch die Nacht und ließ die vier Todesmutigen innehalten. Nostradamus hob seine Hand und schien über etwas nachzudenken.

„Was ist?“, wollte Dakkas wissen.

„Es wäre möglich, dass ich uns um die Dämonen herum führen kann.“, erklärte der Seher zögerlich. Daniel atmete erleichtert aus. „Na wunderbar.“

„Allerdings,“ wandte Nostradamus ein, „wäre ich dann nicht mehr ansprechbar in eurem Sinne.“

„Oh.“, war die Antwort des Heilers.
 

Jared grummelte. „Dann nützt es nichts, oder? Wir sollten hier im Feuer nicht stehen bleiben.“

„Warum nicht?“, wandte Dakkas ein und erntete ungläubige Blicke von den beiden Halbengeln. „Ich verstehe Nostradamus durchaus, wenn er… anders ist. Zumindest etwas, denke ich.“ Bei der Vision hatte er sich jedenfalls nicht dumm angestellt.
 

„Gut.“, war alles, was Nostradamus von sich gab, bevor er plötzlich kurz schwankte und seine Augen wieder jeglichen Fokus und Emotion verloren. Dann setzte der Seher sich auch plötzlich schon in Bewegung. Hastig folgten die anderen ihm.
 

So langsam verstand Dakkas, wie Nostradamus’ Sicht funktionierte. Und was für ein Fluch sie sein musste, wenn sie den Seher so von seinem Körper trennte. Denn wenn er ‚sah’ schien er nichts wahrzunehmen, was seinen Körper betraf. Als wenn sein Körper nur noch mit ‚Restenergie’ funktionieren würde und sein Geist ganz woanders war… Ein schweres Los.
 

Ihre Wanderschaft durch das zerstörte Dorf wurde so schnell wie möglich hinter sich gebracht. Dank Nostradamus’ Führung begegneten sie tatsächlich keinem Dämon irgendeiner Art, Form oder Größe. Einzig und allein einige komische Schreie oder Geräusche drangen hin und wieder an ihr Ohr, doch wurden diese geflissentlich ignoriert.
 

Der Rauch und die Flammen nahmen ihnen die Sicht, so dass sie keine andere Chance hatten, als sich auf ihren drakonischen Führer zu verlassen. Die Hitze war zwar nicht bedrohlich, aber unerträglich. Alle vier atmeten erleichtert auf, als sie plötzlich auf einen größeren, freien Platz traten.
 

Der Platz war überseht mit langsam dahin schwelenden Holzresten und einigen verbrannten Dingen, die Dakkas nicht genauer untersuchen wollte. Alle Gebäude oder Gebäudetrümmer waren von dem Platz weggekarrt oder umgerissen worden, so dass eine freie, relativ flammenfreie Fläche entstand.
 

In der Mitte des Platzes war ein einfaches, kleines Podest aus schwarzem Stein aufgestellt, in dessen Mitte ein rötlich leuchtender Kristall von vielleicht zwei Pfund Gewicht aufgestellt war. Dakkas erkannte ihn sofort als den fraglichen Fokus, wegen dem sie überhaupt hier waren.
 

Zu ihrer Überraschung – und ihrem Entsetzen – war der Fokus jedoch nicht allein, obwohl er inmitten der Flammen in relativer Sicherheit war.
 

Neben ihm stand ein Mann, eingehüllt in die farbintensivsten und exotischsten Kleider, die Dakkas je gesehen hatte. Rote Stiefel, eine orangefarbene Hose und eine purpurfarbene Tunika samt einem rotem Überwurf mit gelben Verzierungen zierten den hochgewachsenen Mann mit den blond-rötlichen Haaren.
 

Er sah nicht in ihre Richtung, sondern spielte mit einem Zipfel seines Überwurfes, während er in die Ferne starrte. Er war nicht so groß wie ein Drache, aber größer als ein durchschnittlicher Engel. Doch was auch immer er war, im Moment war er den vieren im Weg.
 

„Was jetzt?“, fragte Daniel. Da sie gegen das Knistern der Flammen und Krachen der immer noch einstürzenden Gebäude ankommen mussten, schrie der Heiler.

„Nicht gut. Unzulässig. Nicht vorhanden. Versteckt?!“, brabbelte Nostradamus mit ausdruckslosen Augen.

„Was?“, wollte Jared wissen.

Der Seher starrte weiterhin den dort stehenden Mann an und sprach verwirrt vor sich her. „Nicht da. Doch da? Sollte nicht da sein. Übersehen? Weggeschaut? Hingeschaut und doch nicht gesehen?“

„Er hat den Mann nicht sehen können.“, riet Dakkas.
 

Daniel und Jared sahen sich blass an. „Was ist?“, wollte Dakkas wissen. „Wenn Nostradamus-lana ihn nicht sehen kann, muss er sehr mächtige Schutzzauber gegen Seher haben. Sehr, sehr mächtige Schutzzauber.“, erklärte der Heiler mit Angst in der Stimme.

Dakkas schluckte. Mit einem mächtigen Magier oder Beschwörer hatten sie nicht gerechnet. Was jetzt?
 

Diese Frage klärte sich jedoch von selbst. Ein Dämon trat von einer anderen Seite des Platzes hinaus aus den Flammen. Es war ein aufrechtlaufendes, aber hundeähnlich aussehendes Wesen mit seltsamen Stacheln und Schuppen an seinem Körper. In den starken Armen trug es vorsichtig ein eingewickeltes Bündel. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Dakkas einige Haare zwischen den braunen Leinen.

In dem Bündel war eine Person!
 

Zwei andere Dämonen, ebenfalls diese Hund-Schuppen Art, trat hinter dem ersten auf den Platz und schleppten einen älteren, schwer mitgenommenen Engel mit sich. Auf der weißen Robe des Engels prangte das Zeichen einer geballten Hand, von der Strahlen ausgingen.

„Das ist ein Doge!“, rief Jared entgeistert.

„Warum lebt der noch?“, fragte Dakkas.

„Schutzzauber?“, riet Daniel. „Die Dogen sind keine schlechten Magier. Aber was machen die Dämonen da?“ Darauf wusste keiner der anderen eine Antwort. Außer vielleicht Nostradamus, doch der war wieder still geworden.
 

Der erste Dämon brachte das Bündel vorsichtig zu dem wartenden Mann, der mit einer offensichtlich besorgten Miene die darin befindliche Person musterte. Danach sandte er einen mörderischen Blick zu dem Dogenmagier und zischte den Dämonen etwas zu. Die Wesen gaben seltsame, hohe, kiekende Laute von sich. Mit einem letzten sanften Blick auf das Bündel verschob der buntgekleidete Mann einen Teil der Fassung des Fokus und öffnete somit ein mit Krachen erscheinendes, zuckendes und wabbelndes Portal von violetter Farbe.

Die Dämonen schritten mit ihrer Fracht hindurch und verließen somit Sellentin. Der Mann sah sich noch einmal um und schob die Fassung des Fokus dann wieder zurück.
 

Danach blickte er noch einmal rund um sich. Dabei landeten die Augen des Mannes auch auf Dakkas und den anderen.

Purpurne Augen bohrten sich in die des Grünäugigen und weiteten sich kurzzeitig mit etwas wie Überraschung. Der Platz war klein genug, dass Dakkas das Gesicht des Mannes gut sehen konnte. Doch die Augen ließen ihn nicht los.
 

Sie waren komplett purpurfarben, ein satter, farbenprächtiger Farbton. Nur die Iris war schwarz. Während Dakkas zusah blinzelte der Mann einmal langsam. Als die Augenlieder sich wieder hoben, waren die Augen plötzlich braun und von normalen Aussehen. Ein zweites Blinzen ließ sie jedoch wieder Purpur werden.
 

Ein fragendes Grinsen legte sich auf die Züge des Mannes und er legte seinen Kopf schief. Mit einer Bewegung seiner Hand schmiss er dann den Fokus auf den Boden, wo der Kristall zersplitterte. Kreischen und Tosen war aus scheinbar allen Ecken des Dorfes zu hören, bis all diese Geräusche auf einmal verstummten.

Mit einem sardonischem Lächeln verging dann auch der mysteriöse Mann in einer rötlich-purpurnen Wolke und löste sich sprichwörtlich scheinbar in Nichts auf.
 

Zurück blieben nur die Trümmer, die Flammen, die absolute nächtliche Stille, abgesehen vom Knistern des Feuers, und die vier verdutzten Freunde.
 

„Hat der gerade den Fokus zerstört?“, wollte Jared wissen. Dakkas nickte. „Ja. Damit sollten unsere Dämonenprobleme gelöst sein.“ „Warum bringt er die Dinger hierher, nur um sie wieder wegzuschicken? Und wo ist der hin?!“

„Das weiß ich zwar nicht, aber wir sollten schleunigst zurück zum Lanar und ihm davon berichten.“, meinte Daniel in Antwort auf Jareds Fragen.
 

Dakkas konnte ihm nur Recht geben. Irgendetwas an diesem Mann war… unheimlich gewesen.

Der Dabus

A/N:

Das Drakonisch in diesem Kapitel wird NICHT übersetzt. Da würde zu viel Spannung flöten gehen *fg*.
 

Außerdem danke ich wieder dem lieben Suran, der wohl alle neuen Kapitel betan wird (und sich eigentlich nur freut, sie als erster lesen zu dürfen *zwinker suran*).
 


 

12 - Der Dabus
 

Der Weg aus dem zerstörten Sellentin hinaus war weitaus einfacher als der Weg hinein, auch wenn sie diesmal einen geistig abwesenden Nostradamus hinter sich her ziehen mussten.
 

Der Seher schien jeglichen Kommunikations- oder Handlungswillen verloren zu haben, als die Dämonen verschwanden. In seinen Augen war – zum ersten Mal, seit Dakkas ihn kannte – ein vollkommen leerer Ausdruck. Es sah nicht nur so aus, als wenn er geistig woanders wäre, es schien, als wäre gar kein Geist in ihm vorhanden.

Wenn er ehrlich zu sich war, erschreckte Dakkas das etwas.
 

Als sie endlich durch die Überreste des Stadttors traten, wurden sie auch schon von einem tobendem Molokosh in Empfang genommen.
 

Der schwarzhaarige Drache lief unweit des Tores auf und ab, hinter ihm ein Aufgebot von neugierig und ängstlich zugleich dreinblickenden Engelssoldaten und ein stoisch dastehender Sar’Shan.

Als der Drache die kleine, mitgenommene Gruppe erblickte, marschierte er sofort mit eng zusammen gepressten Lippen auf sie zu und packte Daniel am Kragen. Gleich darauf hagelte auch ein Wortschwall aus Drakonisch auf den Heiler ein – von dem Dakkas natürlich kein Wort verstand.

„Xantas losavakop?! Mataler gicehs sti…“ Dakkas ignorierte das Gebrüll des Drachen, so gut es ging.
 

Jared wurde lächelnd von Sar’Shan in Empfang genommen und mit einer kurzen Inspektion begrüßt. Scheinbar zufrieden damit, dass sein Freund unverletzt war, zog der Drache ihn dann an seine Seite und schlang einen Arm um ihn.
 

Daniel versuchte inzwischen verzweifelt, sich gegenüber Molokosh zu rechtfertigen und den Drachen gleichzeitig zu beruhigen. So viel war von seinem defensiven Ton und seinen beschwichtigen Handbewegungen klar erkennbar.
 

Nostradamus war wie angewurzelt da stehen geblieben, wo Dakkas ihn hin gezerrt hatte. Die Hand des Seher fiel sogar leblos gegen seinen Körper, als der Grünäugige sie losließ.

Das bereitete ihm jetzt wirklich Sorgen.
 

„Molokosh – vielleicht kannst du kurz aufhören, den armen Daniel anzuschreien? Dein Bruder benimmt sich noch seltsamer als sonst.“, durchbrach der Kleinere daher die Tirade des Drachen.
 

Dieser stockte, blickte zu seinem Bruder und ließ ab von Daniel. Der Heiler wirkte sichtlich erleichtert.

„Was ist passiert?“, wollte der adlige Drache wissen, als er bei Nostradamus und Dakkas angekommen war.

„Keine Ahnung. Er hat uns durch die Stadt geführt um den Fokus zu finden und dann… war er plötzlich so.“
 

Molokosh wedelte mit seiner Hand vor den Augen seines Bruders herum und bekam keine Reaktion – nicht einmal ein Augenblinzeln. Der Schwarzhaarige runzelte die Stirn und fasste Nostradamus an seiner Schulter. Der Grauhaarige regte sich immer noch nicht und so begann Molokosh, sanft auf Drakonisch auf ihn einzureden.
 

Dakkas überließ die beiden Brüder sich selbst und schritt zum nahe stehenden Offizier Ratken. Der Engelssoldat schaute den Grünäugigen fragend an. „Ihr wart doch nicht wirklich im Dorf, oder?“

Dakkas seufzte. „Doch, waren wir. Um den Fokus und die Dämonen braucht ihr euch keine Sorgen mehr zu machen – der Fokus ist zerstört und die Dämonen weg.“

Ratken und die anderen Umherstehenden atmeten erleichtert aus. Ein erschöpftes, aber erleichtertes Gemurmel machte sich breit.
 

„Wie habt Ihr das nur geschafft? Ihr hattet doch“ keinerlei Chance.
 

„Du hast keinerlei Chance, das zu schaffen.“ Die Stimme klang sanft, aber auch sicher und bestimmt.

„Woher willst du das wissen? Hast du es probiert?“ Seine eigene Stimme war ebenso sicher und bestimmt, aber nicht amüsiert, sondern gespickt mit verkniffenem Lachen.

„Nein. Aber ich kann logisch Denken.“ Jetzt schwang Pikiertheit in der Stimme mit.

„Logisches Denken ist nett – aber immer nur so gut wie derjenige, der denkt.“
 

Dakkas blinzelte und riss sich aus der Erinnerung. Offizier Ratken warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, doch der Grünäugige schüttelte nur den Kopf und murmelte: „Müde. Das war anstrengend.“ Das schien den Engel weitgehend zu beruhigen. Dakkas wandte sich von ihm ab und wanderte einige Schritte von der Ansammlung von Flüchtlingen weg.
 

Erinnerung.

Ein bedeutungsschweres Wort für Dakkas. Aber das gerade war eine der klarsten Erinnerungen gewesen, die er gehabt hatte seit dem Unglück.

Die Erinnerung an eine Stimme.
 

Sie war sanft, gleichmäßig, diese Stimme. Sie klang… vertraut und beruhigend. Ihr Eigentümer regte sich nicht oft auf – und wenn, dann nicht laut.

Ihr Eigentümer. Eigentümerin. Es war eine Frau. Eigentümer. Es war doch ein Mann.
 

--blondes, langes Haar, Locken--

Nein, eine Frau.

--blondes, langes Haar, zusammengezogen zu einem Pferdeschwanz mit einem braunen Lederband--

Doch ein Mann.

--blondes, lockiges, langes Haar und klare blaue Augen. Ein Schmollmund. „Vater, Margarete behauptet, dass--

Eine Frau.

--blondes, langes Haar im Pferdeschwanz, blaue, trotzige Augen. Ein siegessicheres Grinsen. „Ich kann weiter schießen.“--

Ein Mann.
 

--Blondes, langes Haar. Die sonst wilden Locken waren in einem Pferdeschwanz gebändigt. Ihre blauen Augen waren klar und konnten doch in einem Augenblick dunkel und widerspenstig werden. Ihr Gesicht war oval und nicht ganz so weiblich, wie ihr Vater es gerne gehabt hätte. Doch man musste ja nehmen, was man kriegte.

Sie trug gerne trittfeste Stiefel, Hosen und Schnürhemden nach Art der Waldläufer. Ihre Hände, die immer fein gefeilt und bemalt waren, wenn ihr Vater in der Nähe war, umklammerten sicher einen Ebenholzbogen. Der Köcher war auf ihrem Rücken festgeschnallt.

Sie war der beste Bogenschütze, den er je gesehen hatte.

„Hallo Dan!“

Ihr Vater würde ihn umbringen, wenn er wüsste, dass er sie besuchte. Ihr Vater würde sie umbringen, wenn er wüsste, dass sie vorhatte, sich an den Kämpfen zu beteiligen.--
 

Eine Hand fiel auf seine Schulter und schreckte ihn auf. Das Bild verschwamm, verblasste und hinterließ fürchterliche Kopfschmerzen.

„Seid Ihr in Ordnung?“ Es war Ratken, der Offizier.

„Ja – Ja!. Nur… nur Kopfschmerzen. Vom… vom Rauch vielleicht, ich weiß nicht.“

Ratken nickte besorgt. „Ich hole Euren Heiler.“

„Nein, das-“ Sein Einwand kam zu spät, der Engel marschierte bereits zu Daniel.
 

--Blondes, langes Haar. Locken. Blaue Augen. Kleiner, aber gut durchtrainierter Körper. Bogen, Köcher. Jagdmesser. Pferdeschwanz. Ein helles, freundliches Lachen. „Ich kann immer noch schneller schießen als du, Dan.“--
 

Amalie. Ihr Name war Amalie.
 

~*~
 

Daniel konnte keine Erklärung für die Kopfschmerzen finden, aber da sie bald darauf wieder verschwanden kümmerte das Dakkas nicht sonderlich. Vielleicht waren sie auch einfach nur durch Stress und Aufregung verursacht worden – davon hatte er in den vergangenen Tagen genug gehabt.
 

Nachdem Molokosh mit seiner Standpauke fertig und die Geschehnisse in der Stadt erzählt worden waren, verabschiedete Dakkas sich für die Nacht – oder was davon noch übrig war – und legte sich in ihrem Lager aufs Ohr.
 

In seinem Kopf drehte sich noch alles – das Feuer, die Dämonen, der komische Mann mit dem Fokus und jetzt auch noch diese komische Erinnerung an eine junge Frau namens Amalie. Und das mulmige Gefühl, wenn ihm ihr Vater einfiel. Hoffentlich war Amalie nicht so etwas wie seine heimliche Geliebte gewesen.
 

Der nächste Morgen kam viel zu langsam für Dakkas Geschmack. Er hatte unruhig geschlafen und war mehrmals aufgewacht. Kein Wunder, wenn man bedachte, wo er gerade schlafen sollte.
 

Als die anderen ihrer kleinen Reisegruppe bereits aufstanden und sich im Überlebendenlager umsahen oder sich ums Frühstück kümmerten, blieb Dakkas erschöpft liegen. Hin und wieder öffnete er seine Augen einen Spalt breit und besah sich das Treiben um ihn herum.
 

Irgendwann verfiel er in ein halbwegs entspanntes, angenehmes Dösen. Bis jemand sich neben ihn kniete und die Sonne verdunkelte. Müde blinzelte er mit einem Auge und sah Daniel, der kurz lächelte und ihn dann einmal kurz untersuchte. „Noch Kopfschmerzen?“

Der Heiler hatte den Grund für das Pochen in Dakkas Schädel gestern nicht finden können und wirkte auch jetzt noch ratlos. Doch der Grünäugige lächelte schläfrig. „Nein, gar nichts. Muss der Stress gewesen sein.“

Daniel schien nicht überzeugt davon, seufzte aber nur.
 

Als Molokosh neben den Heiler trat, begann dieser ein Gespräch auf Drakonisch. Das allein lies Dakkas schon aufmerksam zugucken – Daniel schien in seiner Gegenwart die Handelssprache zu bevorzugen.

„Thadakam achron eth tradeton-dyalos, lanar.“ Wenigstens das letzte Wort machte Sinn für Dakkas. Der Rest war jedoch nicht mehr als komische Laute.
 

Sar’Shan schien jedoch etwas Interessantes zu hören, denn sein Kopf schnellte hoch und er blickte kalkulierend vom de’Sahr zum Heiler und wieder zurück. „Tradet-dyalos?“, hakte er nach.

Doch Molokosh sandte ihm nur einen bitterbösen Blick, der den Krieger erstarren und schweigen lies. „Pak?“, fragte der Schwarzhaarige dann nur an Daniel gewand.

Der Heiler trat nervös von einem Bein auf das andere. Seine Antwort klang sehr zögerlich und… vorsichtig, als wenn er sich den Wortlaut sehr genau überlegen würde.

„Shoga itkihs lakres. Hamitahs ben skhoren ath eth.“

Sar’Shan verschränkte seine Arme und sah den beiden aufmerksam zu. Hin und wieder warf er einen verwirrten Blick auf Dakkas, der den Grünäugigen glauben lies, dass man gerade über ihn sprach.
 

Molokosh war jedoch von den Worten des Heilers alles andere als beeindruckt. Er zischte ihn regelrecht an: „Doneg mallax tanihs ath. Sti makrog rage ben. Bronekh?!“

Beim letzten Worte zuckte Daniel sichtbar zusammen und senkte schnell seinen Blick zu Boden. Seine Schulterblätter sackten ab, als wenn er so ungefährlich wie möglich wirken wollte.

„Pa, lanar.“
 

Der Kopf des Schwarzhaarigen wirbelte zu Sar’Shan. „Und für dich gilt das Gleiche.“

Doch der Krieger zückte nur eine Augenbraue. „Mir war nicht bewusst, dass ich mich den Diensten Molokosh de’Sahrs verschrieben hatte.“ Sein Halbgrinsen machte deutlich, dass er sich von Molokosh nicht im Geringsten bedroht fühlte.

Molokoshs Lächeln war eiskalt und seine nächsten Worte klangen gezwungen. „Nein. Aber wir wissen beide, wie dein Meister reagiert, wenn jemand Nostradamus aufregt.“ Das hatte dann doch Wirkung auf den Krieger und sein Halbgrinsen erstarb.
 

Dakkas runzelte verwirrt die Stirn. Ging das Gespräch doch um den grauhaarigen Seher und hatte gar nichts mit ihm zu tun? „Wie geht es Nostradamus?“, wollte er wissen und unterbrach so den Streit der Drachen. Die Frage, was dieser ominöse Meister von Sar’Shan und Jared damit zu tun hatte, verkniff er sich für ein andermal. Bisher hatte man ihm Fragen über diese mysteriöse Person eh nicht beantwortet.
 

Daniel sah Dakkas zögerlich an. „So wie immer. Körperlich ist er in wunderbares Verfassung, ansonsten… so wie immer.“ Also besser als gestern Abend schlussfolgerte Dakkas.

„Und warum schreist du den armen Daniel schon wieder zusammen?“, wollte der Grünäugige dann von Molokosh wissen, während er langsam aufstand.
 

Daniel verzog sein Gesicht kurz so, als ob er Schmerzen hätte und Sar’Shan beugte sich interessiert vor, um Molokoshs Antwort abzuwarten.

Der schwarzhaarige Drache blinzelte einmal und presste dann seine Lippen zusammen. „Nichts wichtiges… eine kleine Meinungsverschiedenheit, was die Art einer ärztlichen Behandlung angeht.“

Das brachte Sar’Shan nur zum Stirnrunzeln und Dakkas zum Kopfschütteln. „Sollte Daniel da nicht die Entscheidungen fällen? Schließlich ist er doch der Arzt.“

Molokosh brummte etwas unverständliches zu sich selbst und sagte dann laut: „Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Dakkas. Möchtest du nicht lieber etwas frühstücken, bevor wir wieder aufbrechen?“
 

Das Thema war offensichtlich beendet für den Adligen.

Dakkas schnaubte. „Da ist aber jemand sehr daran gewöhnt, seinen eigenen Willen zu kriegen.“ Sar’Shan schmunzelte, aber Daniel schüttelte nur gedankenverloren den Kopf. „Lanars Bruder ist schlimmer.“

Das brachte Sar’Shan zum Grollen, welches Daniel mit einem entschuldigendem Blick quittierte, bevor er Dakkas Frühstück holen ging.
 

Der Kleinere blieb jedoch noch verwunderter zurück als vorher.

Er war zwar von der Beziehung zwischen den beiden Brüdern her davon ausgegangen, dass Molokosh sich um den Seher gut kümmerte – aber er hatte es nicht so eingeschätzt, dass Nostradamus alles bekam, was er wollte. Meistens schien der Seher zufrieden zu sein, solange man ihn in Ruhe lies.
 

Letztendlich schüttelte der Grünäugige nur den Kopf und aß das Frühstück, das Daniel ihm anreichte.

Drachen. Die zu verstehen war sowieso eine Kunst für sich.
 

~*~
 

Kurz nachdem Dakkas gefrühstückt hatte, lies Molokosh sie ihre Sachen packen und marschbereit machen. Laut seinen Worten wurde bald eintreffende Hilfe für die Überlebenden Sellentins erwartet und das würde viel Engelsmilitär bedeuten – etwas, auf das ihre kleine Gruppe momentan nicht sonderlich erpicht war.
 

Während die Drachen ihre Habe aufsammelten, zog Dakkas Jared zur Seite. Der Halbwolf würde ihm vielleicht bei diesem rätselhaftem Gespräch vorhin helfen können.

Tatsächlich war Jared genauso neugierig wie Dakkas. „Was haben sie denn gesagt?“

Dakkas seufzte. Das einzige, an das er sich erinnern konnte, war das, was Sar’Shan wiederholt hatte. „Irgendwas mit „tradet-dja“ irgendwas.“

Der Halbwolf schmunzelte. „Da kann man nicht gerade viel draus machen.“

Dakkas verschränkte seine Arme. „Ich spreche kein Drakonisch.“

„Ich auch nur Bruchstücke.“, erklärte Jared. „Aber „tradet“…“Tradetas“ heißt Zauberer, „tradet“ heißt Zauber… das andere Wort, wurde das ohne Pause danach gesprochen?“

„Es kam sogar direkt danach – als wenn es Teil des Wortes wäre.“, erinnerte sich Dakkas.

Jared nickte stirnrunzelnd. „Kein Teil des Wortes. Nebenwort. Eine Ergänzung, sozusagen. Es gibt die Art von Zauber an. Aber solange du dich nicht an das zweite Wort erinnerst, kann ich dir da auch nicht weiterhelfen.“ Der Zauberer grinste wölfisch. „Aber du kannst dir sicher sein, dass ich Shan danach ausfragen werde.“
 

Molokosh und Ratken wechselten noch ein paar Worte und dann setzte die Gruppe ihren Weg nach Kleingaren auf ihren Pferden fort.

Sie hatten dem Offizier so gut wie möglich die Geschehnisse im Dorf erklärt, doch war Dakkas nur noch verwirrter geworden.
 

Verwirrung schien überhaupt sein derzeitiger Zustand zu sein – nicht nur, was seine eigene Identität anging.
 

Warum zum Beispiel griff ein Dämonenkult ein rein strategisch gesehen unwichtiges Dorf an? Gut, Sellentin bildete einen Punkt für die Handelskarawanen auf der Hauptstraße, aber das war auch schon alles. Es gab keine besonderen militärischen Einrichtungen, keine bekannten Einwohner, nichts.

Sellentin war absolut uninteressant.

Aber war es nicht interessant zu wissen, dass ihm so etwas ein- und auffiel.
 

Hinzu zu diesem unerklärlichem Angriff kamen die verstärkten Angriffe der Rebellen – in die seine Begleiter irgendwie verwickelt waren, das spürte Dakkas einfach – eine Agentin des Königs, die sie verfolgte – eigentlich Molokosh, aber momentan war das ein und das selbe – und das ständige Auftauchen von Beauron.
 

Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass irgendwas in Kvi’sta passierte. Etwas großes und sehr wahrscheinlich gefährliches. Und irgendwie hatten Dakkas und seine Begleiter damit zu tun.

Die Frage war jetzt nur noch, was genau los war – und was er damit zu tun hatte.
 

~*~
 

Die Reise ging nur schleppend voran. Die Sonnenstrahlen brannten zwar nicht mehr so stark auf sie nieder wie in Kish-Laro, aber dafür lag eine gewisse Schwüle in der Luft. Sie schien fast schon mit Energie aufgeladen zu sein und täglich befürchtete Dakkas den Anfang eines Gewitters. Der Himmel war fast ständig bewölkt, wenn auch nicht mit dunklen Sturmwolken, doch solche Stürme konnten schnell aufziehen.
 

Sie hatten Sellentin vor vier Tagen hinter sich gelassen und ritten auf einer der weniger benutzten Straßen des Reiches Kleingaren entgegen. Molokosh rechnete damit, dass sie schon innerhalb der nächsten zwei Tage den Wald erreichen würden, durch den die Straße nach Kleingaren verlief.
 

Sar’Shan hatte sich nicht als Hilfe bewiesen, was das seltsame Gespräch von Molokosh und Daniel anging. Der Krieger hatte nur den Kopf geschüttelt und Jareds und Dakkas Neugier mit Stille quittiert.

Der Halbwolf war seinem Freund böse deswegen gewesen, hatte das aber nicht lange durchhalten können. Seine Worte zu Dakkas waren gewesen: „Normalerweise hat Shan einen guten Grund dafür, dass er ein sturer Dickschädel ist. Auch wenn niemand sonst den Grund sieht – aber irgendwann sagt er mir schon, worum es hier geht, keine Sorge.“

Das ganze war ein wenig frustrierend.
 

Nostradamus war endlich wieder der alte, schweigsame, abwesend wirkende Seher. Der vollkommen leere Blick in seinen Augen war am zweiten Tag unterwegs verschwunden. Dakkas fühlte sich erleichtert, was er nicht ganz verstand, da der Seher ihm immer noch komisch vorkam. Aber irgendwie war der Grauhaarige inzwischen doch ganz… erträglich geworden.

Außerdem mussten sie ihn so nicht mehr am Sattel festbinden damit er nicht vom Pferd fiel, da er sich tatsächlich am Zaumzeug festhielt.
 

Es war Mittag, als Dakkas all diese Gedanken durch den Kopf huschten. Sie ritten im ordentlichen, aber nicht hetzendem Tempo die Straße entlang. Molokosh wollte den Wald erreichen, bevor ein möglicher Sturm über sie hereinbrach. Der Schutz von einigen Blättern war schließlich immer noch besser als gar kein Schutz.
 

Dakkas runzelte seine Stirn und sah nach oben. Die Wolken schienen mit jedem Tag dichter zu werden. Bald würde es wirklich ein Gewitter geben. Innerlich seufzend lies er sein Pferd bis an Molokoshs Seite traben und bat den Drachen, ein schnelleres Tempo einzulegen.
 

~*~
 

Ein einhalb Tage später erreichten sie die Ausläufer des Waldes – genau eine halbe Stunde, bevor das Gewitter über sie herein brach. Trotz der dichtstehenden Bäume waren sie nach einer halben Stunde Dauerregen komplett durchnässt.
 

„Lanar, das hat keinen Sinn – wir brauchen einen Unterschlupf, wenigstens bis das Gewitter nachlässt.“, erklärte Daniel und Dakkas stimmte ihm zu.

„Ihr habt Recht… Jared, irgendeine Idee, wo wir hier Unterschlupf finden können?“

Der Halbwolf hielt seine Hand an seine Stirn, um die Regentropfen daran zu hindern, in seine Augen zu fallen. „Woher soll ich das wissen? Nur weil ich ein Halbwerwolf bin, kenne ich noch lange nicht jeden Wald in- und auswendig!“
 

Dakkas rollte mit den Augen. „Wieso haben wir eigentlich einen Seher dabei?!“ Die Frage war mehr an sich selbst gerichtet und so erwartete der Grünäugige keine Antwort. Stattdessen drehte er seinen Kopf um zu dem selbst im Regen stoisch dasitzendem Grauhaarigen.

„Nostradamus. Nostradamus!“
 

Beim dritten Mal rufen blinzelte der Drache und blickte Dakkas fragend an.

„Wo ist hier der nächstbeste Unterschlupf zu finden?“

Nostradamus runzelte seine Stirn und legte seinen Kopf einen Augenblick lang schief. Seine Augen huschten von links nach rechts, als wenn er etwas eilig betrachten – oder eine Karte lesen würde.

Dann blinzelte er erneut und rückte seinen Kopf wieder gerade. „Eine Stunde in die Richtung.“ Er deutete mit seiner Hand tiefer in den Wald hinein, abseits von der Straße.
 

Dakkas nickte. „Wunderbar. Danke.“ Der abwesende Ausdruck kehrte zurück in die Augen des Sehers und Dakkas antwortete auf die verwunderten Blicke der anderen mit einem Stirnrunzeln. „Was? Er ist doch ein Seher. Gerade für so etwas ist er doch gut, oder? Also los, Nostradamus sagte eine Stunde.“
 

Erst als der Schwarzhaarige sein Pferd zum Weitergehen anspornte taten es ihm die anderen gleich und folgten ihm ins Dickicht.

Er schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Wenn man so ein Problem und einen Seher dabei hatte, der allem Anschein nach jeder Zeit bestimmen konnte, was er sah, dann fragte man ihn doch, oder?
 

Dakkas stieg vom Pferd, als das Unterholz zu dicht wurde, um sicher reiten zu können und führte das Tier dann weiter durch den schnell matschig und dunkel werdenden Wald. Es war zwar erst Nachmittag, aber das rasch aufgezogene Gewitter hinderte das Sonnenlicht daran, sie zu erreichen. Die Blätter der hohen Bäume verstärkten das Zwielicht im Wald nur noch.
 

Aber halt.

Ein Seher, der allem Anschein nach jeder Zeit bestimmen konnte, was er sah…

Fast wäre Dakkas gänzlich stehen geblieben, mitten im Regen und Wald, aber er fing sich und strauchelte nur, bevor er geistesabwesend weiter marschierte.
 

Ein Dabus.

Nostradamus war ein verdammter Dabus.

Kein einfacher Seher, Prophet oder Wahrsager, nein. Eine Person, deren Blick durchs Zeitgefüge selbst sehen konnte, jederzeit, wann die Person es wollte – überall hin.

Ein allwissendes Auge. Ein Schicksalsseher. Ein Wahrheitsblicker. Ein… Dakkas rief sich zu geistiger Ordnung auf. Es gab so viele spezielle Namen für die Dabus, dass er mit einer Aufzählung wohl nie fertig geworden wäre.
 

Trotz des Schocks machte diese Erkenntnis doch klar, warum der Sonnenkönig den Grauhaarigen lebendig wollte und selbst dieser komische Meister von Sar’Shan und Jared an ihm interessiert war. Das Wort ‚Geheimnis’ gab es für einen Dabus nicht – und ‚Überraschung’ ebenfalls nicht. Es war schwer, jemanden zu überraschen oder zu hintergehen, der nur einen Gedanken brauchte, um jeden Punkt der Welt zu jeder gewollten Zeit zu sehen.
 

Umso mehr interessierte es Dakkas, was der Seher in ihm – über ihn gesehen hatte, dass er zuerst so feindlich reagiert hatte. Und warum sagte Nostradamus nicht einfach, wie Dakkas wirklich hieß und was er war?! Er musste es doch wissen.
 

Natürlich wusste er es. Nostradamus konnte es gar nicht nicht wissen. Was bedeutete, dass er einfach nur nichts sagte; es also für besser hielt, Dakkas selbst alles herausfinden zu lassen. Wofür es einen Grund geben musste.
 

Die Zukunft lag nicht hundertprozentig fest, so viel wusste Dakkas. Auch ein Seher – selbst ein Dabus – konnte nur mögliche Varianten sehen, die von vielen verschiedenen Dingen abhingen. Aber wer all diese Varianten und die verschiedenen Variablen kannte, konnte die Zukunft ändern – oder besser gesagt: lenken.

Nostradamus sagte kein Wort, weil er die Zukunft in die Richtung pressen wollte, die er wollte und für am besten hielt.

Und es gab eigentlich nichts, dass Dakkas dagegen unternehmen konnte.
 

Das ganze war frustrierend, unheimlich-

„Dakkas!“

Schmerz. Purer, pochender Schmerz an seiner vorderen Schädeldecke.

Fluchend rieb Dakkas sich an der Schläfe und trat einige Schritte zurück von – der moosbewachsenen Holzwand, gegen die er gerade gelaufen war.
 

Molokoshs Hand landete auf seiner Schulter. „Dakkas. Alles in Ordnung?“

Der Grünäugige schloss kurzzeitig die Augen und seufzte dann. „Ja. Ich war nur-“

„In Gedanken.“ Molokosh lächelte. „Das haben wir nach fünfzehn Minuten vergeblichem Rufens mitgekriegt.“

„Fünfzehn Minuten?“

Der Drache deutete auf die alte Jagdhütte, gegen die der Kleinere gerade gelaufen war. „Die Stunde ist rum. Wir haben vergeblich versucht, dich vor der Wand zu warnen oder mit dir zu reden.“ Ein amüsiertes Lächeln umspielte die Lippen des Drachen.
 

Dakkas seufzte. Er war wohl wirklich tief in seinen Gedanken versunken gewesen. „Können wir jetzt endlich raus aus diesem Mistwetter?!“, forderte Jared die anderen mit ungeduldigen Gesten auf. Der Halbwolf war von Kopfs bis Fuß triefend nass und sah alles andere als fröhlich aus.

Molokosh seufzte. „Ja. Die Hütte sieht noch erstaunlich gut erhalten aus, obwohl drum herum alles verwildert ist.“ Erst jetzt sah Dakkas den verwilderten Garten und halb abgebrochenen, halb verfaulten Zaun, der das ganze umgab.
 

Sar’Shan ergriff die Initiative und öffnete die alte Holztür um einen vorsichtigen Blick in den Innenraum zu werfen. Mit einem erleichterten Blick trat der Krieger dann ein. „Keine Tiere, die hier Unterschlupf suchen.“, rief er hinaus. „Und noch erstaunlich gut erhalten. Die Einrichtung meine ich.“

Schnell folgten die anderen ihm, nachdem die Pferde an einem relativ sicher stehendem Stück Zaun festgemacht wurden. Dakkas hätte die Tiere ja gerne raus aus dem Regen geholt, aber die Hüte kam leider nicht mit Stall.
 

Der Innenraum der Hütte war tatsächlich frei von Unterschlupf suchenden Dachsen, Füchsen, oder sonstigem. Überhaupt wirkte alles sehr ordentlich und gut in Stand.

In der Mitte des Raumes lag ein flauschiger Teppich auf dem Boden, der sogar fleckenfrei war. In einer Ecke befand sich eine Art Kochnische, zusammen mit einigen Schränken und Regalen, die mit Geschirr gefüllt waren. In einer anderen Ecke stand ein großes Sofa und ein paar Holzstühle sowie ein Tisch.

Eine Tür führte in ein zweites, separates Zimmer. Dort befand sich ein Kleiderschrank sowie ein ebenfalls fleckenfreies und recht sauberes Bett.
 

„Erstaunlich sauber.“, kommentierte auch Daniel, während er den Inhalt der Schränke kritisch begutachtete.

„Die Töpfe und alles andere auch.“

Sar’Shan sah aus einem der Glasfenster der Hütte. „Da hinten verläuft glaube ich ein Bach, man kann ihn teils sehen.“

Molokosh lächelte. „Das heißt wir haben einen trockenen, sauberen Unterschlupf und frisches Wasser in der Nähe.“ Der Drache lächelte Dakkas an. „Ich weiß zwar nicht, wie du Nostradamus dazu gebracht hast, auf dich zu hören, aber danke.“

Der Grünäugige lächelte. „Tut Nostradamus das nicht immer? Ich meine, er lässt zu, dass du ihn überall hin führst und isst, was du ihm vorsetzt…“

Der Schwarzhaarige zog eine Grimasse und über Sar’Shans Gesicht huschte ein kaum merkliches Grinsen. „Nein.“, erklärte der de’Sahr dann, „mein Bruder hört leider nicht immer auf mich. Vor allem, was seine Seherkräfte angeht.“
 

Dakkas blickte zu dem Seher, der sich seelenruhig auf das Sofa gesetzt hatte und dieses mit seiner Kleidung langsam durchnässte. Der Grünäugige runzelte seine Stirn. „Sollten wir uns nicht was Trockenes anziehen?“

Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung und wenige Minuten später hang und lag eine Ansammlung von Kleidungsstücken am und auf dem Tisch.

In der trockenen Kleidung fühlte Dakkas sich schon um einiges wohler und Molokosh zu beobachten, wie dieser unter großer Anstrengung versuchte seinen Bruder aus den nassen Sachen zu bekommen, war auch sehr belustigend.
 

Irgendwann dann saßen sie alle auf dem Sofa oder einem Stuhl und starrten aus dem – oder besser gesagt an das verregnete Fenster.

„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass unsere Reise ständig unterbrochen wird.“, kommentierte Jared plötzlich. Die anderen wandten ihre Köpfe zu ihm, bis auf Dakkas. Der hörte zwar mit einem Ohr zu, war aber schon längst zu dieser Erkenntnis gekommen.
 

„Erst werden wir angegriffen, dann hält eine Krankheit und Verletzung uns auf, dann müssen wir umdrehen, weil ein Dorf angegriffen wird und jetzt sitzen wir hier während des Unwetters praktisch fest.“

„Wir könnten weiter, sobald es etwas weniger regnet.“, schlug Molokosh vor, doch Sar’Shan und Jared schüttelten beide nur ihre Köpfe.

Der Drachenkrieger setzte zu einer Erklärung an: „Im Moment regnet es schon zu heftig und so wie es draußen aussah, wird das noch einige Zeit lang so bleiben. Und dann werden die Straßen so morastig sein, dass wir Ewigkeiten zum Vorankommen brauchen werden.“
 

Molokosh seufzte. Dummerweise hatte der Krieger recht. „Gut, dann legen wir hier halt eben eine Pause ein. Zumindest, bis das Unwetter soweit nachlässt, dass man ohne Gefahr weiter kann.“
 

~*~
 

Nostradamus breitete sich auf dem Sofa aus und Jared beanspruchte mit einem Grinsen das Schlafzimmer für sich und Sar’Shan, obwohl die Nacht noch ein paar Stunden entfernt war. Molokosh warnte die beiden grummelnd davor, ihn nachts aufzuwecken – die Konsequenzen würden ihnen nicht gefallen.

Dakkas und Daniel teilten lediglich einen Blick miteinander, der besagte, dass sie beide darüber nachdachten doch draußen zu schlafen.
 

Sar’Shan aber grinste nur. „Beschwert euch nicht. Bis jetzt seid ihr doch noch nie aufgewacht, oder?“

„Bis jetzt?!“, sprudelte es aus Molokosh heraus, der vom Fenster wegsah, aus dem er gerade gestarrt hatte. Dakkas seufzte und schloss die Augen. „Shan, Jared, ich mag euch beide, aber ich brauche keine Beschreibung von dem, was ihr nachts unter euren Decken treibt.“

Daniel fing an zu lachen, brach aber ab und versteckte ein Grinsen hinter seiner Hand. Molokosh stöhnte und murmelte etwas auf Drakonisch. Der Schwarzhaarige schien wirklich etwas prüde zu sein.
 

Gerade in diesem Augenblick krachte und donnerte es. Die Männer sahen aus dem kleinen, fast undurchsichtigem Fenster und sahen bald darauf einen Lichtblitz aufleuchten. Kurz danach kam erneut heftiger Donner.

„Hoffentlich ist die Decke noch wirklich dicht.“, kommentierte Daniel.

„Hoffentlich sind die Straßen und Wege nach dem Unwetter noch passierbar.“, fügte Jared trocken hinzu.

Molokosh schüttelte seinen Kopf. „Da ist das Reisen bei uns zu Hause in der Wüste doch viel einfacher.“, grummelte der schwarzhaarige Drache.

Dakkas schüttelte sich. „Bei der Hitze geht jeder, der kein Drache ist, ein.“
 

Es blitzte erneut und mit einem mehrstimmigen Seufzen richtete die Gruppe sich darauf ein, einige Zeit in der kleinen Hütte zu verbringen.
 

~*~
 

Es war mitten in der Nacht und Dakkas lag wach und mit offenen Augen auf seinem Bettenlager in der kleinen Hütte.

Nostradamus schlief auf dem Sofa – oder bewegte sich nicht, was bei dem Drachen sehr vieles bedeuten konnte. Seit einiger Zeit fragte der Grünäugige sich immer wieder, ob Nostradamus wirklich Schlaf brauchte, oder ob er einfach nur seinen Körper abschaltete und sein Geist immer noch putzmunter durch den Zeitfluss blickte… Es war eine erschreckende Vorstellung.
 

Molokosh und Daniel waren vor kurzem eingeschlafen. Die beiden hatten eine leise Unterhaltung auf Drakonisch fortgeführt, lange nachdem Dakkas sich unter seine Decken gekuschelt hatte. Ihre absterbenden Worte hatten ihr Einschlafen signalisiert.
 

Jared und Sar’Shan waren wie angekündigt im Schlafzimmer verschwunden und Dakkas dachte angestrengt nicht an das, was die beiden in dem Zimmer wohl tun könnten. Jared als Zauberer sollte auch einige Stillezauber beherrschen und das… war ein Gedankengang, den er nicht weiter verfolgen würde.
 

Der Regen prasselte auf das – bis jetzt – dichthaltende Hüttendach und peitschte gegen die drei kleinen Glasfenster. Warum die Holzhütte Glasfenster hatte verstand Dakkas auch nicht.

Dumpf grollte ein weiterer Donnerschlag durch die Nacht und lies Dakkas innerlich seufzen. Das Blitzen und Donnern war weniger geworden, aber nicht vollkommen verschwunden. Mit etwas Glück würden sie morgen weiter reisen können. Mit einer großen Portion Glück würde der Waldweg auch nicht überschwemmt oder von zu vielen umgefallenen Bäumen oder ähnlichem versperrt sein.
 

Solange die Pferde noch da waren. Als der Donner und die Blitze richtig anfingen, hatten die Tiere kurzzeitig gescheut. Molokosh war zwar in den Regen gestiefelt, um sie zu beruhigen und sicher zu vertauen, aber sie konnten sich jederzeit während der Nacht losreißen. Theoretisch zumindest.
 

Der Regen legte noch einmal an Intensität zu und Dakkas rollte sich leise seufzend auf die Seite. Momentan sah es nicht so aus, als wenn er Schlaf finden würde. Dabei hatte er keine Angst vor dem Gewitter und es waren auch nicht die Geräusche, die ihn wach hielten. Er war einfach nicht müde.
 

Seinen Kopf mit einer Hand abstützend starrte Dakkas aus einem der kleinen Fenster. Durch das Glas kam kaum Licht in die Hütte, dafür konnte man aber bei jedem Blitz ein erstaunliches Schattenspiel durch das Fenster in den Raum fallen sehen. Es faszinierte den Grünäugigen, und vertrieb ihm die Zeit, bis er hoffentlich müde wurde.
 

Der nächste Blitz kam und lies den Raum kurz hell erleuchten. Jedwede Müdigkeit war damit jedoch aus Dakkas Knochen verflogen.

Der Blitz hatte den Schatten einer Person ins Zimmer fallen lassen.
 

Mit flachem, kaum hörbarem Atem war der Grünäugige erstarrt und blickte auf das nun wieder dunkel daliegende Fenster. Es dauerte einige scheinbar ewig andauernde Augenblicke, bis der nächste Blitz zuckte und erneut den Schatten der Person ins Zimmer fallen ließ.
 

Dakkas schluckte. Schnell sah er zu den anderen im Zimmer, doch Molokosh und Daniel schliefen tief und fest und Nostradamus war… Nostradamus.

Ein dritter Blitz zuckte und diesmal sah Dakkas genauer hin.

Der Schatten war klein und schmächtig, ausgehend von dem, was er im Fenster erkennen konnte. Außerdem schien er starr dort stehen zu bleiben.
 

Seine Atmung normalisierte sich wieder und seine Muskeln entspannten sich. Eine kleine, schmächtige, starr dastehende Gestalt, die in ungünstigen Momenten auftauchte… Das konnte ja nur einer sein.
 

Leise und vorsichtig wühlte der Schwarzhaarige sich aus seinem Nachtlager und stand auf. Nach reiflicher Überlegung hob er die dicke Decke, die Molokosh ihm besorgt hatte, auf und wickelte sie einmal fest um sich. Das würde seinen zweiten Satz Kleidung hoffentlich ein wenig vor dem Regen draußen schützen.
 

Vor der Tür der Holzhütte zögerte Dakkas kurz.

Es bestand immer noch die Möglichkeit, das dort draußen nicht Beauron auf ihn warten würde. Vielleicht hatte die Agentin, die Molokosh auf den Fersen war, sie verfolgt… Doch das war eigentlich unmöglich. Selbst wenn Selena sie bis Sellentin verfolgt und von dort aus ihre Spur aufgenommen hatte… Sie waren im Wald vom Pfad abgegangen und hatten sich von Nostradamus leiten lassen. Und bei diesem Regen waren alle Spuren verwischt. So einfach würde diese Elfe sie hier nicht finden.
 

Und in Anbetracht seiner früheren Erfahrungen war es gut möglich, dass Beauron ihm irgendetwas mitteilen wollte. Da es sich dabei scheinbar um schlechte Nachrichten handelte, sollte er vielleicht mit dem Wichtgott sprechen. Vielleicht war es eine lebenswichtige Nachricht.
 

Entscheidung gefasst stieß Dakkas die Tür auf und trat schnell nach draußen. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und plötzlich schien eine eisige Kälte von ihm Besitz zu erfassen. Hastig schloss er die Tür wieder hinter sich und tastete sich im Dunkeln an der Hüttenwand entlang.
 

Innerhalb weniger Augenblicke waren seine Haare und die Außenseite der Decke triefend nass, aber seine Kleidung glücklicherweise nicht.

Im Dunkel des Waldes konnte er kaum seine Hand vor Augen sehen, so dicht waren die Blätter der Bäume. Das spärliche Licht vom Mond half auch nicht viel weiter, wo die silberne Scheibe doch fast andauernd von schweren Wolken verhangen war.
 

Bald hatte er die andere Seite der Hütte erreicht und damit auch das Fenster, an dem er die Figur hatte stehen sehen.

Das erste, was ihm auffiel, waren die Geräusche.

Tiere. Es zirpte und raschelte im Unterlaub und der Schrei eines Kauzes hallte durch die Dunkelheit. Das war der Augenblick, in dem er erstarrte und einen Schritt zurück trat.
 

Beauron war der Gott des Todes. Auch wenn andere Lebewesen ihn nicht sehen konnten – viele Tiere und empfindsame Wesen konnten ihn spüren. Vorher hatte er nie so viele Tiere gehört, als Beauron ihm erschienen war. Selbst damals, beim ersten Mal im Wald war es stiller, wenn auch nicht vollkommen still geworden.

Jetzt war es definitiv zu laut.
 

Diese Gestalt war nicht der Gott des Todes.
 

Ein Blitz zuckte und zerriss die Dunkelheit für einen Augenblick. Es war nicht Beauron, der keine zwei Schritte von ihm entfernt im Dunkeln stand. Es war eine Frau. Eine Elfe.

Der Blitz reichte nicht aus, um sie genauer betrachten zu können, doch Dakkas war trotzdem wie erstarrt. Er spürte, wie die Frau noch einen Schritt auf ihn zu tat und hörte Gemurmel. Dann flammte plötzlich eine kleine, weißliche Kugel in der Hand der Frau auf.
 

Ihr Haar war blond und zu einem langen Pferdeschwanz zusammen gebunden. Sie trug mit Laub und Ästen bestückte Lederkleidung. In ihrer einen Hand schwebte die magische Lichtkugel, in der anderen hielt sie einen Speer.

Auf ihrem Haupt thronte eine Krone aus Ästen, Beeren und Blättern, in deren Mitte das Abbild eine Vogels mit ausgebreiteten Schwingen eingearbeitet war. Auf ihrer linken Wange war ein bläulicher Fleck in Form einer Träne zu sehen.
 

Dakkas kannte diese Frau. „Cecilia.“

Die Elfe verzog ihren Mund langsam zu einem Lächeln.

„Göttin der Jagd und des Überlebens.“, murmelte der Schwarzhaarige ehrfürchtig.

Die Elfengöttin nickte bedächtig. „Ihr habt lange gebraucht, bis Ihr mich gesehen habt.“ Ihre Stimme war hart aber freundlich. Die Geräusche des Waldes und Unwetters schienen zu verblassen, als Dakkas sie hörte.
 

„Hätte ich Euch eher bemerken sollen?“, entfuhr es dem verwirrten und erstauntem Grünäugigem.

Die gottgewordene Elfe lächelte. „Ihr hattet noch nie Probleme, Beauron zu sehen – obwohl er vielleicht ein besonderer Fall ist.“

„Dann habe ich ihn also öfter schon getroffen.“

Cecilia schmunzelte. „Man könnte sagen regelmäßig.“ Die Elfe runzelte ihre Stirn. „Aber dafür ist keine Zeit – wenn wir zu lange hier verweilen, bemerkt jemand unser Treffen.“

Das hörte sich nicht gut an. „Und das ist schlecht?“

Die Göttin seufzte. „Euer Gedächtnisverlust kommt zu einer äußerst unpassenden Zeit. Ich habe leider keine Zeit, um Euch über alles aufzuklären – Ihr müsst nach Tirin.“
 

Dakkas entfuhr ein humorloses Lachen. „Soweit war ich auch schon.“ Dann schien ihm einzufallen, dass er mit einer Göttin sprach. „Nichts für ungut. Verzeiht.“

Doch Cecilia winkte nur ungeduldig ab. „Unnötige Bemerkungen habt Ihr noch nie tolerieren können. Aber hört mir zu – Ihr dürft auf keinen Fall zulassen, dass Selena Eure Gruppe einholt.“

Beim Namen der Agentin spannte Dakkas sich kaum merklich an. Jetzt warnte ihn schon eine Göttin vor dieser komischen Elfe. „Was ist so gefährlich an ihr?“, wollte er wissen, doch kurz nachdem er die Frage gestellt hatte, kam ihm ein anderer Gedanke.
 

Es war Molokosh, der ihn gefunden hatte nach dem Unglück, Molokosh, der ihn mitgenommen hatte, Molokosh, der verfolgt wurde und Nostradamus, der den Weg durch Sellentin gefunden hatte… Er hatte die falsche Frage gestellt.

„Wartet – Es geht nicht um Selena.“ Vielleicht ging es nicht einmal mehr um ihn, aber das verkniff er sich. „Was ist so wichtig an Molokosh und seinem Bruder?!“
 

Cecilia sah sich einmal um und trat näher an Dakkas heran. An ihr hang ein leichter, sanfter Holz- und Moosgeruch. „Alles zu erklären würde zu lange dauern. Ihr werdet alles wieder wissen und erfahren, es wird bloß dauern. Ihr müsst Euch gedulden – bitte.“

Der Grünäugige biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. „Wenn es so wichtig ist, dann könnt Ihr es mir auch jetzt sagen. Solltet Ihr das nicht sogar? Unwissenheit-“

„- bringt unbedachtes Verhalten mit sich.“, schloss Cecilia.

Dakkas blinzelte. Das war genau das, was er hatte sagen wollen.
 

Die Göttin seufzte. „Auch wenn Ihr euch nicht mehr erinnert, tief in Euch seid Ihr immer noch der Selbe. Es wird alles zu Euch zurück kommen, es wird nur Zeit brauchen.“

Der Schwarzhaarige legte seinen Kopf schief. „Haben wir denn Zeit? Ihr scheint sehr besorgt – etwas bedroht uns.“

Die Jagdgöttin lächelte traurig. Es war ein Ausdruck, hinter dem sich mehr verbergen zu schien als Dakkas verstehen konnte.

„Irgendetwas bedroht ständig irgendjemanden. Und Ihr – Ihr habt alle Zeit der Welt.“

Der Kommentar verwirrte Dakkas, aber diese Bedrohung beunruhigte ihn noch viel mehr. „Aber könnt Ihr denn gegen diese Bedrohung nichts ausrichten? Ihr seid schließlich eine Göttin.“

„Götter sind nicht allmächtig – und in der Regel auch nicht unsterblich.“, erklärte die Elfe geduldig.

„Aber ihr habt mehr Macht als normale Personen. Für euch ist ein Sieg gegen eure Gegner doch etwas leichtes.“, konterte ihr Gegenüber.

Erneut lächelte Cecilia traurig. „Manchmal geht es nicht darum, zu siegen, sondern zu überleben.“
 

Dakkas wollte zu einer Antwort ansetzen, doch etwas an diesem Satz störte ihn. Er runzelte seine Stirn und überlegte. Dann kam, wie ein widerspenstiges Tier, ein Satz in seinen Geist. Es war fast so, als wenn er durch einen dicken, schweren Vorhang hindurch etwas erspähen würde.

„Meistens geht es im Leben nicht darum, die richtige Entscheidung zu treffen.“, sprach er laut vor sich hin.

„Sondern darum, die falsche Entscheidung nicht zu treffen.“, schloss Cecilia für ihn und lächelte wieder. „Eine Eurer vielen ‚Taschenweisheiten’, wie Ihr sie nanntet.“
 

Das hatte er wirklich gesagt?, fragte Dakkas sich selbst. Doch dem schien so. Selbst sein eigenes, verwirrtes Gedächtnis nannte diesen Satz sein geistiges Eigentum.

„Was bin ich?“, sprudelte es aus ihm heraus.

Cecilia runzelte ihre Stirn. „Es wäre einfacher zu fragen: Was seid Ihr nicht?“ Auf Dakkas verwirrten Blick hin meinte sie: „Wir haben keine Zeit, Euch Eure Lebensgeschichte zu erzählen. Und selbst wenn, wüsste ich sie nicht komplett. Dafür bin ich der falsche Gott.“ Die Göttin blickte sich erneut einmal um und runzelte dann ihre Stirn.

„Unsere Zeit ist fast herum. Geht nach Tirin, und passt auf Eure Begleiter auf. Eure Erinnerungen werden zu Euch zurück kehren. Wenn alles gut geht sogar noch, bevor der Umbruch tatsächlich beginnt.“

„Der Umbruch?“, hakte Dakkas nach, doch wurde seine Frage nicht beantwortet.
 

Vor seinen Augen verwandelte Cecilia sich in eine große, gepunktete Raubkatze und verschwand im Dunkel der Nacht. Das magische Licht, das noch über dem Kopf der Katze leuchtete, verlöschte nach wenigen Sätzen des Raubtieres. Zurück blieb Dakkas, der plötzlich fröstelte und die durchnässte Decke enger um sich schlug.

Der Donner des Unwetters hallte jetzt von weiter aus der Ferne herüber, und es durchzuckten nur noch sporadische Blitze die Nacht.
 

Besorgt, verwirrt und endlich müde schleppte der Schwarzhaarige sich an der Hauswand entlang wieder zur Tür hin.

Vor wenigen Minuten war er noch eine einfache Person mit verlorenem Gedächtnis gewesen – und jetzt sollte er eine Gruppe gut ausgebildeter Männer vor einer unbekannten Bedrohung schützen. Wobei er nicht einmal wusste wie, geschweige denn, womit. War er ein Zauberer, Bogenschütze, Kämpfer, Barde, Gelehrter oder vielleicht adliger Dartspieler mit besonders gutem Wurfarm und zu viel Freizeit? Verdammt, konnten diese kryptischen Gottheiten denn nicht wenigstens einmal etwas deutliches sagen?!
 

Wenige Schritte von der Tür zur Hütte entfernt stoppte Dakkas. Die schweren Gewitterwolken waren etwas aufgelockert und ließen einige schwache Mondstrahlen durch das dichte Blätterdach fallen. Es war gerade genug Belichtung dafür, dass Dakkas den vor der Hütte knienden Nostradamus erkannte.
 

Der Seher kniete in der aufgeweichten und schlammigen Erde, ohne Decke oder sonstigem Schutz, abgesehen von seiner dünnen Bekleidung. Seine linke Hand war in den Boden gestützt und seine rechte umklammerte ein im Mondlicht blitzendes Amulett. Seine grauen Haare klebten durchnässt in seinem Gesicht.
 

Als Dakkas sich näherte, hob er seinen Blick und der Grünäugige stoppte. Im Regen konnte er sich nicht sicher sein, aber von den geschwollenen Augen her sah es fast so aus, als wenn Nostradamus weinen würde.

„Mathro-ask.“ Es war mehr ein Flüstern als gesprochene Worte, aber Dakkas hörte sie trotzdem. Besorgt ging er neben Nostradamus in die Knie. Der Drache streckte seine Hand aus und hielt ihm das Amulett hin. „Gromares, mathro-ask.“

Gromares. Das Wort erkannte Dakkas bereits. Es bedeutete ‚Bruder’. Ging es hier wieder um Molokosh?

„Mathro-ask.“, sprach Nostradamus erneut und diesmal klang es fast wie ein Flehen – ein an Dakkas gerichtetes Flehen.
 

Zögernd streckte der Grünäugige seine Hand aus und nahm das Amulett in Empfang.

Es war augenscheinlich ein schlichtes Silberamulett mit einem einfachen Anhänger. Eine schmale, silberne Kette an der ein moderat großer Kreis hin, in dem einige Linien verliefen. Dakkas erstarrte, als er das Muster der Linien im fahlen Mondlicht klar erkennen konnte.
 

In dem Kreis war ein weiterer, kleinerer Kreis abgebildet. Den Kreis berührten drei Dreiecke, dessen Spitzen vom kleinen Kreis weg zum großen hin zeigten. Alles in allem kam der Anhänger der Zeichnung sehr nahe, die Dakkas bei einem der Briefumschläge aus der Gesellschaft Wellert gefunden hatte. Der Briefumschlag, in dem Beaurons Bild gelegen hatte.

„Nostradamus… was bedeutet das? Woher hast du es?“
 

Der Seher schloss seine Augen und sah zu Boden. Er schwieg.

„Nostradamus?“

Doch der Seher schüttelte nur seinen Kopf. „Mathro-ask.“, wiederholte er erneut in einem Flüsterton und neigte seinen Kopf zu Dakkas hin.

Der Schwarzhaarige runzelte seine Stirn und begutachtete den Drachen, der ihm seinen Nacken darbot. Was auch immer der Seher wollte, er begriff es anscheinend nicht. Dann zupfte Nostradamus mit einer Hand an der Kette des Amuletts und plötzlich verstand der Kleinere.

„Soll ich dir die Kette anlegen, Nostradamus?“ Ein kaum merkliches Nicken war die Antwort auf seine Frage.
 

Innerlich achselzuckend seufzte Dakkas und öffnete den Verschluss der Silberkette. Behutsam legte er sie um Nostradamus Hals und schloss sie. Der Drache hob seinen Kopf wieder und sah an sich herab. Die Kette war lang genug, dass man den Anhänger nicht würde sehen können, wenn er ihn unter sein Hemd steckte.

Ein blendendes Lächeln legte sich auf seine Züge. „Danke.“, sagte der Seher dann in einer warmen Stimme.
 

Dakkas schüttelte nur seinen Kopf. „Nichts zu danken… Aber woher hast du die Kette, Nostradamus? Nostradamus?!“

Die Augen des Sehers waren wieder abwesend und als Dakkas ihn auf die Schulter tippe, stand der Grauhaarige nur mechanisch auf. Stöhnend erhob auch Dakkas sich wieder und fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht.

Nostradamus wusste offensichtlich etwas, nur schien er nicht gewillt darüber zu reden.
 

„Draußen können wir nicht stehen bleiben, Nostradamus.“, kommentierte Dakkas schließlich, als wenn er mit sich selbst sprechen würde. Doch der Seher überraschte ihn. Er ging zur Tür und öffnete diese. Seine Bewegungen waren komisch, mechanisch und schienen erzwungen – aber er bewegte sich. Von alleine, ohne von jemanden geradezu gezwungen oder getrieben worden zu sein.
 

Der Seher hielt die Tür offen und starrte ins Leere, bis Dakkas an ihm vorbei in die Hütte trat. Erst dann ging auch Nostradamus hinein und schloss die Türe wieder. „Danke Nostradamus.“, sprach der Schwarzhaarige dann zögerlich und sah sich um, ob einer der anderen aufgewacht war.

Doch Molokosh und Daniel schliefen tief und fest und aus dem Schlafzimmer war absolut nichts zu hören.
 

Nostradamus setzte sich plötzlich in Bewegung in die Richtung des Sofas. „Deine Sachen sind alle nass, Nostradamus.“, fuhr Dakkas leise dazwischen.

Der Seher stoppte und blieb einige Augenblicke vollkommen starr stehen. Dann glühte seine Hand rötlich auf und kurz danach sein gesamter Körper. Als das Glühen erstarb war der Grauhaarige vollkommen trocken und frei von Schmutz oder Schlamm.

Dakkas war nicht bewusst gewesen, dass Nostradamus auch ein guter Zauberer war.
 

Nach einigen weiteren Sekunden von Starre drehte er sich um und legte seine glühende Hand auf Dakkas Stirn. Der Schwarzhaarige fühlte eine Wärme durch ihn pulsieren, und kurz darauf war er auch trocken und sauber. „Da… danke Nostradamus. Äußerst nett von dir.“

Während all dem hatte sich der Ausdruck in den Augen des Sehers nicht einmal verändert und seine Bewegungen erschienen noch immer mechanisch und starr. Er signalisierte auch auf keine Weise, dass er Dakkas Dank verstanden und mitbekommen hatte, sondern stecke lediglich das Amulett unter sein Hemd.
 

Bevor er sich jedoch wieder aufs Sofa legte zog er Dakkas mit einer Hand und ohne den Kleineren anzusehen neben das Sofa. Diesmal begriff der Schwarzhaarige sofort, was der Seher wollte und schleppte sein Nachtlager an eben diesen Platz.
 

Kurz darauf bekam Dakkas mit, wie Nostradamus Atmung eben und gleichmäßig wurde und der Seher tatsächlich einschlief.
 

Bevor der Schwarzhaarige selbst in einen traumlosen Schlaf fiel, hatte er noch eine plötzliche Erkenntnis.
 

Es war nicht wirklich Molokosh, den er beschützen sollte.
 

Es war Nostradamus.

Der einzige Dabus, den Kvi’sta momentan hatte.
 

Die einzige Person, die wahrscheinlich alles über diese ‚Bedrohung’ wusste oder herausfinden konnte – mit nichts weiter als einem Gedanken und einem kurzen Blick seiner allsehenden Augen.
 

Nostradamus Verhalten machte jetzt auch Sinn – warum er auf die Außenwelt nicht reagierte. Er versteckte sich. Solange jeder glaubte, er sei praktisch unfähig, mit der Außenwelt zu reden… solange würde auch niemand glauben, dass er gefährlich werden könnte.
 

Und anscheinend hatte nicht mal sein eigener Bruder diese Täuschung durchschaut.

Schockschwere Not

A/N:

Dieses Kapitel kann ein wenig verwirrend sein, aber so ist es angelegt. Es wird sich alles aufklären, keine Sorge! Außerdem gibt es einige neue Infos über Dakkas, Beauron und das Ziel, dass Dakas ansteuert.
 

Am Ende des Kaps ist noch der voraussichtliche Termin fürs nächste Update.
 


 

13 - Schockschwere Not
 

Es war Nacht, eine sternenklare, wunderschöne Nacht. Das Wetter war angenehm: Milde Temperaturen, nachts zumindest, hin und wieder ein kühles Lüftchen, die Luft noch frisch gewaschen vom Regen von vor zwei Tagen. Der Boden war stellenweise noch feucht.
 

Von all diesen Dingen bekam man natürlich nur wenig mit, wenn man durch die unteren ‚Etagen’ der Burg Ludgenstein schlich.

Offiziell besaß Baron Ludgenstein natürlich keinen Kerker auf seiner persönlichen Burg. Offiziell war er einer der größten Spendengeber und Gönner des Ordens der Kindergöttin – und somit ein ‚harter Gegner’ von Folter und roher Gewalt.

Inoffiziell war er einer der besten Versorger der Dogen, wenn es um ‚Versuchsobjekte’ und Sklaven ging.
 

Dan wusste das natürlich, wie viele andere Leute. Im Gegensatz zu den meisten dieser anderen wagte er es jedoch, in die geheimen Kerker der Burg Ludgenstein einzubrechen. Natürlich hatte er dafür auch einen guten Grund. Einen sehr guten Grund.
 

Die steinernen Gänge waren mit feuchter, modriger Luft angefüllt. Einige der Wände mussten leicht undicht sein und das absickernde Wasser von den Regenfällen hinein laufen lassen. Dan kannte die Risiken, die damit verbunden waren. Atemprobleme. Krankheiten. Fieber. Kein angenehmer Ort, weder für Gefangene noch für Wärter. Kein Wunder also, dass der Baron nicht selbst herunter kam.
 

Es brannten keine Fackeln in diesen Gängen, nur die Wachen liefen mit einigen Laternen ihre Runden. Für Dan war das nur recht, er brauchte das Licht nicht unbedingt. Seine magische Flamme zeigte ihm alles, was er sehen brauchte, und den Rest erledigte er über seine anderen Sinne. Sein Gehör und Geruchssinn waren weitaus besser, als man auf den ersten Blick annahm.
 

Im Schein seiner magischen Flamme schlich er durch die modrigen Gänge und passierte dabei eine kleine Pfütze auf dem Boden des Ganges. Eine der undichten Stellen hatte er also gefunden. Er blickte kurz nach unten und sah sein Gesicht.

Schwarzes Haar. Kristallklare, eisblaue Augen – Saphire, sagten einige. Blaue Edelsteine. Ein hübsches, sanftes Gesicht. Etwas zart, delikat. Fast ein Hauch feminin.
 

Er setzte seinen Weg fort durch die dunklen Gänge, auch wenn ihn etwas an diesem in der Pfütze wiedergegebenem Bild störte. Aber was störte ihn?

Die Augen, sagte Dakkas sich. Die Augen waren blau. Aber seine Augen waren grün. Jade, grün wie Jade. Nicht blau wie Saphire.
 

Sein Körper lief weiter, zielstrebig, als wenn er genau wusste, wo er hinging. Aber er war doch vorher nie hier gewesen. Er hatte diese Gänge nie gesehen – oder?

Plötzlich duckte er sich nah an eine Wand und löschte seine magische Flamme. Dann spürte er, wie ein Schleier sich über ihn zu legen schien. Die Dunkelheit, die ihm im Gang plötzlich entgegen starrte, schien einen gräulichen Schimmer zu kriegen. Dann veränderte sich alles, was er sah, auf erschreckend und zugleich interessante Art und Weise.
 

Seine Umgebung schien zu schimmern und zu flimmern. Es gab keine feste Farbe für dieses komische Leuchten, es war eher so, als wenn das Glühen sich nach und nach von der Farbe her verändern würde. Wo gerade noch schemenhaft erkennbare Wände gewesen waren zogen sich jetzt sanft schimmernde Linien und graue Flecken durch sein Sichtfeld. Wo der Gang war, leuchtete es in einer anderen Farbmischung.

Und hinten in der Ferne erkannte er eine rötlich glühende, näherkommende Gestalt.

Aber halt, war da nicht gerade eine Wand gewesen, wo er diesen rötlichen Schemen sah?
 

Was machte er überhaupt hier? Die rötliche Figur kam näher, aber Dakkas war verwirrt und verängstigt. Vor wenigen Minuten war er doch noch woanders gewesen, woanders… eine Hütte… Drachen… Nostradamus…
 

Die rötliche Figur drehte eine Pirouette und kam direkt auf Dakkas zu, aber sein Körper bewegte sich nicht. Sein Atem war gleichmäßig, kontrolliert.

Der rote Schemen war eine Wache mit einer Laterne. Er konnte die Umrisse sehen, aber anders als alles, was er vorher je gesehen hatte. Der Oberkörper und die Laterne der Wache waren am besten zu sehen und am rötlichsten, der Rest verlor langsam an Intensität. Das rötliche Schimmern verlor sich in einer Art gelben Aura, welche die Wache mit sich führte.

Das ganze… zerfloss in den immer noch farbenfroh hin und her schimmernden Hintergrund.
 

Aber das war immer noch nicht richtig. Er war doch in der Hütte, wegen dem Unwetter. Er war in keinem Verließ.
 

Er war am träumen.
 

Traum-Dakkas sah der sich entfernenden Wache nach. Die drehte eine erneute Pirouette und, so langsam verstand das Dakkas, verschwand um die nächste Ecke. Doch der rötliche Schemen blieb irgendwie in Dakkas Sichtfeld, trotz der Wand dazwischen, bis er schließlich einfach verblasste und weg war. Zurück blieb nur die farbenfrohe Mischung seiner Umgebung.
 

Was war hier los?
 

Traum-Dakkas löste sich wieder von der Wand und sah sich einmal um. In seiner Nähe gab es keine anderen Wachen, dafür aber einige rötlich blinkende Ratten. Die waren unwichtig. Der gräuliche Schimmer ging zurück, die roten Schemen verschwanden und das Farbenspiel hörte wieder auf. Plötzlich war es wieder dunkel und die magische Flamme erschien wieder in seiner Hand.
 

Verdutzt beobachte Dakkas mit einer gewissen Distanz, was sein Traum-Ich machte.

War das wirklich er selbst? Es schien so. Alles in seinem Inneren sagte ihm, dass er das war.

Dan. Er hatte sich selbst am Anfang des Traumes Dan genannt.

Das war sein Name.

Dan.
 

Dakkas fühlte einen Schwall von Freude in sich aufsteigen. Er hieß Dan. Das war sein Name, er konnte es mit jedem Nerv in seinem Körper fühlen. Aber nein… es war eine Abkürzung seines Namens. Dennoch… Name war Name.

Dakkas war Dan.
 

Sein Traum-Ich bahnte sich weiter den Weg durch das Verließ der Burg Ludgenstein und erreichte schließlich sein Ziel. Ein Gang wie jeder andere auch, mit der Ausnahme, dass eine der abzweigenden, morschen Holztüren offen stand und schwaches Licht in den Gang fiel.
 

Die magische Flamme erlosch und Dakkas fühlte den Schleier über sich kommen. Seine Sicht änderte sich jedoch nicht. Das notierte der Träumer sich geistig. Er konnte diese Veränderung seiner Sicht also irgendwie steuern. Und es war kein Zauber, bemerkte er plötzlich. Denn er hatte weder etwas gesagt noch eine Geste gemacht. Aber das würde bedeuten, dass er damit geboren worden sein würde.
 

Während Dakkas noch über diese Neuheit sinnierte, bewegte Traum-Dakkas sich schon weiter.

Der von einigen Fackeln erhellte Raum war eine Art Vorkammer zu mehreren Gefängniszellen und besetzt von zwei müden und mürrischen Wachen, die miteinander Karten spielten. In dieser Umgebung hätte Dakkas sich auch nicht wohl gefühlt.
 

Traum-Dakkas beobachtete die beiden Wachen eine kurze Zeit lang, wie sie Karten spielten und sich in leisen, schläfrigen Stimmen über ihre Familien unterhielten. Sie bemerkten ihn nicht. Selbst dann nicht, als er an ihren Tisch trat und jedem eine Hand auf die Schulter legte.

Dann hörte er plötzlich ein gemurmeltes Wort und sah, wie beide Wachen mit dem Kopf auf den Tisch fielen und scheinbar schliefen.

Sein Traum-Ich lief bereits den Zellengang entlang, als er verstand, dass er die beiden Schlafen geschickt hatte.
 

Er konnte also tatsächlich zaubern. Beim überfall auf ihr Lager kurz hinter Halmsdorf hatte er das Eis gezaubert, nicht Beauron. Und allem Anschein nach war er ein verdammt guter Zauberer. Vielleicht konnte er Nostradamus ja doch beschützen.
 

Sein Traum-Ich kam ganz am Ende des Zellengangs an, an der letzten feuchten, schimmeligen Zelle. Dakkas wartete gespannt darauf, was sein Traum-Ich hier zu suchen hatte. Er hatte längst begriffen, dass das hier eine Erinnerung war.
 

Die Zellentür öffnete sich nach zwei, drei Handgriffen mit einem Dietrich und schwang quietschend auf. Anscheinend war er ein Mann mit vielen Talenten.
 

Das innere der Zelle im fahlen Schein der magischen Flamme war… abstoßend. Schimmelig, modrig, dreckig… und war das da hinten in der Ecke eine halb verweste Leiche?!

Dakkas beschloss, dass er das lieber nicht genau wissen wollte.

Sein Traum-Ich hielt sich auch nicht lange an diesen Dingen auf, sondern widmete sich sofort der einzigen lebenden Person im Raum.
 

Es war ein kleiner Junge in zerschlissener, gräulicher Kleidung, der langsam auf seinen Fußsohlen hin und her wippte. Seine Haare waren kurz, struppig und größtenteils blond, obwohl an den Rändern graue Strähnen auftauchten. Sein eines Auge war gelb, das andere lilafarben.

Der Ausdruck in den Augen des Jungen erinnerte Dakkas an Nostradamus – weggetreten, geistig abwesend. Nur, dass dieser Junge noch etwas weiteres in seinen Augen aufblitzen hatte: Wahnsinn.

Es gab keine bessere Erklärung dafür. Ein Blick in diese Augen machte deutlich, dass diese scheinbar junge Person einige geistige Probleme hatte. Und gefährlich war.
 

„Beauron?“

Das war Beauron? Der Todesgott? Eine der gefährlichsten und verschrieensten Gottheiten überhaupt?

Dakkas traute der Stimme seines Traum-Ichs nicht.
 

Der Junge blinzelte langsam, hörte mit dem Wippen auf und runzelte die Stirn, als er Dakkas Traum-Ich musterte.

„Beauron?“, hörte Dakkas sich selbst erneut sagen. Der Junge schlang seine Arme um sich selbst und wippte weiter.

„Beauron, für so etwas haben wir keine Zeit, bitte. Komm zurück. Ich bin hier, hörst du?“, hörte Dakkas sich selbst sagen. Er kannte den Wicht also gut. Gut genug um ihn aus einem Kerker zu befreien. Und warum war der Gott da überhaupt drin?! So eine Zellentür würde einen Todesgott doch nicht aufhalten.
 

Aber dieser Gott sah momentan nicht so aus, als wenn er irgendwen, geschweige denn sich selbst retten oder befreien konnte. Er hatte seine Arme um sich geschlungen wie ein kleines Kind und summte eine Melodie zu sich selbst.

Er sah… zerbrochen aus.
 

„Ich bin’s Beauron, Dan. Hörst du? Dan ist da.“ Vorsichtig näherte Traum-Dakkas sich dem Todesgott und berührte ihn zaghaft am Arm. Das Wippen stoppte, ebenso das Summen. Blinzelnd sah der Gott wieder seinen ‚Retter’ an.

„Dan?“ Die Stimme des Gottes klang jung, zerbrechlich und verwundert. Wie ein Kleinkind, das etwas zauberhaftes sah.

„Ja, ich bin es. Sch. Komm wieder zurück, ja?“
 

Beauron runzelte seine Stirn. Langsam kehrte Verständnis in sie zurück, obwohl der Wahnsinn blieb. „Dan…“ Die Unterlippe des Gottes fing an zu zittern und eine Träne kullerte ihm über die Wange.

„Sch…“, hörte Dakkas sich selbst sagen, während er den plötzlich schluchzenden Jungen in seine Arme nam.
 

Innerlich war Dakkas entsetzt. Das sollte einer der mächtigsten Götter überhaupt sein…? Plötzlich sah die Zukunft für ihn nicht mehr so rosig aus, wenn dieser zerbrechliche Junge sein bisher größter Helfer war. Dieser Junge stand kurz vor dem totalen Zusammenbruch und Wahnsinn vielleicht, aber wie sollte dieses arme Kind ihm helfen können?
 

Dann erinnerte er sich an die Buchseite, die er in Halmsdorf im Geheimfach gefunden hatte.

‚Erlangte seine göttliche Macht durch tragische Umstände, die ihn wahnsinnig und im Körper eines Vierzehnjährigen gefangen zurückließen.’

Gott.

Kein Wunder, dass dieser Junge kurz vor dem Zusammenbruch stand. Er war erst vierzehn, als ihn irgendein Unfall zum Gott des Todes machte. Einer Position, die mit großen, gefährlichen Mächten verbunden war und jeden normalen, erwachsenen Mann in den Wahnsinn treiben konnte. Und jetzt hatte sie ein halb-erwachsener Junge inne.
 

„Sch. Alles wird gut, Beauron. Ich bin ja jetzt hier. Beruhig dich…“ Mit einem Ohr lauschte Dakkas den Beruhigungen und Besänftigungen, die sein Traum-Ich dem Todesgott zuflüsterte. Doch dieser schluchzte nur weiter und schien ansonsten nicht ansprechbar zu sein.

Konnte dieser Junge überhaupt alleine funktionieren und seine göttlichen Tätigkeiten ausführen…? Dakkas wagte das zu bezweifeln.
 

Der Gott war nicht zu beruhigen. Irgendwann versiegten die Tränen und Schluchzer, doch dann fing das abwesende Summen wieder an. Auch sein Traum-Ich wurde langsam nervös und ungeduldig und Dakkas wusste plötzlich – sie hatten nicht mehr viel Zeit!
 

„Also gut, Beauron… Hoffentlich klappt das jetzt.“, murmelte sein Traum-Ich.
 

„Als ich des Nachts nach hause kam

Und nicht wie sonst mein Weib vernahm

Kein Zetern drang mir an das Ohr,

kein Nudelholz schlug mir davor

Nur aus der Grube hinterm Haus

Da lugten ein paar Füße raus.

Potzblitz, nach einem Schönheitsbad sah das nicht gerade aus!“
 

Dakkas wollte blinzeln, doch sein Traum-Ich tat es natürlich nicht. Nein, sein Traum-Ich sang. Ein altes Tavernenlied sogar.

Dakkas Verwunderung stieg, als Beauron sein Summen abbrach und plötzlich den Refrain des Liedes mitmurmelte.

„Schockschwere Not, mein Eheweib ist tot

Wer flickt mir jetzt die Socken und wer kocht mein Abendbrot?

Schockschwere Not, mein Eheweib ist tot

Wer flickt mir jetzt die Socken und wer kocht mein Abendbrot?“
 

Sein Traum-Ich lächelte und sang weiter.

„Sie war so gut, sie war so lieb,

auch wenn sie´s oft mit andern trieb

der Priester und der Bäckersmann,

die klopften öfters bei ihr an

derweil ich draußen durch die Welt

mit Gauklern zog für´n Taschengeld

als Vater von sechs Kindern für den mich nur keiner hält!“
 

Und je weiter er sang, desto kräftiger und klarer sang auch Beauron mit.

Als die dritte Strophe anfing, sang der junge Gott schon fast so klar und deutlich wie Traum-Dakkas.
 

„Sie war nicht schön, sie war nicht schlank,

sie war so groß wie´n Küchenschrank

Das Bett war grad so breit wie sie,

drum schlief ich meist beim lieben Vieh.

Nur manchmal fiel ihr nächtens ein,

das ich ihr soll zu willen sein.

Da flehte ich: Du lieber Gott, laß mich jetzt nicht allein!“
 

Gemeinsam sangen sie den Refrain vor der vierten Strophe und dann spürte Dakkas die Veränderung. Beauron war plötzlich da. Nicht nur körperlich, auch geistig. Sein Traum-Ich begann die vierte Strophe alleine.
 

„Doch Trübsal scheint mir ohne Sinn,

denn tot ist tot und hin ist hin.“
 

Überhaupt, das Lied hatte gar keine vierte Strophe. Dakkas löchrige Erinnerung versorgte ihn nur mit drei Strophen. Wo bei den drei Teufeln kam die vierte her?
 

„Den Branntwein hol ich mir hervor,

da klopft es auch schon an mein Tor.“
 

Sein Traum-Ich schien sehr davon überzeugt, dass es eine vierte Strophe gab. Doch dann hörte er plötzlich auf zu singen und Beauron stimmte wieder an:
 

„Draußen steht der Sensenmann,

der sieht mich ziemlich traurig an

und meint: Hey, wenn Du sie willst, kannst Du sie wirklich wieder haben...“
 

Traum-Dakkas zog eine gespielte Grimasse und brachte Beauron zum Grinsen, bevor er zum Refrain ansetzte. Einen etwas anderen Refrain.
 

„Schockschwere Not, mein Eheweib ist tot!

Beauron, ach, behalt sie nur; das kommt schon noch ins Lot!

Schockschwere Not, mein Eheweib bleibt tot,

ich koch mir meine Socken selbst… zur Not zum Abendbrot!“
 

Dakkas musste innerlich schmunzeln. Das hörte sich ganz so an, als wenn Beauron und er das Lied etwas weiter gedichtet hatten, gar nicht mal schlecht sogar. Kein Wunder, dass er sich an das Lied so schnell erinnert hatte.
 

Auch Beauron schmunzelte. „Dan… du bist gekommen.“

„Hab ich dir doch versprochen, oder?“ Sein Traum-Ich grinste. „Und jetzt raus hier, bevor die uns hier unten finden und beide wegsperren. Na komm schon.“

Beauron nickte. „Was immer du sagst, Dan.“
 

Der Traum verschwamm und verschwand in einem wirren Farben- und Formenspiel. Dakkas schien schwindlig zu werden, obwohl er doch genau wusste, dass er schlief und sich nicht wirklich bewegte.
 

Seine Umgebung setzte sich zusammen aus verschiedenen, ineinander überfließenden Szenen.
 

Ein antik eingerichtetes, großes Arbeitszimmer. Er stand vor dem Schreibtisch, dahinter saß ein ältlicher, grauhaariger Mann. Der Mann hatte einen Ausdruck puren Hasses auf seinem Gesicht und schien etwas zu erzählen, aber Dakkas verstand kein Wort.
 

Das Arbeitszimmer verwandelte sich fließend in ein anderes, spärlicher und praktischer eingerichtetes Arbeitszimmer. Der Mann, der hinter dem Tisch saß, war auch jetzt ältlich, aber sein Gesicht war freundlich. Er erzählte ebenfalls etwas, aber auch diesmal verstand Dakkas kein Wort. Sein Blick schien dafür fast wie von selbst zum großen Fenster hinter dem Mann und dem Schreibtisch zu wandern. Draußen war ein geräumiger Innenhof, auf dem einige junge Leute umher liefen.
 

Auch diesmal verschwand der Raum und wandelte sich Stück für Stück in eine andere Szene um.

Diesmal stand er auf einer Straßenkreuzung und es war Nacht. Es regnete, nein; stürmte. Blitze zuckten über den Himmel und er konnte die prasselnden Tropfen fast spüren.

Er stand mitten auf der Kreuzung und blickte die eine Straße hinab. Er schien auf irgendetwas zu warten und die rapide näher kommende Gestalt in der Ferne bestätigte diese Vermutung.

Es war eine Frau, die weitaus schneller rannte als es eigentlich möglich gewesen wäre. Ihr rotes Haar war zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Kleidung schien eine selbst zusammen geflickte Lederrüstung zu sein. Auf ihrem Gesicht lag ein Grinsen und als sie Dakkas sah hob sie die Hand zum Gruße und zeigte grinsend wölfische Reißzähne.
 

Wie alles andere vorher verschwamm auch diese Szene. Diesmal war seine Umgebung jedoch hell, fast zu grell und gespickt mit vielen bunten Farben.

Er blickte nach unten und sah Sand unter seinen Füßen. Er sah auf und starrte einer Fassade von hellen, sonnengebrannten Häusern mit bunten Bändern, Fähnchen und Verzierungen entgegen. Die Sonne brannte erbarmungslos auf alles nieder und die Passanten in der Straße waren alle gut und gerne zwei bis drei Köpfe größer als er. In der Ferne hörte er, schwach und wie aus Erinnerung, wie Hörner geblasen wurden.

Kampfeshörner, fiel es ihm ein.
 

Kaum hatte er diesen Gedanken gedacht, verwandelte die Szene sich schon wieder. Er hatte immer noch Sand unter seinen Füßen und vor ihm war noch immer die Fassade von hellen, sonnengebrannten Häusern. Aber die Fähnchen und Bänder fehlten oder lagen verschmutzt auf dem Boden, Die bunten Verzierungen an den Häusern waren unter den Blutflecken und dem Schmutz fast nicht mehr zu erkennen. Die Kampfeshörner waren verstummt. Die Passanten waren verschwunden.
 

Wieder verschwand und verwandelte sich eine Szene vor seinen Augen. So langsam wurde das Ganze nicht nur ermüdend, sondern auch nervig. Er könnte doch wenigstens gleichmäßig träumen.
 

Jetzt stand er in einem gepflegtem, fast schon zu ordentlich aussehendem Garten. Es war Tag und ein angenehmer Lufthauch fegte durch die Blätter der Bäume und Büsche.

Der Garten war groß und als er sich drehte konnte er vage im Hintergrund ein großes Herrenhaus ausmachen. Es sollte wohl imposant wirken, aber der einzige Eindruck, den es bei ihm erweckte war ‚protzig’. Die reich verzierte Fassade war überladen mit Schmuck und erinnerte vage an Gesellschaft Wellert.

Über den Rasen des Gartens kam eine lächelnde junge Frau in einem sonnengelben Kleid auf ihn zu. Blondes, lockiges Haar umwehte ein Gesicht, dass er wieder erkannte.

„Amalie.“

„Dan!“
 

Zusammen mit Amalies Lächeln verschwand auch die Umgebung wieder. Diesmal war sein neues Umfeld eine triste, gräulich erscheinende Landschaft, lediglich von dem ein oder anderem Busch oder Baum gespickt. Es gab weit und breit keine Straße oder überhaupt ein Anzeichen von Leben, nicht einmal einen Lufthauch.

Das einzig auffällige war ein Sockel, grob aus einem großen Stein heraus geschlagen. Auf dem Sockel ruhte ein Podest, dass an die Halterung des Dämonen-Fokus aus Sellentin erinnerte. Aber auf diesem Podest ruhte kein Edelstein oder andere Art von magischem Fokus.

Plötzlich fing die Luft um das Podest herum an zu Flimmern und zu Glühen, ein lilafarbenes Leuchten erfüllte die Luft. Es schien, als würde ein Riss in die triste Landschaft gerissen werden, der immer größer und größer wurde und schließlich mehr einer Tür ähnelte, durch die auch Molokosh bequem hindurch gepasst hätte.

Der lilafarbene Tür-Riss war nicht durchsichtig, aber als eine Gestalt durch ihn hindurch kam wurde Dakkas klar, was das sein sollte.

Bevor er jedoch die ankommende Gestalt erkennen konnte, verschwand die Umgebung mit dem Portal wieder vor seinen Augen.

Nach dieser Verwandlung spürte Dakkas sofort die Veränderung in seinem Traum. Seine neue Umgebung erschien dunkel, trist und leblos, aber das war es nicht, was ihn störte.

Bei allen vorherigen Szenen, Erinnerungen oder Traumfetzen – was auch immer sie waren – war immer eine gewisse Schummrigkeit dabei gewesen, als wenn er nicht ganz da wäre. Diesmal aber konnte er den dunklen Raum, in dem er stand, genau erkennen.
 

Es schien eine Art Lagerraum zu sein, in dem er jetzt war. Oder eine Art von Schatzkammer, wenn er die schwere und verstärkte Eisentür bedachte, die den einzigen Ausweg aus dem Raum darstellte.

Komisch war jedoch auch, dass sich nichts in dem Raum befand, mit der Ausnahme eines großen, bläulich-lila schimmerndem Kristall, der vom Boden bis kurz unter die Decke reichte.
 

Stirnrunzelnd trat Dakkas näher an den Kristall und sah hinein in die schimmernde Fläche. Er konnte nichts erkennen, aber etwas sagte ihm, dass er etwas erkennen sollte.
 

Das Leuchten des Kristalls wurde stärker und nahm eine satte dunkel-lila Farbe an. Von innen heraus schien der Kristall klarer zu werden, bis er mehr wie ein großer Glaskasten als ein massiver Kristall aussah.

Zwei Händen pressten sich an den Glaskasten und ein zweifarbiges Augenpaar starrte Dakkas durch die dünne Barriere hin an.

„Beauron?!“
 

Der Todesgott lächelte und presste seine Stirn gegen das Glas.

„Dan.“ Der jüngste Gott Kvi’stas wirkte unendlich erleichtert. „Wie gut, dass du endlich hier bist. Ich war so besorgt, als ich dich nicht mehr spüren konnte – warum hast du mir nicht gesagt, dass du dich verstecken wolltest? Mein jetziger Aufenthaltsort ist relativ sicher, auch wenn ich natürlich immer noch in dieser defekten Billigversion eines Garay’schen Entkräftungskäfigs stecke, aber…“ Der Wichtgott brach ab, als er die Verwirrung sah, die Dakkas ins Gesicht geschrieben stand.

„Dan?“

„Hätte… Hätte ich irgendetwas davon verstehen sollen? Verzeihung, mein Gedächtnis-“

„Hat’s nicht mitgemacht. Mist!“
 

Beauron schloss seine Augen und schien in sich zusammen sacken. Dakkas blinzelte. Dieser Gott wirkte so anders als der verängstigte, in sich selbst gekehrte Junge vom Anfang des Traumes.

Doch halt… träumte er wirklich noch?

„Träume ich noch?“
 

Beauron sah auf. „Träumen? …Deswegen brauchte ich solange, um dich herbei zu rufen… Du hattest Erinnerungsträume… Verdammt. Wenn ich gewusst hätte, dass das passiert…“ Der Gott runzelte seine Stirn und schüttelte dann seinen Kopf. „So früh hätte das gar nicht passieren dürfen.“

„Was hätte so früh nicht passieren dürfen? Die Träume?“, hakte Dakkas nach. Es war ihm vorläufig egal, wie der Gott ihn hierher geholt hatte, wo auch immer hier war. Hier war jemand, der seine Fragen beantworten konnte und anscheinend auch wollte.
 

„Nein, nicht die Träume. Die Amnesie.“, erklärte Beauron und schüttelte daraufhin den Kopf. „Aber es gibt wichtigere Dinge im Moment.“

Beauron runzelte seine Stirn. „Wo bist du aufgewacht? Ich konnte dich erst irgendwo vor Halmsdorf wieder orten, sehr schwach noch dazu.“

Dakkas schluckte. „Irgendein Ausgrabungslager in den Ödlanden. Molokosh de’Sahr hat mich gefunden.“

Beauron sah ihn nachdenklich an. „Deswegen reist du mit ihm. Ich fragte mich schon, was du mit dem de’Sahr anfangen wolltest. Zuerst dachte ich ja, du wolltest mit Nostradamus reden…“ Der Stimme des Gottes verlor sich.
 

Dakkas hob eine seiner Hände und presste sie gegen den Kristall, genau gegenüber von Beaurons Hand.

Unter ihren Händen wurde der lila Schimmer zu einem Grünen und der Kristall wurde warm.

Der Kopf des Gottes schnellte hoch und zwei verschiedenfarbige Augen blinzelten Dakkas an. Mit einem Mal schien jegliche Spannung von ihm abgefallen zu sein. Der Gott lächelte und Dakkas spürte ein antwortendes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Hey.“ Er wusste nicht ganz, woher es kam, aber plötzlich fühlte der Grünäugige Wärme und ein Glücksgefühl in sich aufsteigen. Die quälenden Fragen in seinem Kopf verschwanden in den Hintergrund und verloren an Wichtigkeit. Selbst die brennende Frage, was der Gott damit meinte, dass es noch nicht Zeit für die Amnesie gewesen wäre, verblasste.

Beaurons Lächeln wurde breiter. „Du auch hey. Alles sehr verwirrend für dich, oder? Wo seid ihr momentan genau und wohin seid ihr unterwegs?“
 

Dakkas seufzte. „Wir sind in irgendeinem Wald zwischen Sellentin und Kleingaren, aber abseits der Haupthandelsroute. Molokosh wollte einen Umweg nehmen, wegen unserer Verfolgerin…“

Beauron stockte. „Verfolgerin?“

„Selena… Wind-irgendwas.“

„Windflügel?!“ Beaurons aufgerissene Augen brachten Dakkas zum Stocken. „Was ist bitteschön so gefährlich an dieser Elfe?!“, sprudelte es aus ihm heraus.

Der Todesgott stöhnte und ließ seinen Kopf mit einem dumpfen Ton gegen die Kristallwand fallen. „Alles ist an Selena Windflügel gefährlich, selbst mit ihrem Ego kann sie jemandem erschlagen.“ Der Wicht sah Dakkas an und obwohl er aufblicken musste, wirkte er imposant. „Bitte versprech’ mir, nichts Dummes anzustellen. Ohne den Gedächtnisverlust wäre sie wahrscheinlich kein Problem für dich, aber so kannst du keine Chancen eingehen.“
 

Beauron stockte und stöhnte dann noch einmal. „Was rede ich da, du und keine Chancen ist genau das gleiche wie der Sonnenkönig und Bescheidenheit…“ Der Gott murmelte einige Sachen vor sich hin und schüttelte dann seinen Kopf, bevor er wieder zu Dakkas sah. „Wohin seid ihr unterwegs?“

„Nach Tirin. Ich habe Molokosh dazu überredet.“

Beauron entspannte sich wieder. „Tirin. Natürlich. Das ist gut. Hast du dich daran erinnert?“

Dakkas schüttelte den Kopf. „Nein, einen komischen Brief gefunden. Was genau soll ich Tirin? Und wer und was bin ich?“
 

Beauron öffnete seinen Mund und wollte antworten, als der ganze Raum plötzlich zu flimmern schien. „Verdammt.“ Der Gott nahm seine Hände vom Kristall weg und das sanfte grüne Leuchten, das gerade noch von ihren gemeinsamen Händen ausging, verschwand. Zusammen damit verschwand auch das Gefühl von Geborgenheit, dass Dakkas umgeben hatte.

„Beauron?“

Das Flimmern wurde zu einem Flackern, bevor sich die vom Kristall ausgehende Beleuchtung wieder stabilisierte.

„Tut mir Leid, Dan. Ich habe nicht genügend Energie, um dich lange hier zu behalten.“ Der Todesgott wirkte ernsthaft traurig und entschuldigend. „Ich würde dir gerne deine Fragen beantworten, alle… aber dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit.“
 

Beauron lächelte gezwungen. „Deine – unsere Vergangenheit ist eine sehr lange Geschichte. Jetzt geht es um etwas wichtigeres, um unsere Zukunft. Hör mir bitte gut zu und wenn du dann noch Fragen hast und ich dich noch hier halten kann, kümmern wir uns um die.
 

Pass auf, dass du Selena nicht ins Netz läufst. Wenn möglich, halt sie auch von Nostradamus fern, jetzt wo du schon mal bei ihm bist… aber wichtiger ist, dass sie dich nicht in die Finger kriegt.“

Dakkas nickte und deutete dem Gott an, fortzufahren.
 

„In Tirin wartet eine alte Bekannte auf dich, eine Werwölfin namens Rita-n-Yanka. Sie erfüllt momentan zwei Aufgaben für dich: Erstens hält sie für dich Kontakte zu den Rebellen aus der Grauen Zone, zweitens überwacht sie die Wiederbeschaffung eines alten Buches, dass in den Katakomben von Tirin begraben wurde.“

Dakkas öffnete seinen Mund und wollte eine Frage stellen, doch Beauron schüttelte seinen Kopf. „Das Buch beinhaltet einige sehr alte und wichtige Ritualzauber. Es ist wichtig für unser Überleben in der nahen Zukunft.“

Dakkas schluckte und deutete ein Nicken an. Was auch immer hier los war, es schien wirklich äußerst ernst zu sein.
 

Beauron fuhr fort:

„Wenn ihr in Kleingaren ankommt, such Olivier Jerome, er ist ein Zauberer und einer deiner Informanten innerhalb der Dogen-Gilde. Er kann dafür sorgen, dass du mit deinen Reisebegleitern mit dem Dogen-Teleporter nach Tirin kommst. Das ist schneller und sicherer, als die ganze Handelsroute entlang zu reisen.“

Dakkas blinzelte. Er hatte also Informanten und Gehilfen und sonst was. Das hörte sich immer mehr so an, als wenn er eine Vereinigung von Dieben und Kriminellen anführen würde.

Hoffentlich war das nicht der Fall. Das musste ja unzählige Probleme und Feinde mit sich bringen. Und es würde immer noch nicht erklären, wie er den Todesgott als… Freund, oder wie man das nennen wollte, bekommen hatte.
 

Beauron erzählte weiter:

„Frag Rita in Tirin zuerst nach dem Buch. Es ist wichtig und die Engel dürfen nicht mitkriegen, dass du es dir besorgen willst, könntest oder es tatsächlich hast. Falls sie das Buch hat, nimm es persönlich mit. In deiner Nähe sollte es nicht so sehr auffallen… Falls Nostradamus mitmacht, lass ihn Schutzbarrieren um das Buch errichten, er ist ein äußerst guter Magier.“

Dakkas nickte. Das hatte er sich auch schon gedacht nach Nostradamus einfacher Anwendung von Magie am vergangenen Tag.
 

Beauron holte einmal tief Luft und atmete langsam wieder aus. Der Raum flackerte kurz, wurde dann aber wieder klar.

„Und jetzt dem Ende entgegen. Egal, ob Buch oder nicht, frag Rita dann nach Nachrichten von den Rebellen. Zwei deiner Reisebegleiter gehören glaube ich zu ihnen, das ist praktisch. Ich weiß, dass der weiße Meister mehrfach angegriffen hat, aber ich weiß nicht, wie viel geschehen ist. Meine möglichen Informationsquellen sind durch den Kristall hier begrenzt.

Wenn es möglich und sicher ist, nimm das Buch und bring es in die Graue Zone, zum Todesmagier und Halb-Dämon Dalbo. Er ist einer meiner Hohepriester und wird dir weiter helfen können.“

Beauron lächelte. „Erstes weiß er sehr viel über dich und wird auch einige deiner Fragen beantworten können, zweitens ist er ein enger Freund vom weißen Meister und wird dich in der Grauen Zone sicher verstecken können, bis du dich wieder erinnerst.“
 

Dakkas nickte erneut. Es brannten einige Fragen auf seiner Zunge, aber das waren die konkretesten Antworten und Anweisungen, die er seit langem gekriegt hatte. Trotzdem musste er noch einige Dinge klären, bevor Beauron ihn zurückschickte – was auch immer das bedeuten sollte.

„Sehe ich eigentlich viele Götter?“

„Wie bitte?“ Der Todesgott sah ehrlich verwirrt aus. „Rein theoretisch könntest du jeden Gott sehen, wobei zur Debatte steht, ob man wirklich alle angucken möchte – einige von denen sind ziemlich hässlich, weißt du…“ Der Gott schweifte wieder ab.

Dakkas runzelte seine Stirn. „Dann ist es also nichts Bedenkliches, wenn ich Cecilia gesehen habe?“
 

Beauron riss seinen Kopf wieder zu ihm herum und gab eine sehr gute Imitation eines Drachen-Grollens von sich. „Was? Wen hast du noch gesehen?!“

„Nur Cecilia und dich.“, antwortete Dakkas zögerlich.

„Verdammt. Vertrau ihr nicht. Glaub ihr kein Wort.“ Der Gott murmelte wieder unverständlich vor sich hin, bevor er seine Augen schloss und wieder öffnete. „Keine Ahnung, warum sie eher von deiner Amnesie wusste als ich. Sowieso keine Ahnung, warum du ausgerechnet jetzt eine bekommen hast. Das macht keinen Sinn… es sei denn, jemand hat nachgeholfen, aber dazu… nein, nein, nein… Alles durcheinander, muss ordnen… konzentrier dich…“
 

Dakkas wurde klar, warum er mit Nostradamus so gut klar kam. Beauron hatte die Angewohnheit, abzuschweifen und verlor sich in seinen Gedanken. Beim Seher war es ähnlich und beide schienen einen Fokus für ihre Gedanken zu brauchen.

„Beauron, Fokus. Hör auf meine Stimme. Ich habe das Gefühl, dass einige Probleme auf uns zukommen.“

Der Gott blinzelte und nickte. „Natürlich. Ja, Probleme gibt es genügend… kümmere dich erst mal um das, wovon ich dir erzählt habe. Spätestens Dalbo wird dir helfen können, falls ich vorher nicht genügend Energie gesammelt habe, um dich holen zu können.“

Beauron seufzte. „Ich bin so müde, Dan.“ Schläfrig lehnte der Wicht seinen Kopf gegen den Kristall.
 

Der Raum um Dakkas herum flackerte wieder und schien sich zu drehen. „Du musst dich sehr angestrengt haben, um mich herzukriegen.“, meinte er sanft.

Beauron lächelte müde. „War besorgt. Aus den haarigsten Situationen kommst du gut raus, aber dafür findest du Ärger an den unmöglichsten Stellen.“

Dakkas schmunzelte. Irgendwie hatte er so das Gefühl, dass ein gewisser Halbdrache diese Meinung teilen würde.
 

„Da war noch was.“, murmelte Beauron, während der Raum um sie herum immer mehr zu verschwinden schien. Dakkas war dabei, die Verbindung zu dem gefangenen Gott zu verlieren. Und die Erkenntnis, dass er gefangen war, brachte ein mulmiges Gefühl mit sich.

„Was war da, Beauron?“

Der Gott schloss seine Augen. „Etwas mit dem Drachenkaiser. Sein Sohn ist vor einiger Zeit verschwunden. Da war etwas…“

Was auch immer es war, es würde wohl warten müssen. Dakkas spürte sich förmlich von dem Raum verschwinden und sah mit zu, wie der Kristall immer undurchsichtiger und dunkler wurde und dabei verschwamm.

Beauron hatte nicht mehr genügend Energie.
 

Urplötzlich war der Raum und der Kristall gänzlich verschwunden, stattdessen schlug er seine Augen auf und starrte einen sehr überraschten, über ihn gebeugten Jared an.

Der Werwolf wich mit einem überraschten Aufschrei zurück, als Dakkas sich kerzengerade in der Hütte, wo sie vor dem Unwetter Zuflucht gesucht hatten, aufsetzte.
 

Es war bereits heller Tag und das Unwetter war vorbei. Ein besorgter Daniel kniete neben ihm.

„Endlich wachst du auf. Wir haben uns Sorgen gemacht. Geht es dir gut? Alles in Ordnung? Es schien nichts passiert zu sein mit dir, aber…“

Dakkas blinzelte und schüttelte langsam seinen Kopf. „Nein, alles in Ordnung, Daniel.“ Langsam atmete er aus. „Nur ein komischer Traum.“, erklärte er dann schließlich und schloss kurzzeitig seine Augen.
 

Olivier Jerome in Kleingaren, Zauberer. Das war ihr nächstes Ziel. Jetzt musste er nur noch sehen, wie er das den anderen erklärte.
 


 

A/N zum Lied

Die vierte Strophe des Liedes ist echt. Man muss lediglich "Beauron" mit "Gevatter" austauschen, dann hat man wieder das original-Lied *hüstel*....
 

Voraussichtlicher Termin für nächstes Kap:

Letztes Juli-Wochenende (28./29.)

Ein Blick auf Kvi'sta: Reaktionen

A/N:

Das Kapitel hier wurde drei mal gestrichen, vier mal weider aufgenommen.

Es erklärt, warum die Autorin ihre armen leser so oft mit Gedichten und Liedern quält *g*

Und es gibt einen kurzen Blick auf die Welt Kvi'sta, und was abseits von Dakkas noch so passiert...
 

14 – Ein Blick auf Kvi’sta: Reaktionen
 

Eins
 

Das Arbeitszimmer war pompös eingerichtet. Es war außerdem ordentlich und so sauber, dass man schon fast dachte, es würde nicht benutzt werden. Trotzdem kam es einem stickig und zu voll vor. Tote Tierhäupter zierten ausgestopft die Wände, kostspielige Teppiche waren auf dem Boden verteilt und nutzloser Schmuck war in jede Ecke gestellt.

In der Mitte des Raumes standen zwei Männer sich gegenüber. Der eine hatte dunkelblondes, kurzes Haar und einen kleinen Stoppelbart. Seine Kleidung war augenscheinlich von hoher Qualität und in hellen Farben gehalten.

Sein Gegenüber war einen guten Kopf größer als er und hatte hellblondes, kurzgeschorenes Haar. Die Kleidung dieses Mannes war nicht annähernd so fein wie die des ersten und anstatt der hellen Farben bestand sie aus dunklen Brauntönen. Trotz aller Unterschiede sah man ihren Gesichtern an, dass sie verwandt sein mussten.

Es war der Bartträger, der zu sprechen anfing.
 

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Praina.“

„Jetzt tu erst gar nicht so. Die halbe Palastwache weiß es, deine Berater wissen es, drei Viertel des Hofes wissen es, deine Kinder wissen es, selbst deine Frau weiß es – und das soll was heißen bei ihren geistigen Fähigkeiten.“

„Beleidige nicht Camtiss. Sie ist eine hervorragende Ehefrau.“

„Ja und da hören ihre Qualitäten, ganz zu schweigen von den hervorragenden, schon auf.“

„… Hat dein Besuch tatsächlich einen anderen Grund, als mich zu beleidigen, Praina?“

„Ja. Ich will versuchen, dir Vernunft einzureden. Du musst das Ding loswerden.“

„Ding? Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Du weißt es genau. Von dem Ding.“

„Ich besitze viele Dinge.“

„Ja, und die meisten von ihnen sind unnütz, teuer und zwecklos.“

„Dann solltest du dich ja gar nicht um sie kümmern.“

„Hepai… Wie oft soll ich es noch sagen? Das Ding ist gefährlich und wird dein Untergang sein, wenn du es nicht schnellstens los wirst.“

„Du wiederholst dich, Praina. Und ich weiß immer noch nicht-“

„Der Kristall. Der, den du unter ach so toller Geheimhaltung in die alte, ausgediente Schatzkammer hast tragen lassen, du erinnerst dich? Der, den dein kleiner Liebling Selena unten in den Ödlanden-“

„Sei ruhig du Idiot! Schweig! Je weniger davon wissen, desto besser!“

„Hepai, es tut mir ja leid… Was rede ich da? Es tut mir überhaupt nicht leid, dir die Wahrheit zu erzählen. Die halbe Königsstadt wird innerhalb der nächsten zwei Tage wissen, was du hier drin aufbewahrst. Was denkst du, wird das Volk dann machen? Die Priesterschaft? Der Adel? Du bist nicht unverwundbar, auch wenn du wohl glaubst, dein Titel als Sonnenkönig würde dir diese Macht geben.“
 

„… Was interessiert dich das überhaupt, Praina? Du hast mir noch nie helfen wollen. Sollte es dich nicht freuen, wenn ich vom aufgebrachten Volk entthront werde?“

„Nichts würde ich lieber sehen. Aber wenn während dieser Entthronung die halbe Stadt umkommt und ein potentiell tödliches Wesen frei kommt – dann interessiert mich das!“

„Potentiell tödlich… Papperlapapp. Ich habe die Situation unter Kontrolle. Auch, wenn sich die Priesterschaft einmischt.“
 

Ein heiseres Lachen war die Antwort auf diesen Satz. „Meinst du? Glaubst du das wirklich? Selbst, wenn du das Volk, die Priesterschaft und alle anderen beruhigst und klein kriegst – dann hast du sehr wahrscheinlich eine halb zerstörte Hauptstadt und eine Revolution aller unterjochten Länder. Und kostenlos dazu einen seit etlichen Jahrzehnten eingesperrten, sehr wütenden, sehr wahnsinnigen Gott, für den es nur ein bekanntes Kontrollmittel gibt. Das du nicht hast!“

„So weit wird es nie kommen! Halb zerstörte Stadt – woran denkst du hier eigentlich? Und Revolution in den Tributländern? Bist du noch bei Sinnen? Als wenn das jemals eintreten würde. Ich gebe zu, die Kontrolle von… unserem unfreiwilligem Hausgast wird etwas schwer werden, aber es ist machbar. Sein Wahnsinn hilft dabei. Er ist offen für Suggestionen.“
 

„Suggestionen! Du willst eines der mächtigsten Wesen Kvi’stas mit netten Worten und guter Schauspielkunst gefügig machen? Das ist verrückt! Das einzige, was du hier machst, ist dein Land und dein Volk in Gefahr bringen!“

„Das sagt der richtige! Wie ich mich erinnere warst du derjenige, der dafür plädiert hat, den Drachen ihr Land zu belassen und den Wölfen ihres zurück zu geben. Inwiefern hilft das deinem Volk?“

„Verrate mir bitte, wie viele Engel in Akatma wohnen? Oder den Wolfländern? Wie viele dort wohl jemals wohnen werden? Wenn wir nur ein wenig vernünftiger mit unseren Mitvölkern umgehen würden, dann hätten wir sehr viel weniger Kriege.“

„Erspar mir bitte den Friedensvortrag. Einige im Volk mögen dir ja glauben, aber ich weiß, dass du Hintergedanken hast. Ich weiß bloß noch nicht welche.“

„Wenigstens habe ich welche und bin in der Lage, zu denken! Du hingegen rennst mal wieder ohne nachzudenken in eine ausweglose Situation hinein!“
 

„Was heißt das denn schon wieder?“

„Das Debakel mit Nebukhat de’Sahr-“

„War keineswegs ein Debakel! Am Ende ist alles gut ausgegangen, oder?“

„Du hast den Krieg mit den Drachen nur gewonnen, weil Heliash der Drachenkaiser blieb. Und das geschah nur, weil der Ursha’ba Klan sich nicht einigen konnte, wer von Nebukhats Söhnen die Regentschaft erben sollte! Wenn der Klan nicht in sich zerstritten wäre, hätten wir jetzt einen de’Sahr als Kaiser!“

„Als wenn das ein Problem wäre. Nebukhats Söhne sind kaum ein Hindernis.“

„Seine Söhne sind gemeingefährlich und haben geschworen, den Tod ihres Vaters zu rächen! Dein kleiner ‚Fehltritt’ von damals hat dem Engelsvolk einen blutigen Krieg und unserer Familie ein paar mächtige Erzfeinde eingebracht!“

„Keiner von Nebukhats Söhnen wurde zum König der Ursha’ba gekrönt. Und solange ihr Klan sich nicht einig wird, wird das auch nicht geschehen. Wo soll da die Macht sein?“

„Hepai, der Tag, an dem du den König der Ursha’ba hast ermorden lassen, war der Tag an dem du dein eigenes Grab geschaufelt hast!“

„Na dann dürfte dir das ja gefallen. Da kannst du ja gleich mit ihm zusammen arbeiten, Praina!“
 

Zwei
 

Die Kneipe war ein lauter, verrauchter Ort mit stickiger Luft, einem schalen Aroma und dem Geräusch von vielen betrunkenen Stimmen, die grölten, lachten oder schwatzten.

In einer Ecke dieser Kneipe saß eine rotblonde Frau in eng anliegender Lederkleidung. Ihr Blick huschte immer wieder durch den Schankraum, als wenn sie jemanden suchen würde. Ihre rechte Hand spielte dabei mit einem Dolch.

Eine schlanke Gestalt näherte sich ihrem Tisch. Die Frau sah auf, runzelte ihre Stirn und lächelte dann. Die schlanke Gestalt warf die Kapuze ihres Umhangs zurück und gab den Blick frei auf langes, lockiges blondes Haar und ein hübsches Gesicht.
 

„Amalie. Ich dachte schon fast, du kommst nicht mehr.“

„Als wenn ich unser Treffen verpassen würde, Rita.“

Eine kurze Pause.

„Du hast nicht zufällig etwas von unserem gemeinsamen Freund gehört, oder?“

„Leider nein Malie. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, du weißt etwas.“

„Das einzige, was ich gehört habe, ist diese Sache mit Sellentin. Schlimm.“

„Und unerwartet, was die Sache nur noch schlimmer macht. Die Dämonenkulte haben sich noch nie mit einem ganzen Land angelegt.“
 

„Und du meinst, das tun sie diesmal?“

„Ist das einzige, was Sinn macht. Sellentin hat kaum einen strategischen Wert und keine Reichtümer. Warum sollte jemand das angreifen, außer um den Engeln zu zeigen, wo der Haken hängt?“

„Dafür haben sich weder die Dämonen noch die Beschwörer je interessiert. Und mir hat noch keiner einen guten Grund genannt, warum sich das ausgerechnet jetzt geändert haben sollte.“

„Du hast Recht, Malie. Da müsste sich schon was Großes getan haben. Aber der Vash ist schon etwas älter und ich wüsste nicht, dass ein Gott gestorben ist.“
 

„Rita – Was, wenn da Mephaniten ihre Hand drin haben?“

„Mephaniten?! Das glaub ich nicht.“

„Mephan ist ein Halb-Dämon.“

„Und außerdem der Gott der Liebe. Ja, ein sehr gefährlicher Gegner, absolut. Und so aggressiv! Ein richtig schlimmer Kuscheldämon.“

„Rita! Es ist ja nicht so, als wenn er nur Gott der Liebe wäre.“

„Treue ist ebenfalls nicht wirklich etwas, was den Tod von zweitausend Leuten erklärt.“

„Kommt drauf an, was derjenige, dem du die Treue geschworen hast, vorhat und dir befiehlt.“
 

Tiefes Luft holen. „Amalie… du meinst doch nicht… Mephan könnte mit einem anderen Gott im Bund sein?“

„Warum nicht? Hält ihn doch keiner davon ab.“

„Aber warum greift der Gott der Liebe und Treue ein kleines Dörfchen an? Selbst wenn er ein Halb-Dämon ist?“

„Gut, wenn du es so sagst macht es wirklich keinen Sinn.“

„Danke.“

„Trotzdem ist er der einzige Halb-Dämon, der ein Gott ist.“

„Du hast keine Ahnung, was der Vash ist.“

„Da hast du auch wieder Recht… Weißt du, ich wünschte, Dan wäre hier. Er wüsste garantiert mehr darüber.“

„Soll nicht heißen, dass er uns etwas erklären würde.“

„Und schon wieder hast du Recht. Du bezahlst die erste Runde.“
 

Drei
 

Die Landschaft wurde von der Farbe rot dominiert: Rotbrauner Boden, dunkelrote Gebäude, ein rötlich schimmernder Himmel. Komische Gewächse in verschiedenen Rot, Braun und Gelbtönen wuchsen auf der Ebene vor den Gebäuden und eine lila wirkende Sonne tauchte alles in ein rosafarbenes Licht.

An der Brüstung des höchsten Gebäudes, eines Turmes, dessen Baumaterial verdächtig nach Fleisch aussah, stand ein ebenso farbenprächtig eingekleideter Mann. Die Farben seiner Kleidung entsprachen seiner Umgebung und zwei purpurfarbene Augen blickten hinaus über die Landschaft.
 

Ein zweiter Mann erschien auf der Brüstung und näherte sich dem ersten. Er war jünger und nur in dezenten Brauntönen gekleidet. Wie auch der erste hatte er blond-rötliches Haar. Als er nahe genug am ersten dran war, begann er zu sprechen.
 

„Alles in Ordnung, Vater?“

„Sjer-Ur. Wie geht es deiner Mutter?“

„Mama ist wohlauf und erholt sich. Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„… Mir geht es gut.“

„Warum nur glaube ich dir das nicht? Vater, bitte sei ehrlich mit mir.“

„… So viele Tote, Sjer-Ur. So viele.“

„Papa… dir war doch klar, dass es viele Tote geben würde. Und den Dogen war es auch klar, dass du kommen würdest, als sie Mutter entführten.“

„Das heißt nicht, dass ich mich über den Tod von Kindern freuen muss.“

„Natürlich nicht Papa. Obwohl einige Engel dich wohl komisch ansehen würden, wenn sie dich jetzt reden hörten.“

„… Ich war so wütend, Sjer-Ur. Ich habe gar nicht weiter nachgedacht, nur gehandelt. Die Legion deines Großvaters gerufen und…“

„… Mutter wieder zu uns gebracht. Das verübelt dir niemand von uns. Ich glaube, Großvater war sogar froh über dein Verhalten.“

„Vater ist ein Erzdämon des letzten Zirkels.“

„Und mein Vater der Halb-Dämon Gott der Liebe. Die Dogen wussten ganz genau, was passieren würde, als sie deine Ehefrau für ihre Experimente entführten. Jeder weiß, dass du nur wütend wirst, wenn jemand deiner Familie schadet.“
 

„Und trotzdem fühle ich mich schlecht wegen der Opfer, die meine Wut gebracht hat.“

„Das zeigt doch nur, dass du besser bist als die Dogen.“

„Bin ich das? Die Toten sind tot.“ Ein Schnauben. „Solange Beauron nicht wieder einen seiner Anfälle kriegt, heißt das.“

Ein amüsiertes, leises Lachen. „Ich bezweifle, dass Beauron das durch sein Gefängnis hindurch erreichen kann.“

„Ah. Hatte ich gar nicht erwähnt, oder? Danalas war in Sellentin.“

„Danalas?!“

„Ich war auch überrascht. Aber wenn er so offen herum läuft, kann Beauron nicht mehr lange in dem Gefängnis sitzen.“

„Jedenfalls wird der Todesgott dann keinen Anfall kriegen. Danalas kann das normalerweise verhindern.“
 

„Ist deine Mutter schon aufgewacht?“

„Ja, Papa. Und sie wundert sich, wo du bleibst.“

„Ich werde sofort zu ihr gehen… Ich brauchte nur einen Augenblick für mich.“

„Vater?“

„Ja?“

„Kann ich nach Kvi’sta?“

„… Warum? Tut mir leid, Sjer-Ur, aber nach der Sache mit den Dogen denke ich nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Irgendetwas passiert, das weißt du genauso gut wie ich. Vielleicht sogar besser als ich. Und wenn irgendjemand was weiß, dann Danalas.“

„Ja, es passiert etwas. Die Graue Zone probt den Aufstand, ein frischgebackener Vash treibt sein Unwesen und so wie es aussieht läuft der verrückteste Gott der Geschichte bald wieder frei herum. In dem Chaos will ich keins meiner Kinder sehen.“

„Papa! Mein Vater ist ein etliche Jahrhunderte alter Halb-Dämon und Gott. Meine Mutter ist eine Drakharuda. Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Dachte deine Mutter auch. Und die Dogen haben sie ja trotzdem irgendwie fangen können.“

„Mutter wollte aber nicht Danalas besuchen.“

„Soll mich das beruhigen?“

„Danalas ist mehr als in der Lage, sich selbst und mich zu beschützen, falls wirklich was passiert! Und Onkel Dalbo gibt es ja auch noch!“

„Warum mein Bruder meint, in einer verrufenen Stadt mitten im gefährlichsten Teil Kvi’stas wohnen zu müssen werde ich nie verstehen. Und dich werde ich da garantiert nicht hinlassen!“

„Papa! Danalas würde mir nie etwas zukommen lassen!“

„Nein.“

„Gut, dann frag ich Mama.“

„Sjer-Ur… na schön. Reden wir mit deiner Mutter darüber.“
 

Vier
 

Der Waldhain war ruhig und friedlich. Die wenigen anwesenden Tiere lagen im Gras oder tollten miteinander durch die Gegend.

In der Mitte des Hains saß Cecilia auf einem Stein und starrte hinab in eine kleine Pfütze zu ihren Füßen. Der Regen hatte schon lange aufgehört, doch die Pfütze war matschig und bräunlich; der Schmutz hatte sich noch nicht am Boden abgesetzt.
 

Mit einem sanften Leuchten erschien eine zweite Frau im Hain, eine zweite Göttin. Sie war größer als die Elfe, grazil und anmutig. Aus ihrem Rücken schienen große, grün schimmernde Schmetterlingsflügel zu wachsen, die langsam in den Körper der Frau zurück gezogen wurden. Diese Göttin war eine Bowe, eine Fee, deren Volk entfernt mit den Elfen verwandt war..
 

„Cecilia! Jetzt komme ich schon extra her und du starrst nur depressiv in diese Wasserpfütze.“

„Mirabelle… Ich denke nach.“

„Worüber? Und das ist hoffentlich nicht der einzige Grund, warum du mich her gebeten hast.“

Ein leises Lachen. „Nein, natürlich nicht. Ich muss etwas wichtiges mit dir besprechen.“

„Na dann tu’s.“

„Kennst du den Heiler Daniel Daragan?“

„Letzter der Daragans? Natürlich. Seine Familie besteht aus vielen Generationen aus Heilern. Die Drachenseite zumindest.“

„Er ist Leibarzt der de’Sahr.“

„Das wissen wir beide. Cecilia, worum geht es?“

„Molokosh de’Sahr hat einen neuen Reisegefährten. Einen scheinbar jungen, hübschen Mann. Mit grünen Augen. Sehr grünen, hübschen Augen. Und mehr magischem Potential als zehn Erzmagier zusammen.“

„… Danalas?“ Mehr gehaucht als gesprochen.

„Ja. Und weißt du, was interessant ist? Dieser Reisegefährte hat Amnesie.“

„Amne… Cecilia, bitte sag mir, dass du nicht irgendwas Dummes gemacht hast.“

„Etwas Dummes? Mirabelle, ich habe nur ein kurzes Gespräch mit Danalas geführt. Der Arme kennt nicht mal mehr seinen richtigen Namen.“ Trotz der Worte fehlte die Sympathie in diesem Satz.
 

„Cecilia! Wenn er keine Amnesie gehabt hätte, hätte er wer-weiß-was tun können!“

„Rohe Gewalt ist nicht sein Stil. Außerdem erinnert er sich ja an nichts mehr, oder? Da kann man doch mal mit ihm reden.“

„Cilia… Du hast ihm irgendetwas erzählt, oder?“

„Nur ein wenig. Vom kommendem Umbruch. Von der Gefahr in der Welt. Und dass er für uns auf Nostradamus aufpassen soll.“

„Für uns…? Danalas würde niemals einfach so etwas für uns machen!“

„Das weiß er doch jetzt nicht.“

„Oh nein… Cilia, sobald Beauron hört, das du Danalas solche Flöhe ins Ohr setzt…“

„Beauron ist gefangen. Und wird es diesmal auch bleiben, wenn Danalas ihn nicht schon wieder befreit.“

„… Das wird niemals funktionieren.“
 

„Mit ein wenig Hilfe von dir schon, Mirabelle.“

„Hilfe? Von mir? Ich bin die Göttin der Heilung und Genesung!“

„Genau. Danalas scheint in seinem Gedächtnis-losem Zustand einem gewissen Heiler zu vertrauen. Du brauchst Daniel also nur davon überzeugen, uns zu helfen… sollte einfach sein, schließlich wollen wir den Tod von vielen Wesen und Leid und Krieg verhindern.“

„Daniel Daragan wird nie auf mich hören.“

„Warum denn nicht? Du bist seine Göttin.“

„Nein, bin ich nicht.“

„Wie bitte?“

„Ich bin nicht Daniel Daragans Göttin.“

„Aber… Du bist die Göttin der Heilung. Er ist ein Heiler.“

„… Daniel Daragan hat nicht ein Mal in seinem gesamten Leben zu mir gebetet.“

„Nicht ein einziges Mal?! Er ist einer der besten Heiler und Ärzte Kvi’stas! Jeder von denen betet doch wenigstens ein Mal zu dir!“

„Daniel nicht.“

„Na gut… er sollte ja trotzdem ein wenig auf dich hören, wenn du ihm erscheinst.“

„Das bezweifle ich.“

„Was heißt das jetzt schon wieder?“

„Ich wollte ihm schon erscheinen, um ihn zu fragen, warum er mich nicht anbetet.“

„Ja und?“

„Er hat mich nicht gesehen. Sein Schutzgott hat es verhindert.“

„Wie bitte?! Wer ist sein Schutzgott? Einen Heiler von dir fern zu halten ist-“

„Ich glaube, Daniel weiß nicht einmal, dass sein Schutzgott das macht.“

„Warum das?“

„Er scheint nicht zu wissen, dass er einen Schutzgott hat. Geschweige denn diesen. Obwohl es mich nicht wundern würde, wenn doch. Schließlich hat er eine Zeit lang in der Grauen Zone gewohnt.“

„… Was soll das heißen?“

„Sein Schutzgott ist Boreas.“

„Der Gott des Verrats?!“
 

Fünf
 

Sellentin war längst ausgebrannt und nicht mehr als ein kleines Häufchen Asche mitten auf der Handelsstraße. Zumindest erweckte es von der Handelsstation aus diesen Eindruck.

Die Überlebenden waren größtenteils abgezogen, zu Verwandtschaft in der Baronie. Nur diejenigen, die keine Verwandtschaft mehr hatten, blieben noch zurück. Darunter auch einige Kinder.
 

Inmitten der Handelsstation stand eine miesgelaunt dreinschauende Frau. Ihr feuerrotes Haar war zu einem Zopf zusammen gebunden und gab so den Blick auf ihre Elfenohren frei. Ihre Augen waren schwarz und versprachen irgendjemanden in naher Zukunft große Schmerzen. Als Kleidung diente ihr eine fein verarbeitete Lederrüstung, die mit einzelnen Eisenplatten verstärkt wurde.

Ein ähnlich angezogener Engel kam auf sie zu.
 

„Hauptmann Windflügel…“

„Ich hoffe für dich, dass du gute Nachrichten hast, Gerhard.“

„Natürlich, Hauptmann. Die Drachen sind tatsächlich hier durch gekommen.“

„Gut, sehr gut. Wie leicht können wir ihnen den Angriff anhängen oder sie mit den Leuten dahinter in Verbindung bringen?“

„Nicht sehr leicht, Hauptmann.“

„Was?!“

„Sie und ihre Begleiter scheinen den Angriff gestoppt zu haben. Man sieht sie eher als Retter. Es würde sehr schwer sein, sie als die Angreifer erscheinen zu lassen.“

„Na wunderbar… Und das, nachdem wir schon einen Teil der Männer verloren haben. Verdammt!“
 

„Frau Hauptmann, vielleicht können wir sie noch einholen, wenn-“

„Nein, unwahrscheinlich. Sie sind schon unerwartet schnell hier angekommen. Zu schnell für die Hauptstraße. De’Sahr ist kein Idiot, er nimmt keine unnötigen Risiken. Er wäre niemals durch die Wildnis gereist, wenn er nicht einen Trumpf gegen mögliche Reiter des Barons gehabt hätte. Er muss irgendwen gefunden haben, der ihm helfen kann.“

„Was das angeht, Frau Hauptmann, wir haben Beschreibungen seiner Begleiter einholen können. Genauer Beschreibungen.“

„Endlich mal eine gute Nachricht.“

„Abgesehen von seinem Bruder und dem Heiler hat er noch drei weitere Begleiter. Ein Drache, ein Werwolf und wahrscheinlich ein junger Engel.“

„Wahrscheinlich?!“

„Das war der eine Punkt, wo man sich nicht sicher war, aber wir haben Beschreibungen von allen drein.“

„Dann mal her damit.“

„Der Drache ist ein Ursha’ba und scheint den Namen Shan-irgendetwas oder ähnlich zu haben. Er ist ein ausgebildeter Schwertkämpfer. Der Werwolf heißt Jared und scheint ein Zauberer zu sein. Der junge Engel ist eine Art Gelehrter, etwas unscheinbar.“
 

„Warte. Shan sagtest du? Und ein Werwolf-Zauberer mit Namen Jared?“

„Ja, Frau Hauptmann.“

„Das sind Sar’Shan Magregog und Jared. Er ist ein Halbwolf, kein Vollblut. Und der andere ist kein Schwertkämpfer, er ist ein Schwertmeister.“

„Verzeihung, Sie kennen sie, Hauptmann?“

Oh ja. Sie sind Rebellen aus der Grauen Zone. Sar’Shan trägt das Zeichen des weißen Prinzen auf einem seiner Handrücken. Wahrscheinlich hält sein Wolf das für ihn versteckt. Dreckiger kleiner Gossenhexer…“

„Hauptmann?“

„Wir brauchen Verstärkung. Der Drache ist gefährlich, sehr gefährlich. Entweder holen wir de’Sahr von ihm weg oder wir müssen einige Opfer auf unserer Seite in Kauf nehmen.“

„Ist dieser Drache wirklich so gefährlich, Frau Hauptmann? Wir haben ebenfalls Schwertmeister.“
 

Ein bitteres, humorloses Lachen. „Unsere Schwertmeister werden schwächer und lassen nach, wenn man sie verwundet. Sie halten ein, wenn der Schmerz zu groß wird.“

„Dieser Drache nicht?!“

„Dieser Drache ist ein Schmerzensjünger. Zerkratz ihm das Gesicht und er lächelt. Seine Art denkt, Schmerzen wären Verdienstorden. Es gibt vertrauenswürdige Zeugen, die ihn in der Grauen Zone gesehen haben. Unzählige Stichwunden. Pfeile in seinem Bein. Bereits seit fünf Stunden im Kampfgeschehen. Er stand immer noch und hat den Anführer unserer Truppen enthauptet.“

Eine zittrige Stimme antwortete dieser Erklärung. „Fr-Frau Hauptmann? W-wäre es in dem F-Falle nicht besser, w-wenn wir d-die große V-Verstärkung einholen?“

„Nein, die heben wir uns für den Notfall auf. Und was war jetzt mit dem Gelehrten?“

„N-natürlich… Ein junger Mann, wahrscheinlich ein Engel. Schwarzes Haar, grüne Augen. Soll hübsch ausgesehen haben, sagten einige der Frauen.“
 

„… Grüne Augen? Wie grün?“

„Sehr grün, Frau Hauptmann. Es gab einige Kommentare darüber… Wieso, Frau Hauptmann?“

„… Kein besonderer Grund. Nur eine Idee, aber die Chancen dafür sind zu klein. Unsere größte Sorge ist jetzt erst einmal der Schmerzensjünger. Der muss weg von de’Sahr.“

„Wie sollen wir sie aufspüren, Frau Hauptmann?“

Eine kurze Denkpause trat ein. „Sie reisen nicht zurück in die Drachenlande. Wenn sie das tun würden, wären sie nicht durch Sellentin gekommen.“

„Über ihr Ziel haben sie nichts verlauten lassen, Frau Hauptmann.“

„Dachte ich schon… Gut. Egal, was ihr Ziel ist, es gibt vier Städte, durch die müssen sie durch, wenn sie weiter nach Norden wollen. Kleingaren und Großgaren als Pass-Städte an der Dern Gebirgskette, Hafenstadt Gibra und Neu-Senkstich.“

„Neu-Senkstich?! Ihr meint, sie würden tatsächlich durch die Aschenlande reisen?! Das ist doch Selbstmord!“

„Alleine vielleicht. Aber Sar’Shan würde sie beschützen können und Jareds Meister war ein Todesmagier. Außerdem kennen wir die Stärken ihres dritten Begleiters noch nicht.“
 

„Was schlagt Ihr also vor, Frau Hauptmann?“

„Wir schicken jeweils ein Kommando in jede der vier Städte. Das kleinste nach Gibra, Molokosh hasst Schiffe. Eine ebenfalls kleine Truppe nach Senkstich. Wenn sie durch die Aschenlande gehen, wäre es schlauer, sie auf der anderen Seite geschwächt in Empfang zu nehmen. Die beiden größten Kommandos gehen nach Groß- und Kleingaren.“

„Wie ihr wünscht, Frau Hauptmann!“
 

„Ach, noch etwas, Gerhard.“

„Ja?“

„Schickt magische Boten los. Ich will wissen, warum der weiße Meister zwei seiner besten Leute Molokosh zu Hilfe geschickt hat. Der Drache und er können sich eigentlich nicht ausstehen.“
 

Sechs
 

Das Zimmer gehörte offensichtlich einem Studenten. Es war klein und mit einem Schreibtisch, einem schmalen Bett und einem Schrank praktisch eingerichtet. Bücher lagen überall, sogar auf dem Bett. Am Schreibtisch, auf einem Holzstuhl, saß ein junger Mann, vorne über gebeugt und tief in Gedanken. Seine Kleidung war abgewetzt und getragen, zeugte aber immer noch von einst gutem Material.

Was das Zimmer jedoch wirklich wie das eines Studenten aussehen ließ, waren die an ein Brett genagelten Leistungs- und Testbescheinigungen. Sie waren nach Endnote sortiert aufeinander gehangen worden. Der Stapel für perfekte Endnoten war am dicksten. Einen Test mit weniger als 90 Prozent der Punktzahl gab es nicht.
 

Die ausgebreiteten Bücher waren in unterschiedlichen Sprachen geschrieben und viele sahen alt und abgenutzt aus. Neben dem Bett stand ein Stapel, der vom Fußboden bis zur Kopfleiste des Bettes reichte. Alle Bücher trugen den gleichen Autor am Seiteneinband: Carogan Pasea.
 

Die Tür des Zimmers wurde geöffnet und ein zweiter junger Mann huschte ins Zimmer. Der am Tisch sitzende, blonde Mann sah von seinen Papieren und Büchern auf und zu, wie sein Besucher die Zimmertür schloss. Das fahle Kerzenlicht erleuchtete die Unterlagen vor ihm: Detaillierte Anweisungen zum Beschwören von Dämonen.
 

„Mensch, Domenek, es ist verdammt kalt hier drin.“

„Mir reicht es, Tonios.“

„Ja, ja. Du bist mit wenig zufrieden. Sehr wenig. Begrüßt den Mönch der Entsagung. Hey, was- Nein. Oh nein!“

„…“

„Sieh mich nicht so an! Das ist genau das, was ich vermute, oder?“

„Woher soll ich wissen, was du vermutest?“

„Mist! Domenek, du hattest es versprochen – Keine Sachen mit Dämonen oder Untoten mehr. Verdammt, wenn das einer mitkriegt… du wohnst über dem Professor, zum Teufel noch mal!“

„Genau. Zu allen drei Teufeln, wenn man es genau nimmt.“

„Das ist kein Thema zum Spaßen, Domenek! Diese Texte sind gefährlich. Sie sind verboten. Einige brauchst du nur besitzen, um erhängt zu werden. Du sagtest, du würdest deine Sammlung verschwinden lassen!“

„Hab ich ja auch. Nur du kannst sie jetzt noch sehen.“

„Nur ich…? Domenek, ich meinte mit ‚verschwinden’ eigentlich nicht ‚Verzaubere deine Sammlung’ sondern ‚Vernichte deine Sammlung’!“

„Das wird nie passieren und das weißt du.“

„Domenek… wenn irgendwer auch nur eins der Bücher findet… Ich will dich nicht tot sehen…“
 

„… Du bist ein guter Freund, Tonios. Und ich will auch nicht unbedingt sterben. Aber ich brauche diese Unterlagen.“

„Wofür? Was im Namen aller Götter kann so wichtig sein, dass du Tag aus Tag ein dein Leben mit diesen Büchern riskierst?!“

„…“

„Siehst du. Wieder hast du nichts zu sagen. Der einzige Grund ist deine verdammte Neugier und deine komische Faszination mit Dämonen. Das bringt dich noch in den Kerker!“

„Wusstest du, dass Sellentin von Dämonen vernichtet wurde?“

„Wie bitte?!“

„Ich habe es erst vor einer Stunde gehört. Das magische Nachrichtennetzwerk hat es verbreitet. Komplett weg, das ganze Dorf.“

„Sonne im Himmel… alles? Das ganze Dorf? Das war doch ein wichtiger Handelspunkt!“

„Alles weg. Bis auf ein paar Überlebende, aber die Stadt ist komplett hin. Über dreitausend Tote.“

„Über dreitausend… wie schrecklich.“

„Und interessant. Die Dämonen kamen aus dem Nichts, rissen alles ein und verschwanden wieder. Obwohl bei diesem letzten Punkt jemand nachgeholfen haben soll.“

„Was meinst du?“

„Eine Gruppe von Reisenden soll in der Stadt gewesen sein, noch während der Angriff stattfand, und die Dämonen vertrieben haben.“

„Vertrieben? Sagst du nicht immer, man kann Dämonen nicht vertreiben?“

„Genau. Aber man kann sie herbei holen und wieder wegschicken.“

„… Domenek, du glaubst doch nicht, da waren Dämonenbeschwörer am Werk?“

„Doch. Und ein Großteil der Leute wohl mit mir. Zu koordiniert und vernichtend, um ein zufällig erschienendes Portal zu sein. Außerdem verlassen die meisten Dämonen nicht gerne und ohne guten Grund ihre Heimat.“

„Ein Grund mehr, deine Sammlung loszuwerden! Wenn die Dinger jetzt einer bei dir findet… Nicht auszudenken.“
 

„Das wird schon. Viel interessanter wäre es doch zu erfahren, warum ein Dämonenbeschwörer Sellentin zerstört haben will. Das ist kein normales Ziel für Beschwörer.“

„Also mich interessiert irgend so ein Ziel jedenfalls nicht. Der Beschwörer gehört gemeuchelt für seine Morde.“

„Jetzt tu mal nicht so, als wenn es zu wenig Engel auf der Welt gäbe.“

„Wie kannst du nur so kaltherzig sein, Domenek?“

Und erst als ihr noch pochendes Herz in seinen Händen erkaltete, konnte er sicher sein, nie wieder diese Gefahr durchleben zu müssen.

„Das… würdest du bitte aufhören ‚Rache in seinem Herzen’ zu zitieren? Das ist eins der wenigen Bücher, vor denen ich wirklich Angst habe.“

„Es ist von Pasea.“

„Das war mir klar. Du vergötterst diesen Autor. Tu mir den Gefallen und zitier seine bekannteren Werke, nicht seine… Horror-Geschichten.“

Aber des Rätsels Lösung lag zwischen den Zeilen, rief Mik sich ins Gedächtnis. Man musste die Worte nur entziffern können.

„Das reicht! Das waren genügend Zitate für heute! Erst recht, wenn sie aus einem Buch über einen Massenmörder kommen!“

„Du kennst dich aber gut aus dafür, dass du diese Bücher nicht magst.“

„Und da bist du dran schuld! Ich komme wieder, wenn du in einer besseren Stimmung bist und rational denken kannst!“
 

Eine Tür knallte.

„Tonios, du kannst immer noch nicht zwischen den Zeilen lesen. Aber keine Sorge, dass bringe ich dir auch noch bei.“

Ein Stuhl knarrte und das Rascheln einer sich wendenden Buchseite ertönte. Ein Finger fuhr übers Papier.

Es war früher Morgen, als Mik das kleine Dorf zwischen der Baronie Ludgenstein und der Baronie Rauhenhoh verließ. Mit jedem Schritt ließ er das verträumte Sellentin hinter sich, das an diesem Morgen vom heiseren Schrei eines Dienstmädchens geweckt wurde.

Ihr Schrei würde zu spät kommen, ihr Herr und ihre Herrin würden bereits kalt und steif geworden sein, von jeder Hilfe abgeschnitten. Und niemand würde den Dämon in seiner unschuldig erscheinenden Gestalt finden können, bis er eines Tages wiederkehren und erneut Schrecken und Unheil im Dorf sähen würde.
 

Das Buch wurde mit einem lauten Schnappen geschlossen. „Ende Teil eins. Ich kann es kaum erwarten, bis Teil zwei anfängt.“
 

Sieben
 

Die Wände des Raumes waren aus Stein und an vielen Stellen mit Wandteppichen behangen. Auf dem steinernem Boden waren ebenfalls Teppiche ausgebreitet. Von der Decke hingen Kerzenleuchter und erhellten den fensterlosen Raum.

Es gab nur eine Tür zu diesem Raum, eine schwere, mit Stahl verstärkte Eichentür. Auf ihr prangte ein großes Symbol: Ein Knochendolch, der auf einer großen, grauen Rose abgebildet war.

An der Wand gegenüber der Tür befand sich ein großes hölzernes Himmelsbett. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen den Blick frei auf einen im Bett schlummernden, schwarzhaarigen Mann. Er trug nichts außer einem offenem, schwarzen Hemd und einem Lederhalsband. Am Band war eine Kette befestigt, deren Ende am Kopfende des Bettes festgemacht war.
 

Neben dem Bett saß ein großer; sehr großer Mann auf einem Stuhl und beobachtete den Schlafenden lächelnd. Sein Haar war weiß und fiel über seine Schultern hinab. Trotz der Farbe des Haares war er nicht alt. Seine kantigen Gesichtszüge und die ebenfalls weißen Augen kennzeichneten ihn als Drachen.

Es klopfte an der Tür und der weißhaarige Mann erhob sich. Barfuß und nur mit einer grauen Hose bekleidet stapfte er hinüber zu der schweren Eichentür. Erst jetzt war erkennbar, dass er sogar noch größer als ein normaler Drache war. Ein gutes Stück größer.
 

Er öffnete die Tür und sah sich einem sehr viel kleinerem Elfen gegenüber. Der Elf trug grüne, leichte Kleidung und straffte seine Schultern, als der Weißhaarige ihn ansah und herein winkte. Er sah an sich aus wie jeder andere Elf auch, abgesehen von den weiß-grauen Haaren, doch die leicht graue Verfärbung seiner Haut und die grünen Augen mit den orangefarbenen Pupillen kennzeichneten ihn als Dunkelelf.
 

„Immer noch nichts neues von Sar’Shan, Meister.“

Der weißhaarige Drache schnaubte leise. „Sar’Shan wird schon bescheid geben, wenn er Hilfe braucht. Und Jared passt auf ihn auf.“

„Wie Ihr meint, Sire.“

„Morag schläft.“

Die Stimme des Dunkelelfen wurde leiser. „Verzeihung.“

„Schon in Ordnung. Mein Schatz soll sich nur noch einmal ausruhen, bevor die Zeiten hektischer werden.“

„Hektischer?“

„Einige sehr schwere Zeiten kommen auf Kvi’sta zu, Sersh. Es wird Krieg geben.“

„Ihr seid Euch sicher.“

„Ich kann es förmlich spüren. Es pocht in meinen Adern und rauscht in meinen Ohren. Heute Nacht wird Coshe die nächste Dogenfeste dem Erdboden gleich machen.“
 

„Die Engel könnten ihre Streitmacht hierher schicken, aber wir sind vorbereitet. Die Graue Zone ist für einen Krieg gerüstet und die meisten wissen noch nicht einmal von unseren Verbündeten, Sire.“

„Oh, die Engel werden ihre Armee nicht hierher führen. So dumm sind sie nicht. Die Graue Zone ist inzwischen zu groß und umfasst mehr als nur eine Stadt. Wir haben viele Trümpfe von denen sie wissen. Und noch mehr, von denen sie keine Ahnung haben. Der Krieg kommt, aber er ist erst noch im Anmarsch.“

Dem Dunkelelf entfuhr ein leises Lachen. „Allein Meister Dalbo jagt den Engeln wohl eine Heidenangst ein.“

„Da sagst du was, Sersh. Glücklicherweise ist der Nekromant auf unserer Seite. Da fällt mir ein, hat der Alpha eine Antwort geschickt?“

„Der König der Werwölfe hat seine Hilfe zugesagt. Wenn die Engel gegen uns vorrücken, wird das Rudel sich für einen Rückschlag wappnen und mit uns kämpfen.“

„Und wir halten dafür im Gegenzug ihre Grenzen sicher und den Handel aufrecht. Gut, gut.“

„Sire, habt Ihr Neuigkeiten von unserem göttlichen Schutzherrn? Die Truppenmoral zu steigern wäre immer günstig.“
 

Finger gruben sich in die Schulter des Dunkelelfen und ließen unter dessen grüner Kleidung Blut hervor quellen.

„Vash ist sehr guter Laune.“ Der Weißhaarige klang amüsiert.
 

Acht
 

Die Ansammlung von Männern und Frauen in Rüstungen und Kleidung unterschiedlicher Art hätte man für ein Zigeunerlager oder einen Wanderzirkus halten können, wenn da nicht ihre schwere Bewaffnung und die offensichtliche Gefährlichkeit der Leute gewesen wäre. So erschienen sie eher wie sehr gut ausgebildete und organisierte Banditen.
 

Durch die Mitte des Lagers stapfte ein hochgewachsener Mann. Seine Kleidung war anders als die aller anderen im Lager und wirkte fast fehl am Platze: Es waren größtenteils helle beige Töne, die fast ins Weiß übergingen. Seine Füße steckten in hohen, braunen Lederstiefeln. Die beigefarbene Hose verschwand unter dem weiten, Gehrock-ähnlichem Saum einer langen Tunika, die am Bauch mit einem Gürtel zusammen gehalten wurde. Die Ärmel der Tunika gingen an den Unterarmen in braune Lederarmschienen über. Sogar das Gesicht des Mannes war von dem beigefarbenen Stoff verhüllt: Eine Kapuze war über seinen Kopf gezogen und ein Tuch hing vor seinem Mund. Am auffälligsten jedoch waren die metallenen Schulterpolster des Mannes: Sie waren wie ein Gesicht geformt.

In dieser bergigen Graslandschaft war diese Art von Kleidung nur selten gesehen, war es doch exakt die Art, in der sich drakonische Wüstenräuber und Soldaten kleideten, um während eines Sandsturms nicht aufzufallen.
 

Die anderen Mitglieder des Lagers machten dem Mann den Weg frei. Zielstrebig ging er auf ein auf einem Vorsprung errichtetes Zelt zu. Die Leute, an denen er nahe vorbei lief, konnten ihn leise zu sich selbst murmeln hören:

„Sie kamen vom östlichem Heer nur so

Der Jean, der Jaques und der Nicolo…
 

Als der Herbst schon wieder fast vorbei,

Die Blätter gefallen, erschienen die Drei.“
 

Am Zelt angekommen hörte auch ein dort postierter Wachmann dieses gemurmelte Lied und rollte mit den Augen. „Die Ballade der drei Teufel? Kein gutes Lied, um es vor dem Angriff zu singen, General Coshe.“

„Ach, was weißt du schon, Tim.“

„Genug, um das Schicksal nicht herauszufordern.“

„Das tue ich auch nicht, oder hast du mich schon mal unseren Meister aufsuchen sehen, wenn er schlechte Laune hat?“

Der Wachmann kicherte. „Nein, das macht nur Berater Sersh.“
 

„Wie stehen die Pläne für heute Nacht?“

„Alles vorbereitet, General! Wir haben alle geheimen Ausgänge der Festung ausfindig gemacht und verriegelt. Die Zauberer haben ihre Sprüche miteinander abgesprochen und alle Eure Befehle und Vorbereitungen sind ausgeführt worden.“

„Na dann kann ja gar nichts schief gehen.“

„Solange Ihr nicht das Schicksal herausfordert.“

„Sie tobten so wild gar viele Stunden

Da wurde bei ihnen der Geldsack gefunden

Mit einem Schlag alles Glück war vorbei

In Ketten da lagen sie nun alle Drei.“
 

„Und genau deswegen ist das ein schlechtes Lied für vor der Schlacht, Sire.“

„’Teufel noch mal’ alle drei fluchten so

Der Jean, der Jaques und der Nicolo.“ Diesmal lag Humor in der Stimme.
 

„Sire, bitte. Ihr senkt nur die Moral der Soldaten, wenn ihr das Lied der drei Teufel weiter singt.“

„Tsk. Früher haben wir das vor jedem Angriff gesungen.“

„Früher, Sire?“

„Ah, lange her, Tim. Hat dir noch keiner gesagt, was ich war, bevor ich in die Dienste des Meisters trat?“

„Nicht wirklich, Sire. Es heißt nur, Ihr seid von Ihm im Kampf besiegt worden und habt Ihm danach die Treue geschworen.“

Ein Lachen. „Das stimmt. Ich war Anführer einer Räuberbande. Einer recht guten Räuberbande, wenn ich das mal so sagen darf.“

„Echt?!“

„Nun ja, bis wir uns am Ziel vergriffen haben.“

„Der Meister?“

„War alleine und hat uns trotzdem in den Arsch getreten.“

„Und jetzt seid Ihr Sein General.“

„Dahin war es ein langer Weg, Tim. Aber alte Traditionen sind schwer zu überkommen.“

„Es ist trotzdem ein schlechtes Omen, Sire.“
 

„Die Köpfe sie fielen so blutig und rot

Vom Jean, vom Jaques und vom Nicolo

Die Köpfe sie fielen so blutig und rot

Vom Jean, vom Jaques und vom Nicolo.“
 

„Sire, wenn schon nicht für die Moral der anderen, dann doch bitte für mich. Ich bin ein Engel.“

„Aber ein Grauzonler.“

„Trotzdem. Ich bin abergläubisch. Das Lied ist kein gutes Omen.“

„Quatsch. Nur wenn es Vollmond wäre.“

„Sire?“

„Ha, kennst das Lied also doch nicht so gut, wie?“

„Was meint Ihr?“

„Nehmt es hin für euch bloß als Warnung nur so

Das Lied von Jean, Jaques und Nicolo

Wenn Ihr stehlt oder stecht merkt es euch insgeheim

Dann niemals bei vollem Mondenschein.“
 

„… Die Strophe kannte ich gar nicht.“

„Da siehst du’s. Geh immer erst sicher, dass du wirklich weißt, wovon du redest.“

„Das Lied habe ich schon oft gehört, in dunklen Tavernen und so, aber die letzte Strophe noch nie.“
 

„Die kennt man auch nur in gewissen Kreisen, Tim. Es ist eines der Kennzeichen für Dunkelwandler.“

„Dann…“

„Vash ist offiziell auch einer der dunklen Götter, Tim. Das macht mich auch zu einem Dunkelwandler. Sofern du dich für den Dienst bei den gezackten Klingen entscheidest, wirst du auch einer.“

„Das wusste ich gar nicht. Dunkelwandler werden von den Engeln immer als Mörder, Vergewaltiger und Schlimmeres dargestellt.“

„Und weil die meisten Engel keine Ahnung haben, worum es sich wirklich dabei dreht, kann sich dieses Bild durchsetzen.“

„Und Dunkelwandler erkennen sich an dieser extra Strophe?“

„Oh, das ist nur ein Beispiel. Es gibt mehrere Lieder, die so weiter gedichtet worden sind und Zugehörigkeit zu einem der verbotenem Kulte signalisieren. ‚Die Ballade der drei Teufel’ ist nur das am weitesten verbreitete.“

„Da kann man ja gar nicht alle kennen.“

Ein Lachen ertönte. „Oh, es gibt da einen Sammelband. Ein geheimes Buch, wenn du so willst. Darin sind alle Weiterdichtungen aufgeführt.“

„Echt? Wie kommt man da dran? Und wer hat das geschrieben?“

„Der Autor ist Carogan Pasea.“

„Pasea? Ich dachte, der schreibt Romanzen. Und irgend so was über Magie.“

„Seine… heikleren Bücher kennt nicht jeder. Wenn es dich interessiert, kann ich dich mal zu Jared und Shan schicken, sobald sie wieder da sind.“

„Zauberer Jared kennt das?“

„Jared hat unzählige Bücher von Pasea. Auch den Gedicht und Lied Sammelband.“
 

Neun
 

Nostradamus kehrte langsam von seinem Rundgang über Kvi’sta zurück. Sein Körper sah den Fluss, an dessen Böschung er sich gesetzt hatte, und den Wald dahinter. Sein inneres, drittes Auge blieb wie immer aktiv und lieferte ihm eine komplette Rundumsicht seiner Umgebung.
 

An ihn konnte man sich nicht heranschleichen. Ihn konnte man nicht überraschen. Selbst der beste Schutzzauber war ab einer gewissen Nähe zu ihm nutzlos. Sein drittes Auge sah alles.
 

Aber sein drittes Auge war auch eine schwere Bürde. Zusammen mit dem Wissen kam auch Desillusion. Nostradamus konnte sich gut an den Tag erinnern, an dem sich sein drittes Auge zum ersten Mal ganz geöffnet hatte. Er war zwölf gewesen, praktisch ein Kind in Drachenjahren.
 

Vorher waren Eindrücke und kurze, unlenkbare Szenen alles gewesen, dass er hatte sehen können. Und dann sah er plötzlich seinen Vater vor sich sterben. Die Szene hatte sich wiederholt, blutiger, an anderen Orten. Aber immer war es dasselbe gewesen: Sein Vater wurde hinterrücks ermordet.
 

Er war fast wahnsinnig geworden mit diesen Visionen. Eine Zeit lang hatte er geglaubt, er fantasiert. Er hatte seine Gabe unterdrückt. An seinem Verstand gezweifelt. Fast wäre er verzweifelt und hätte aufgegeben. Aber dann hatte er verstanden, dass er nur verschiedene Möglichkeiten sah und keine absolut war.
 

Von da an hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, den Mord an seinem Vater zu verhindern. Vier Jahre lang hatte er gesucht und gelernt, dass schon das kleinste Detail weitreichende Folgen haben konnte. Bis er diese Lektion verstanden hatte, war einige Zeit vergangen.
 

Letztendlich aber hatte er die vollkommene Kontrolle über sein drittes Auge bekommen. Und war erneut verzweifelt.
 

Sein Vater starb immer. Jedes Mal. Unweigerlich.

Wenn er nicht ermordet wurde, so starb er kurz darauf an einer Krankheit.

Nebukhat de’Sahr war nicht nur der König der Ursha’ba gewesen. Er war ein Nekromant gewesen, ein Todesmagier. Todesmagier arbeiteten mit Leichen und Untoten und solange sie keinen Schutz dagegen fanden oder hatten, starben sie früher oder später an den Folgen des Umgangs mit dem Tod: Krankheit. Pest. Seuche.
 

So oder so hätte sein Vater diesen Lebenszustand verlassen und seinen Platz in Beaurons Totenreich eingenommen. Also hatte Nostradamus das einzige getan, was für ihn noch Sinn machte: Dafür gesorgt, dass er den schnellsten, schmerzlosesten Tod starb und wenigstens geistig gesund im Reich seines Schutzgottes ankam.
 

Aber trotzdem hasste er den Sonnenkönig. Der alte de’Sahr König war nicht sein einziges Opfer gewesen. So viele Tode hatten mit dem arroganten Engel zu tun. So viele Wesen hatte er umbringen lassen.
 

Nostradamus verfolgte seit vielen Jahren einige wenige Ziele. Die Entmachtung, Bloßstellung und völlige Vernichtung des Sonnenkönigs war nur eines von ihnen, das erste Ziel.

Bald darauf hatte sein drittes Auge ihm ein anderes, wichtiges Ziel gezeigt: Seine Familie am Leben zu erhalten. Das erwies sich als einfacher, als er gedacht hatte. Molokosh war von Anfang an von dem grünäugigem Unbekanntem fasziniert gewesen, auf seine eigene Art und Weise.

Nostradamus hatte absichtlich so getan, als würde er Dakkas nicht mögen. Dakkas war leicht zu mögen für Molokosh: Hübsch, intelligent und ein Taktiker mit der richtigen Einstellung zu Engeln.
 

Durch Nostradamus Verhalten war Dakkas in den Augen des älteren de’Sahr nur noch netter, hübscher geworden. Schließlich wurde er ohne Grund von seinem abwesendem, etwas zurück gebliebenem, kleinen Bruder nicht gemocht. Der arme Dakkas. Ohne Gedächtnis, wahrscheinlich von Engeln dazu verdammt, ein Opfer. Und jetzt hackte auch noch der kleine Bruder auf ihm rum.
 

Molokosh sollte von Dakkas fasziniert werden. Am besten wäre es sogar, wenn er sich tatsächlich in ihn verliebte.

Denn sein drittes Auge hatte Nostradamus noch etwas gezeigt: Einen Weg, um den Jahrhunderte alten Drachenfluch von seinem Volk zu nehmen und es zu befreien. Aber das konnte nur geschehen, wenn Dakkas auf ihrer Seite stand. Und dazu musste man ihn an ihre Seite binden.
 

Zu spät hatte Nostradamus entdeckt, dass er durch all sein Ränkeschmieden ebenso von Dakkas fasziniert wurde, wie sein Bruder. Er liebte den kleinen Grünäugigen zwar nicht, aber er hatte ihn bereits zu einem Teil seines Lebens gemacht.
 

„Lanar? Nostradamus?“ Drakonische Laute drangen an sein Ohr und rissen Nostradamus aus seinen Überlegungen und Plänen. Sar’Shan kam durch das Dickicht auf ihn zu. Nostradamus erkannte ihn, obwohl er dem Krieger den Rücken zugewandt hatte. Er regte keinen Muskel. Seine Tarnung war wichtig. Leben beruhten auf seiner Tarnung – nicht nur sein eigenes.
 

„Hoheit? Dakkas ist aufgewacht.“ Der Krieger sprach auf Drakonisch, das Nostradamus sowieso bevorzugte.

„Daniel ist beruhigt, dass unserem kleinen Gefährten nichts passiert ist. Jared unterhält ihn ein wenig. Wir dachten, dass Ihr das vielleicht wissen wolltet, falls Ihr es nicht schon wusstet.“

Tatsächlich hatte Nostradamus es nicht gewusst, aber geahnt. Beauron war eins der wenigen Wesen, die seinen Blick verschleiern konnten, bis sie nahe bei ihm waren. Als Dakkas Geist verschwand, wusste er, dass der Grünäugige beim Tod war.
 

„Geht es Euch gut, Prinz? Ihr wirkt… abwesender als sonst.“

Ah, Sar’Shan hatte recht. Nostradamus blinzelte und lächelte langsam. „Das Wetter wird schön.“, antwortete er dann.
 

Wahrlich, das wurde es. Bald würde es tote Engel regnen.
 


 

A/N:
 

„Die Ballade von Jean, Jaques und Nicolo“ ist soweit ich weiß ein französisches altes Volkslied. Es wurde von mehreren Mittelalter-Bands vertont, mit jeweils leicht anderem Text. Den richtigen Originaltext habe ich leider nicht gefunden, daher ist die Vorlage hierfür die Version von Corvus Corax.
 

Nächstes Kapitel:

Ein Termin steht noch nicht fest, auch kein ungefährer. Sobald sich da eine Änderung ergibt, wird das in meinem Bio angeben werden, ganz unten. Da kann man immer nach Neuigkeiten nachschauen.

Erblindete Augen sehen wieder

A/N:

Leichte Verspätung um drei Tage, aber das neue Kapitel ist da! Viel Spaß beim Lesen wünsche ich ^^
 

15 - Erblindete Augen sehen wieder
 

Daniel nahm Dakkas Erklärung von einem besonders tiefem Traum mit gemischten Gefühlen auf, akzeptierte sie aber. Nachdem für den Heiler klar war, dass der Kleinste in ihrer Gruppe kein gesundheitliches Problem hatte, widmete er sich wieder dem Versuch, mit den Kochgeräten der Hütte eine essbare warme Mahlzeit herzustellen.
 

Jared begutachtete diese Versuche mit unverhohlenem Amüsement. Daniel war kein Koch und die Hütte lange nicht mehr benutzt worden; die Versuche des Heilers schlugen also eher katastrophal fehl.

Dakkas hatte sich neben Jared an den Tisch gesetzt und sah nur kopfschüttelnd vom einen zum anderen. „Weißt du, Jared, du magst ja rohes Fleisch essen können, aber wir anderen mögen ab und zu auch etwas Gebratenes.“, murmelte der Schwarzhaarige dann.
 

„Meh. Einige Sachen sollte man gar nicht erst kochen, braten oder sonst wie verfeuern. Es schmeckt dann nicht mehr so gut.“, war Jareds unbeeindruckte Antwort.

Dakkas zog nur stumm eine Augenbraue hoch und entspannte sein Gesicht dann wieder. Was fragte er auch einen Werwolf – oder Halbwolf – nach seiner kulinarischen Meinung.
 

„Wo sind die anderen?“, wechselte der Grünäugige das Thema.

„Shan ist draußen bei Nostradamus, um ihm bescheid zu sagen, dass du aufgewacht bist.“, erklärte Jared. „Wahrscheinlich wird er danach Koshi suchen und ihm das Selbe sagen… vielleicht aber auch nicht…“ Der letzte Teil war eher gemurmelt als gesprochen, aber Dakkas hörte ihn trotzdem.
 

„Molokosh-lana wollte sich die nähere Umgebung anschauen um zu sehen, wie viel Schaden das Unwetter von gestern angerichtet hat.“, fügte Daniel hinzu.

Dakkas nickte und runzelte seine Stirn. Sobald Molokosh wieder da war, würde er irgendwie mit dem Drachen alleine reden müssen. Die anderen ihrer kleinen Gruppe würden sicherlich nicht auf Dakkas Wort allein einen Dogen-Zauberer aufsuchen und ihn um etwas bitten. Nein, da Jared und Shan Rebellen aus der Grauen Zone waren, würden sie einen Dogen eher umbringen. Nicht, dass man es ihnen verübeln konnte. Die Qualen, die diese ‚Forscher’ ihren Experimenten zufügten…
 

Dakkas blinzelte und ordnete seine Gedanken wieder. Wo war denn das jetzt hergekommen… Gerade hatte er eine Vorstellung von einem Dogenlabor in seinem Kopf gehabt: Komische, magische Apparate, angeschlossen an Käfige und scheinbare Streckbänke.

Nein, wenn eins der Labore so aussah, dann konnte er wahrlich gut verstehen, warum man die Dogenfestungen angriff und dem Erdboden gleich machte.
 

Die Tür zur Hütte öffnete sich und Nostradamus und Sar’Shan traten ein. Der Seher wirkte abwesend wie immer, setzte sich aber neben Dakkas an den Tisch. Der Schwertkämpfer lächelte, hob Jared von seinem Stuhl hoch und setzte sich dann mit dem Halbwolf auf seinem Schoß wieder hin.

Dakkas blinzelte. Der Drache war doch noch etwas stärker, als er vermutet hatte. Den Halbwolf hochzuheben hatte ihn nicht im Geringsten angestrengt.
 

„Wo ist Molokosh?“, fragte der Grünäugige, anstatt sich weiter über Shans Kraft zu wundern.

Der Krieger zuckte mit den Achseln. „Konnte ihn nicht hier in der Umgebung finden.“ Der Grauhaarige schien nicht sehr besorgt über das Verschwinden des de’Sahr. Dakkas sah Nostradamus an. Der Seher würde schon etwas sagen, wenn sein Bruder in Gefahr war.
 

„Nah, Koshi wird schon nichts passieren. Außerdem vermiest er sowieso nur die Stimmung.“, grinste Jared. Daniel schnaubte. „Welche Stimmung? Hungrig und ausgelaugt?“

„Ich dachte eher an ‚befriedigt und entspannt’.“ Jareds Grinsen wurde breiter.

Dakkas schüttelte lächelnd den Kopf. „Muss ja eine sehr angenehme Nacht gewesen sein.“, meinte er dann verschmitzt. Jared grinste nur, aber Sar’Shan bekam einen sehr selbstzufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht.
 

Nostradamus Hand auf seiner Schulter ließ Dakkas kurz zusammenzucken. Der Seher sah den Grünäugigen konzentriert an. „Neues Ziel?“, fragte er dann.

Die anderen in der Hütte waren still geworden, als der Seher gesprochen hatte und sahen jetzt zu den beiden hin.
 

„…Ja. Wäre es zu viel verlangt, zu erfahren, woher du das schon wieder weißt?“

Nostradamus lächelte. „Die Möglichkeiten haben sich geändert.“

„Ah.“ Dakkas nickte. Das machte sogar Sinn. Er wusste jetzt mehr über sich und sein Ziel, daher hatte die Zukunft jetzt andere mögliche Ausgänge.

„Ziel?“, wiederholte Nostradamus.

„Olivier Jerome, Kleingaren. Zauberer.“

Ohne, dass er es gewollt hatte, hörte sich diese Unterhaltung doch wie eine Art Jagd an, wobei Nostradamus der Jagdhund war. Und tatsächlich trat ein abwesender Blick in Nostradamus Augen, während Dakkas und die anderen fasziniert zusahen.
 

„Wohnt Kreuzweg 6. Alleine. Keine Familie. Frühstück gerade.“ Nostradamus runzelte seine Stirn und fokussierte einen fragenden Blick auf Dakkas. „Doge?“

Sar’Shan grollte, blieb aber ruhig.

Dakkas nickte. „Er ist Mitglied der Dogen. Aber… wenn ich mich richtig erinnere kein echter Doge.“

„Kein echter Doge?!“, fauchte Sar’Shan, wurde aber von dem Seher und dem Grünäugigen nicht beachtet.
 

Nostradamus Blick wurde wieder abwesend und der Seher nickte langsam. „Kein echter Doge. … Spion.“ Wieder sah er Dakkas an. „Für dich.“

Daniel fiel die Kelle aus den Händen. Jared und Sar’Shan sahen Dakkas geschockt an. „Du hast einen Spion innerhalb der Dogen?!“, entfuhr es dem Drachen.

Dakkas lächelte zaghaft. „Ich… kann die Dogen wirklich nicht leiden?“

Alle abgesehen von Nostradamus sahen ihn weiterhin ungläubig an.

„Wir konnten nie einen Spion oder Informanten innerhalb der Dogen bekommen.“, murmelte Jared. „Wie hast du das angestellt? Und warum?“
 

„Daran erinnere ich mich nicht. Noch nicht. Aber ich muss wohl einen guten Grund gehabt haben.“, antwortete Dakkas.

Nostradamus nickte. „Er ist kein hohes Mitglied der Dogen, aber er hat Zugang zu einigen Dingen… Der Teleporter?“

Dakkas nickte. „Genau, daran hatte… ich gedacht. Wenn wir den Teleporter nehmen sind wir in Windeseile in Tirin und können Selena Windflügel abhängen.“

„Abgesehen davon, dass wir auf der anderen Seite vom Teleporter von den Dogen da aufgegriffen werden. Oder hast du da auch einen Spion?“, murrte Sar’Shan.
 

Der Grünäugige zögerte und dachte nach. Nein, Beauron hatte nicht erwähnt, ob er in Tirin auch einen Informanten oder Spitzel hatte. Aber irgendwie war er davon ausgegangen, schließlich musste er ja sicher auf der anderen Seite ankommen.

„Es wäre sinnlos, einen Spitzel zu haben, der den Teleporter bedienen kann, ohne sicheres Ankommen auf der anderen Seite zu gewährleisten.“, meinte Dakkas dann zögerlich.

„Das stimmt. Aber wie willst du die andere Seite kontaktieren, wenn du dich an so gut wie nichts erinnerst?“, hakte Jared nach.

„Entweder Olivier macht das, oder wir finden eine andere Möglichkeit… so schwer kann das ja nicht sein.“
 

„Entschuldigung?! So schwer kann das ja nicht sein?“, grollte Shan erbost. „Die Dogen sind gefährliche kleine Folterer. Ihre Teleporter stehen normalerweise mitten in einem ihrer Gildenhäuser, die voll sind von ihnen. Wie sollen wir da ohne Hilfe sicher auf der anderen Seite herauskommen? Außerdem, woher wissen wir, dass du uns nicht an sie verkaufst oder sonst was machst? Gedächtnisschwund hin oder her, wir wissen doch fast nichts über dich!“

Der Drache grollte aus voller Kehle. „Ich bin jedenfalls nicht dafür, dass wir dir einfach so trauen. Schließlich reden wir hier davon, einen Dogen um Hilfe zu bitten!“
 

Das saß. Dakkas gab sein Bestes, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Natürlich hatte er erwartet, dass Sar’Shan schlecht reagieren würde, aber mit so aggressivem Widerstand hatte er dann doch nicht gerechnet. Er hatte gedacht, dass er den Drachenkrieger inzwischen als Freund bezeichnen durfte. Anscheinend hatte er sich da getäuscht.

„Dakkas lügt nicht und sein Spion würde ihn niemals verraten.“, durchbrach Nostradamus das Grollen des Kriegers. Abrupt beendete Shan sein Murren.

„Sicher?“

Der Seher nickte. „Molokosh wird dem neuen Plan zustimmen.“, sprach er dann weiter. Etwas an der… Finalität, mit der Nostradamus sprach, störte Dakkas. Als wenn der Seher klar machen wollte, dass der schwarzhaarige Drache gar nicht anders konnte.
 

Jared runzelte seine Stirn. „Wird das so etwas wie eine Tradition? Unser lieber grünäugiger Freund hier sagt etwas, und die de’Sahrs springen?“ Es schwang keine Feindseligkeit, nur reine Neugierde in seiner Stimme mit, und dennoch spürte Dakkas, dass mehr hinter dieser Frage steckte.
 

Nostradamus drehte seinen Kopf in Jareds Richtung und sah den Halbwolf stumm an. Dieser hob beschwichtigend eine Hand. „Hey, nur eine ernstgemeinte Frage. So was sieht man nicht alle Tage.“

„Dakkas kann unserer Familie viel Glück bringen.“, erklärte Nostradamus und sah wieder den Grünäugigen an, der den ganzen Austausch etwas komisch fand. Aber als Glücksbringer angesehen zu werden war immerhin besser, als den Tod an den Hals gewünscht zu kriegen. Obwohl das ja in seinem Falle sowieso nicht sehr viel ausmachen würde, schließlich schien Beauron ihn nicht tot haben zu wollen.

Und überhaupt warf seine Beziehung zum Totengott ein ganz neues Licht auf den Spruch ‚den Tod am Hals haben’.
 

„Also ist er so was wie der offizielle Glücksbringer des de’Sahr Königshauses?“, hakte Jared nach.
 

Dakkas stockte. Moment mal. Königshaus? Im Sinne von König? „Königshaus?“ Seine Stimme hörte sich ungewollt etwas schrill an.

Die beiden Rebellen sahen zu ihm und Daniel stöhnte laut auf. Nostradamus lächelte nur. „Molokosh und mein Vater, Nebukhat de’Sahr, war der letzte König des Ursha’ba Klans und offizieller Thronfolger des Kaiserthrons der Drachen.“ Nach einer Pause fügte er noch hinzu: „Molokosh war dagegen, dir das zu erklären, sofern du dich nicht selbst daran erinnerst. Er wollte nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig.“
 

„Ach wie nett. Und keiner hat daran gedacht, dass diese Information ganz praktisch wäre, wenn eine verrückt gewordene Elfe uns im Nacken sitzt?!“, fragte Dakkas erbost.

„Ehrlich gesagt dachten wir, du wüsstest das.“, meinte Sar’Shan, der anscheinend wieder beruhigt worden war.

„Nein, bis gerade wusste ich das nicht.“ Aber es erklärte einiges. Warum zum Beispiel diese Elfe so hartnäckig hinter den Brüdern her war. Und warum Nostradamus so eine sorgfältige Tarnung hatte.
 

„Heißt das, Molokosh ist jetzt König? Oder Nostradamus?“

Shan bekam eine finstere Miene. „Mein König ist Molokosh sicherlich nicht.“, grummelte der Drache. Jared beruhigte seinen großen Freund und sah Dakkas dann entschuldigend an. „Es herrscht ein wenig… Uneinigkeit darüber, welcher von Nebukhats Söhnen regieren soll.“, erklärte der Halbwolf.
 

Dakkas blinzelte. Nun gut, solche Streitigkeiten über die Herrschaftslinie waren nichts neues, jedes Volk Kvi’stas hatte so einen Streit mindestens einmal erlebt, aber irgendetwas stimmte an dieser Erklärung nicht ganz.
 

Nostradamus war zwar nicht dumm und nicht verrückt, aber man konnte beides leicht glauben, wenn man den Seher nicht genau beobachtete. Auf alle Fälle trat er nicht als Führungspersönlichkeit auf. Diese Qualitäten hatte eher Molokosh, auch wenn Dakkas insgeheim glaubte, dass Nostradamus den schärferen Verstand von beiden hatte.
 

Aber, selbst wenn die beiden sich wirklich um den Thron stritten – warum reisten sie dann zusammen durch die Gegend? Sie wirkten nicht wie zwei zerstrittene Brüder. Molokosh war offensichtlich davon überzeugt, dass er Nostradamus beschützen musste und tat dies wohl auch von ganzem Herzen.

Die Brüder benahmen sich nicht wie zwei rivalisierende Thronerben.
 

„Bei wem genau herrscht diese Uneinigkeit?“, wollte der Kleine daher wissen. „Weil Nostradamus und Molokosh sich nicht so benehmen, als würden sie sich um ein Königreich streiten.“

Es trat eine kurze, betretene Stille ein, während der alle anderen Anwesenden in der Hütte einige Blicke austauschten. Dakkas bekam das definitive Gefühl, dass ihm etwas verschwiegen wurde.
 

Auch als Daniel brüskiert seinen Kopf schüttelte und zu einer Antwort ansetzte, wich dieses Gefühl nicht. „Natürlich tun sie das nicht. Das würden sie der Erinnerung an ihren Vater niemals antun.“ Der Heiler zögerte kurz, bevor er weitersprach: „Aber das Volk – der Klan – ist sich nicht ganz einig, wer gekrönt werden soll. Und solange ihr Volk sich nicht einigt, haben die Brüder beschlossen, gar keinen zu krönen.“
 

Kollektiver Thronverzicht aus Bruder-, Vater- und Volkesliebe? Dakkas konnte sich nicht helfen – er fand das komisch. „Das ist doch total unsinnig. Wer kümmert sich denn dann um den Klan? Das schwächt doch eure Position politisch und militärisch.“

Shan atmete auf. „Endlich jemand, der meiner Meinung ist. Am einfachsten wäre es, Molokosh tritt einfach komplett zurück vom Thron.“

Dakkas blinzelte. Der Krieger wollte also tatsächlich, dass Nostradamus regierte? Nun gut, ein Seher als König war sicherlich nicht schlecht… und selbst wenn Nostradamus die Illusion des Geistig-Abwesenden aufrecht erhielt, konnte Molokosh ja noch immer als Berater oder so fungieren.
 

„Bei allem Respekt zu Lanars Bruder – Lanar ist einfach der bessere König.“, warf Daniel vehement ein und starrte Sar’Shan dabei finster an. „Lanars Bruder ist einfach nicht für die… feineren Dinge der Diplomatie geschaffen. Und wie er auf so etwas wie Friedensverhandlungen oder einen drohenden Krieg reagiert ist jawohl… bestenfalls fraglich.“ Leiser fügte der Heiler missmutig hinzu: „Wenn er den Krieg nicht selbst anfängt heißt das…“

Shan grollte. „Molokosh hat keine Ahnung, wie man den Klan zu führen hat. Das sieht man schon daran, dass er wie ein Laufbursche von einem Engelsadligem zum anderen reist, um unser Heimaland zu befreien. Das ist höchstens ein Freikauf; und unser Land gehört uns, nicht den Engeln.“ Mit einem Schnauben meinte der Krieger noch: „Und von seinem Durchsetzungsvermögen reden wir jetzt erst gar nicht…“
 

Heiler und Krieger sahen sich finster an, während Jared mit den Augen rollte. Das war anscheinend kein neuer Streitpunkt zwischen den beiden. An den Grünäugigen gewand merkte er an: „Dummerweise interessiert es einige Drachen nicht, ob ihr Favorit regieren möchte oder nicht.“
 

Dakkas fand für beide Positionen sowohl gute als auch schlechte Dinge. Seiner ehrlichen Meinung nach würden beide de’Sahrs ungefähr gleich gut als König regieren, Nostradamus machte seine sozialen Schwächen mit seinem Sehertalent wieder wett und Molokosh konnte stattdessen mit natürlichen Führerqualitäten und einem anscheinend besserem diplomatischen Verhältnis aufwarten.

Nur wie Daniel darauf kam, dass Nostradamus so kriegsbereit sein sollte, verstand er nicht. So aggressiv kam ihm der Seher gar nicht vor.
 

Aber es war schon schade, dass der ganze Klan Ursha’ba dahin siechte, nur weil das Volk sich nicht auf einen König einigen konnte. Es waren ja nicht einmal die Brüder selber, die diesen Machtkampf wollten, so wie es aussah.
 

„Und euer Klan würde den einen Bruder nicht akzeptieren, auch wenn der andere freiwillig und so weiter zurücktritt?“

Nostradamus war still und hielt sich aus dem Gespräch raus, aber die drei anderen sahen sich ungemütlich an, selbst Jared schien über dieses Thema nicht gerne sprechen zu wollen.

„Du musst verstehen, Dak, das hat mit dem verstorbenen König de’Sahr zu tun.“, fing der Halbwolf dann langsam an.
 

„König Nebukhat wurde ermordet.“, erklärte Shan weiter, „Von Agenten des Sonnenkönigs.“ Dakkas verzog den Mund. Molokosh und Nostradamus waren also nicht die ersten de’Sahrs auf der schwarzen Liste des Engelherrschers. „Ein Drachenherrscher – egal, ob Herr einer Familie, eines Adelshauses oder eines Klans – legt normalerweise den Nachfolger im Falle seines Todes fest.“, fuhr Shan fort. „Einzige Ausnahme ist der Drachenkaiser, der die Zustimmung und Unterstützung der meisten Königsfamilien braucht, um sich durchsetzen zu können.“
 

„König Nebukhat hatte keinen offiziellen Thronfolger, als er ermordet wurde.“, machte Daniel weiter. „Nach Tradition würde damit der älteste Nachfahr den Titel und die Verantwortungen übernehmen.“ Der Heiler trat von einem Bein auf das andere, das versuchte Essen hinter ihm längst vergessen. „Allerdings hatte König Nebukhat kurz vor seiner Ermordung mit verschiedenen adeligen Ursha’ba gesprochen und in den Gesprächen verlauten lassen, er wolle eigentlich seinen jüngsten Sohn, Molokosh-lana, als Erben einsetzen.“
 

Also war Molokosh der jüngere der beiden Brüder. Interessant. Jetzt verstand Dakkas auch, worauf das Gespräch hinaus lief.

„Der eine Teil eures Klans ist für den älteren Bruder, weil es die Tradition so will. Der andere Teil meint, Molokosh wäre der rechtmäßige Erbe, auch wenn der verstorbene König keine Zeit mehr hatte, das offiziell zu machen.“ Mit einem Blick auf Sar’Shan fügte er schnell an: „Mal abgesehen von denjenigen, die einen wirklichen Favoriten haben.“
 

Shan und Daniel nickten und Jared seufzte. „Und das ist wieder ein Beispiel für die verworrene Politik der Drachen.“, kommentierte der Halbwolf. Sein drakonischer Freund lächelte ihn humorlos an und eine Stimme aus der Richtung der Tür fragte: „Was ist ein Beispiel dafür?“
 

Alle Anwesenden drehten sich zur Tür und sahen den gerade wieder gekommenen Molokosh an.

„Die ziemlich wiedersinnige Geschichte darüber, ob du jetzt König werden solltest oder nicht.“, fasste Dakkas das Gespräch kurz und prägnant zusammen. Molokosh verharrte an Ort und Stelle.

„Ja, man hat mir erklärt, mit wem ich die vergangenen Wochen unterwegs war. Es wäre nett gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass die komische Elfe uns nicht auf den Fersen ist, weil sie irgendeinen drakonischen Diplomaten ausschalten soll, sondern weil sie mögliche Anwärter auf den Thron der Ursha’ba erledigen soll. Das hätte zumindest ihre Hartnäckigkeit ganz gut erklärt.“

Dakkas sah Molokosh während dieser kleinen Ansprache an und schmunzelte dann. „Obwohl ich das ganze ziemlich neben der Sache finde. Ihr und euer Klan helft euch da selbst garantiert nicht. Solange euer Klan in sich zerstritten ist, werdet ihr die Engel nie aus eurem Heimatland rauskriegen.“
 

Nicht, dass wirklich welche da wären. Kaum ein Engel war so verrückt und wollte da wohnen. Aber Tribut war Tribut und eine offizielle Provinz des Engelsreiches war eine offizielle Provinz.

Molokoshs plötzlich aufgekommene Wut schien zu verfliegen. Der Drache schloss die Tür hinter sich und lächelte. „Ich hätte auf Daniel hören sollen, als er gesagt hat du wärst zu klug, um dich lange hinters Licht zu führen.“

„Hat er das?“ Dakkas sah Daniel grinsend an. „Danke.“ Der Heiler grummelte verlegen etwas und widmete sich wieder dem Essen.
 

„Dann weißt du jetzt also, warum wir Selena auf gar keinen Fall in die Fänge laufen dürfen.“ Molokosh setzte sich zu den anderen.

„Ja. Aber ich verstehe nicht mehr so wirklich, warum du zugesagt hast mit mir nach Tirin zu kommen. Wirst du nicht in deiner Heimat erwartet oder gebraucht?“
 

„Das ist eine sehr gute Frage.“, stimmte Sar’Shan zu. „Eine, die Jared und ich uns auch schon länger stellen. Unser kleiner grünäugiger Freund hier sagt etwas, und du springst, Molokosh. Du musst zugeben, das ist etwas ungewöhnlich.“
 

Dakkas fiel erst jetzt wirklich auf, wie ungewöhnlich das war. Vielleicht konnte er auch jetzt erst klar genug denken, um die Situation zu erfassen. Je mehr er über sich selbst erfuhr, desto klarer sah er seine Umgebung und die Geschehnisse darin.
 

Drachen waren hierarchische Wesen. Sie hatten klare Ordnungsstrukturen. Es gab Personen, die Befehle gaben und es gab welche, die diesen Befehlen folgten. Molokosh, als Prinz, war eine Autoritätsperson. Man befolgte seine Befehle, man gab ihm keine. Doch Dakkas hatte praktisch genau das gemacht, als er verlangt hatte, nach Tirin zu reisen.

Und der Schwarzhaarige hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Nein, er hatte Dakkas Wunsch sofort in die Tat umgesetzt.
 

Er hatte auch auf Dakkas gehört, als dieser die Abkürzung nach Sellentin vorgeschlagen hatte. Und jetzt wo er drüber nachdachte… Daniel hatte Ärger gekriegt für ihre kleine Exkursion ins brennende Sellentin. Den Halbwolf hatte Molokosh später, wie Dakkas erfahren hatte, auch kurz einer Predigt unterzogen. Nostradamus hatte keinen Ärger bekommen, aber das lag wohl an seinem damaligen Zustand und der Tatsache, dass er Molokoshs Bruder war.
 

Dakkas aber hatte nicht ein böses Wort von der Seite des Schwarzhaarigen gehört. Und jetzt wo er drüber nachdachte, auch noch nie einen richtigen Befehl. Das war doch ein Kontrast zu Molokoshs sonst freundlichem, aber auch eher kühlem Verhalten.

Und warum nur war ihm das vorher nicht aufgefallen? Für einen adligen Drachen verhielt sich Molokosh geradezu gönnerisch ihm gegenüber.
 

Molokosh schien diese Frage nicht antworten zu wollen. Er blickte keinem von ihnen in die Augen und behielt stoisch seine Ruhe.

„Gut. Du musst uns ja nichts sagen.“, erklärte Jared mit einem Grinsen. „Aber dein Jadejunge hat eine Kursänderung im Sinn und dein Bruder hat bereits zugestimmt.“
 

Jadejunge? Dakkas wusste ja, dass Jared gerne Spitznamen vergab, aber Jadejunge erschien ihm doch etwas abwegig… Obwohl Jade ja für die Drachen etwas besonderes zu bedeuten schien. Zumindest maßen sie seinen Augen viel Aufmerksamkeit bei, nur weil sie grün wie Jade waren. Und er vergas doch immer wieder, Daniel oder Jared danach zu fragen. Vielleicht weil ihm insgeheim auch peinlich war, dass er so viel vergessen hatte.
 

„Kursänderung?“, fragte Molokosh verwirrt.

„Wir werden in Kleingaren einen Dogen kontaktieren.“, sprach Nostradamus wieder. „Er ist ein Spitzel für Dakkas und wird uns mit dem Teleporter im Dogen-Gildenhaus nach Tirin bringen.“

„Spitzel?!“ Molokoshs Gesicht ähnelte stark dem von Sar’Shan vor wenigen Augenblicken.

„Nicht schon wieder…“, murmelte indessen der Kleinste ihrer Gruppe. „Ich habe mich an jemanden in Kleingaren erinnert, der mir wohl als… Informant oder sonst was hilft. Ich habe aber keine Ahnung, warum ich so jemanden habe oder brauche. Aber so können wir schnell und relativ sicher nach Tirin kommen. Die Elfe wird niemals daran denken, dass wir so reisen könnten.“
 

Wie genau er den anderen seine Bekannte, Rita die Werwölfin erklären sollte, war ihm ziemlich unklar, aber darüber würde er sich Gedanken machen, wenn es so weit war.

„Und dieser… Informant ist ein Doge?“, wollte Molokosh wissen.

Nostradamus nickte. „Aber wir brauchen uns keine Sorgen machen.“ Die Klarheit wich langsam aus den Augen des Sehers und seine Stimme verlor sich langsam. „Er ist vertrauenswürdig…“
 

Molokosh sah zuerst seinen Bruder und dann Dakkas eine lange Zeit lang an. Dann nickte er. „Gut. Dann reden wir mit deinem Dogen. Aber wir müssen darauf achten, dass man uns nicht mit ihm zusammen sieht. Ein Doge und ein Haufen Wildblütler sieht man nicht oft miteinander.“
 

Sar’Shan und Jared wechselten einen kurzen Blick miteinander und Daniel sah von seinem Herrn zu Dakkas und wieder zurück.

Dakkas nahm das Ganze ohne Kommentar zu Kenntnis. Aber im Stillen sagte er sich, dass er schon noch herauskriegen würde, was es mit Molokoshs Verhalten und den merkwürdigen Blicken der anderen auf sich hatte.
 

~*~
 

Ihre Abreise nach Kleingaren musste verschoben werden. Molokosh war so lange weg gewesen, weil er die Straße durch den Wald entlang gegangen war und überprüft hatte. Durch den Wald verlief nicht nur der kleine Bach in der Nähe ihrer Hütte, sondern auch ein größerer Fluss. Die Straße führte über diesen hinweg.
 

Die Holzbrücke hatte dem Unwetter standgehalten und war auch nicht von umgefallenen Bäumen oder ähnlichem beschädigt worden. Aber sie war nicht sonderlich hoch gebaut worden und alt, da diese Waldstraße kein viel bereister Weg war.

Durch das Unwetter führte der Fluss mehr Wasser mit sich als gewöhnlich und schwappte immer wieder auf die teilweise morsche Holzbrücke, hatte Molokosh erzählt. Sie würden sicherheitshalber warten müssen, bis der Fluss sich wieder etwas beruhigt hatte. Erst dann wollte der Drachenprinz es riskieren, dort drüber zu laufen. Schwimmen stand außer Frage, sagte er. Dazu war der Fluss zu gefährlich.
 

„Der Fluss hat seinen Ursprung weiter nördlich in den Dern Bergen.“, hatte Jared hinzu gefügt. „Wenn da oben irgendetwas passiert, um mehr Schnee schmelzen zu lassen als sonst oder sonst was los ist, hat der Fluss wahrscheinlich auch Hochwasser.“
 

Dakkas konnte sich zwar nicht vorstellen, was in den Dern Bergen passiert sein sollte, sagte das aber nicht laut. Und Schneeschmelze… Dazu müsste es Frühjahr sein, momentan war aber Spätsommer. Eher schon Anfang Herbst, jetzt wo er darüber nachdachte.
 

Stirnrunzelnd saß Dakkas am Fenster der kleinen Hütte und starrte nach draußen. Es war noch erstaunlich warm und mild dafür, dass das Jahr sich bereits wieder dem Winter neigte. Eigentlich hätte es schon längst etwas kühler sein sollen. Er war schließlich schon etliche Wochen mit den Drachen unterwegs und sie reisten gen Norden.
 

„Dakkas!“ Der Grünäugige sah auf, als er Shan nach ihm rufen hörte. Vor gut einer Stunde hatten sie das gegessen, was Daniel zubereitet hatte und er war noch etwas müde vom Verdauen. Ein extravaganter Koch war Daniel nicht, aber erstaunlicherweise waren seine Mahlzeiten immer essbar.
 

„Was ist, Shan?“

Als Antwort reichte der Krieger ihm den Griff eines kurzen Schwertes. „Jared meint, der Fluss braucht mindestens noch ein, zwei Tage, bevor wir gefahrlos über die alte Brücke oder schwimmen können. Da können wir die Zeit auch sinnvoll benutzen.“

Stirnrunzelnd nahm Dakkas den Schwertgriff in seine Hand und umklammerte ihn vorsichtig. Das Schwert war zwar kurz, aber trotzdem um einiges schwerer als der schlanke Dolch, den er immer mit sich führte.

„Und sinnvoll nutzen heißt…?“ Er hatte zwar schon eine gute Ahnung, wollte sie aber von Shan bestätigt haben.
 

„Wir werden uns mal anschauen, was du so kannst. Daniel hat erzählt, du hättest in Kish-Laro einen Engelwächter zu Boden gebracht und beim Angriff von Selenas Leuten hast du gezaubert. Du erinnerst dich also vielleicht nicht mehr, aber du hast wohl mal gelernt, zu kämpfen. Ich werde mir mal anschauen, was du mit einem Schwert hinkriegst und Jared wir schauen, ob er deine Erinnerungen an Magie wieder auffrischen kann.“
 

Das machte wirklich Sinn. Dakkas nickte und schleppte sich samt Schwert hinaus aus der Hütte und zum nahen Bach, wo Jared unbekümmert im noch nassem Gras lag. Eigentlich hätte man ihn von Anfang trainieren müssen, dachte Dakkas zu sich. Er hätte das jedenfalls getan, wenn er an Molokoshs Stelle gewesen wäre.
 

Sar’Shan zeigte ihm zuerst, wie er das Schwert zu halten hatte und in welche Position er seine Füße bringen sollte. Dann stießen sie schon auf das erste Problem: Selbst das kleinste von Shans Schwertern war noch zu groß und zu schwer für den bedeutend kleineren Dakkas. Der Grünäugige konnte es gerade ebenso in eine verteidigende Stellung bringen, aber auch das nur mit beiden Händen und viel Aufwand. Jeder Hieb mit dem Schwert würde praktisch nutzlos sein, da er keine Kraft übrig hatte, mit der er einen Feind hätte verletzen können.
 

„Wie hast du den Engel in Kish-Laro zu Boden gekriegt?“, fragte Shan schließlich, als schmerzhaft klar war, dass ihre Gruppe kein Schwert hatte, dass Dakkas würde benutzen können.
 

Der Grünäugige erinnerte sich. Damals hatte er eher instinktiv als bewusst gehandelt, er hatte nur verhindern wollen, dass der Schwertknauf auf seinem Schädel landete.

„Ich bin ihm ausgewichen und hab ihm die Beine weggerissen.“, meinte er dann zögerlich. „Aber das war Instinkt. Ich habe nicht bewusst drüber nachgedacht, was ich tue.“
 

Der Krieger lehnte seine Schwerter an einen nahen Baum und runzelte seine Stirn. „Instinktiv, obwohl du Amnesie hattest?“ Dakkas nickte.

Der Krieger grummelte etwas zu sich selbst und sprach dann laut weiter: „Wenn jemand instinktiv in einem Kampf reagieren kann, hat er viel Übung hinter sich. Irgendwann sind die Attacken und Kontermethoden so tief im Geist verankert, dass der Körper automatisch handelt. An irgendeinem Punkt in deinem Leben musst du also Nahkampftraining gehabt haben. Bei deiner Größe und Stärke hast du wahrscheinlich einen schnellen, flexiblen Kampfstil trainiert.“

Der Drachenkrieger lächelte humorlos. „Also etwas, wovon ich nicht viel Ahnung habe. Alle meine Kampfstile beruhen auf meiner Körperstärke und Ausdauer.“
 

„Nach dem Motto: Der letzte, der noch steht hat gewonnen?“, schmunzelte Dakkas. Shan nickte lächelnd und fuhr dann fort: „In einem Kampf würdest du wahrscheinlich wieder instinktiv handeln. Das Gelernte ist ja noch da. Wir könnten versuchen, dich zum Handeln zu zwingen, indem ich dich angreife. Vielleicht erkenne ich den Kampfstil ja doch von irgendwo her.“
 

Jared, der die beiden bis jetzt nur beobachtet hatte, meldete sich an dieser Stelle. „Ist das klug? Wenn Dak sich nicht dran erinnert stampfst du ihn doch nieder.“ Auf den bösen Blick des Grünäugigen hin fügte der Halbwolf besänftigend hinzu: „Ich meine, Shan ist ein gutes Stück größer als du, Dak. Wenn er ernst macht – und das wird er müssen, wenn er deinen Instinkt einschalten soll – dann haut er einmal zu und du gehst zu Boden.“
 

Da hatte der Werwolf allerdings recht. Auch ohne jegliche Waffen war der Drache Dakkas doch haushoch überlegen. „Was schlägst du dann vor?“, wollte der Schwarzhaarige von Jared wissen.

„Du hast dich an deinen Dogen erinnert, oder?“

Zögerlich nickte Dakkas. Streng genommen war das zwar nicht der Fall, aber die Wahrheit würden sie ihm nie glauben.

„Dann versuch, dich an Kampftechniken zu erinnern und greif Shan an. Auch wenn er nur still dasteht wird er wahrscheinlich noch alles abwehren können, an dass du dich erinnerst.“ Jared grinste und zeigte dabei seine Zähne. „Nichts gegen dich, aber Shan kann wahrscheinlich etwas mehr als du.“
 

Dakkas wiedersprach ihm nicht – das war sehr wahrscheinlich richtig. Und da Sar’Shan sein Einverständnis bekundete, hatten sie auch kein Problem mehr. Abgesehen von Dakkas löchrigem Gedächtnis.
 

Einige Zeit lang standen der Drache und der Schwarzhaarige sich nur still gegenüber, während Dakkas sein Gedächtnis nach allem durchforstete, dass man ‚Kampftechnik’ nennen konnte. Er erinnerte sich an einige Bücher über alte, magische Waffen, die er mal gelesen hatte und, dass er mal an einem Trainingsfort der Engel vorbei gekommen war. Beides brachte ihn nicht wirklich weiter.
 

Überhaupt, was sollte er schon gegen einen Gegner wie Sar’Shan ausrichten? Er ging dem Drachen ja gerade mal bis zur Brust. Ein Angriff auf den Kopf war damit ausgeschlossen.

Wenn er irgendeine Chance haben wollte, musste er den Hünen zuerst zu Fall bringen, damit er auch an alle wichtigen Körperteile heran kam. Ansonsten waren nur drei tödliche Stellen in seiner Reichweite.
 

Ein Dolchstoß in den Bauch würde auch einen Drachen erledigen. Es würde dauern, aber Bauchwunden hinterließen viel Schaden und führten unbehandelt schnell zum Tod durch Verbluten. Ebenso gab es eine große Blutader im Oberschenkel, wenn man die traf verblutete das Opfer innerhalb von Minuten. Als drittes könnte er natürlich Shans ‚bestes Stück’ anvisieren… aber das würde Jared ihm sicherlich übel nehmen.
 

Dakkas durchging ein Ruck und er zuckte sichtbar. „Was ist?“, fragte Jared auch schon besorgt. Der etwas bleichgewordene Dakkas schluckte. Zusammen mit seinen Erinnerungs-Träumen der vergangenen Nacht und dieser kühlen Auflistung von tödlichen Stellen hatte er ein sehr bestimmtes Bild von seinem Kampfstil bekommen. Zusammen mit einigen kurzen, detaillierten Bildern von dem, was wahrscheinlich frühere Opfer waren.

Entweder das, oder er hatte früher einige sehr komische Orte aufgesucht. Obwohl, da Beauron sein Bekannter war, war letzteres wohl eher der Fall.
 

„Ich glaub mir wird schlecht.“

Besorgt sprang Jared auf und führte den fast schon weißen und zittrigen Schwarzhaarigen zum Bach, wo er sich vorsichtig das Gesicht mit Wasser benetzte.
 

Er ignorierte die nervösen Fragen seiner beiden Reisegefährten und Freunde. Irgendwann schließlich schüttelte er nur seinen Kopf. „Ich weiß jetzt zwei Dinge. Erstens ist direkter Angriff so absolut nicht mein Ding und zweitens habe ich weitaus mehr Leichen gesehen als ich möchte.“
 

Seine beiden Freunde schwiegen und wechselten einen besorgten Blick. Sie fragten nicht weiter nach seinem Leichen Kommentar, was Dakkas freute. Als Grauzonler kannten sie wahrscheinlich genügend Leute, die blutige Taten hatten mit ansehen müssen, ohne es zu wollen.
 

„Direkter Angriff?“, hakte Sar’Shan dann irgendwann nach.

„Ich glaube, meine bevorzugte Kampfmethode war ‚Lock sie an, versteck dich und bring sie um bevor sie zurück hauen können’.“

Die Art, wie er das sagte ließ Dakkas vermuten, dass er dieses Sätzchen nicht zum ersten Mal aufgesagt hatte. Wie von weit her konnte er sich selbst sprechen hören.
 

--„Ich handele nach dem Motto ‚TTV’. ‚Täuschen, Tarnen und Verpissen’.“

„Das hört sich aber nicht sehr nett an.“

„Es soll nicht nett sein, sondern effektiv.“--
 

Neben ihm spannte Shan sich an und grollte kaum merklich. „Das sollten wir Molokosh und Daniel vielleicht nicht erzählen.“, meinte der Drache schließlich. Fragend sah Dakkas auf.

„Die meisten Drachen haben etwas gegen Angriffe aus dem Hinterhalt.“, erklärte Jared schnell. „Also, damit ist kein Überraschungsangriff gemeint, sondern das Auflauern auf eine Person; Jemanden umzubringen ohne ihn überhaupt erkennen zu lassen, wer ihn getötet hat.“

„Es verstößt gegen unseren Ehrenkodex.“, bestätigte Shan die Worte seines Freundes. Fügte aber hinzu: „Aber von mir brauchst du keine Kritik zu erwarten. Ich weiß, dass nicht jeder die nötige Kraft oder Fähigkeit hat, um einen Feind im offenen Kampf zu bezwingen.“ Der Drache lächelte sanft. „Hätte mir eigentlich klar sein sollen.“
 

Dakkas sah hinab in den langsam dahin fließenden Bach und schluckte schwer. Etwas sagte ihm, dass er eigentlich hätte wissen müssen, was gegen den Ehrenkodex der Drachen verstößt. Die Drachen richteten ihr ganzes Leben nach ihrer Ehre und somit diesem Kodex aus.
 

Molokosh hatte ihn schon jemanden hinterrücks ermorden sehen. Die Drakharuda damals bei Halmsdorf und ihr Begleiter. Und der schwarzhaarige Drache hatte den anderen nicht erzählt, wie genau Dakkas es geschafft hatte, die weitaus stärkere Frau zu besiegen. Damals hatte Dakkas sich darüber nur ein bisschen gewundert, aber jetzt…
 

Der Drache hatte ihn gedeckt und verhindert, dass die anderen Drachen ihrer Gruppe ihn als ‚unehrenhaft’ ansahen. Auch wenn das bei Sar’Shan wohl unnütz gewesen war.

Molokosh hatte seine ‚Ehre’ retten wollen, obwohl diese nach drakonischem Brauch beschmutzt war. Eine große Tat für einen Drachen. Und vollkommen unverständlich.
 

„Und Molokosh würde niemals über den Kodex hinweg sehen?“ Dakkas bekam erst mit, dass er diese Frage gestellt hatte, als Jared und Sar’Shan anfingen zu lachen.

„Nichts für ungut, Dak. Koshi hat dir ja geholfen, aber er ist ein…“ Jared schien nach einem passenden Wort zu suchen. Shan schüttelte darüber nur den Kopf. „Er ist ein verklemmter, prüder Drache der nur auf seinen Regeln herum reitet. Auch wenn die manchmal nicht sehr nützlich oder sinnvoll sind.“
 

Dakkas blickte wieder hinunter in den Bach. Vielleicht sprachen sie ja von zwei verschiedenen Molokoshs. Obwohl, das bezweifelte er doch eigentlich stark. Nein, Jared und Shan waren überzeugt von dem, was sie da sagten. Dann war die Frage also, warum Molokosh sich Dakkas gegenüber so anders benahm.
 

~*~
 

Jared hatte große Hoffnung darauf, dass Dakkas sich an seine Zauberfähigkeiten erinnern würde. Der Halbwolf schien davon überzeugt zu sein, dass er dem Grünäugigen helfen könnte, wenigstens ein wenig Kontrolle über seine Zauberkraft zurück zu kriegen.
 

„Als aller erstes,“ erklärte der Zauberer, „müssen wir rauskriegen, was du bist.“

Dakkas lächelte grimmig. „Das versuche ich jetzt seit etlichen Wochen.“

Der Werwolf schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ich meine, wie du zaubern kannst. Komm schon, du erinnerst dich an die komischsten Dinge. Du musst dich doch daran erinnern wie man zaubert, oder?“
 

Dakkas runzelte seine Stirn. Ja, da war doch etwas gewesen…

… Es gab Zauberer, Hexer und Magier. Und der Unterschied zwischen ihnen lag nicht nur in ihrem Namen.
 

Jared war ein Zauberer. Dakkas musterte den wie immer fröhlich aussehenden Halbwolf. Ein Zauberer benutzte die Magie um sich herum um zu zaubern. Er sog sie sozusagen in sich hinein, gab ihr ein Ziel und ließ sie wieder frei.

Der Halbwolf mochte augenscheinlich die Natur, obwohl er Städte nicht hasste. Er schien daran gewöhnt zu sein, das beste aus seiner Lage und seiner Umgebung zu machen. Viele Zauberer waren so. Schon beim Zaubern gewöhnten sie sich daran, die Kräfte ihrer Umgebung zu erkennen und zu nutzen.
 

„Ich bin kein Zauberer.“, sprudelte es aus Dakkas heraus. Jared nickte nur und deutete ihm an, weiter nachzudenken. Das war schwer, weil wieder diese dämlichen Kopfschmerzen sich in seinem Kopf breit machten. Es pochte hinter seiner Schläfe, aber Dakkas ignorierte das.
 

Hexer. Hexer und Hexen konnten nicht die Magie ihrer Umgebung benutzen. Stattdessen konnten sie eine Art Magievorrat in sich selbst anzapfen. Sie waren oft ungestüm, da ihre Kraft von nichts außer ihnen selbst abhing. Und Einzelgänger. Strikt genommen brauchten sie keine Hilfe bei ihrem Handwerk.
 

Außerdem waren sie meist nervig. Dieser Gedanke ließ Dakkas grinsen. Ein Hexer war er also wahrscheinlich auch nicht, es sei denn, er nannte sich selber nervig. Dann blieb nur noch Magier übrig…
 

Der Grünäugige blinzelte und sah weg von Jareds erwartungsvollem Gesicht.

Magier konnten beides. Ihre innere Energie benutzen und die ihrer Umgebung. Allein das machte sie gefährlicher als Hexer und Zauberer. Und weitaus seltener. Es gab nur sehr wenige Wesen, egal von welchem Volk, die mit beiden Gaben geboren wurden.

Irgendwie konnte er nicht ganz glauben, dass er einer dieser mächtigen Magieanwender sein sollte.
 

„Dak?“

„Ich bin mir absolut sicher, dass ich weder ein Hexer noch ein Zauberer bin. Aber als Magier sehe ich mich auch nicht wirklich.“, murmelte der Grünäugige vorsichtig.

Sein Halbwolf-Freund runzelte seine Stirn. „Es wäre zumindest ein verdammt großer Zufall, wenn du einer wärst. Molokosh reist quer durchs Ödland, trifft einen armen, an Gedächtnisschwund leidenden jungen Mann, der sich dann zufälligerweise als Magier entpuppt… Unwahrscheinlich.“

Dakkas nickte bestätigend. „Und obwohl wir schon eine ganze Menge von komischen Dingen über mich wissen, wäre das einfach zu viel des Guten. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Absolut.“ Der Werwolf nickte. „Außerdem bleibt uns noch eine Möglichkeit.“
 

Dakkas zog eine Augenbraue hoch. „Und welche bitte? Es gibt nur die drei Arten von Zauberei.“

Jared seufzte und bekam einen komischen Gesichtsausdruck. „Nicht ganz. Deine Zauberkraft könnte dir auch von einem Gott geschenkt worden sein.“
 

Dakkas stockte.

Daran hatte er gar nicht. Jeder Gott war in der Lage, seinen Anhängern gewisse magische Kräfte zu gewähren.

„Ein Gott?! Ich weiß ja nicht mal, ob ich zu irgendeinem gebetet habe, geschweige denn, ob einer von ihnen mich so mochte, dass er mich…“ Dakkas brach ab und beendete diesen Satz nicht.

Jared nickte und sprach davon, dass sie das wohl nicht so schnell herausbekommen würden, es aber eine Möglichkeit wäre.
 

Den Rest von dem, was der Werwolf erzählte, hörte Dakkas nicht mehr.

Er erinnerte sich zwar nicht ans Beten, aber es gab einen Gott der ihn sehr zu mögen schien, ständig besuchte – und durch dessen ‚Hilfe’ er damals beim Überfall gezaubert hatte.
 

‚Seine’ magischen Fähigkeiten konnten sehr wohl von Beauron kommen und nichts mit ihm selbst zu tun haben.
 

~*~
 

„Morgen früh werden wir sicher über den Fluss können.“, verkündete Molokosh früh am nächsten Morgen. Seine Mitreisenden seufzten erleichtert auf. Je länger sie an einem Ort verharrten, desto nervöser wurden sie. Auch wenn sie Selena scheinbar abgehängt hatten, blieb die Bedrohung durch sie doch ständig im Hinterkopf.
 

Außerdem war es fürchterlich langweilig, in einer alten Hütte in einem Wald zu sitzen. Auch Jareds Kartenspiel brachte nicht sehr viel Vergnügen, zwei Karten fehlten und die Hälfte von ihnen war einmal so verzaubert worden, dass sie zufällig ihr Aussehen veränderten. Auf die Frage hin, warum er die Karten nicht weggeschmissen hätte, meinte Jared: „Sie waren mein erster Versuch an verwandelnder Magie. Da ist sentimentaler Wert dabei!“

Daniel tat kund, dass er es eher senil als sentimental finden würde und so wurde das Kartenspiel zur Bewahrung des Friedens wieder weggesteckt.
 

Dakkas saß wieder am Fenster und war in Gedanken versunken. Trotzdem sie nicht wussten, woher seine magischen Kräfte kamen, hatte Jared darauf bestanden zu üben. Schließlich, so der Werwolf, war es egal, warum er sie hatte. Wichtig war nur, dass er sie hatte.
 

Leider waren sie noch nicht sehr weit gekommen. Dakkas hatte sich schnell an die Theorie des Zauberns erinnert – die Gesten, die Zauberformeln, die Dinge, die man lieber sein lassen sollte…

Nur schien er nicht in der Lage, seinen Handbewegungen und magischen Worten irgendeine Wirkung einzuflößen.
 

Sar’Shan hatte schon scherzhaft gefragt, ob sein Freund aus Dakkas einen Magieanwender oder einen Straßenkünstler machen wollte. Das stumme oder mit halblauten Worten begleitete Herumgefuchtel erinnerte den Krieger an Pantomime und andere Künstler, die er bei seinen Reisen gesehen hatte.

Verständlicherweise verlor Dakkas so langsam die Lust am Üben; gleichzeitig wollte er es aber jetzt erst recht. Deswegen starrte er auch jetzt mal wieder missmutig aus diesem kleinen Fenster und ging erneut die Theorie hinter dem ganzen durch.
 

Jared war vor kurzem mit Sar’Shan an der Hand in den Wald verschwunden, mit den Worten, dass sie ‚etwas weiter weg’ sein würden. Man musste kein Genie sein um sich denken zu können, was der Halbwolf mit seinem Freund vor hatte.

Molokosh hatte nur seine Augenbrauen hochgezogen, sich aufs Sofa gesetzt und angefangen ihre Reisekarte zu studieren. Daniel war ebenfalls in den Wald verschwunden, jedoch in andere Richtung als Jared und Shan, um zu sehen , ob er irgendwelche brauchbaren Heilkräuter finden konnte.
 

Das ließ Dakkas alleine mit den beiden adligen Drachen in der Hütte. Da keiner von beiden im Moment reden wollte, war das eine stille Angelegenheit. Außerdem wurde es langsam öde, immer das gleiche durch das Fenster zu sehen. „Ich gehe zum Bach.“, verkündete Dakkas und verließ daher die Hütte. Wenn er schon etwas anstarren musste, konnte er wenigstens das Angestarrte hin und wieder wechseln.
 

Der Bach war schnell erreicht. Da er Jared und Shan weder hören noch sehen konnte, mussten sie wirklich weiter weg von der Hütte sein.

Seufzend kniete er sich an den Bach und fuhr mit einem Finger durch das kühle Wasser. Sein Leben konnte auch nicht einfach sein. Nein, gerade er musste Gedächtnisschwund bekommen, ausgerechnet an die Drachen geraten, die von Meuchelmördern quer durchs Land gejagt wurden und zu alledem auch noch mehr Götter in sich interessiert haben als gut für eine Person war.
 

Das Schlimme war, er war sich ziemlich sicher, dass sein Leben vor der Amnesie genauso kompliziert gewesen war. Wenn nicht sogar noch komplizierter.
 

Ein Knacken ertönte hinter ihm und wie von selbst spannte sein gesamter Körper sich an. Er verharrte in seiner knienden Position und lauschte in den Wald hinein.

Neben den normalen Lauten eines Waldes vernahm er auch Rascheln, das Knacken von Zweigen und das Geräusch von schweren, gemächlichen Schritten. Sie kamen aus der Richtung der Hütte, was einen Großteil der Anspannung wieder aus Dakkas Körper entfliehen ließ.
 

Ein Blick ins Gebüsch zeigte dann auch Nostradamus, der sich langsamen Schrittes auf den Bach und den Grünäugigen hinzu bewegte. Erst damit entspannte Dakkas sich wieder gänzlich. Der Seher füllte seinen Wasserschlauch am Fluss und ging dann neben dem Grünäugigen in einen Schneidersitz.
 

Die Augen des Grauhaarigen waren klar. Dakkas setzte sich ebenfalls und wartete, bis Nostradamus endlich sprach. „Jared hatte noch keinen Erfolg, oder?“

Fragend sah Dakkas den Drachen an. „Bei der Magie, meine ich.“, fügte Nostradamus hinzu.

Dakkas nickte bestätigend. „Stimmt.“ Er lächelte humorlos. „Obwohl Shan der Meinung ist, dass ich ein guter Straßenkomödiant wäre.“
 

Nostradamus schnaubte amüsiert und schüttelte dann seinen Kopf. „Vielleicht hat er nur den falschen Ansatz. Es gibt unzählige Arten, wie man Magie erlernen kann.“

„Ich erinnere mich an die Theorie.“, gab Dakkas als Antwort. Ein wenig Pikiertheit schwang in seiner Stimme mit, schließlich war er nicht dumm und Nostradamus erzählte nichts Neues.
 

Der Seher grinste. „So meinte ich das nicht. Jared sagte, dein Problem liegt beim Nutzen der magischen Energien.“ Dakkas nickte. „Dann nutzt du sie vielleicht falsch.“

Der Schwarzhaarige rollte mit den Augen. „Ich sage die Formel, vollführe die dazu gehörige Geste und konzentriere mich auf das Ziel, dass ich der Magie geben will. Wie sonst soll man zaubern?“

„So wie ich.“, war Nostradamus mysteriöse Antwort.
 

Dakkas blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

„Ich kann nicht alles in deiner Vergangenheit sehen, im Gegenteil. Du hast viel Zeit bei starken, mächtigen Wesen verbracht. Etwas an dir… verschwimmt immer wieder, als wenn ich eine Brille bräuchte.“ Der Drache seufzte. „Aber ich habe mir alles noch einmal angeschaut, dass ich sehen kann. Du hast früher gezaubert, sehr gut sogar. Wirkungsvoll. Fast beeindruckend.“ Er lächelte.
 

Dakkas Herz pochte und freudige Erwartung schoss durch seine Blutbahn. Nostradamus Komplimente ließen ihn fast rot werden. Es war schmeichelnd, wie viel Vertrauen der Drache in seine magischen Fähigkeiten setzte. Und aufregend, vielleicht war ja etwas dran an dem, was er sagte.
 

„Na schön. Was sagt das ganze über meine Art zu zaubern aus?“

„Du zauberst zu effektiv, um der Magie einfach deinen Willen aufzuzwingen. So funktioniert das nicht.“

Wieder war Dakkas verwirrt und sah den Seher nur fragend an. Dieser seufzte und rieb sich die Schläfe.

„Pass auf. Vergleichen wir die Magie mal mit einem langsam dahin fließendem Fluss, ja?“

Dakkas nickte.

„Dein Feld liegt ganz in der Nähe und muss bewässert werden. Was tust du?“

Dakkas runzelte seine Stirn. „Ich trage Wasser vom Fluss zum Feld.“

Nostradamus schmunzelte. „Ja, das würde gehen. Das wäre die Methode des Zauberlehrlings: Wir haben magische Energie und bringen diese mühselig und Stückchen für Stückchen dazu, das zu tun was wir wollen. Aber es gibt noch bessere Methoden.“
 

Dakkas legte seinen Kopf schief und dachte angestrengt nach. Das ganze Gespräch erinnerte ihn an etwas; Unterricht. Nostradamus versuchte ehrlich, ihm etwas zu lehren.

„Man könnte eine Wasserleitung vom Fluss zum Feld bauen und so die Bewässerung regeln.“, meinte er dann zögerlich.

Nostradamus lächelte sanft. „Das macht der trainierte Zauberer, Magier oder Hexer. Er leitet die Magie in die Bahnen, die er haben will. Aber jetzt denk drüber nach, was könnte noch effektiver sein und noch bessere Ergebnisse bringen?“
 

Jetzt war der Schwarzhaarige überfragt. Noch effektiver als das… Da konnte er sich wirklich nichts mehr vorstellen. Achselzuckend sah er den Seher ihm gegenüber an. Der grinste. „Indem man den Fluss verlegt.“

Dakkas runzelte seine Stirn. Bezogen auf den Fluss als Metapher für Magie würde das bedeuten… „Die magische Energie selbst verändern?!“

Der Seher nickte zufrieden. „Anstatt einen Teil von ihr zu borgen, lenkt man sie einfach komplett um. Oder… gibt ihr einen Schubs-“

„- in die richtige Richtung.“, schloss Dakkas den Satz ab und blinzelte dann. „Warum kommt mir das so bekannt vor?“
 

Nostradamus grinste verstohlen. „Wahrscheinlich, weil das dein Einstiegsseminar für höhere beeinflussende Magie war. Oder zumindest ein Teil davon.“ Sprachlos starrte Dakkas den Seher an. Der meinte nur mit einem Zucken: „Ich dachte mir, wenn du Studenten das erklären konntest, musst du’s selbst auch verstehen.“

„Ich bin ein Professor.“, formulierte Dakkas langsam und vorsichtig.

„Du warst einer. Gastprofessor. Ziemlich beliebt sogar.“

„Dann sollte man meinen, dass ich beherrsche was ich unterrichte, hu?“
 

Nostradamus lächelte. „Sollte man.“

„Dummerweise erinnere ich mich nicht mehr daran, wie man schubst.“, murrte der Grünäugige frustriert und blickte wieder hinab in den Bach.

Der Seher schwieg und als Dakkas kurz zu ihm sah, schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Nach einigen Augenblicken voller Stille sprach er wieder: „Also gut. Wir probieren jetzt etwas.“

„Probieren?“

Nostradamus grinste. „Die letzte Zuflucht des Ungebildeten oder Verzweifelten: Solange versuchen, bis etwas klappt.“
 

Dakkas schmunzelte und schüttelte amüsiert seinen Kopf. „Na dann los.“

„Schau einfach in den Bach und hör mir zu.“, orderte der Seher.

Dakkas tat wie ihm geheißen und spitzte seine Ohren.
 

„Bevor du die Magie schubsen kannst, musst du sie ja erst mal erkennen. Magie ist überall in Kvi’sta, auch wenn die meisten sie nicht benutzen können oder ihrer gewahr sind. Aber da ist sie trotzdem.

Sie durchflutet alles, bis hin zum letzten Kieselstein in diesem Bach. Sie hört nie und nirgends auf und fängt auch nirgends an.“
 

Die Stimme des Drachen wurde immer tiefer und sanfter und hatte eine fesselnde Wirkung auf den Grünäugigen. Fast war ihm so, als könne er die bunten Stränge der Magie wirklich sehen.
 

„An einigen Orten der Welt sammelt sie sich, so dass selbst normale Wesen sie spüren können. Diese Orte zittern nur geradezu vor Magie. Du kennst das Gefühl, das Zittern. Es kribbelt auf deiner Haut oder legt sich wie ein Schleier, ein Tuch über dich drüber.“
 

Ja, Dakkas kannte diesen Schleier, tief in sich selbst. Der Bach verschwamm vor seinen Augen.
 

„Auch jetzt umgibt uns Magie und taucht unsere Umgebung in ein sanftes Leuchten, wenn man nur seine Augen öffnet und genau hinsieht. Du kannst das, da bin ich mir sicher. Denk nicht drüber nach, spür einfach die magischen Stränge, die auch durch dich hindurch laufen. Sie sind stark, sie sind mächtig. Sie verbinden dich mit deiner Umgebung, mit diesem Bach.“
 

So viele Farben. Die Welt schwamm in ihnen, eine bunte Ansammlung von durcheinander gewürfeltem Leuchten und Glitzern. Es war wie ein zweiter Strom im Bach; ein gemächlich aber stet dahin fließendes Farbenspiel.
 

Fasziniert tunkte Dakkas seine eisblau leuchtende und von Schatten umgebende Hand in das farbig leuchtende Wasser und sah zu, wie die Tropfen auf seiner Haut funkelten, glitzerten und die Farben sich langsam mit denen seiner Hand vermischten. Aus dem bunten Wirrwarr traten einzelne Blau-, Rot- und Gelb-Töne hervor und hoben sich so von der Umgebung ab.
 

Nostradamus Stimme hörte er nicht mehr. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt der bunten, sich bewegenden Welt um ihn herum.

Plötzlich trat eine rötlich glühende Hand in sein Sichtfeld und das Farbenfunkeln der Tropfen veränderte sich erneut, als die Hand die seine umschloss.

Verwundert starrend drehte Dakkas seinen Kopf und blickte die rötlich glitzernde Gestalt neben ihm an. Nostradamus.
 

Sein Körper glühte von innen heraus, die Brust am stärksten. Aber da war noch mehr als nur das roten Glühen. Nostradamus war umgeben von dünnen, schimmernden Fäden in dunklen Grün- und Blau-Tönen. Und seine Augen… sie schienen von innen heraus golden zu leuchten.
 

Nostradamus Mund bewegte sich, was ein grotesk-faszinierendes Bild voller Farbexplosionen und Wellen entstehen ließ, aber Dakkas hörte kein Wort von dem, was er sagte. Dann steigerte sich auf einmal das Leuchten in den Augen des Sehers und plötzlich war es so, als hätte der Drache einen zweiten, goldenen Körper bekommen, der unmittelbar neben seinem alten stand.
 

Der goldene Nostradamus runzelte seine Stirn und berührte Dakkas bläulich-schimmernde, von Schatten umspielte Hand. Augenblicklich ging ein Zucken durch den Schwarzhaarigen und die Schatten um seine Hand verdichteten sich, so dass das eisblaue Leuchten fast ganz erstarb. Der goldene Nostradamus runzelte seine Stirn und zog seine Hand zögerlich zurück.
 

Er sah zur Seite und plötzlich schien der goldene Körper des Sehers wieder von seinen Augen aufgesogen zu werden. Dakkas sah in die Richtung, in die der Drache geschaut hatte und sah eine rot-schimmernde Figur durch den bunt flimmernden Wald kommen.

Wie auch Nostradamus schimmerte, blinkte und leuchtete diese Person rötlich und wie Nostradamus umgaben sie noch kleinere, dunkelblaue Fäden. Diese waren jedoch dünner als beim Drachen und wirkten nicht so robust. Das goldene Leuchten in den Augen war ebenfalls nicht da.

Es war Molokosh.
 

Die beiden Brüder unterhielten sich kurz, bis Molokosh kehrt machte und wieder zur Hütte zurück lief. In diesem Augenblick ging Dakkas auf, dass er gerade genau wie in seinem Traum die Welt mit anderen Augen betrachtete.

Er konnte Magie sehen.
 

Zusammen mit dieser Erkenntnis brach seine Konzentration auf die bunten Farben und Formen zusammen und seine Sicht wurde abrupt wieder normal. Blinzelt sah Dakkas wieder zu Nostradamus, der jetzt wieder ohne Leuchten, goldene Augen oder Fäden vor ihm stand.
 

Der Seher begutachtete den kleineren, starr vor Schock dasitzenden Schwarzhaarigen. „Das war gut. Jetzt wissen wir wenigstens, was du warst, bevor du unbedingt einen Berg auf dich drauf fallen lassen musstest.“

„Bitte was?“, brachte Dakkas entgeistert hervor.
 

„Du warst gerade komplett unsichtbar. Ich habe Molokosh gesagt, dass du etwas tiefer in den Wald gegangen bist.“

Unsichtbar? Das mussten die Schatten um ihn herum gewesen sein, schlussfolgerte Dakkas freudig. Er konnte sich unsichtbar machen, wenn auch noch nicht bewusst gesteuert. Das konnte ihm das Leben retten, wenn er es richtig anwandte. Das war eine verdammt nützliche Fähigkeit.

„Und das sagt etwas darüber aus, was ich war?“
 

Der grauhaarige Drache schmunzelte. „Wenn man bedenkt, dass du selbst mit meiner Sicht nur schwach zu erkennen warst und direkt vor mir sitzt, würde ich mal sagen du bist ein ziemlich mächtiger Illusionist.“ Der Seher schien diese Aussage zu überdenken und nickte dann. „Ein sehr guter Täuschungsmagier.“
 

Die Worte hörten sich richtig an, dachte der Grünäugige bei sich und atmete einmal tief aus.

Er fühlte sich auf einmal so erleichtert, als wenn eine große Last von ihm gefallen war.

Er war ein Magier. Er konnte Magie sehen. Er war ein Illusionist. Daher kamen wahrscheinlich auch die blauen Augen in seinen Erinnerungsträumen. Eine Tarnung, damit man ihn nicht so schnell wieder erkannte. Seine grünen Augen waren schließlich sehr markant.
 

Zusammen mit der Freude über all diese Erklärungen und Antworten kam aber auch eine plötzliche, tiefe Enttäuschung.
 

Er war ein Illusionist.

Ein Illusionist war so ziemlich das genaue Gegenteil des Kodex der Drachen. Die meisten verachteten Täuschungszauberer jeder Art. Sie galten als unehrlich, betrügerisch und nicht vertrauenswürdig. Viele andere Wesen aus den anderen Völkern dachten genauso. Wie konnte man schließlich jemandem vertrauen der dich mit einer Handbewegung und drei Worten glauben lassen konnte, du wärst im luxuriösesten Palast Kvi’stas?
 

Molokosh durfte das unter keinen Umständen erfahren.

Als Dakkas Nostradamus ansah, schien der Seher das gleiche zu denken. „Vergessen wir einfach, das meinem Bruder gegenüber zu erwähnen, ja?“ Dakkas war vollkommen seiner Meinung.

Den Berg hinauf

16 – Den Berg hinauf
 

„Und ihr seid euch sicher, dass das ungefährlich ist?“ Misstrauisch beäugte Dakkas die ‚Brücke’ mitten im Wald, welche über den Fluss führte.

Wobei das Wort Brücke vielleicht etwas zu… positiv war. Es sah mehr wie ein halbmorscher Holzsteg aus, der einmal quer über den gesamten Fluss gebaut wurde.
 

„Jetzt, wo der Fluss sich wieder beruhigt hat, ja.“, brummte Molokosh und trat als erster auf den morschen Holzweg. Da der Drache weder einbrach noch die Brücke zum Einsturz brachte, musste der Steg tatsächlich stabil sein.
 

„Jetzt kommt schon.“ Molokosh blickte ungeduldig vom anderen Ende des Flusses herüber. Einer nach dem anderen überquerte die kleine Gruppe samt ihren Pferden den Fluss; erst Daniel, dann Nostradamus und nach ihm Dakkas, Jared und Shan stellten das Schlusslicht dar.

Als der schwerbepackte Drachenkrieger die wackelige Brücke betrat, knarrte sie besorgniserregend. Shan runzelte seine Stirn und ging vorsichtig einige kleine Schritte, aber der Steg hielt dem Gewicht stand. Dennoch ging der Drache nur langsam voran und führte auch sein Pferd äußerst vorsichtig hinter ihm her. Letztendlich erreichte aber auch er sicher die andere Seite.
 

„Nur so als Frage,“ meinte Dakkas gut eine halbe Stunde später, während sie gemächlich auf ihren Pferden den alten Waldweg entlang ritten, „Wie gut ist der Weg, den wir nehmen, instand gehalten? Könnte es passieren, dass wir irgendwann nicht mehr weiter kommen?“
 

Molokosh brummte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und Jared grinste von seinem Pferd aus. „Nein, so schlimm sollte es nicht sein. Die Straße wird nicht oft genommen, weil es zwischen hier und Kleingaren praktisch keine Stadt oder Dorf mehr gibt, aber wir sollten alles gefahrlos passieren können.“
 

„Bis auf die eine Schlucht.“, warf Daniel plötzlich ein. Jared und Molokosh drehten sich zu dem Heiler um, der sanft lächelte. „Ja, ich kenne mich tatsächlich einmal aus. Wir nehmen die alte Steinstraße, oder?“ Auf das Nicken der anderen hin meinte er: „Dann müssen wir an der Wolffschlucht vorbei, wenn ich mich richtig erinnere.“
 

Molokosh runzelte seine Stirn und nickte dann. „Das hatte ich beinahe vergessen.“, gab der Schwarzhaarige zu. Dakkas verkniff sich ein amüsiertes Grinsen. Dabei hatte der Drache doch fast einen ganzen Tag lang über der Karte gebrütet, aber nun ja.

Jared indessen hatte einen konzentrierten Blick in seinen Augen. Von den Erfahrungen der letzten Wochen wusste Dakkas, dass der Halbwolf fast die ganze Karte der Herzlande auswendig zu kennen schien.
 

„Dann müssen wir die hohe Steinstraße nehmen.“, erklärte er dann auch bestimmt und lenkte sein Pferd näher an das von Shan heran. „Wir müssen über die Schlucht hinweg. Durch die Schlucht hindurch geht es nach Senkstich.“

Molokosh nickte. „In Ordnung. Aber die Schluchtbrücke sollte in Ordnung sein.“ Shan grummelte etwas darüber, dass sie es lieber sein sollte, weil er keine große Lust mehr hatte ständig aufgehalten zu werden.
 

Dakkas konnte dem Drachen nur herzhaft Recht geben. Der nächste, der sich ihnen in den Weg stellte, würde es mit einem sehr aufgebrachten Illusionisten und einem noch wütenderem Schmerzensjünger zu tun bekommen.
 

~*~
 

Dakkas hätte nicht vermutet, dass sich der Wald – der Schwarzstein genannt wurde, wie Jared ihm erklärt hatte – so lange hinziehen würde. Doch er tat es.

Seit drei Tagen ritten sie jetzt schon die alte, halb im Buschwerk versunkene Straße entlang, immer gen Norden und seit neuestem gen Nordosten. Die Tage waren immer noch angenehm warm, was ungewöhnlich für die späte Jahreszeit war, aber von der Gruppe beschwerte sich keiner.
 

Wenn Jared es richtig erklärt hatte, war Schwarzstein ein langgezogener, dicht bewachsener aber dafür nicht sehr breiter Wald. Der Halbwolf hatte von einem ‚langem Elend auf der Landkarte’ gesprochen.

Laut seinen Worten gab es am Ende des Waldes ein kleines, kaum nennenswertes Dorf, dessen Namen er nicht einmal kannte. Dieses Dorf würden sie in ein bis zwei Tagen erreichen und danach noch ungefähr drei Tage durch die hügelige Landschaft der äußeren Herzlande reisen müssen, bevor die Straße auf die Ausläufer der Dern-Berge stieß.

Von da aus, so der Halbwolf, waren es noch gut vier Tage bis nach Kleingaren. Ohne ihre Pferde hätten sie gut und gerne drei Wochen allein für dieses Wegstück gebraucht.

Es war die längste Strecke, die sie hätten zurück legen müssen, wenn sie ganz zu Pferd oder zu Fuß nach Tirin gereist werden. Hoffentlich würde der Teleporter der Dogen ihre Reise stark verkürzen.
 

Es war früher Morgen, als die kleine Gruppe von Reisenden in dem unbedeutendem Dorf am Rand des Schwarzstein Waldes ankam. Ihre Pferde trotteten gemächlich aus dem Wald heraus und an den simplen Holzhäusern dran vorbei.
 

Dakkas zählte nicht mehr als fünfundzwanzig Häuser. Das war zwar wenig, aber immerhin mehr, als er von Jareds Beschreibung erwartet hatte.

So weit abgelegen von allem anderen gab es hier nicht mehr als Bauern, einem Schreiner und einem Schmied. Wahrscheinlich kannte sich jeder Bewohner des Dorfes hinreichend mit der Handwerkskunst aus, da die Häuser gut instand gehalten waren. Dakkas erkannte jedoch an keinem der Häuser ein Schild oder Zeichen für einen Heiler, Arzt der sogar Kräuterkundigen. Das Dorf musste aber doch irgendwoher medizinische Versorgung bekommen…
 

Während sie so gemächlich dahin ritten, schauten aus einigen Fenstern und Türen neugierige Gesichter heraus. Es waren Engel, so viel erkannte Dakkas, aber ihre Blicke waren besorgt und angsterfüllt.

„Ich denke, wir sollten schnell weiter.“, meinte Dakkas nervös. Er wollte es nur ungern zugeben, aber etwas in diesem Dorf störte ihn. Es war wie ein Prickeln oder Nadelspitzen, die langsam über seine Haut gezogen wurden. Nicht wirklich schlimm, aber auch nicht angenehm.
 

„Da gebe ich unserem Jadejungen Recht.“, murmelte Jared halblaut und ließ sein Pferd etwas schneller traben. Die anderen folgten seinem Beispiel und schon bald war das komische Dorf ein langsam kleiner werdender Fleck hinter ihnen. Erst als sie das Dorf eine halbe Stunde hinter sich gelassen hatten, sah Dakkas einen aufrecht gestellten Stein am Wegesrand.
 

Am Stein waren Schriftzeichen angebracht und stirnrunzelnd ließ er sein Pferd langsamer werden und zum Stillstand kommen. „Dakkas?“, wollte Daniel besorgt wissen. Shan indessen grummelte leicht verärgert vor sich hin.
 

Dakkas winkte mit der Hand ab und entzifferte die Schriftzeichen vor sich, während die anderen ihre Pferde zurück lenkten und sich um ihn herum versammelten.

„Das ist ein Warnstein.“, entfuhr es dem Grünäugigen dann plötzlich. Die anderen sahen sich unsicher an. Nur Shan wirkte plötzlich erfreut. „Warnung wofür? Kranke Wölfe? Banditen? Und woher kannst du das deuten?“
 

Dakkas musste zuerst grinsen über die erwartungsvolle Anspannung des Kriegers. So wie es aussah, konnte Shan einen guten Kampf gebrauchen. Bei der zweiten Frage verlor sich jedoch sein Grinsen.

Es war für ihn selbstverständlich gewesen, den Warnstein zu entziffern. Die Zeichen darauf war die Kurzschrift der Dogen, eine Ansammlung von Abkürzungen und Zeichen, die dem Kundigen – meistens Dogen – Informationen gaben.

„Das ist Dogen-Kurzschrift. Mir war völlig klar, wie man sie zu lesen hat.“ Nachdenklich runzelte Dakkas seine Stirn und zuckte dann mit den Schultern. „So langsam gewöhne ich mich daran, dass komische Dinge in meinem Kopfumherspuken.“
 

Die anderen sahen ihn nur ungläubig an. Es war Jared, der schließlich grinste und meinte: „Mir soll’s recht sein. Kann ja ganzpraktisch sein, wenn einer von uns das Zeug entziffern kann. Also, was schreiben die Dogen?“
 

Dakkas inspizierte den Warnstein. Er sah noch relativ neu aus und das Datum, das auf ihm angegeben war, bestätigte diese Vermutung. Der Stein war gut vier Monate alt.

Das Zeichen für Warnung und Todesgefahr war gut leserlich und vor allem groß auf dem nur grob behauenem Stein angebracht. Die Erklärung darunter war kleiner und schwieriger zu lesen.
 

„Warnung, Todesgefahr… Im Dorf am Waldrand unweit von hier… Kurz… Kürzlich! Ausstoß? Nein… Abbruch… Nein, Ausbruch. Ausbruch von… irgendeine Krankheit. Warnung, ansteckend, gefährlich… Seuche?“ Dakkas blinzelte. „Vor Kurzem Ausbruch einer gefährlichen Seuche im Dorf am Waldrand unweit von hier.“ Kaum hatte er die Wörter zu einem sinngebendem Satz zusammen gebastelt, formte sein Mund ein kleines ‚oh’.
 

Molokosh packte Daniels Zügel und hielt den Halbdrachen davon ab, ins Dorf zurück zu reiten. Shan grollte und brummte etwas über ‚genügend Krankheiten für ein Jahr gehabt’, während Jared nachdenklich seine Stirn runzelte. „Deswegen die komischen Blicke und niemand draußen unterwegs. Sie wollten nicht, dass wir uns anstecken.“
 

Dakkas öffnete und schloss seinen Mund.

Daniel gab ein Grollen von sich.„Ich sage das ja nur ungern… aber die meisten Seuchen sind deshalb so gefährlich, weil sie sich unheimlich gut verbreiten… Will meinen: Nur weil wir keinen von ihnen aus der Nähe gesehen haben, sind wir noch lange nicht gesund geblieben.“

„Deswegen wirst du noch lange nicht dahin zurück rennen und dich mit Sicherheit anstecken!“, fauchte Molokosh den Heiler an.
 

Dakkas sah Nostradamus an. Der Seher saß seelenruhig in seinem Sattel und sah dem Pferd beim Grasen zu. Der Blick des Grünäugigen ging noch einmal zurück zum Stein. Vier Monate…

„Daniel…“ Der Heiler hörte auf, Molokosh anzufunkeln und blickte fragend zu Dakkas. „Kennst du eine Seuche, die, wenn sie vor vier Monaten in dem Dorf ausgebrochen wäre, jetzt noch Überlebende zurück gelassen hätte?“
 

Das stimmte den Heiler nachdenklich. Er überlegte und schüttelte kurz darauf den Kopf. „Bei der Nähe der Dorfbewohner zueinander und ihrer Anzahl… Nein.“

Dakkas nickte. „Dann würde ich sagen, dass keine Gefahr mehr besteht. Der Stein ist vier Monate alt.“

„Wie bitte?!“, meinte Molokosh ungläubig.

Der Grünäugige zuckte mit den Schultern. „Entweder, die Dogen haben sich hier einen schlechten Scherz erlaubt, oder die Seuche war nicht so schlimm, wie sie annahmen. Da Nostradamus außerdem nicht so reagiert, als wenn wir sterbenskrank wären, würde ich mal sagen, dass keine Gefahr besteht.“ Auf Molokoshs misstrauischen Blick fügte der Kleinere hinzu: „Denk drüber nach. Wenn wirklich Gefahr bestünde, hätte Nostradamus uns nicht schon eine halbe Tagesreise vorher irgendwie bescheid gesagt?“
 

Der schwarzhaarige Drache überdachte dies und nickte dann. „Du hast Recht. Gromares hätte sich irgendwie verständlich gemacht.“

„Können wir dann jetzt weiter, wenn es nichts zum Kleinhauen gibt?“, fragte Sar’Shan in einer betont gelangweilten Stimmlage. Jared kicherte und Molokosh sah kurz genervt zum Himmel, bevor er antwortete: „Ja. Los, jetzt etwas schneller.“
 

Während sie ihre Pferde zum Weiterreiten anspornten, war es Dakkas so, als wenn irgendetwas bei all dem nicht stimmte. Die Dogen konnten normalerweise sehr gut von gefährlichen und ungefährlichen Krankheiten unterscheiden, also musste dieser Stein einen anderen Daseinsgrund haben.
 

Aber darüber sinnieren brachte Dakkas auch nichts. Stattdessen richtete er seine Augen vor sich auf die jetzt etwas besser instand gehaltene Straße. Doch während er die Zügel fest in der Hand hielt, schien es ihm fast so, als wenn er von weit her etwas hören könnte; als wenn der Wind die Worte in einer fremden und doch vertrauten Sprache an ihn herantrug…
 

--„ Wenn der Wandel erst einmal da ist, wird keiner ihn mehr aufhalten können. Auch du nicht.“--
 

~*~
 

Ihre Reise über das hügelige und mit verschiedenem Pflanzenwuchs ausgestattete Herzland verlief ruhig, ohne Zwischenfälle und dementsprechend langweilig.

Sar’Shan verbrachte das meiste seiner Zeit zu Pferd damit, gelangweilt durch die Gegend zu starren. Jared maulte irgendwann, dass er in Wolfsgestalt genauso schnell und nicht annähernd so gelangweilt wäre. Molokosh und Daniel waren genauso gelangweilt wie alle anderen, wenn sie es auch nicht zeigten.
 

Und Dakkas tat seit bereits gut einem Tag das Gesäß weh. Jared, der wohl das gleiche Problem hatte, hatte es etwas offener ausgedrückt: „Von dem ganzen Reiten tut mir der Arsch weh, verdammt!“ Der Halbwolf hätte das Argument dazu benutzen können, von Molokosh die Erlaubnis für seine Wolfsform zu kriegen. Allerdings hatte der Zauberer unbedingt noch etwas dranhängen müssen: „Wenn es wenigstens die angenehme Form des ‚Reitens’ wäre… Eh, Shan?“

Mit diesen Worten hatte der Werwolf seinem Freund zugezwinkert, der zurück gegrinst hatte. Dummerweise hatte es Molokosh nur dazu gebracht, seine Arme zu verschränken.
 

Dakkas glaubte inzwischen, dass der Drache nichts gegen Shan und Jared als Paar hatte – oder gegen Kommentare in diese Richtung im allgemeinen. Ausgehend von Kommentaren des Drachen vermutete der Grünäugige, dass Molokosh den Drachen und den Halbwolf einfach nicht ausstehen konnte.
 

Nach zwei Tagen Reiten wurde das Land langsam hügeliger, steiler und kahler. Die Berge, die vorher nur Schemen am Horizont gewesen waren, waren inzwischen in die Nähe gerückte Riesen.

Es war eine breit gezogene Kette von Bergen, die Dern-Gebirgskette. Die Straße steuerte geradewegs auf einen kleineren der Dern-Berge zu.
 

Am späten Nachmittag des dritten Tages dann begann die Straße, sich einen ansteigenden Pfad nach oben zu bahnen. Sie hatten die Dern-Berge sicher erreicht.

„Bald müsste hier eine Abzweigung kommen, auf dem ersten Plateau von dem Berg hier.“, informierte Jared die anderen. „Da müssen wir den Weg weiter den Berg hoch, nach Norden nehmen. Die Abzweigung nach Osten führt runter und unten durch die Wolfsschlucht hindurch.“
 

„Du kennst dich ja wirklich gut mit Karten und dem Land aus.“, kommentierte Dakkas, während sie den steilen Pfad empor ritten. Jared lachte leise und grinste. „Na, einer muss Shans Truppe ja sagen, wo sie lang müssen, oder?“ Der Halbwolf schüttelte seinen Kopf. „Können einen Dogen mit einem Hieb entzweien, aber lass sie mal rechts von links unterscheiden.“
 

„Shans Truppe?“ Dakkas war nicht bewusst gewesen, dass Sar’Shan ihm unterstehende Männer hatte. Der Krieger hatte nie erwähnt, dass er irgend eine Art von Leutnant war.

Und tatsächlich entfuhr Shan ein gequältes Seufzen. „Fünfzehn Schmerzensjünger und ein Halbwolf-Zauberer. Wobei Jared eigentlich nicht zu meinem Trupp gehört.“

Der Werwolf rümpfte seine Nase. „Du hast doch wohl nicht ernsthaft angenommen, ich würde dich alleine auf eine deiner Missionen lassen? Entweder stolperst du mit deinen vierzehn Hobby-Messerwerfern in eine magische Falle, die euch nicht auffällt; oder ihr landet irgendwo in Akatma, wenn ihr nach Brinn sollt! Irgendeiner muss ja für euch die Karte lesen.“
 

Dakkas erstickte ein lautes Lachen mit einem vorgespieltem Husten. Shans stechender Blick sagte ihm jedoch, dass ihm keiner das Husten abnahm. „Akatma anstatt Brinn? Jared, die liegen in entgegen gesetzten Richtungen. So schlimm kann Shan und seine Truppe nicht sein.“

Der Halbwolf schnaubte. „Das dachte ich auch, bis wir in Radek-Sha-Lanar die Nachricht kriegten, dass Shans Trupp sich leider verspätet, weil der Oberdepp die Karte falsch herum gehalten hatte. Das hätte ihm eigentlich auffallen sollen, als sie auf einen Berg anstatt von dem erwarteten Fluss gestoßen sind!“
 

Shan seufzte tief. „Das war der Moment, in dem es uns aufgefallen ist. Und Geglash hat nie wieder die Karte lesen dürfen.“

„Ja, weil ich die Karten seitdem einstecke, sobald klar ist wo’s hingeht.“, war Jareds Antwort.

Dakkas fiel inzwischen fast von seinem Pferd vor lauter Lachen. Auch Daniel und Molokosh sahen amüsiert aus, obwohl beide es nicht zeigen wollten.
 

Urplötzlich bewegte Nostradamus seine Hand. Der Seher war bereits seit mehreren Minuten neben Dakkas einher geritten, was keiner großartig beachtet hatte. Jetzt schnellte seine Hand plötzlich zum Pferd des Kleineren aus und packte die Zügel, die Dakkas aufgrund des Lachens nur noch lasch in seinen Händen hielt.

Bevor der Grünäugige fragen konnte, was der Seher da anstellte oder überhaupt begriffen hatte, dass der Seher etwas tat, bäumte sich sein Pferd plötzlich auf.
 

Dakkas klammerte sich am Pferd fest und atmete auf, als Nostradamus das Tier mit zwei Handgriffen wieder beruhigt hatte. Auch die Pferde der anderen hatten sich erschreckt, wenn auch nicht so stark wie Dakkas seins. Grund dafür war eine kleine, grünliche Schlange, die noch einmal bedrohlich zischte und dann zwischen zwei Steinen verschwand.
 

„Danke Nostradamus.“, brachte Dakkas schließlich heraus, nachdem er sich wieder beruhigt und der Seher seine Hand wieder weggezogen hatte.

Molokosh hatte ein komisches Lächeln auf seinem Gesicht, während er seinem Bruder zusah. „Das hat Nostradamus früher ständig gemacht.“, schmunzelte der Schwarzhaarige. Die anderen sahen ihn überrascht an, Daniel und Shan noch mehr als Jared und Dakkas.

„Wir reisten einige Zeit lang mit Vater umher und blieben nie länger an einem Ort. Nostradamus hatte die Angewohnheit, immer an meiner Seite zu kleben. Anfangs war das ja etwas nervig…“, der Drache schüttelte amüsiert seinen Kopf, „…Aber sehr bald begriff ich den Grund dafür. Ein Blumentopf, Stein oder sonst was fiel herunter und er zog mich zur Seite. Mein Pferd scheute, eine Brücke brach plötzlich ein… Vater befürchtete kurzzeitig, jemand hätte einen sehr trickreichen Meuchelmörder auf mich angesetzt.“
 

Shan schnaubte und Jared grinste amüsiert. Daniel hatte ein Lächeln auf seinen Lippen und war der erste, der sein Pferd zum Weitergehen anwies. Als sie kurz darauf weiter den Berghang erklommen, riskierte Dakkas einen Blick zum neben ihm her reitenden Nostradamus.
 

Der Seher starrte stur gerade aus, aber das Funkeln in seinen Augen und die kaum merklich nach oben gezogenen Mudwinkel verrieten Dakkas, dass der Seher durchaus geistig anwesend war. Außerdem bekräftigten sie eine stumme Vermutung des Kleineren: Dass die Theorie des Meuchelmörders vielleicht gar nicht so abwegig war und Nostradamus seinen Bruder nur auf die einzige Art beschützt hatte, die er kannte.
 

Der Abend dämmerte bereits, als sie endlich auf dem Plateau ankamen und die Straße sich vor ihnen in zwei verschiedene Wege aufgabelte. Nach einer kurzen Diskussion entschied man sich dafür, diese Nacht auf dem Plateau Rast zu machen.

Es war nicht mehr als ein hervorgehobener Felsvorsprung mit Straße sowie einigen Büschen und ein paar Bäumen. Trotzdem war es schön, auf einigermaßen ebenem Boden schlafen zu können.
 

Zusammen mit der Nacht brach auch eine plötzliche Kälte über sie herein. Nicht bittere Kälte, mehr ein kühles Lüftchen, dass einem trotzdem bis ins Mark hineinkroch. Dakkas vergrub sich diese Nacht unter seinen Decken und schlief auf die Seite gerollt ein.
 

Es war so heiß. Warum musste es auch in der Wüste Akatma immer so heiß sein. Wenigstens einmal könnten ja ein paar nette, dicke Wolken den Himmel verhängen. Oder eine Sonnenverdunkelung stattfinden. Ja, das wäre was.
 

Aber, was dachte Dan sich denn da. Die Wüste Akatma hieß nicht umsonst Wüste. Es war trocken, heiß und an den meisten Stellen gab es nichts außer Sand, Sand und noch mehr Sand.

Trotz allem musste Dan durch sie hindurch. Oh, er hätte auch drum herum reisen können, sicherlich. Aber das hätte Tage, Wochen gekostet. Und weiter östlich als Akatma lag nichts, was er mit einem Teleporter jedweder Art hätte ansteuern können. Also musste er sozusagen zu Fuß reisen.
 

„Dan, soll ich dir etwas abnehmen?“, drang die amüsierte Stimme seines Begleiters an sein Ohr. Böse sah er den riesigen Hünen mit den weißen Augen und den zum Pferdeschwanz gebundenem weißen Haar an. Der Kerl hatte gut reden! Nicht nur, dass er ein Drache war, nein. Er war auch noch ein Riesenexemplar dieses Volkes und würde wahrscheinlich zehn Mal so viel wie Dan tragen können, ohne ins Schwitzen zu geraten.
 

„Das merk ich mir. Irgendwann kriegst du das zurück, glaub mir.“, beschwerte der Kleinere sich gutmütig. Sein weißhaariger Begleiter lachte nur schallend und stapfte weiter pfeifend durch die Wüstenlandschaft.

Es war so heiß. Dan schwitze aus jeder Pore seines Körpers. Und es war stickig. Ihm war, als wenn er mit drei Atemzügen so viel Luft wie sonst mit einem einsaugen würde.
 

In diesem Augenblick bemerkte Dakkas die schwammigen, ausgefransten Enden der sichtbaren Landschaft. Ein Traum, sagte er sich in Gedanken. Auf einen Schlag hatte Dakkas den Nebel, der seinen Geist zu verschleiern schien, durchbrochen. Er wusste wieder, wo er war und wer er war – oder besser gesagt: Er wusste wieder, dass er nicht wusste wer er war.
 

Aufmerksam beobachtete er den Erinnerungs-Traum. Es war schon einige Zeit her, seitdem er den letzten dieser Art hatte. Hoffentlich würde er diesmal einige Erklärungen finden.
 

Eine endlos lange Zeit schien es so, als wenn sein Begleiter und er einfach nur stur in eine Richtung laufen würden. Obwohl, vielleicht liefen sie auch in großen Kurven, das konnte Dakkas nicht sagen. Es sah schließlich überall gleich aus.
 

Er war schon geistig fast eingenickt – und wie er in einem Traum einschlafen konnte war eine andere Frage… - als endlich Regung in sein Traum-Ich und seinen Begleiter einkehrte.
 

Sein weißhaariger Begleiter stoppte abrupt und starrte nachdenklich in eine Richtung. Traum-Dakkas tat es ihm gleich und erstarrte mit aufgerissenen Augen.

Dort, am Horizont, schien eine dunkle Wolke auf sie hinzu zu kommen. Nur, dass diese Wolke viel zu tief und viel zu schnell flog, als dass es eine wirkliche Wolke sein konnte. Nein, das war etwas ganz anderes.

„Verflucht! Ein Sandsturm!“, bestätigte sein Begleiter Dakkas innere Ängste.
 

Der weißhaarige Drache packte Dakkas an der Schulter und hob ihn kurzerhand in seine Arme, samt Gepäck. Dann rannte er hinter die nächstbeste Sanddüne und schmiss sich zusammen mit dem Schwarzhaarigen in den heißen Wüstensand. Dakkas wurde unter dem Körper des Riesen praktisch begraben und von ihm zu Bode gedrückt.
 

„Hey, etwas vorsichtiger, ja? Leicht zerbrechlich.“, maulte auch sein Traum-Ich. Sein Begleiter schenkte ihm ein kurzes, hellweißes Grinsen. „Keine Sorge. Aber du willst doch nicht wegfliegen, oder, Leichtgewicht?“ Traum-Dakkas brummte einige unmissverständliche Worte und brachte sich dann in eine möglichst komfortable Lage.
 

Nach einer viel zu kurzen Wartezeit dann war der Sandsturm auch schon über ihnen eingebrochen und zerrte am Körper des Weißhaarigen. Dakkas hatte seinen Kopf im Hemd des Drachen vergraben und seine Augen fest geschlossen. Ein tiefes, kehliges Grollen entfuhr dem Drachen und Dakkas konnte die Vibrationen des Kehlkopfes im ganzen Körper des Mannes spüren.
 

„Wenn wir auf der anderen Seite ankommen, muss ich mich eine Woche lang waschen, bevor der ganze Sand von mir abgeht.“, jammerte Dakkas ins Hemd des Weißhaarigen. Ein tiefes Lachen war seine Antwort.
 

Diesmal war Dakkas vorbereitet und blieb ruhig, während das Bild um ihn herum in einem Farbenspiel scheinbar zusammenbrach und sich neu anordnete.
 

Der Raum, in dem er stand, schien aus einer Horror-Geschichte zu kommen.

Er war offensichtlich unterirdisch und nur von flackerndem Fackellicht erhellt. Mehrere Arbeitstische waren quer in dem recht großen Zimmer verteilt und vollgestellt mit Destillierkolben, Fläschchen, Zangen, Messern verschiedener Größe, Form und Länge. Dazwischen lagen Teile von toten Ratten, Hunden, Katzen und abgetrennte Arme und Füße, an deren Besitzer Dakkas gar nicht erst denken wollte.
 

Die Wände waren gespickt mit Regalen voller Bücher, Krimskrams und Knochenteilen. Auch auf dem Boden lagen abgetrennte, teilweise halbverweste Körperteile herum. Der fürchterliche Gestank, den all das hätte hervor rufen sollen, wurde von an der Decke aufgehangenen kleinen Behältern verhindert. In den Behältern befanden sich süßliche, würzige und vor allem sehr stark riechende Gewürze, Kräuter und andere Dinge.
 

Mitten im Raum, am längsten Arbeitstisch, stand ein… Mann. Zumindest hielt Dakkas ihn für einen Mann. Schwarzes Haar reichte fast bis zur Mitte seines Rückens und wurde durch eine schlichte Holzbrosche daran gehindert, ihm nach vorne über die Schulter und so ins Sichtfeld zu fallen.
 

Der Mann besaß feine, sehr feminine Gesichtszüge und auch sein Körperbau war fein, graziös und feminin. Im starken Kontrast dazu standen seine Hände, deren Fingernägel eher wie lange, schwarze Krallen aussahen und mit denen er im Brustkorb einer… unglücklichen Person herum hantierte.
 

„Dalbo…“, hörte Dakkas sich plötzlich selbst sprechen.

Der Kopf des Mannes schnellte hoch und er stoppte seine Hände. Ein Lächeln stahl sich auf die hübschen Züge des Magiers – Todesmagier, Nekromant, wurde es Dakkas klar.

„Dan… Du bist schon hier.“ Eine schwarze, gespaltene Zunge schlich sich aus dem Mund des Magiers und verschwand bald darauf wieder darin.
 

„Und ich musste warten.“ Traum-Dakkas klang so, als wenn er schmollte, aber Dakkas war schwer damit beschäftigt, sich selbst zu hinterfragen. Von dem kurzen Gespräch her würde er sagen, dass dieser Todesmagier ein guter Freund von ihm war – und definitiv ein Halbdämon. Ihm war unerklärlich, warum oder wie er dieses Wesen befreundet hatte. Nekromanten waren gefährlich und nach den Regeln fast aller Wesen Kvi’stas Ausgestoßene. Halbdämonen waren nicht viel besser. Aber das würde erklären, warum er so viel über Dämonen wusste.
 

„Verzeih mir, Dan.“ Die schwarzen Krallen sanken mit einem Knacken ins Fleisch des Mannes zurück und er stieß sich ab vom Tisch. „Meine Arbeit kann natürlich warten. Geh schon mal nach oben, ich komme gleich.“

„Na dann… bis gleich, Dalbo.“ Dakkas spürte, wie er dem Magier zu blinzelte und auf dem Absatz kehrt machte. Gute Güte, schwang er gerade seine Hüften, während er lief?
 

Ein halblautes Schnurren ertönte im Raum und kurz darauf verlor sich alles wieder in einem Tumult von Farben.
 

Das erste, was er sah, war eine graue Felswand. Kein sehr aufregender Anblick, aber dadurch hatte er genügend Zeit sich über die vorherige Szene aufzuregen. Einen Halbdämon… er kannte einen Halbdämon. Vielleicht war er selbst ja doch einer, wie Shan es sagte. Er hatte zwar keine Anzeichen dafür, aber wenn er ein Illusionist war, konnte er sich doch einfach selbst verzaubern und seine Herkunft so verschleiern…
 

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sein Traum-Ich sich von der Felswand wegdrehte und ein schneidender Wind an seinem Gesicht vorbei schoss.

Es war Nacht, was erklärte, warum er nur so wenig sah. Er trug eine Art Mundschutz oder Tuch vor dem Mund und hatte eine Kapuze über seinen Kopf gezogen.
 

Der Felsweg, auf dem er stand, war erschreckend schmal. Keine zwei Schritte vor ihm ging es rasant und äußerst tief nach unten. Im Dunkel der Nacht konnte Dakkas gerade noch so einige Tannenwipfel in der Tiefe erkennen.
 

Er war nicht allein. Neben ihm stand ein anderer, größerer Mann. Er war nicht so groß wie ein Drache, aber trotzdem größer als Dakkas. Auch der Mann trug ein Tuch als Mundschutz, nur war er nicht in schwarze, verhüllende Gewänder gekleidet wie Dakkas. Nein, er trug allem Anschein nach eine braune Hose und Hemd, zusammen mit einer dunkleren Weste und einem Rucksack. Ein dünner Holzstab mit glühender Spitze wurde in einer Hand von ihm getragen und spendete spärliches Licht, das nur wenige Schritte weit reichte.
 

Das Haar des Mannes war kurz gehalten und hellblond, seine dunkelblauen Augen huschten suchend durch die Landschaft.

„Und Ihr seid Euch sicher, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind?“, fragte der Mann in einer müde erklingenden Stimme.

„Natürlich.“, hörte Dakkas sich antworten. „Der Pfad mündet oben direkt auf dem Festungsplateau.“
 

Festungsplateau? Wohin bitteschön waren sie hier denn unterwegs?
 

„Gut, gut. Es ist nicht so, dass ich Euch als Lügner bezeichnen möchte, aber…“

„… es ist schwer zu glauben.“, vollendete Traum-Dakkas den Satz des Mannes. Dieser lachte leise und nickte. „Dann lasst uns schneller gehen. Ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten, die Festung zu sehen.“
 

Dakkas spürte, wie er nickte und dann den steilen, schmalen Felsweg weiter empor klomm. Hinter ihm folgte der ihm immer noch unbekannte Mann.

Der Wind drückte sie an die Felswand und wegen der Dunkelheit mussten sie besonders auf ihre Schritte acht geben. Irgendwo unter ihnen erklang das Heulen mehrerer Wölfe und zerriss die nächtliche Stille abrupt. Sein Begleiter stoppte kurz, fing jedoch gleich darauf wieder mit dem Laufen an.
 

Der Pfad schien nie enden zu wollen. Dakkas spürte die langsam ermüdenden Muskeln seines Traum-Ichs, den heftiger werdenden Wind, der mit einem Heulen an ihnen vorbei rauschte und die wachsende Steigung unter seinen Füßen.

Vor ihnen beschrieb der Pfad eine steile Kurve, die Dakkas und sein Begleiter nur langsam passierten. Irgendwann war eine Stelle des Pfades bei einem Bergrutsch oder etwas ähnlichem beschädigt worden, so dass man nur an die Bergwand gepresst die Kurve entlang gehen konnte.
 

Nachdem sein Traum-Ich diese Kurve hinter sich gelassen hatte, atmete Dakkas innerlich auf. Sein Traum-Ich schien nicht besorgt zu sein, aber er persönlich hatte keine Lust, diesen Berghang hinunter zu stürzen.
 

Unmittelbar hinter der Kurve mündete der steile Pfad in eine ebenso steile, in die Felswand gehauene Treppe. Die Stufen war uneben, unterschiedlich groß und an einigen Stellen beschädigt. Alles in allem konnte man zwar nicht mehr links in einen frühen Tod stürzen, aber vertrauenserweckend wirkte die Treppe auch nicht.
 

„Heiliger…“, hauchte Dakkas Begleiter neben ihm, als er die Treppe erblicke. Dakkas hörte sich selbst amüsiert lachen. „Ich habe es Euch doch gesagt, oder etwa nicht?“

Der Blonde trat vorsichtig auf die Treppe zu und erklomm die ersten drei Stufen. Grinsend drehte er sich dann zu Dakkas herum. „Ihr seid Euer Gewicht in Gold wert! Kommt Ihr?“
 

Erneut lachte Dakkas belustigt und folgte dem freudig voran schreitendem Mann.

Die Treppe schien endlos lang zu sein. Der Aufstieg wurde schnell ermüdend und ging nur noch schleppend voran, vor allem auch wegen dem kräftigen Wind, der die beiden Männer mehrmals fast von der Treppe zu stoßen drohte.
 

Dann aber hatten sie endlich das Ende der Treppe erreicht. Vor ihnen war plötzlich eine große, offene Ebene mit praktisch keinem Pflanzenwuchs. Unweit von ihnen waren schemenhaft die Umrisse einer Festung im Dunkel erkennbar.
 

„Ihr hattet Recht… Ihr hattet Recht!“ Der Blonde klang sowohl überrascht, erfreut als auch erstaunt. Traum-Dakkas stoppte schwer atmend neben ihm und grinste hinter dem Mundtuch.

„Hatte ich es Euch nicht versprochen?“ Er machte eine einladende Geste und deutete auf die Festungsumrisse in der Ferne. „Willkommen auf dem Vorplatz der lange verloren und verschollen geglaubten Burg der Trolle.“
 

Burg der Trolle? Während sein Traum-Ich und sein Begleiter auf die Umrisse hinzu eilten, dachte Dakkas nach.
 

Er wusste nichts über eine ‚Burg der Trolle’, erst recht nichts über eine verschollene Burg der Trolle. Überhaupt, wie hätten die Trolle eine bauen sollen. Trolle waren seines Wissens nach einfache, gefährliche Wesen, die man nur selten und dann nur in Wäldern oder Sümpfen antraf.

Woher also diese auf einem Berg gelegene Burg kommen sollte, konnte Dakkas sich beim besten Willen nicht erklären.
 

Die Umrisse kamen näher und wurden deutlicher. Inzwischen schritten sie auf einem alten, verwittertem aber gepflastertem Weg entlang. Der Weg war wohl einmal breit und gut gearbeitet gewesen, aber im Laufe der Jahrhunderte war er praktisch zu einer Ruine verfallen, ebenso wie der Steinpfad und die Treppe hierher.
 

Irgendetwas sagte Dakkas, dass diese finster daliegende, halb verfallene Festung wirklich eine Trollburg war. Aber wann und wie hatten die Trolle sie errichtet?
 

„Ich kann es immer noch kaum glauben…“, meinte sein blonder Begleiter fröhlich, während sie durch das hohe Eingangstor schritten. Die Flügeltür war wohl einmal aus stabilem Holz gewesen, aber die eine Seite lag fast vollkommen verfault auf dem Boden vor dem Tor und die andere fehlte gänzlich.
 

„Es ist etwas überwältigend, wenn man zum ersten Mal herkommt, ja.“, gab Traum-Dakkas zu.

Die Eingangshalle war groß und ausladend und hätte sicherlich einen beeindruckenden Anblick geboten, wenn man denn auch etwas gesehen hätte. So, im Dunkel der Nacht, konnte man jedoch nur wenig ausmachen.

Mitten in der Eingangshalle stoppten Dakkas und sein Begleiter.
 

Der Blonde rammte seinen Stab vorsichtig in den teilweise aufgebrochenen, kaputten Steinboden. Das Licht der Kugel wurde nach einem Wink des Mannes etwas heller und spendete jetzt genug Licht, damit Dakkas den Mann gut sehen konnte.
 

Im Traum nahm Dakkas seine Kapuze ab und sah langes, braunes Haar über seine Schultern fallen. Zuerst irritierte ihn das, aber dann wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich eine Illusion auf sich selbst gezaubert hatte.

Beide Männer lockerten die Tücher um ihren Mund und ließen sie, einem Schal ähnlich, zu ihrem Hals hinunter gleiten.
 

„Ihr habt Euer Versprechen gehalten, Herr Pasea.“ Der Blonde lächelte und Dakkas hätte gezuckt, wenn er seinen Körper in diesem Moment kontrolliert hätte. Pasea. Carogan Pasea, sein Pseudonym. Der Mann schien ihn nur unter diesem Namen zu kennen. Aber warum sollte man sich an einen Buchautor wenden, um eine verschollene Burg zu finden… Das machte keinen Sinn.
 

„Als ich Eure Ballade über die Festung der Trolle las, wurde ich den Gedanken nicht los, dass Ihr wirklich wusstet, worüber Ihr schreibt.“ Oder vielleicht machte es ja doch Sinn. „Da musste ich Euch einfach kontaktieren.“
 

Dakkas spürte, wie er grinste. „Es war mir eine Freude, mit Euch zu reisen, Herr Hohensonn. Aber hoffentlich habt Ihr auch den ausgemachten Preis hierfür dabei.“
 

Hohensonn…?

Wäre Dakkas nicht in dieser Traum-Erinnerungswelt gefangen gewesen, hätte er angefangen nach Luft zu schnappen. Wenn dieser Mann wirklich ein Hohensonn war, dann…

Das war unglaublich. Die Hohensonns waren die Königsfamilie der Engel… Aber dieser Mann sah nicht aus wie der Sonnenkönig. Vielmehr hatte er das etwas heruntergekommene Aussehen eines weitgereisten Mannes. Nicht nur die Kleidung, auch die Haltung des Engels schrie ‚welt-erfahren und ‚gefährlich’.
 

Obwohl das natürlich nicht ausschließen würde, dass er ein Mitglied der Hohensonn Familie war…
 

„Natürlich habe ich dabei, was ich versprochen habe.“ Der Hohensonn zog einen ledernen Beutel aus seiner Tasche und öffnete ihn langsam. Heraus zog er einen kleinen, schmalen Gegenstand, der in ein dunkelrotes Samttuch gewickelt war.
 

Der Gegenstand entpuppte sich als alter, silberner Schlüssel. „Der Schlüssel zur Gruft von Altmeister Dobren, in den Katakomben von Tirin.“ Der Blonde lächelte schief. „Ihr könnt ihn natürlich gerne ausprobieren, um die Echtheit zu überprüfen, aber ich versichere Euch, dass es der echte Schlüssel ist.“
 

Traum-Dakkas nahm den Schlüssel lächelnd entgegen. „Wunderbar. Genau das, wonach ich suchte.“ Er verstaute den Schlüssel in einer seiner Taschen. „Ihr könnt gerne Eure Leute hier hoch führen… Die Bergtrolle sind natürlich schon lange ausgestorben, aber hier und da gibt es noch einige funktionierende Fallen, glaube ich…“ Traum-Dakkas zuckte mit den Schultern. „So genau habe ich es mir nie angeschaut.“
 

Der blonde Hohensonn grinste nur. „Keine Sorge, darum werde ich mich schon kümmern. Aber, wenn ich fragen dürfte… Wofür braucht Ihr den Schlüssel?“

Dakkas hatte sich das gleiche schon lange gefragt. Aber da er ja von Beauron bereits erfahren hatte, dass er ein magisches Buch in den Katakomben von Tirin suchte, nahm er an, der Schlüssel wäre dafür.

„Ich persönlich? Gar nicht. Aber Ihr versteht hoffentlich, dass ich das Vertrauen meiner… Bekannten nicht verletzten darf.“
 

Der Hohensonn lachte leise und zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, ist es mir egal, was Ihr damit tut. Mein Bruder wird eh nie bemerken, dass der Schlüssel fehlt und wenn sein Fehlen ihm Ärger bereiten könnte, umso besser.“ Der Blonde grinste und zeigte dabei weiße Zähne.

„Ihr scheint Euren Bruder nicht sonderlich zu mögen,“ kommentierte Traum-Dakkas.

Der Hohensonn zuckte mit den Schultern. „Hepai ist dumm, arrogant und absolut untalentiert. Kurzum, es gibt an ihm nichts, das man mögen könnte oder sollte.“
 

Zusammen mit Dakkas Lachen verschwand die Szene und der Traum in einem bunten Strudel.
 

Keuchend setzte Dakkas sich mit einem Ruck in seinem Schlaflager auf und erschreckte dabei den Wache haltenden Jared, der als Schreckreaktion seine Spielkarten wegschmiss und hinten über vom Stein kippte, auf dem er gesessen hatte.
 

Während die Karten sanft zu Boden flatterten, sah Dakkas den beschämt lächelnden Werwolf an, der sich so schnell wie möglich wieder auf den Stein setzte. „Interessante Art, Wache zu halten.“, kommentierte Dakkas leise. Jared begann, seine Spielkarten auf zu sammeln und murmelte dabei etwas Unverständliches vor sich her. Der Grünäugige lachte leise als Antwort und legte sich dann zurück auf seinen Schlafplatz.
 

Die Bilder der Traum-Erinnerungen tanzten noch hinter seinen Augenliedern. Der Nekromant. Die Trollfestung. Der vermeintliche Hohensonn. Und der Schlüssel zu der Gruft unter Tirin.
 

Wahrscheinlich besaß den im Moment Rita, seine Werwolf-Kontakt-Frau. Das machte als einziges Sinn, wenn sie das Buch aus der Gruft für ihn beschaffen sollte. Sofern der Schlüssel wirklich mit diesem geheimnisvollen Buch zu tun hatte.
 

Aber wie passte ein Hohensonn mit ins Bild? Das war es, was Dakkas nicht verstand.

Geistig rekapitulierte er.
 

Er hatte anscheinend ein sehr gutes und freundschaftliches, enges Verhältnis zu Beauron, dem Todesgott. Besagter Gott war jedoch in einer Art magischen Kristall gefangen und konnte kaum seine göttlichen Kräfte einsetzen. Dakkas war sich ziemlich sicher, dass das Buch, welches er sich beschaffen sollte, für die Befreiung des Gottes wichtig war.

Deshalb hatte er auch Rita, die Werwölfin, damit betraut es zu besorgen. Um an das Buch zu gelangen, hatte er aber einen besonderen Schlüssel gebraucht, weil es in der alten Gruft von Altmeister Dobren lag – wobei er sich momentan nicht daran erinnerte, wer der Altmeister gewesen war, abgesehen von einem sehr mächtigen Hexer. Daran zumindest erinnerte er sich.
 

Diesen speziellen Schlüssel hatte er von einem Hohensonn bekommen. Praina Hohensonn, erkannte Dakkas plötzlich. Älterer Bruder von Hepai Hohensonn, dem jetzigen Sonnenkönig.

Allerdings hatte er Praina nicht seine wahre Gestalt gezeigt, sondern stattdessen ein Pseudonym und anderes Aussehen benutzt.
 

Als Bezahlung für den Schlüssel hatte er Praina an einen lange verschollenen Ort geführt – diese mysteriöse Festung der Trolle, wo auch immer sie war und was auch immer es mit ihr auf sich hatte.

Praina hatte den Schlüssel augenscheinlich von seinem Bruder gestohlen, was bedeuten würde, dass der Sonnenkönig den Schlüssel zur Befreiung von Beauron gehabt hatte – und möglicherweise bewachen ließ…?
 

Das ganze war zwar etwas verwirrend, erklärte aber schon einiges. Beauron konnte nur durch ein bestimmtes Ritual befreit werden – Dakkas erinnerte sich, das mysteriöse Buch sollte Ritualzauber beinhalten… Vor seiner Amnesie war er augenscheinlich damit beschäftigt, alles benötigte für das Ritual zu bekommen…
 

Deswegen war er auch im Ausgrabungslager gewesen, wurde dem Grünäugigen auf einen Schlag klar. Was auch immer die Engel da ausgegraben oder untersucht hatten, es musste wichtig für das Ritual sein oder irgendeine Bedeutung dafür haben… Aber das würde dann bedeuten, dass er irgendwann dorthin zurück müsste, sofern es nichts war, an das er sich bloß erinnern brauchte.

Wunderbar. Innerlich stöhnte Dakkas auf. Es war gut möglich, dass er in Tirin erfahren würde, dass er gleich wieder zurück nach Kish-Laro und dem Lager reisen durfte.
 

Obwohl, dass hätte Beauron bei ihrem ‚Treffen’ neulich erwähnt. Davon hatte er aber nichts gesagt… Also musste Dakkas das, was er brauchte, entweder schon haben oder anderweitig auf den Weg geschickt haben.
 

Nur wie Rita und Amalie, die geheimnisvolle Unbekannte, da rein passten, verstand er nicht so ganz. Ganz zu schweigen von dem Halbdämon Dalbo. Aber… auch den hatte Beauron schon erwähnt. Was war das noch mal gewesen…?
 

--„Wenn es möglich und sicher ist, nimm das Buch und bring es in die Graue Zone, zum Todesmagier und Halb-Dämon Dalbo. Er ist einer meiner Hohepriester und wird dir weiter helfen können.“--
 

Dakkas Augen weiteten sich, während der Grünäugige weiter in den nächtlichen Himmel über ihm starrte.

Die Worte Beaurons klangen noch in seinen Ohren.

--Einer meiner Hohepriester--

Dalbo war ein Hohepriester des Beauron, daher kannte er ihn. Deshalb würde der Halbdämon ihm auch helfen… schließlich wollte Dakkas allem Anschein nach seinen Gott befreien.
 

Außerdem wohnte er in der Grauen Zone. Dakkas runzelte seine Stirn. Jared und Shan kamen auch aus der Zone. Bestand vielleicht die Chance, dass einer oder beide ihn schon mal vor seiner Amnesie gesehen hatten, bloß unter einer Illusion getarnt?

Vielleicht war ihnen sein Deckname ein Begriff. Schließlich kannten sie ihn beide nur als Dakkas, sie hatten nie erfahren, dass er unter dem Namen ‚Carogan Pasea’ einige Bücher veröffentlicht hatte.
 

Bücher, wegen denen Praina Hohensonn auf ihn aufmerksam geworden war. Wieder runzelte Dakkas seine Stirn. Die Bücher damals in der Gesellschaft Wellert waren ihm nicht wie etwas besonders aufregendes vorgekommen. Erst recht nicht wie etwas, dass irgendjemandem den Weg zu einer verschollenen Trollfestung weisen könnte.
 

Aber dort in der Gesellschaft mussten ja nicht alle Bücher untergebracht sein, die er je verfasst hatte. Es war sogar eher unwahrscheinlich, dass dem so war. Vielleicht hätte er sich doch seine Werke damals genauer anschauen sollen.
 

„Hey, kannst nicht schlafen?“ Die leise Stimme des Werwolfes erklang direkt neben ihm. Leicht erschrocken drehte Dakkas seinen Kopf nach rechts und sah Jared an, der immer noch abwesend mit seinen Karten spielte. Routiniert ließ er sie eine nach der anderen vom Stapel in der rechten Hand in die linke gleiten, dort dann einmal über den Handrücken und dann zurück hinter den Stapel.
 

„Muss zu viel nachdenken.“, antwortete Dakkas schließlich. Jared nickte stumm.

Einige Augenblicke lang verharrten die beiden so nebeneinander, bis Dakkas schließlich zögerlich zu dem Werwolf aufsah.

„Kennst du einen Carogan Pasea?“

Der Werwolf stutzte und zeigte dann ein zahniges Grinsen. „Natürlich! Verdammt guter Autor. Oh, nicht dieses Blümchen-Friede-Informations-Zeug, nein. Seine Studienbücher gehen; alles von der Theorie und dem Wissen her makellos, aber die richtig guten Sachen sind seine obskureren Werke. Na ja, und seine Mördergeschichten sind ganz interessant, aber für die meisten Leute zu kontrovers.“
 

Dakkas blinzelte und konnte vor Überraschung nichts sagen.

„Wieso fragst du? Hast du dich an etwas erinnert?“

Stumm nickte Dakkas. Er kam immer noch nicht darüber hinweg, dass Jared ihn nicht nur kannte – als Autor – sondern, dass der Halbwolf ihn auch noch mochte.

Und, dass er einige ‚obskure’ und ‚kontroverse’ Bücher geschrieben haben sollte.
 

„Was für obskure Bücher?“, hörte er sich selbst fragen.

„Hm, lass mich nachdenken…“ Der Halbwolf hörte auf, mit seinen Karten zu spielen. „Er hat einige sehr gute Gedichtbände verfasst, aber spezielle. Die Gedichte sind allesamt die Erkennungsgedichte für Dunkelwandler… wie eine Art Almanach.“ Der Zauberer schüttelte grinsend seinen Kopf. „Der Kerl muss ewig herum gereist sein, um so eine komplette Sammlung zu bekommen. Fast jede von den Engeln verbotene Sekte oder Gruppe ist in den Dingern vertreten.“
 

Dakkas konnte nur wortlos zuhören. Er konnte nicht wirklich glauben, dass er so ein… ‚Kompendium’ erstellt haben sollte. Woher hätte er die ganzen Gedichte auch kennen sollen?

Aber, schoss es ihm durch den Kopf, weit gereist war er, oder etwa nicht? Fast alle seine Erinnerungen bis jetzt zeigten ihn an verschiedenen Orten Kvi’stas, über die ganze Welt verteilt. So abwegig war das ganze doch nicht.
 

Jared plapperte immer noch fröhlich leise vor sich hin, aber Dakkas hatte nicht wirklich Lust, sich etwas über eine Reihe von Magie-Theorie Büchern von sich selbst anzuhören.

„Jared, steht in irgendeinem der Bücher, die du gelesen hast, etwas über eine Trollfestung?“
 

Der Halbwolf sah ihn fragend und verwirrt an, runzelte dann aber nachdenklich die Stirn.

„Ja… In einem… warte… Es war eine Sammlung von alten, obskuren Legenden und Erzählungen… vermischt mit einigen von ihm neu geschriebenen, wenn ich mich richtig erinnere.“ Jared sah den Schwarzhaarigen schief an. „Wieso fragst du?“
 

Dakkas öffnete seinen Mund, konnte sich aber nicht dazu bringen, dem Halbwolf alles zu erklären. Außerdem, sagte er sich im Stillen, war es sowieso besser, wenn weniger Leute davon wussten. Schließlich würde es viele Leute geben, die Beaurons Befreiung würden verhindern wollen.
 

„Ich habe mich nur vage an so etwas erinnert und da hat es mich interessiert… Kannst du irgend etwas von der Erzählung über die Trollfestung auswendig?“

Wieder starrte der Werwolf nachdenklich vor sich hin. „Ich glaub, den ersten Teil krieg ich noch hin… aber das hat mich nie so richtig interessiert, entschuldige… Es war eine schwierige Erzählung, eine Mischung aus Überlieferung und von Pasea selbst dazu Geschriebenem.“
 

Der Zauberer räusperte sich.

„Von einem dunklen Pfad in schattigen Wäldern erzählen die Geschichten der Berge

Eine verwirrende Passage, gespickt mit Gygren, die zu Stein verwandelt wurden

In den höchsten Höhen des eifernden Windes hört man eine trostlose Wehklage

Das, was sich hinter der nächsten Ecke, hinter den Irrlichtern, versteckt

Fürchtest du mehr, als das Mahl eines Beutejägers zu werden

Wenn du den Weg in diesem mysteriösem Labyrinth entlang gehst

Auf einem schweren gewundenem Pfad, eine endlos knechtende Bürde

Durch die Tiefen des Kessel-Tals, hoch zur Gipfelspitze…“

Jared schüttelte seinen Kopf. „’Tschuldige, an mehr erinnere ich mich kaum noch.“
 

Dakkas nickte geistesabwesend. „Was sind Gygren?“

Jared grinste. „Angeblich alte Bergtrolle, welche die Festung errichtet haben sollen. Schon lange ausgestorben. Angeblich sollen sie sehr viel intelligenter gewesen sein als ihre heutzutage noch lebenden Verwandten.“

Dakkas gab keine Antwort.
 

Die Beschreibung passte sehr gut auf seinen Traum. ‚Durch die Tiefen des Kessel-Tals, hoch zur Gipfelspitze…’. Ja, das passte sehr gut. Also beruhte die Erzählung, die er in diesem Buch veröffentlicht hatte, auf Wahrheit und Tatsachen.

Es war weniger eine Erzählung und mehr eine mündliche Karte, erkannte Dakkas auf einmal. Er hatte jedem, der schlau genug war es zu entdecken, den Weg zu dieser verschollenen Festung erklärt. Und Praina Hohensonn war schlau genug gewesen.
 

Während Dakkas weiter in den nächtlichen Himmel starrte, fragte er sich, was er noch alles geschrieben und veröffentlich hatte. Und zu wie vielen geheimen, verschollenen oder besonderen Orten – oder Dingen – er den Weg gewiesen hatte.
 

Vor allem aber fragte er sich, warum er so etwas machen sollte. Es machte ja schließlich keinen Sinn. Wenn er so einen Ort entdeckt hatte, warum hatte er selbst keinen Nutzen daraus gezogen?

Die einzige Erklärung war, dass er diese Entdeckung nicht wirklich brauchte und sie daher anderen überließ. Oder eintauschte, wenn er an die Erinnerung mit Praina Hohensonn dachte.
 

Vielleicht sollte er, sobald er Zeit und die Möglichkeit dazu hatte, mal ein oder zwei seiner Bücher beschaffen. Ein Gefühl sagte ihm, dass er sehr viele Erklärungen in diesen Schriften würde finden können.

Und vielleicht würde er sich beim Lesen noch an irgendetwas anderes, hilfreiches erinnern können. Auf alle Fälle konnte es nicht schaden.
 

Ohne, dass er es wollte, fielen seine Augenlieder müde zu. All dieses Erinnern und Grübeln machte doch müde, schmunzelte Dakkas geistig. Mit dem Rauschen des nächtlichen Windes und dem raschelndem Geräusch von Jareds Karten schlief der Grünäugige langsam ein.
 

--„Du solltest ein Tagebuch führen.“

„Wozu?“

„Damit man dir nicht ständig alles erklären muss, was du vergisst.“

„Aber jemand anderes kann das Tagebuch finden und gegen mich verwenden, auch wenn ich es noch so gut verzaubere und verstecke.“

„Dann versteck es halt nicht.“

„Was meinst du?“

„Versteck es nicht. Bring es unter die Leute, nur schreib nicht ‚Tagebuch’ oder ‚Meine Memoiren’ drauf. Verpack das ganze als nettes Geschichtchen oder Roman oder was weiß ich. Dir fällt schon was ein. Dann würde keiner daran denken, es gegen dich zu verwenden.“

„…Das ist eine erstaunlich gute Idee, Nicolo. Das hatte ich gar nicht von dir erwartet.“

„Du Imp. Du sollst mich doch nicht mehr so nennen.“

„Entschuldige, Mephan.“--
 


 

A/N:
 

„Die Festung der Trolle“ beruht auf einer Vorlage:

„Trollslottet“ ist eine tatsächliche norwegische Legende!

Die Erzählung von der Festung der Trolle oder auch ‚Die Burg des Trollkönigs’ in einigen Varianten, ist eine alte norwegische Legende / Erzählung. Gygren bzw. eine „Gygra“ ist auch tatsächlich eine Art von weiblichem Bergtroll aus der norwegischen Mythologie. (hier auf bestialische Art und Weise eingedeutscht *hüstel*).

Der Text ist der erste Teil einer Übersetzung einer Vertonung dieser Legende (‚Trollslottet’ der Gruppe Otyg). Die Übersetzung ist von mir, allerdings die eines englischen Textes (der meines Wissens nach aber stimmt).

Es war einmal eine Brücke...

17 - Es war einmal eine Brücke...
 

Gefahr.

Dieses eine Wort; nein, Gefühl, war es, dass Dakkas aufweckte und kerzengerade auffahren ließ. Die Bewegung des Grünäugigen kam so plötzlich, dass Sar’Shan, der die letzte Wache übernommen hatte, erschrocken aufsprang und sich mit großen Augen umsah.
 

Langsam beruhigte sich Dakkas Herzschlag wieder und auch in seinen Atem kehrte Ruhe ein. Langsam verhallte das Gefühl der Bedrohung und machte einem schwachen Nachhall von Angst platz.

„Dakkas?“, fragte Shan vorsichtig.

Der Grünäugige rieb sich die Augen. „Nur ein Alptraum.“, beruhigte er den Krieger, der unschlüssig stehen blieb. „Alles in Ordnung?“
 

Das war eine gute Frage. Dakkas blinzelte. „Ja, doch. Ich weiß gar nicht mal mehr, worum der Alptraum ging, nur…“, dass irgendetwas ihm im Traum eine Heidenangst eingejagt hatte und er möglichst schnell hatte Fliehen wollen.

Shan trat an Dakkas Seite und kniete sich neben ihm nieder. Der Krieger sah den Kleineren mitfühlend an. „Jeder hat irgendetwas in seiner Vergangenheit, das er am liebsten vergessen möchte.“

Dakkas grinste humorlos. „Von dem Vergessen habe ich erst mal genug, danke.“
 

Shan nickte langsam. „Das kann ich verstehen.“ Der Krieger runzelte seine Stirn. „Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie es ist, seine ganze Vergangenheit zu vergessen… Aber du verhältst dich besser, als ich von jedem, einschließlich mir selbst, erwarten würde.“

Das überraschte Dakkas nun aber doch. „Wie meinst du das?“

„Du verzweifelst nicht. Oder lässt es dir zumindest nicht anmerken. Außerdem hast du immer eine Art von Ziel vor Augen… zumindest ist das mein Eindruck.“ Der Drache grinste schief. „Die meisten würden wohl schreiend in der Ecke hocken, wenn ihnen so etwas wie dir passieren würde.“
 

Dakkas entfuhr ein heiseres Lachen. „Irgendwie sehe ich mich nicht als der richtige Typ dafür.“

Shan nickte. „Ich auch nicht.“

Der Drache ließ seinen Blick über ihr Lager schweifen, dass im langsam dämmernden Morgenlicht da lag. Die anderen schliefen noch unter ihren Decken, doch bald schon würden sie einer nach dem anderen aufwachen.

„Ich würde wirklich gerne sehen,“ fuhr Shan fort, „wie du kämpfst. Irgendein Gefühl sagt mir, dass es ein interessanter Anblick wäre.“

Der Grünäugige schnaubte. „Nun ja, es wäre nett, wenn ich mich an überhaupt ein paar praktische Dinge erinnern würde.“

„Wieso denkst du, dass deine bisherigen Erinnerungen nicht praktisch sind?“

Die Frage des Drachenkriegers war so ernstgemeint, dass Dakkas fragend zu ihm schaute.
 

Der Ursha’ba lächelte. „Dein Wissen auf Abruf über die Dämonen in Sellentin war ziemlich praktisch, oder? Auf einmal wusste jeder sofort, was zu tun war und ob man überhaupt etwas tun konnte. Die Erinnerungen an deinen Dogen-Freund? Äußerst praktisch, nicht wahr? Der Eisstrahl, beim Angriff nach Halmsdorf? – Ja, du brauchst gar nicht so schauen. Da erinnere ich mich noch daran.“

Sar’Shan ließ seinen Kopf einmal langsam von links nach rechts rollen, wobei ein leises Knacken zu hören war. „So grob angenommen würde ich sagen, dass du ein schlaues Bürschchen bist, das von allem ein bisschen lernen musste um zu überleben. Aber Leute, die von allem etwas können, sind nur selten in einer Sache richtig gut.“ Der Drache legte seinen Kopf schief.

„Aber so scheinst du auch nicht zu sein. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass du eine Spezialität hast. Etwas, wo drin du richtig, richtig gut bist.“
 

Erneut sah Sar’Shan über ihr Lager hinweg, aber die anderen schliefen noch immer tief und fest. So langsam fragte Dakkas sich, worauf der Drache hinaus wollte.

„Gut. Ich habe länger nachdenken müssen, ob und wie viel ich dir sage.“ Shan sah Dakkas in die Augen. „Ich denke, dein Unfall unten an diesem Ausgrabungslager war kein richtiger Unfall. Daniel und Molokosh reden hin und wieder über einen gewissen Streitpunkt… einen Gedächtniszauber, der auf dir liegen soll.“
 

Dakkas schien so, als würde sein Herz kurzzeitig stoppen.

Ein Zauber…? Sein verlorenes Gedächtnis war nicht Nebenwirkung eines schrecklichen Unfalls, es war ein Zauber?

Jemand hatte ihm absichtlich die Erinnerung genommen. Das alles war Absicht gewesen. Und Molokosh hatte es ihm nicht gesagt.
 

Dakkas wollte zornig aufspringen, doch eine starke Hand auf seiner Schulter hielt ihn davon ab.

„Bevor du alle hier zusammen schreist und dich aufregst, hör mir wenigstens zu.“
 

Der Grünäugige funkelte den Drachen erbost an. Er hatte ja leicht reden! Sein Gedächtnis hatte man nicht mit einigen Worten und netten Gesten komplett blank gefegt. Konnte der Drache es sich überhaupt vorstellen, mit was für einer Hoffnungslosigkeit und alles umgreifenden Angst man aufwachte, wenn man sich nicht mal mehr an seinen eigenen Namen erinnerte?
 

„Hey, beruhig dich wieder und hör zu.“ Tatsächlich schaffte Dakkas es, sich soweit wieder unter Kontrolle zubringen, dass er Molokosh nicht sofort ins Gesicht schlagen wollte.

„Sehr schön, danke Kleiner.“ Shan ließ vorsichtig die Schulter des Kleineren los.

„Punkt eins: Keiner von ihnen kann so einen Zauber sicher brechen. Nostradamus-lana vielleicht…“Der Schwertkämpfer zuckte mit den Achseln. „Aber man kann sich nicht sicher sein, ob er den Zauber bricht, verschärft oder dich stattdessen glauben lässt, du wärst ein Ziegenbock. Der Herr ist… unergründlich. Manchmal… wird der Grund für seine Taten erst spät erkennbar.“
 

Diese Worte ließen Dakkas Wut urplötzlich verfliegen.

Hätten Molokosh oder Daniel etwas gegen den Zauber unternommen, wäre er am Ende vielleicht noch schlimmer dran gewesen als am Anfang. Und Nostradamus war wirklich nicht die Person, die er mit seiner geistigen Gesundheit beauftragen wollte. Auch wenn die geistige Abwesenheit des Sehers nur Tarnung war… keiner konnte sagen, was Nostradamus getan hätte, hätte man ihn an Dakkas Gehirn ran gelassen.
 

„Punkt zwei: Warum dir davon erzählen und dich aufregen, wenn man eh nichts machen kann ohne einen erfahrenden Magieanwender? Ich bin mir ziemlich sicher, sobald Molokosh einen ausreichend mächtigen Zauberer oder Hexer gefunden hätte, dem er vertraut hätte, hätte er ihn dich heilen lassen.“

Sar’Shan sah schnell noch einmal auf die Schlafenden, die sich jedoch immer noch nicht regten.
 

Der Grauhaarige hatte Recht. Dakkas spürte, wie seine Wut langsam verflog. Was hätten sie machen können? Nichts. Und es ihm zu sagen wäre sinnlos gewesen. Es hätte nichts genutzt, auch wenn Dakkas sich jetzt wütend und betrogen fühlte.

Aber… etwas in ihm drin sagte ihm, dass er wahrscheinlich genauso gehandelt hätte, wäre er in Molokoshs Position gewesen. Und für etwas, dass er selbst tun würde, konnte er andere nicht verurteilen.
 

„Punkt drei: Ich habe keine Ahnung was du bist, genauso wenig wie die anderen hier… Aber die Tatsache, dass du dich langsam wieder erinnerst spricht dafür, dass du den Zauber von alleine wieder brichst. Unbewusst.“
 

Dakkas sackte in sich zusammen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht.

„Und das bedeutet, dass du verdammt viel Macht in dir drinstecken haben musst.“, fügte Sar’Shan als letztes hinzu, was Dakkas jedoch schon gar nicht mehr richtig wahrnahm.
 

Er war dabei, den Zauber selbst zu brechen… unbewusst…?

Womit? Und wie zu den Teufeln noch mal?!

Er erinnerte sich noch nicht einmal daran, wie man richtige Zauber anwandte, geschweige denn so etwas kompliziertes wie einen Gedächtniszauber ohne bleibende Schäden aufheben konnte…
 

Doch halt. Vielleicht brauchte er all das gar nicht wissen. Nostradamus hatte ihm schließlich gezeigt, wie er früher Magie angewandt hatte…

„Anweisungen. Die Gesten und Formeln sind nur Anweisungen.“ Der Grünäugige hatte nicht bemerkt, dass er laut gesprochen hatte, bis Sar’Shans verwirrte Stimme an sein Ohr drang. „Was?“
 

Dakkas schüttelte langsam seinen Kopf und beachtete den Drachen nicht weiter. Das war des Rätsels Lösung.

Gesten, Zauberformeln, magische Fokusse… nicht mehr als Beiwerk, Ausstaffierung, damit die Magie verstand, was es zu tun galt.

Aber brauchte diese Ausstaffierung nicht. Er brauchte keine komplizierten Wörter und Handverrenkungen.

„Es sind so was wie Übersetzungen, von einer Sprache in die andere…“, murmelte er. „Aber wer die Sprache spricht, braucht keine Übersetzung.“
 

Sar’Shans verwirrte Fragen wurden von dem Grünäugigen ignoriert. Nach einiger Übung während der letzten Tage war es leichter geworden, auf seine zweite Sicht umzuschalten, wie er diese interessante Fähigkeit genannt hatte. Bald erglühte seine Umgebung in den inzwischen wieder bekannten Formen und Farben der Magie auf.
 

Es war immer noch ein etwas verwirrender Anblick; alles sah anders und ungewöhnlich aus. Am Anfang war es ihm schwer gefallen einen klaren Kopf zu behalten und sich nicht beim Bestaunen eines Details zu verlieren. Doch inzwischen konnte er sich konzentriert für einige Minuten in diesem Zustand aufhalten.

Auch wenn er es nach einem Blick auf sich selbst nicht mehr gewollt hatte.
 

Wie immer pulsierten seine Gefährten alle in einem sanften Rot, besonders in der Brust- und Kopfgegend. Zusätzlich dazu zogen sich noch verschieden-farbige Stränge durch ihre Körper hindurch und umgaben sie. Dakkas war sich ziemlich sicher, dass diese Stränge auf Fähigkeiten oder magische Energien seiner Gefährten hinwiesen.
 

Jared war praktisch vollkommen durchwirkt von einem purpurnem Faden, der ihn fast gänzlich einschloss. Außerdem waberten die Konturen seines Körpers sanft hin und her, was Dakkas zuerst etwas nervös gemacht hatte. Aber bald war er zu dem Schluss gekommen, dass dieses Wabern auf Jareds Wolfsform hindeuten musste. Hinter dem purpurnem Faden vermutete er die magische Energie des Werwolfs.
 

Nostradamus Magie waren die grünen Fäden, die den Seher umgaben. Was jedoch die blauen Fäden waren, die der Seher mit seinem Bruder gemeinsam hatte, verstand Dakkas beim besten Willen nicht. Er hatte sie inzwischen ein paar Mal untersucht – diskret natürlich. Nostradamus Fäden waren dicker, und sahen stärker aus, aber Molokoshs waren viel enger und hätten dem Drachen ins Fleisch geschnitten, wären es tatsächliche Fäden gewesen. Und sie schienen ständig enger zu werden.
 

Daniel war durchflochten von braunen, silbernen und weißen Strähnen. Das Silber und Weiß brachte Dakkas mit den Heilfähigkeiten des Heilers in Verbindung – schließlich benutzte auch Daniel Magie. Aber das Braun warf ihm Rätsel auf. Es war anders, als die anderen Fäden.

Die anderen Fäden Daniels und auch die der anderen, waren eng mit ihnen verbunden und schienen mehrere ‚Startpunkte’ innerhalb ihrer Körper zuhaben. Dieses Braun jedoch schien sich von außen auf Daniel zu legen und eine schmale Schicht zu formen, wie eine Art enges Kleidungsstück.

Dakkas hatte dafür noch keine Erklärung gefunden.
 

Dafür jedoch etwas ähnliches. Sar’Shan besaß außer seinem eigentümlichen pulsierendem Rot nur eine andere Sache. Eine auf ihn gelegte Schicht, ähnlich wie Daniel. Nur, dass Shans Schicht aus einem dunklem, fast schwärzlichem Rot bestand und den Drachen vollständig umgab. Außerdem sah die Schicht sehr, sehr dick aus.
 

Und dann gab es da den Grund, warum er plötzlich sehr vorsichtig geworden war, was seine zweite Sicht anging. Der Anblick, den er bekam, wenn er an sich herunter sah.
 

Die schwarzen Flecken um seinen Körper, die er einfach Schatten getauft hatte, ließen sich als seine Illusionsmagie erklären. Sie waren, ähnlich wie Perlen an einer Kette, an einem sehr dünnen, schwarzen Faden aufgezogen und umwogten ihn.

Aber was ihm Sorgen bereitete, war das darunter.
 

Es gab grüne, silberne, gelbe und purpurne Flecken auf seinem Körper. ‚Flecken’ nannte er sie, da die Fäden scheinbar ein- oder abgerissen waren und sich langsam wieder reparierten. Aber das, was ihm einen Augenblick wirklich Angst gemacht und dazu geführt hatte, dass er seine Sicht und die mit ihre gewonnenen Kenntnisse ignoriert hatte, war das eisblaue Leuchten aus seinem Brustkorb.
 

Kein rotes, pulsierendes Glühen wie bei seinen Reisegefährten und jedem anderen Lebewesen, dass er zwischendurch mit seiner zweiten Sicht angesehen hatte.

Ein eisblaues, schimmerndes Leuchten. Etwas fundamental anderes als das, was er in seiner Umgebung sah.
 

Dieser Anblick hatte Zweifel in ihm ausgelöst. Was, wenn er doch das war, was Shan vor langer Zeit vermutet hatte…? Er war nicht wie die anderen, so viel war klar.

Aber darum ging es jetzt nicht. Es galt, einen Gedächtniszauber zu beheben.

Doch woran erkannte er den Gedächtniszauber?
 

Die Schatten waren es sicherlich nicht. Das Leuchten wohl auch nicht, abgesehen von der Farbe hatte jeder andere das auch und es war sehr unwahrscheinlich, dass sie alle mit einem Gedächtniszauber belegt worden waren.
 

Also blieben noch die Flecken übrig.

Grün, Silber und Purpur trat auch bei den anderen auf. Wahrscheinlich lagen Dakkas andere magische Talente auf ähnlichen oder den gleichen Gebieten wie die von Daniel, Jared und Nostradamus.

Dann blieb noch Gelb übrig.
 

Auf einen zweiten, viel genaueren Blick hin sah Dakkas es. Die gelben Flecken hatten keine ausgefransten Enden wie der Rest. Außerdem versuchten sie zwar, sich untereinander zu vereinigen – es sah so aus, als wolle ein gelber Gelee-Fleck sich zu einem zweiten ausstrecken – aber der Rest von Dakkas Energie unterband diese Versuche und bekämpfte die gelben Flicken sogar.
 

Warum nur war ihm das nicht vorher aufgefallen?

Weil er nicht genauer hatte hinsehen wollen nach seiner ersten Entdeckung, deshalb. Und weil er es nicht mal für möglich gehalten hatte, dass jemand in seinem Gedächtnis rumgepfuscht hatte.
 

Aber jetzt wusste er, dass dieses gelbe Zeug nicht zu ihm gehörte. Vorsichtig hob er seine Hand und berührte die gelbe Masse. Der Fleck waberte und schien sich in sich zusammen zu ziehen. Stirnrunzelnd griff Dakkas nach dem ganzen Gelee-ähnlichen Ding und zog es mit einem Ruck von sich herunter.

Die gelbe Masse waberte, schrumpfte und verpuffte schließlich in einem gelblichen Funkenregen. Unter dem Fleck kam ein weiteres Stück abgetrenntem grünlichen Fadens hervor, dass sich sofort zu einem nahegelegenem anderen Stück Grün ausstreckte.
 

Dakkas musste lächeln. Das ganze war doch noch einfacher, als er zuerst gedacht hatte. Mit einem Handgriff war der nächste gelbe Flicken entfernt und ein Stück silberner Faden freigelegt.

Nach dem dritten entfernten Stück ging ein Ruck durch die bunten Fäden auf seinem Körper. Wie von selbst streckten sie sich nach den gelben Stellen aus und attackierten den Gelee von mehreren Seiten gleichzeitig. In Windeseile waren die Reste des Gedächtniszaubers durchlöchert oder vollständig entfernte. Seine schwarzen Perlen-Schatten erledigten den Rest, in dem sie einmal über die betroffenen Stellen drüber wischten.
 

Das Rauschen in seinen Ohren kam so abrupt, dass er innerhalb eines Augenblicks aus seiner Konzentration heraus geworfen wurde und seine Umgebung wieder ihr normales Aussehen annahm.

Er zuckte am ganzen Körper. Es war, als würden alle seine Muskeln sich einmal kräftig an- und sofort wieder entspannen. Gleichzeitig kam ein Gefühl in ihm auf, als wenn jemand etwas angenehm kühles durch seine Adern gepumpt hätte, wo es sich jetzt schnell gleichmäßig verteilte.
 

Das Gefühl hielt nicht lange an, aber es ließ ihn angenehm müde und zufrieden zurück.

Die erwarteten Erinnerungen blieben jedoch aus.

Dakkas runzelte seine Stirn und schaltete seine Sicht wieder um.
 

Die gelben Flecken waren weg, stattdessen umspannten ihn jetzt wieder die bunten Fäden. Sie pulsierten im gleichen Takt wie das eisblaue Leuchten in seiner Brust und schienen sich beschützend um ihn gewunden zu haben.

Enttäuscht und nachdenklich wechselte Dakkas wieder auf seine normale Sicht.
 

Seine magischen Fähigkeiten schienen zumindest wieder befreit zu sein. Aber sollte er nicht so etwas wie eine plötzliche Welle von Erinnerungen spüren können? Die Antworten auf all die Fragen, die in seinem Kopf umhersprangen? Die große Erleuchtung?
 

„Grashke.“

Das drakonische Wort riss Dakkas aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken.

„Keine Ahnung, was du gemacht hast, aber gerade hast du in allen Farben des Regenbogens geleuchtet.“, kommentierte Shan beeindruckt.

„In dem Fall ist es wohl besser, dass die anderen noch nicht aufgewacht sind.“, murmelte Dakkas. Er sah an sich herunter. Er fühlte sich nicht sonderlich anders, nur etwas… frischer vielleicht. Als wenn ein verspannter Muskel sich wieder entspannt hätte. Oder eine nervende Fußfessel ihm abgenommen wurde.

Nur sein Gedächtnis hatte sich nicht wirklich verändert.
 

„Die Reste von dem Gedächtniszauber sind weg, Shan, aber ich kann mich trotzdem nicht erinnern.“ Fragend sah Dakkas den erstaunten Drachen an. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich jetzt wieder an meine Zauberkraft heran komme, aber warum kann ich mich nicht mehr erinnern?“

Der Krieger seufzte. „Dak… Der Zauber wurde dir sehr wahrscheinlich vor dem… Erdrutsch war es, richtig? Auf alle Fälle wurde dir der Zauber davor verpasst. Es ist gut möglich, dass dein restlicher Gedächtnisschwund von dem Unfall kommt. Ich bin kein Experte für so was,“ der Drache hob beschwichtigend die Hände, „aber manchmal treffen zwei Unglücksfälle einfach aufeinander.“
 

„Sprichst du von deinen Eltern?“, fauchte plötzlich ein eben erwachter und miesgelaunter Molokosh. Während der Schwarzhaarige sich aufsetzte und sich die Augen rieb, hielt Dakkas Sar’Shan davon ab, sich wutentbrannt auf den de’Sahr zu stürzen.

„Molokosh! Musste das sein? Nur weil du falsch aufgewacht bist, brauchst du noch lange nicht Shans Eltern beleidigen.“, herrschte der Grünäugige den Adligen dann auch an.

Molokosh hielt tatsächlich inne und schnitt eine Grimasse. „Entschuldige, Dakkas.“ Mit einem leidlichem Gesichtsausdruck fügte er noch hinzu: „Entschuldige, Sar’Shan.“
 

Der Drachenkrieger, dessen Beine Dakkas umklammert hatte als dieser aufgesprungen war, verhaarte und beruhigte sich. „Dre’bassa.“ Der Krieger sah den Schwarzhaarigen ungläubig an und lachte dann schallend, was Daniel und Jared weckte.

„Was’n das für’n Krach?“, murmelte der Halbwolf verschlafen. Shan trat die wenigen Schritte an seinen Schlafplatz heran und küsste seinen Freund. „Nichts, Liebling. Ich habe bloß endlich jemanden entdeckt, der Koshi mit einem Wort auf seinen Platz verweisen kann.“

Jared blinzelte und gab einen schläfrigen, knurrenden Laut von sich.

„Das hättest du sehen müssen, Jared. Tut mir Leid.“, antwortete Sar’Shan grinsend.
 

Dakkas seufzte ausgiebig und rieb sich die Schläfe. „Wunderbarer Morgen. Daniel, Molokosh. Ich kann eure Argumente ja nachvollziehen, aber das nächste Mal sagt mir doch bitte bescheid, wenn jemand mich mit einem Gedächtniszauber belegt, ja?“

Totenstille kehrte in ihr kleines Lager ein. Dakkas rollte mit den Augen. „Ja, die Katze ist aus dem Sack. Oder in diesem Falle: Shan hat seinen Mund aufgemacht. Jetzt tut nicht so, als ich würde ich euch gleich an die Kehle springen.“ Der Grünäugige grinste. „Davon hat Shan mich schon abgehalten.“
 

Molokosh öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Dann rümpfte er seine Nase. „Für jemanden, dessen Geist manipuliert wurde, hast du erstaunlich gute Laune.“

Dakkas hievte sich hoch und stand auf. „Wie Sar’Shan und ich gerade haben bemerken müssen, wurde mein Gedächtnis nicht nur durch einen Zauber beeinflusst.“

„Bitte wie?“, fragte Daniel zaghaft.
 

„Der Kleine hat Jared ganz schön reingelegt. Hat den Zauber selbst gebrochen.“, kommentierte Sar’Shan, während er einen verschlafenen Jared mit einer Hand auf die Beine zog. „Ich tippe auf einen entweder sehr mächtigen Hexer oder einen Magier.“

„Nostradamus war der Meinung, dass ich ein Magier war. Bin. Oder so.“, erklärte Dakkas. „Er hat mich auf meine magischen Fähigkeiten gestoßen. Warum er mir dabei nicht auch sagen konnte, dass ich von einem Zauber beeinflusst werde ist… eine gute Frage, die wahrscheinlich nie beantwortet werden wird.“ Das letzte sprach der Schwarzhaarige mit einem Blick auf den immer noch schlafend daliegenden Seher.
 

„Halt, Stopp, Straßensperre!“, rief Jared, plötzlich hellwach. „Nostradamus hat dir gesagt, dass du ein Magier bist? Und man hat ihn verstehen können? Und warum ist das mir nicht aufgefallen?“

„Letzteres kann ich nicht beantworten, da ich nicht du bin, ersteres war das, was unser grauhaariger Seher mir sagte und da er ist nicht auf Drakonisch von sich gab, war ich tatsächlich in der Lage ihn zu verstehen.“ Dakkas verschränkte seine Arme.
 

„Uh-oh.“ Jareds Gesicht verlor den überraschten Ausdruck und bekam wieder das altbekannte Grinsen. „Da ist aber jemand heute morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden.“

Die grünen Augen des Kleineren verengten sich zu Schlitzen. Eigentlich hatte er gute Laune, jetzt wo dieser eine Zauber beseitigt worden war. Es war fast etwas unheimlich, diese gute Laune, die er plötzlich hatte. Er fühlte sich einfach befreit, erfrischt – wie neugeboren. Als wenn etwas lebenswichtiges, dass ihm gefehlt hatte, plötzlich wieder da war.

Aber ein klein wenig Wut – er gab es zu – war noch da, und so gut er sich auch fühlte, die Kopfschmerzen hinter seiner Schläfe kamen langsam wieder.
 

Dakkas seufzte. „Frühstück. Wasser. Daniels Kraut gegen Kopfschmerzen. In umgekehrter Reihenfolge bitte.“

Der Heiler sprang auf die Beine, als Dakkas die Kopfschmerzen erwähnte und reichte dem Kleinen kurz darauf eine kleine Portion rot-brauner Kräuter, die Dakkas sofort in seinen Mund stopfte und kaute.

„Schon wieder Kopfschmerzen? So langsam mache ich mir Sorgen, Dakkas.“

Der Grünäugige rollte mit den Augen. Daniel wusste nicht einmal, wie oft diese Kopfschmerzen wirklich kamen, aber inzwischen war sogar er selbst besorgt.
 

„Jared, du machst Frühstück, Daniel du untersuchst Dakkas, Shan du weckst Nostradamus.“, verteilte Molokosh dann auch die morgendlichen Aufgaben und der Alltag der kleinen Gruppe hatte wieder begonnen.
 

„Es wäre sehr praktisch, wenn du deine Zauberkräfte wieder benutzen könntest.“, meinte Daniel, während er eine glühende Hand über Dakkas Stirn gleiten ließ. „Magier sind sehr gute Verbündete und solange wir noch verfolgt werden, wäre das gleich doppelt so praktisch.“

„Danke für deine lobenden Worte.“, brummte Dakkas. „Und ich nehme es dir wirklich nicht böse, dass du nichts über den Zauber gesagt hast. Irgendwie kann ich die Argumente dagegen verstehen.“

Daniel lächelte. „Das freut mich. Vielleicht wirst du dich jetzt sehr schnell erinnern können… Aber bist jetzt ist noch nichts passiert, wenn ich dich und Shan gerade richtig verstanden habe?“

Dakkas nickte. „Abgesehen von einem befreiendem Gefühl noch keine spürbaren Auswirkungen.“
 

Daniel seufzte und zog seine Hand von Dakkas Stirn weg. „Na ja. Trotz dem Zauber warst du in diesen Unfall verwickelt. Es kann also alles einen medizinischen Grund haben.“ Der Heiler fuhr mit seiner Hand unter seinem Kinn entlang. „Für deine Kopfschmerzen finde ich überhaupt keine Ursache. Es kann auch einfach sein, dass du eine der unglücklichen Personen bist, die unter Stress starke Kopfschmerzen kriegen.“ Daniel lächelte entschuldigend. „Und das hier momentan ist sicherlich Stress.“

„Oh, wie berauschend.“, kommentierte Dakkas sarkastisch. „Amnesie, unbekannte Herkunft und Migräne. Wie wunderbar.“
 

Molokosh entschuldigte sich noch einmal leise bei Dakkas, aber der Grünäugige winkte nur ab. Schließlich hatte er bis jetzt auch keinem erzählt, dass er ein Magier war. Damit sah er das ganze im Großen und Ganzen als ausgeglichen an.
 

Schon eine Stunde später war die Gruppe wieder auf den Rücken ihrer Pferde unterwegs. Allen voran ritt Jared, der sich bereits nach zehn Minuten wieder über seinen schmerzenden Hintern beschwerte.

„Wölfe gehören einfach nicht auf Pferde.“, murrte er. „Ein Drache hängt sich ja auch nicht an einen Adler.“

„Na hoffentlich nicht.“, warf Daniel ein. „Der arme Vogel.“
 

„Wann sind wir an dieser Schlucht?“, fragte Molokosh.

„Wenn wir da sind. Das ist keine Strecke, die ich einmal wöchentlich reise, Koshi.“, war Jareds patzige Antwort.

Der schwarzhaarige Drache brummte ärgerlich als Antwort.

Sar’Shan, der neben Dakkas ritt, lehnte sich zu dem Grünäugigen hinüber. „Das hat dir wahrscheinlich noch keiner erklärt… ‚koshi’ ist ein tatsächliches drakonisches Wort.“ Der Krieger hielt seine Stimme so leise wie möglich, damit der vor ihnen reitende Molokosh nichts hörte.

„Es ist eine Verniedlichung und heißt so viel wie ‚Hausfräulein’.“
 

Dakkas begann schallend zu lachen und lehnte sich im Sattel vornüber. Kein Wunder, dass Molokosh diesen Spitznamen nicht ausstehen konnte. Und kein Wunder, dass Jared ihn gerne damit stichelte.

„Der ist gut, Shan.“ Kichernd brachte Dakkas sich wieder in eine gerade Position. „Der ist wirklich gut.“

„Das dachte Jared sich auch.“ Shan wackelte mit den Augenbrauen und brachte so den Grünäugigen erneut zum Kichern.

„Man will gar nicht wissen, worüber ihr so lacht, oder?“, murrte Molokosh ärgerlich und löste bei Dakkas weiteres Gelächter aus. „Nein, Molokosh. Willst du wirklich nicht…“
 

Die Gruppe ritt den stetig steiler werdenden Pfad gen Norden entlang. Immer und immer höher wand sich der Weg, so dass Dakkas sich schon fragte, über welche Schlucht sie noch drüber wollten. Er konnte sich keine mit einer solchen Tiefe vorstellen.

Nachdem sie gut zwei Stunden geritten waren, beschrieb der Pfad eine Kurve in Richtung Osten und führte wieder etwas abwärts.

„Sollte hier nicht irgendwo eine Schlucht sein?“, warf jetzt auch Dakkas ein.

„Das ständige Gefrage ist schlimmer als Coshes fünfjähriger Sohn.“, murrte Sar’Shan.

Jared grinste. „Bald müsste wieder eine Kurve kommen und dann sollten wir praktisch schon an der Schlucht stehen. Eine Steinbrücke müsste darüber führen.“

„Und wenn sie’s nicht tut hängen wir uns alle an Daniels Füße und fliegen auf die andere Seite.“, brummte Molokosh. Der erwähnte Heiler sah aus, als wäre er zwischen Brüskiertheit und Amüsement hin und hergerissen. Am Ende siegte die Belustigung.

Jared fiel fast aus dem Sattel vor Lachen.
 

„Ihr beiden habt die pfiffigen Antworten heute richtig gefressen, hm?“ Sar’Shan sah Dakkas und Molokosh an. Der Drache gab darauf keine Antwort, während Dakkas humorlos lächelte. „Für uns war blieb nichts anderes mehr übrig, nachdem ein gewisser Vash-Anhänger heute morgen mit dem Frühstück fertig war.“

Jared kicherte. „Vielleicht solltest du dir das mit dem Straßenkomödiant noch mal überlegen, Dak.“

„Dich nehm ich als Maskottchen mit.“, war die mürrische Antwort auf den Kommentar des Werwolfs.
 

Die Gruppe trottete weiter die Bergstraße entlang. Dakkas hätte ihre Pferde gerne angetrieben um so schnell wie möglich in Kleingaren anzukommen, aber selbst er wusste, dass die Straße zu uneben und gefährlich dazu war. Schließlich wussten sie nicht, ob hinter der nächsten Ecke wirklich eine Brücke war oder nicht.
 

Tatsächlich stießen sie bald auf eine zweite Kurve, die den Weg wieder in Richtung Norden führte. Büsche und niedrige Bäume säumten den steinigen Pfad und versperrten die Sicht auf die Berghänge links und rechts abseits des Weges.

Der Weg führte wieder etwas aufwärts und wurde dann bald ebenmäßig. Von diesem Zeitpunkt an konnte man tatsächlich in der Ferne etwas sehen, dass einer Brücke von Weitem ähnlich sah.
 

Wie sie jedoch bald feststellen mussten, war die Brücke nicht aus Stein.

„Oha.“, kommentierte Jared.

„Allerdings.“, war Molokoshs brummige Antwort.
 

Es war eine wackelig aussehende, von Wind und Wetter gegerbte Holzbrücke. Eine Hängebrücke.

Vorsichtig näherte die kleine Gruppe sich dem Rand der Schlucht.

Es war keine Schlucht in dem Sinne einer steilen Felswand, aber ein sehr, sehr steiler Abhang mit wenig Böschung. Tief unten endete dieser Abhang wieder auf ebenem Feld und Dakkas konnte noch eben so die Straße ausmachen, die dort unten in der Schlucht entlang lief.
 

Was Dakkas auch dort unten in der Tiefe gerade noch so erkennen konnte, waren die Überreste der oftmals erwähnten Steinbrücke.

„Scheiße.“, entfuhr es Jared. Dakkas konnte ihm nur herzlich zustimmen.

„Na, wenigstens hat jemand einen Ersatz gebaut. Ansonsten sähen wir jetzt wirklich verloren aus.“, versuchte Daniel die gute Seite der Situation hervor zu heben.

„Ach ja?“ Sar’Shan sah skeptisch aus. „Nichts für ungut, aber diese Hängebrücke sieht nicht so stabil aus, als dass sie uns und unsere Pferde mitsamt Gepäck aushalten würde.“
 

Und da musste Dakkas dem Krieger Recht geben. Die Brücke bestand aus losen Brettern, die nur dürftig zusammen genagelt waren und von Seilen festgehalten wurden. Diese Konstruktion wurde von Seilen in der Luft gehalten, die auf dieser und der anderen Schluchtenseite an dicken Holzstämmen befestigt waren, die ihrerseits mit Steinen unterstützt wurden.

Es war nicht die herausragendste Handwerkskunst, die Dakkas je gesehen hatte.
 

„Wir werden es wohl einfach ausprobieren müssen. Einer nach dem anderen, langsam und vorsichtig.“, entschied Molokosh. Sar’Shan gab dem Adligen überraschenderweise Recht. „Eine andere Möglichkeit sehe ich hier auch nicht.“
 

Dakkas runzelte seine Stirn, während die anderen von ihren Pferden hinabstiegen und Sar’Shan die ersten paar Schritte auf die Brücke tat, nur um den Halt zu testen. Irgendetwas störte den Grünäugigen an diesem Bild…

Er tat es den anderen gleich und saß ebenfalls ab vom Pferd. Jedoch wandte er sich nicht der Brücke zu, sondern ihrem persönlichen Seher.
 

Nostradamus war ebenfalls vom Pferd gestiegen, hatte jedoch seine Stirn in Falten geworfen und wirkte stark nachdenklich, fast verstört.

„Nostradamus?“, fragte Dakkas leise.

Der Seher sah den Kleineren an, zuckte aber nur mit den Schultern, ohne ein Wort zu sagen. Das fasste Dakkas nicht als gutes Zeichen auf.
 

„Ich werde mein Pferd nehmen und langsam vorgehen.“, hallte plötzlich Sar’Shans Stimme an das Ohr des Grünäugigen. „Ich bin am schwersten bepackt von uns allen, wenn die Brücke mich aushält, könnt ihr auch gefahrlos passieren.“

Jared gefiel diese Idee überhaupt nicht. „Und wenn dir was passiert? Die Brücke ist aus gutem Grund hier, da geht’s nämlich tief runter!“

Der Krieger versuchte seinen Geliebten zu beruhigen. „Mir wird schon nichts passieren. Und selbst wenn, habe ich die besten Chancen, einigermaßen heil davon zu kommen.“

„Ach ja? Ich bin derjenige, der sich selbst heilen kann.“ Jared verschränkte seine Arme. „Sollte ich nicht vorgehen?“
 

Während die zwei sich stritten und Molokosh sich seufzend an die Stirn packte, näherte Dakkas sich der Hängebrücke und fasste das als Geländer fungierende Seilwerk an.

Plötzlich verschwamm die Welt vor seinen Augen und wurde zu den ihm inzwischen altbekannten bunten Strängen von Magie. Es pulsierte um ihn herum, ja flammte geradezu auf in einem Farbenmeer.
 

Vor Schock und Überraschung krallte seine Hand sich in dem Seil fest. Das Pulsieren und Leuchten wurde stärker und drohte fast ihn zu blenden, bevor er sich dazu brachte es möglichst nicht zu beachten.
 

Warum hatte sich seine Sicht von selbst umgeschaltet? Irgendetwas musste hier doch los sein.

Kaum war dieser Gedanke durch seinen Kopf gerast, bemerkte er es auch schon: Die gesamte Hängebrücke war es, die da leuchtete und pulsierte. Und zwar in einem unnatürlichen, grellem Gelb. Ein geradezu schmerzhaftes Gelb.

Was er jedoch auch sah, waren Konturen, die sich scheinbar hinter dem Gelb versteckten. Umrisse, gespickt mit gedämpften bunten Farbmischungen, wie Dakkas sie sonst aus seiner Umgebung kannte. Es sah so aus, als würde das grelle Gelb der Hängebrücke diese schattenhaften Umrisse überlagern.
 

Die grelle Hängebrücke hinter sich lassend, sah Dakkas sich weiter um. Das erste, was ihm in den Blick sprang, waren die ebenfalls grell gelb leuchtenden Teile der zerstörten Steinbrücke tief am Boden der Schlucht. Auch diese pulsierten unwirklich und schienen die natürlichen Konturen des Bodens zu überlagern und unterdrücken.
 

Stirnrunzelnd und besorgt wandte Dakkas auch davon seinen Blick ab und sah zu seinen Gefährten hin. Wie angewurzelt blieb er stehen.

Sie leuchteten und pulsierten alle so, wie sie sollten, doch stand Nostradamus goldener Körper gut zwanzig Schritte von der Gruppe und seinem eigentlichen Körper entfernt. Der Seher stand bei einer zweiten Gruppe von Personen, die Dakkas bis gerade eben nicht hatte sehen können.
 

Es war ein mittelgroßer Trupp von vielleicht elf oder zwölf Mann. Ihr normales Pulsieren und ihre Umrisse waren ebenfalls von einem grellgelben Leuchten überlagert, dass sie zu schützen schien. Das alleine schockierte Dakkas schon, da er gerade mit seiner normalen Sicht niemanden gesehen hatte. Was ihn jedoch noch mehr überraschte und vor Schock lähmte, war die am entferntesten stehende Person dieses Trupps.

Es war ein Mann, der ebenso wie Nostradamus einen goldenen Körper neben sich stehen hatte. Der einzige Unterschied war, dass dieser Mann einen fiel schwächeren Goldton hatte und ein dickes, goldenes Band seinen zweiten Körper an seinen ersten kettete.
 

Dieser Mann war ein Seher, und ausgehend von dieser Erscheinung bei Weitem nicht so gut wie Nostradamus.

Der grauhaarige Drache schien zu prüfen, ob der Seher dieser Gruppe ihn sehen konnte, indem er dem goldenen Körper vor der Nase herumfuchtelte. Als keine Reaktion von dem zweiten Seher kam, drehte Nostradamus sich um und schien zu seinem richtigen Körper zurückkehren zu wollen.

Da entdeckte er den verdutzten Dakkas und hielt inne. Stirnrunzelnd legte er seinen Kopf schief und sah den Kleineren an.

„Die Brücke ist eine Illusion.“, sprach der goldene Nostradamus dann, was Dakkas erstaunlicherweise verstand.
 

Den Schwarzhaarigen durchfuhr ungewollt ein Ruck. Natürlich. Das Grellgelbe, was er sah, war der Illusionszauber. Die Umrisse dahinter waren die eigentliche Wirklichkeit. Und diese Männer dort waren entweder sehr gut ausgebildete Strauchdiebe mit einem Seher in ihren Reihen, oder Schergen von Selena und dem Sonnenkönig – was doch fiel wahrscheinlicher war.
 

Dakkas ließ das Seil der ‚Hängebrücke’ los und wie von selbst schaltete seine Sicht sich wieder um. So wie es aussah, war Dakkas nicht nur ein Illusionist und Magier, sondern auch in der Lage Illusionen zu durchschauen. Mit großer Leichtigkeit, denn er hatte sich nicht angestrengt oder auch nur nach solchen Dingen gesucht.
 

Aber jetzt gab es wichtigeres, um dass man sich kümmern musste.

„Molokosh… das ist ein Trick.“ Dakkas sprach laut, schrie aber nicht, in der Hoffnung, dass ihre Angreifer erst einige Sekunden später mitkriegen würden was geschah.

Molokosh, ebenso wie die anderen, sah Dakkas verständnislos an. Der indessen hatte wieder auf seine zweite Sicht umgeschaltet.

Ihm war die Idee gekommen, mit der Illusion das gleiche wie mit dem Gedächtniszauber zu machen: Ihn aufzuheben.
 

Stirnrunzelnd konzentrierte er sich auf das grelle, gelbe Leuchten und stellte sich vor, wie es verschwand. Die schwarzen Perlenketten an seinem Körper gerieten in Bewegung, wurden länger und schickten schließlich einige Stränge von sich aus, die sich wie Tentakel von seinem Körper entfernten. Sie rasten auf das gelbe Leuchten zu und ließen es nach einigen Hieben verpuffen. In Windeseile ließ Dakkas seine Magie das gleiche mit der Tarnung des Trupps machen und versetzte dann, nur weil er sich danach fühlte und wütend war über den erneuten Stopp ihrer Reise, dem goldenen Seher einen Klaps mit einem der Tentakel.
 

Während seine Tentakel wieder zu ihrem angestammten Platz an seinem Körper zurück kehrten, verschwamm die Welt um ihn herum wieder. Bald sah er die Welt wieder so, wie sie jeder sehen konnte.

Und spürte sofort, wie er rot vor Scham wurde.
 

Alles sah ihn überrascht und wortlos an. Molokosh, Sar’Shan, Jared und Daniel ebenso wie die zwölf Krieger in ihrer leichten Lederkleidung, die jetzt für alle sichtbar waren.

Die zwölf Krieger – acht Männer und vier Frauen – trugen alle ähnliche Kleidung, fast wie eine Uniform. Sie war schlicht und in simplen Braunfarben gehalten. Lediglich der Seher, der sich an einen seiner Kameraden stützen musste und dem Blut aus Nase, Augen und Mund lief, hatte ein Emblem auf sein Hemd genäht: Eine schuppige, blutrote Krallenhand mit schwarzen Fingernägeln, die eine flammende Kugel hielt.
 

Dieses Zeichen war eines der ältesten überhaupt. Dakkas erkannte es sofort und hätte sich ohrfeigen können. Wenn er mit seiner zweiten Sicht das Hemd und die Näharbeit hätte sehen können, hätte er die Männer und den Seher nie angegriffen.

Es war das Zeichen des Vash.
 

Die Hitze in Dakkas Gesicht stieg weiter an. „Das tut mir Leid! Ehrlich – Entschuldigung!“ Beschwichtigend hob er die Hände. „Aber woher sollte ich wissen, dass das kein Hinterhalt war? Sah jedenfalls so aus wie einer!“

Der Vash-Seher blinzelte und wischte sich mit einer Hand das Blut aus dem Gesicht. Glücklicherweise schienen seine Wunden nicht so ernst zu sein, wie Dakkas zuerst angenommen hatte.
 

Zu Dakkas Erstaunen fingen Jared und Sar’Shan plötzlich an, laut zu lachen.

„Schon gut, Dak.“, brachte Jared zwischen zwei Lachern heraus. „Das ist Shans Trupp, oder der Großteil davon. Und der Depp da“, Jared deutete auf den Seher, der sich langsam von den stützenden Armen des Mannes neben ihm löste, „ist Eric.“

„Jared und Eric haben da ein kleines Spielchen.“, erläuterte Sar’Shan mit einem Grinsen auf seinem Gesicht. „Eric versucht, Jared eine Falle zu stellen und Jared muss sie rechtzeitig erkennen.“ Der Krieger schmunzelte. „Nur hatte Eric diesmal wohl nicht mit einem misstrauischen Magier gerechnet, der zuerst angreift und dann Fragen stellt.“
 

„Der Knirps soll ein Magier sein?“, entfuhr es dem größten Mann des Trupps, der augenscheinlich ein Drache war. Sein Haar war jedoch von einer ungewöhnlichen, tiefen Blaufarbe, wie auch seine Augen. Er gehörte nicht dem Klan der Ursha’ba an, und Dakkas konnte ihm keinem Klan zuordnen.

„Geglash!“, brummte Sar’Shan missmutig. „Der ‚Knirps’, wie du ihn nennst, hat uns jetzt öfter aus der Klemme geholfen als du ahnst.“

Der Drache mit den dunkelblauen Haaren, Geglash, schien nicht überzeugt zu sein und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. In seinen Augen lag ein abschätziger Blick.
 

Dakkas runzelte seine Stirn. „Geglash?“ Er sah Jared an. Der Name des Drachen erinnerte ihn an etwas… „Der Oberdepp, der keine Karten lesen kann?“

Erneut prustete Jared los vor Lachen und auch die anderen Angehörigen des Vash-Trupps grinsten oder lachten. Nur Geglashs Miene verfinsterte sich noch weiter.

„Jetzt hör mal zu, du kleiner Möchtegern. Nur weil du eine kleine Illusion erkannt hast, bist du noch lange nicht dazu berechtigt-“

Geglash versuchte wohl, noch mehr zu sagen, denn sein Mund bewegte sich. Allerdings war kein Ton mehr zu hören, was erneutes Grinsen und Gekicher hervor rief. Als der Drache dies ebenfalls merkte, sandte er Dakkas einen wütenden Blick und vollführte eine Handgeste, deren Bedeutung wohl ‚Mach das sofort rückgängig’ war.
 

Dakkas schmunzelte. „Jetzt sieh mich nicht so an, Geglash. Das war ich nicht.“

„Echt nicht?“, fragte Jared verdutzt. Dakkas schüttelte seinen Kopf und deutete auf Nostradamus, der sich die Stirn rieb und sehr verärgert aussah. „Ich würde mal sagen, irgendetwas an dem Verhalten von Shans Trupp hat unseren lieben Seher genervt.“

Tatsächlich bedachte Nostradamus die Neuankömmlinge mit einem bösen Blick und wandte sich dann ab, um sich aufs anfangende Geländer der jetzt wieder sichtbaren Steinbrücke zu setzen.

„Na, viel Spaß dabei ihn dazu zu kriegen, den Stillezauber wieder aufzuheben.“, meinte Dakkas grinsend.
 

Geglash sandte ihm einen letzten bösen Blick und verharrte dann stoisch an Ort und Stelle.

„Oh, jetzt hör doch auf, immer gleich eingeschnappt zu sein.“, seufzte Jared und vollführte einige Handbewegungen. In seiner Hand formte sich ein sanft leuchtender Ball, der auf Geglash zuschwebte und mit einem kurzen Aufglühen im Körper des Drachen verschwand. „Da, alles wieder in Ordnung.“
 

Geglash räusperte sich, sagte sonst aber nichts.

„Was macht ihr eigentlich hier?“, wollte Sar’Shan wissen.

„Der Meister hat uns geschickt.“, antwortete Eric, der sich noch mit einem Tuch die letzten Blutreste aus dem Gesicht wischte. Sein Nasenbluten hatte noch nicht aufgehört. „Es kam keinerlei Nachricht von euch beiden und als das Orakel einige besorgniserregende Dinge über vermehrte Aktivitäten von Agenten des Sonnenkönigs erzählte, hielt der Meister es für besser, euch Verstärkung zu schicken.“
 

Shan runzelte seine Stirn. „Das macht Sinn. Aber wie kommt ihr so schnell hierher? Wart ihr nicht für die Überfälle miteingeteilt?“

Eric seufzte. „Eigentlich schon, aber General Coshe hat da alles im Griff. Wir haben den Teleporter in den alten Ruinen nahe Radek-Sha-Lanar benutzt, um herzukommen.“

Jared sog scharf Luft ein. „Den übrig gebliebenen Teleporter der Beau’ri? Aber damit hättet ihr ja nur-“

„den Beau’ri Teleporter in den Aschenlanden anvisieren können, ja.“, führte Eric den Satz zu Ende. „Aber der Teleporter liegt nicht weit hinein in die Aschenlande. Wir konnten uns problemlos hierher durchschlagen und uns hier oben an der Schlucht einquartieren, bis ihr vorbei kommen würdet.“
 

Dakkas verstand kein Wort mehr.

In Ordnung, er hatte noch mitbekommen, dass der Trupp von diesem ominösen Meister geschickt worden war und ein Orakel dafür verantwortlich war. Das Orakel hatte wahrscheinlich die Bedrohung durch Selena gesehen und deswegen eine Warnung ausgesprochen.

Aber von welchem Teleporter sprachen Eric und Jared da? Und warum sollte er in den Aschenlanden ein Gegenstück haben?

Und warum, bei den Teufeln, wollte ihm nicht einfallen, was es mit den Aschenlanden auf sich hatte?
 

Aber das waren jetzt ja zweitrangige Fragen. Viel wichtiger war doch, dass Sar’Shans Trupp hier zu ihrer Unterstützung aufgetaucht war.

„Vielleicht wäre es gut, wenn wir deine… Kollegen in den Plan einweihen würden, Sar’Shan?“, kommentierte Molokosh plötzlich mit einer eisigen Stimme. Dakkas brauchte nur einen Blick auf den schwarzhaarigen Drachen zu werfen, um zu wissen, dass er nicht froh gestimmt war über den Neuzugang.
 

„Der Plan, natürlich.“ Sar’Shan schüttelte seinen Kopf. „Kommt her.“

Wie befohlen versammelte der Trupp sich in einem losen Halbkreis um sie herum und sah Sar’Shan aufmerksam an. Erst jetzt, von Nahem, sah Dakkas die vielen kleinen Dolche und Messer, welche von den Männern und Frauen mitgeführt wurden. Außerdem hatte jeder von ihnen eine eigenwillige Tätowierung auf dem Handrücken: Eine graue Rose, auf der ein Knochendolch abgebildet war.

Des weiteren umgab jeden der Männer und Frauen ein gewisses…Gefühl. Es war schwer zu beschreiben, mehr so, als würde Dakkas etwas unsichtbares wahrnehmen, dass diese Leute umgab und zu sagen schien ‚Gefahr’.
 

„Der Knirps hier, wobei ihr ihn bitte nicht so nennt, heißt Dakkas.“ Auf die fragenden Blicke der anderen meinte Shan: „Nein, er ist nicht drakonischer Abstammung, auch wenn der Name das vermuten lässt.

Dakkas wurde von Molokosh vor einiger Zeit in den Ödlanden aufgegriffen. Er leidet an Gedächtnisverlust und erinnert sich nicht an seinen Namen. Den Namen ‚Dakkas’ hat Molokosh für ihn ausgesucht.“
 

Die Vash-Anhänger sahen Dakkas interessiert an, was dem Grünäugigen nicht sonderlich gefiel.

„Dakkas Amnesie wurde durch einen Gedächtniszauber verschlimmert. Wir sind uns nicht sicher, aber wahrscheinlich haben die weißen Engel ihn damit belegt.“ Sar’Shan seufzte einmal. „Außerdem wissen wir inzwischen, dass er ein Magier ist und… interessante Kontakte hat. Molokosh und Nostradamus-lana haben beschlossen, ihn nach Tirin zu begleiten.“
 

Der Rest des langwierigen Gesprächs verlief holprig.

Die Vash-Anhänger waren genauso misstrauisch wie, wenn nicht noch misstrauischer als Sar’Shan, was Dakkas dubiose Fähigkeiten und Kontakte anging. Die Idee, in ein Dogen-Gildenhaus zu spazieren gefiel ihnen auch nicht im geringsten.

Das konnte Dakkas ihnen auch nicht übel nehmen. Im Gegensatz zu Molokosh und den anderen kannten sie ihn schließlich erst wenige Minuten und Dakkas erste Tat war es gewesen, sie anzugreifen.
 

Im Endeffekt fügten sie sich aber Sar’Shans Entscheidung, ‚den Plan’ auszuführen und wie angedacht Olivier Jerome in Kleingaren aufzusuchen. Es würde zwar schwieriger werden, so eine große Gruppe bis zum Teleporter zu bringen, aber die Vash-Anhänger würden eine gute Streitmacht darstellen, falls sie doch Probleme bekommen würden.

Jared drückte es sehr gut aus, als er grinsend sagte: „Jede normale Person überlegt es sich zweimal, ob man sich mit einem Haufen Krieger anlegt, für die Wunden eine Ehre und Schmerzen eine Auszeichnung sind.“
 

~*~
 

Nachdem der Entschluss zur Weiterreise gefasst war, setzte sich ihre vergrößerte Gruppe schnell in Bewegung. Die Vash-Anhänger hatten zwar keine Pferde dabei, aber auf den steinigen Bergpfaden konnten auch die Tiere sich nur vorsichtig weiter bewegen. Außerdem legte Shans Trupp eine erstaunlich gute Geschwindigkeit an den Tag und konnte so problemlos mit den zu Pferde Sitzenden mithalten.
 

Bald nachdem sie die Steinbrücke überquert hatten, versuchte Dakkas zaghaft, sich für seinen Angriff bei Eric zu entschuldigen.

Wie sich herausstellte, war der Mann mit seherischem Talent nicht böse oder auch nur verärgert. Im Gegenteil, Dakkas schneller und gezielter Angriff schien den Vash-Anhänger beeindruckt zu haben.

„Warum sollte ich darüber verärgert sein? Du warst besser als ich und hast in mir eine Gefahr gesehen.“

Dakkas nahm an, dass die Sicht von jemanden, der den Gott des Krieges und der Schmerzen anbetete, in solchen Situationen anders war als die von ‚normalen’ Leuten.
 

Durch die Neuankömmlinge verbreitete sich eine etwas gelassenere Stimmung in ihrer Gruppe. Die Vash-Anhänger hielten immer das ein oder andere Gespräch aufrecht und waren im Großen und Ganzen ein aufgeschlossener, freundlicher Haufen. Mit der Ausnahme von Geglash, der sich von Dakkas aus einem unerklärlichem Grund persönlich beleidigt sah.
 

Schon am zweiten Tag ihrer gemeinsamen Reise wurde Dakkas erklärt, dass Eric nicht nur ein vollblütiger Werwolf, sondern eigentlich auch ein Vash-Priester und kein Schmerzensjünger war. Er begleitete die Gruppe als Unterstützung wegen seinem schwach ausgeprägtem, seherischem Talent und seiner magischen Fähigkeiten, die sein Schutzgott ihm gewährte.
 

Der Trupp bestand ansonsten nur aus Kriegern, wobei sie eine bunt gemischte Gruppe waren.

Geglash, sowie drei der anderen Männer waren Drachen. Eric war ein Werwolf. Die drei anderen Männer waren ein Halbdrachen, ein Engel und ein dunkelhäutiger halb-Visha.

Der Mann mit der sanftbraunen Hautfarbe und den schwarzen Augen war der stillste der Gruppe und führte die leichtesten Waffen mit sich. Dakkas erfuhr bald, dass Xin-Mei, das war sein Name, bei der Familie seiner Mutter, unter den Visha aufgewachsen war.

Die Visha waren ein dunkelhäutiges Amazonenvolk, das von ihrer großen Königin regiert wurde. Die Kriegerinnen der Visha waren bekannt für ihre Geschicklichkeit und ihre ausgefeilten Kampfstile, für die sie leichte oder gar keine Waffen bevorzugten. Wenn Xin-Mei tatsächlich von ihnen ausgebildet wurde, was für männliche Nachkommen nicht üblich war, war er ein gefährlicher Gegner.
 

Die vier Frauen der Gruppe waren ebenfalls gemischter Herkunft: Eine Halbwerwölfin, ein weiblicher Halbdrachen, eine zierliche aber grimmig dreinschauende Halb-Elfe und eine Bowe.

Die hochgewachsene Fee wirkte zerbrechlich, fast, als wäre sie aus Glas; aber ihre feine Grazie und die Eleganz, die jedes Mitglied des Bowe-Feenvolkes zu haben schien, wurde durch eine tiefe Narbe gestört, die ihr Gesicht einmal quer durchschnitt.

Dakkas konnte nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erahnen, was ein Mitglied des Feenvolkes – noch dazu ein weibliches – zu einem Anhänger des Vash hatte machen können. Tief in sich selbst wollte er das auch gar nicht wissen. Die Bowe umgab eine gewisse Kälte, die wahrscheinlich aus gutem Grund da war.
 

Alles in allem musste ihre Gruppe ein sonderliches Bild abgeben, als sie einige Tage später der Bergstraße um eine Ecke folgten und dann die steinernen Befestigungswälle von Kleingaren in der Ferne hinaufragen sahen. Es war Mittag und da sie nach Norden unterwegs waren, schien die Sonne auf ihre Rücken und ließ Kleingaren in einer Art hellem Schimmer erscheinen.

Das goldene Dach der Sonnenkirche Kleingarens war auch aus dieser Entfernung noch glänzend und gut zu sehen. Die Zinnen der Kleingaren Feste, die etwas erhöht neben der eigentlichen Stadt lag, waren ebenfalls gut aus der Ferne zu bewundern.
 

Ihre buntgemischte Gruppe hielt einen Augenblick inne und betrachtete die daliegende Stadt. Bereits am Vortag war die Entscheidung gefällt worden, ihre Gruppe als zwei Adlige Drachen samt Geleit auszugeben. Trotz ihrer unterschiedlichen Mitglieder war es gut möglich, dass ein Adliger verschiedene Spezialisten für seinen Geleitschutz aussuchte.
 

Mit Molokosh an der Spitze ritten sie dann schließlich auf die Stadt hinzu, doch Dakkas wurde das plötzlich klamme Gefühl nicht los, dass sich in seinem Inneren breit gemacht hatte. Es war fast so, als würde sich eine eisige Hand nach ihm ausstrecken und nicht mehr los lassen.

Einen Moment lang befürchtete er, gleich vom Pferd fallen zu müssen, doch das mit der ungewöhnlichen Kälte erschienende Schwindelgefühl legte sich schnell wieder.

Ein Blick auf seine Gefährten zeigte ihm, dass niemand seinen kleinen ‚Anfall’ bemerkt hatte. Nicht einmal Daniel, der zum Verhätscheln neigte.
 

Dakkas wurde dieses kalte Gefühl nicht los. Es hatte von ihm Besitz ergriffen und weigerte sich standhaft, den Platz wieder freizugeben.

Die Erkenntnis traf ihn mit einer ungeahnten Wucht und ließ ihn in seinem Sattel schwanken.
 

Dort, in Kleingaren, lebte noch jemand, den er kannte. Jemand, der dort früher nicht gewohnt hatte. Jemand, dessen Anwesenheit er förmlich spüren konnte.
 

Jemand, der dort nicht sein sollte.
 

Domenek

Nostradamus, ashxa itkig?

18 – Nostradamus, ashxa itkig?
 

„Dakkas? Alles in Ordnung, oder hast du wieder Kopfschmerzen?“ Daniels Stimme durchbrach das eisige Gefühl in Dakkas Innerem, jagte es jedoch nicht vollkommen davon.

„Nein, nein. Mir war nur kurz… schwindlig.“

Der Halbdrache runzelte seine Stirn und sah den Kleineren besorgt an. „Sobald wir genügend Zeit und die nötige Umgebung haben, würde ich dich gerne genauer untersuchen… irgendetwas stimmt da nicht. Die Kopfschmerzen und der Schwindel machen mir Sorgen.“
 

Dakkas machte sich auch Sorgen, jedoch nicht nur über die Kopfschmerzen.

Domenek

Der Name hallte in seinem Kopf, wie eine Warnung, doch so sehr er sich auch konzentrierte, er konnte keine Erklärung dafür finden.
 

„Das erste, was wir in Kleingaren tun sollten ist: Eine gute Mahlzeit finden.“, verkündete Jared munter.

Shan schmunzelte und einige der Schmerzensjünger lachten leise. „Was?“ Mit einem Schmollmund sah Jared zu seinem Liebhaber.

„Sonst beschwerst du dich doch immer, dass ‚andere Leute’ ihr Essen viel zu stark kochen würden.“, antwortete Shan und sah den Halbwolf grinsend an. „Kleingaren liegt tiefer in die Herzlande hinein. Werwolfsküche wirst du hier wohl kaum finden.“

Jared blinzelte, als wenn ihm das eben erst klar geworden wäre. Seine Lippen formten ein ‚oh’ und die Fröhlichkeit wich aus seinem Gesicht.

„Du hast Recht.“ Der Schmollmund kehrte zurück. „Dabei würde ich so gerne mal wieder Rappata essen.“
 

--„Das schmeckt gut. Was ist das?“

„Rappata, mit einem Brei aus Kartoffeln und fünf verschiedenen Gemüsesorten, dazu eine spezielle Soße.“--
 

Die Bilder überlagerten sich vor Dakkas Augen: Der Weg, seine Gefährten, die Pferde – und auf der anderen Seite ein Raum mit einem gutem Holztisch, gedeckt für vier, aber nur drei Plätze waren besetzt.

Die Teller waren keine Keramik, sie waren Porzellan – schwerer herzustellen, teurer, aber auch schicker und in diesem Falle kunstvoll bemalt.
 

Plötzlich verschwand das Doppel-Bild und alles, was Dakkas sah, war der steinige Weg vor ihnen.

„Wird Euch eigentlich nie kalt?“

Es dauerte einen Augenblick, bis Dakkas klar wurde, dass er angesprochen worden war. Blinzelnd blickte er neben sich herunter auf die Bowe. Anders als die anderen neu dazu gekommenen des Trupps bestand sie darauf, ihn zu Siezen.

„…Entschuldigung?“

Die Fee runzelte ihre Stirn und deutete auf seine Kleidung. „Ihr tragt nur leichte Stoffe, obwohl wir uns in den Dern-Bergen befinden. Selbst nachts schlaft Ihr nur mit zwei Decken. Selbst die Drachen brauchen inzwischen mehr.“
 

Dakkas blinzelte. Die Fee hatte Recht. Den anderen schien das ebenfalls mit einem Mal aufzufallen.

„Ischa hat Recht…“, murmelte Jared mit einem Stirnrunzeln und Daniel kniff seine Augenbrauen zusammen. „Warum habe ich das nicht vorher bemerkt? Dass du noch nicht krank bist, ist erstaunlich.“
 

Der Grünäugige zuckte mit seinen Schultern. „Mir ist einfach nicht wirklich kalt.“ Ihm war höchstens ein bisschen kühl. „Ist das schlimm? Da ich noch nicht krank bin, halte ich kühlere Temperaturen wohl einfach besser aus.“

Ischa, die Bowe, lächelte. Es war das erste Mal, dass Dakkas sie hatte lächeln sehen. „Das ist möglich.“ ‚Aber ich glaube nicht daran’, sagte die Fee zwar nicht, aber es war deutlich in der Stille nach ihrem Satz zu hören.

So langsam ging es Dakkas auf die Nerven, was alle möglichen Leute von ihm hielten, dachten und glaubten zu wissen. Es war fast so, als würde jeder ihn kennen – außer er selbst.
 

Die schweren, eisernen Stadttore Kleingarens waren weitaus besser bewacht als die Tore von Sellentin oder Halmsdorf. Grimmig dreinschauende Wachen sahen die ankommende Reisegruppe mit kaum verstecktem Misstrauen und abschätzigen Blicken an. Die leicht gearbeiteten Kettenhemden der Wachposten klirrten bei jeder Bewegung der Männer und nicht wenige hatten ihre Hände griffbereit an den Knauf ihres Schwertes gelegt.

Alles in allem war es ein kalter Empfang für Molokosh und seine Begleiter.
 

Der Großteil ihrer Gruppe ließ sich davon nicht stören, doch Sar’Shan schien enorme Freude darin zu finden die Wachen zurück anzustarren, bis sie irgendwann ihren Blick von ihm abwandten. Und soweit Dakkas das beurteilen konnte gab es keine Wache, die seinem Blick standhielt.
 

„Wohin?“, wollte der Grünäugige von Molokosh wissen. Der Drache runzelte seine Stirn. „Hier kenne ich mich ehrlich gesagt nicht aus, was Unterkunft angeht.“

„Es gab hier mal eine recht vernünftige Herberge…“, meldete Eric sich zu Wort. „’Zum Königsweg’ oder so, etwas weiter abseits hinter der Kirche, näher zum Bergpasstor hinaus.“

„Wann warst du schon mal hier?“, wollte Jared sofort von dem Werwolf wissen.

„Bevor ich in die graue Zone kam.“

Jared runzelte seine Stirn. „Während des Krieges? Was hast du hier im Engelland gemacht, während…“ Jared verstummte, als er Erics harte Augen und zusammengepresste Lippen sah. „Tschuldige.“ Der Seher zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte nur den Kopf. „Schon länger her, keine Sorge.“
 

„Und dieser ‚Königsweg’ ist eine annehmbare Herberge?“, hakte Molokosh nach.

Bevor Eric antworten konnte, hatte Daniel sich schon zu Wort gemeldet. „Sie heißt eigentlich ‚Zum Königsgraben’ und ist recht Wildblüter-freundlich.“

Alles sah den Heiler verdutzt an und dieser errötete langsam. „Mein ehemaliges Kindermädchen ist hierher zu ihrer Familie zurück gezogen, nachdem meine Eltern starben.“, erklärte der Halbdrache in leisen Tönen.

Geglash schnaubte verächtlich, Eric nickte langsam und der Rest der Gruppe kommentierte Daniels Satz nicht weiter. Nur Dakkas fühlte sich wieder einmal verwirrt.

„Dann zeig uns den Weg.“, wies Molokosh an und gewährte Daniel den Platz an der Spitze der Gruppe.
 

Der Halbdrache führte sie quer durch die ganze Stadt, vorbei an der Sonnenkirche, dem Ratshaus und der großen Garnison Kleingarens. Den großen Markplatz umgingen sie jedoch, wobei Dakkas nicht erkennen konnte, ob das Absicht oder nur Zufall war.

Irgendwann kamen sie dann an einem etwas heruntergekommen aussehendem Haus an. Es unterschied sich nicht großartig von den anderen Häusern in diesem Teil der Stadt, alle waren etwas älter und nicht so gut in Stand gehalten. Allerdings besaß es einen mit einem Holzzaun abgetrennten Vorplatz, in dem einige Tische und Stühle aufgestellt waren. Neben dem Eingangstor des Zaunes war ein großer Holzpfahl angebracht, an dem ein sanft im Wind schwingendes Holzschild angebracht war.
 

Das Schild war alt und wettergegerbt, aber die einst kunstvolle Malerei darauf war noch gut zu erkennen: Ein auf dem Bauch liegender Mann mit einer Flasche in der einen Hand und einer Krone auf dem Kopf, der in einem tiefen Graben zu liegen schien. In verblichenen Buchstaben stand über der Zeichnung: ‚Zum Königsgraben’.

„Das ist mal ein Herbergsname nach meinem Geschmack.“, kommentierte Jared schmunzelnd.
 

Nacheinander saßen die berittenen Mitglieder der Gruppe ab und banden ihre Pferde an das Stück des Zauns, das einen Futtertrog danebenstehen hatte. An den Holztischen außerhalb der Herberge saßen nur wenige Leute, wobei keiner so aussah, als stamme er von Wildblütern ab. Dakkas entdeckte drei Elfen und zwei abgeschieden sitzende Zwerge. Dennoch wurde ihre Ankunft hier mit weniger Anspannung und Feindseligkeit begrüßt, als überall sonst in Kleingaren.
 

Mit Molokosh an der Spitze trat die Gruppe hinein in die Schankstube der Herberge. Erstaunlicherweise sah die Herberge von innen sehr viel sauberer aus als von außen. Dakkas nahm das als gutes Zeichen war.

Drinnen saßen noch ein paar Leute mehr, doch auch diesmal waren keine offensichtlichen Wildblüter zu sehen. Während die Vash-Anhänger sich im Raum verteilten und umsahen, sah der Wirt von seinem Platz hinter dem Tresen auf und lächelte.

Er war ein älterer Mann mit einem Stoppelbart und langsam ergrauendem Haar. Allem Anschein nach war er ein Engel, doch sah er die gemischte Gruppe nicht mit der Abscheu an, die sonst in den Blicken vieler Engel mitschwang.
 

„Willkommen im Königsgraben. Ich bin Markus Kohle, der Herbergsvater. Was kann ich für die Herrschaften tun?“

Dakkas spürte, wie seine Augenbrauen überrascht in die Höhe schossen. Auch Molokosh und der Rest ihrer Gruppe konnte den Schock über diese Begrüßung nicht verstecken. In der Tat, so eine freundliche Begrüßung von einem Engel in einer Engelsherberge hatte keiner von ihnen erwartet.

Außer Daniel vielleicht.
 

„Markus? Du hast dich gut gehalten. Du siehst kaum einen Tag älter aus.“, sprach der Heiler und trat hinter Molokosh und Sar’Shan hervor.

Der Herbergsvater blinzelte und ließ den Putzlappen fallen, der bis gerade noch in seiner Hand gewesen war. Die zwei herbeieilenden Kellnerinnen, eine ältere Dame und ein jüngeres Mädchen, stoppten abrupt.
 

„Ja, ich werd nicht mehr…! Trügen mich meine Augen oder seid Ihr das? Daniel Liebrenn?!“

Dakkas hochgezogene Augenbrauen wurden zu einem verwirrtem und nachdenklichem Stirnrunzeln. Liebrenn… das war ein Engelsname.

Auch die Reaktionen der anderen waren komisch. Geglash gab ein kaum hörbares Grollen von sich, während Molokosh seufzte. Sar’Shan und die anderen Vash-Anhänger sahen den Heiler ihrer Gruppe verdutzt und auch anschuldigend an. Daniel selbst jedoch lächelte und reichte dem überschwänglich grüßendem Herbergsvater die Hand.
 

„Nein, Euch noch mal zu sehen… Wo man solange nichts von Euch gehört hatte. Habt Ihr Eva schon besucht?“

Daniel schüttelte seinen Kopf. „Nein, wir sind gerade erst in Kleingaren angekommen, Markus.“ Daniel deutete auf seine Begleiter. „Das ist Molokosh de’Sahr, mein Lehnsherr, mit seiner Begleitung und Wache.“ An Molokosh gewand erklärte er: „Lanar, dass sind Markus Kohle, seine Frau Evelyn und…“ Das junge Mädchen wurde länger von ihm unter die Lupe genommen, doch am Ende schien Daniel sie zu erkennen. „Und seine Enkelin Rosemarie, richtig?“

Das Mädchen, sie konnte kaum 16 sein, wurde rot und vollführte einen graziösen Knicks vor Molokosh und Daniel. Evelyn knickste ebenfalls und grüßte höflich, doch ihre Augen, genau wie die ihres Mannes, waren groß geworden.

„Markus und seine Frau sind alte Bekannte von mir, Lanar. Ihre Herberge ist gut geführt und sie sind gute Leute.“

Evelyn floss ob dieses Lobes Blut in die Wangen, jedoch konnte jeder erkennen, dass sie ihre Schultern bei den Worten Daniels etwas straffte.
 

Molokosh lächelte und begrüßte die Engelsfamilie freundlich. „Wir sind auf der Durchreise und werden wohl ein paar Tage in Kleingaren bleiben. Daniel empfahl Eure Herberge.“

Markus lächelte stolz. „Das ist sehr nett von ihm, Fürst de’Sahr. Wir werden für Euch und Eure Begleiter sicherlich eine angemessene Unterkunft finden.“

Sar’Shan sah Molokosh an. „Für uns reicht ein gemeinschaftlicher Schlafsaal, de’Sahr-lana.“ Dakkas konnte sich kaum vorstellen, wie viel Überwindung diese förmliche Anrede den Vash-Anhänger gekostet haben musste.

Selbst Molokosh schien geschockt, als Shan dass drakonische Wort für ‚Herr’ von den Lippen kam. Er versteckte diesen Schock jedoch schnell und sah zu Markus.

„Einen Schlafsaal und zwei Zweierzimmer dann, wenn das möglich ist.“

Markus nickte sofort und die beiden Frauen eilten aus der Stube, um die Zimmer vorzubereiten.
 

Nachdem Markus ihnen Getränke angeboten hatte und Shans Truppe sich im recht leeren Schankraum verteilt hatte, sah der alte Engel Daniel zögerlich an.

„Ihr wisst es also noch nicht, Herr Liebrenn?“

Daniel runzelte seine Stirn und sah verständnislos zu Markus. „Was wissen?“ Verwundert kratze der Heiler sich am Kinn. „Ich war einige Wochen lang mit Lanar geschäftlich unterwegs, Markus. Wir wollten hier in Kleingaren nur einen kurzen Zwischenstopp machen.“
 

Der Herbergsvater trat von einem Bein auf das andere. Sein Blick war unsicher, fast, als wenn er sich nicht ganz klar wäre, ob er etwas gutes oder etwas schlechtes tat.

„Euer Vetter ist letzten Monat gestorben.“

Daniel blinzelte. „Mein… Du meinst Roland?“ Der Name wurde von Daniel komisch betont. Dakkas war sich nicht sicher, ob er Feindseligkeit oder Überraschung in der Stimme mitschwingen hörte – vielleicht war es auch beides.

Markus indessen nickte. „Burggraf Roland Liebrenn. Er starb letzten Monat. Er war unterwegs zu einem Bekannten in Schönwalde, als er von Banditen überfallen wurde.“
 

Dakkas glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Wenn Daniels Vetter ein Burggraf war… dann war Daniel von Engelsadel. Altem Engelsadel, nur noch wenige Familien hielten diesen Titel. Die Familien starben aus, nicht zuletzt deswegen, weil es ein Titel mit niederem Rang war und die Burggrafen mit stetig schwindenden Einnahmen und Vermögen konfrontiert wurden.

Trotzdem war es ein alter, adliger Engelstitel.
 

„Davon wusste ich nichts…“, murmelte Daniel und setzte sich an den Tresen. Wortlos holte Markus ein kleines Glas hervor und schenkte Daniel irgendein stärkeres alkoholisches Getränk ein, dass Dakkas nicht erkannte.

Keiner der anderen am Tresen stehenden kommentierte es, als Daniel das Glas nahm und mit einem Zug leerte. Auch wenn es nicht so aussah, als wenn Daniel seine Engelsfamilie mochte… Familie war Familie. Auch Shan und Jared hielten jedweden Kommentar zurück.
 

„Ich dachte, als ich Euch hier sah, Ihr wäret deswegen hier auf der Durchreise… wegen dem Titel und all das.“

Das war jetzt allerdings interessant. Dakkas runzelte seine Stirn. Er hatte gedacht, dass Daniel keine Anrechte auf den Titel seiner Familie hatte. Schließlich lebte er unter dem Namen seines drakonischen Vaters. Außerdem waren Daniels Worte über seine Engelsfamilie, wenn er sie überhaupt erwähnt hatte, nicht sehr freundlich gewesen.
 

„Der Titel? Roland hat doch einen Sohn, oder? Und eine Tochter…“

Markus füllte das Glas des Heilers wieder auf und schenkte auch den anderen am Tresen verweilenden etwas ein. Doch diesmal schlang Daniel den Alkohol nicht sofort herunter und Dakkas fragte sich ernsthaft, ob er das stark riechende Getränk vor sich wirklich probieren wollte.
 

Nachdem seine Gäste bewirtet waren beantwortete Markus Daniels Frage.

„Ja, er hatte einen Sohn und eine Tochter. Aber Hendrik – der Junge – kam beim Angriff auf die erste Dogenfeste ums Leben. Er war in die Gilde als Lehrling aufgenommen worden.“

Daniel schnaubte ob dieser Neuigkeit nur und schien dem Ableben seines Großvetters keinen weiteren Wert beizumessen.

„Seine Tochter lebt noch. Henrietta, zwölf Jahre jung. Aber Herr, Ihr wisst doch: Weibliche Nachfahren sind…“

„… nicht erbberechtigt nach Engelsgesetz.“, schloss Daniel mit rauer Stimme ab. „Und abgesehen von ihr und mir gibt es keine Liebrenns mehr.“

Der Herbergsvater nickte stumm, während Daniel sein Glas zum zweiten Mal leerte.
 

Molokosh machte ein komisches Geräusch in seiner Kehle, dass jedoch Shan und Jared fast von ihren Stühlen auffahren und die anderen anwesenden Drachen ihre Hände an ihre Waffen legen ließ. Dakkas interpretierte es daher als kein gutes Zeichen, obwohl Daniel unbekümmert sitzen blieb.

„Ich wusste nicht, dass du in der Erbreihenfolge noch mitgezählt wirst, Daniel.“, meinte der de’Sahr schließlich.

Der Heiler seufzte. „Ich habe es auch nie erwähnt, weil ich es für absolut unwahrscheinlich hielt.“ Der Halbdrache schnaubte, blickte in sein Glas und schüttelte seinen Kopf.
 

„Mein Großvater… wusste nicht wirklich, dass meine Mutter sich in einen Drachen verliebt hatte. Er erfuhr erst davon, als die Einladung zur Hochzeit auf seinem Arbeitstisch ankam.“ Daniel erlaubte sich ein humorloses Grinsen. „Ich war natürlich nicht da, aber Mutters alte Dienstmagd und mein Kindermädchen haben mir öfters davon berichtet. Großvater soll sich sehr, sehr aufgeregt haben.“
 

Das konnte Dakkas sich vorstellen, und auch die anderen nickten verstehend. Daniels Großvater war ein Mann von altem Adel gewesen und seine Tochter ging dahin und heiratete einen Drachen – einen Wildblüter! – und noch dazu einen ohne jedweden Adelstitel.

Ja, Dakkas konnte sich sehr gut vorstellen, dass der alte Herr Liebrenn sich aufgeregt hatte.
 

Daniel trommelte eine Zeit lang mit seinen Fingern auf dem Tisch, bevor er fortfuhr. Seine Stimme klang erschöpft und erschlagen, als wenn er ein Wettrennen gelaufen wäre.

„Nach Engelsgesetz müssen Ehen, die nicht nach dem Brauch der Engel durchgeführt werden, speziell bestätigt werden. Sonst… gelten sie im Engelsreich einfach nicht. Zumindest nicht, wenn man gleichzeitig ein Einwohner des eigentlichen Reiches ist, sprich ein Engel oder Hochelf.“

Der Heiler rollte sein benutztes Glas langsam in seiner Handfläche hin und her, während er weiter erzählte:

„Mein Großvater erlaubte Mutter die Hochzeit nicht. Mama packte eine Tasche, verließ das Familienhaus mitten in der Nacht und ließ Großvater die Nachricht zurück: ‚Ich heirate, nicht du, also hast du mir gar nichts zu sagen.’“
 

Shan schnaubte in sein Glas vor Lachen und Jared grinste. „Hört sich an, als wäre deine Mutter eine echte Persönlichkeit gewesen.“

Daniel lächelte. „Das war sie. Sie arrangierte die gesamte Hochzeit, mit Hilfe von Papas Onkel natürlich, damit sie keinen der drakonischen Bräuche falsch verstand. Sie bestand darauf, die Flitterwochen in Shen-Hak zu verbringen und sorgte dafür, dass Papa in den Vorstand des Krankenhauses kam, in dem er damals arbeitete.“
 

Dann war Daniels Vater also auch schon ein Arzt gewesen. Und ein guter, so wie es sich anhörte.

„Hört sich an, als wäre deine Mutter eine sehr willensstarke Frau gewesen.“, kommentierte der Grünäugige. Daniel nickte lächelnd. „Eva, mein Kindermädchen, sagte immer: Jeder im Haus wusste genau, wer der eigentliche Familienvorstand war. Aber Papa hat sich nie beschwert, soweit ich weiß.“
 

„Frau Liebrenn war eine herzensgute Dame.“, bestätigte Markus von seinem Platz hinter dem Tresen her. „Ich selbst habe sie nur ein einziges Mal persönlich gesehen, als wir Eva damals besuchten in Den-Seng… Aber sie war eine Dame mit wahrer Klasse, was man bei weitem nicht von allen angeblich adligen Damen sagen kann. Der Herr Daragan war auch eine selten gute Person… Ich erinnere mich noch, wie Evelyn damals einen schweren Husten bekam und der Herr so nett war, sie zu behandeln. Das Wohl seiner Patienten lag ihm am Herzen.“
 

Das schien Daniel von seinem Vater geerbt zu haben, dachte Dakkas bei sich. Und wenn sein Vater in Den-Seng ein Krankenhaus geleitet hatte, musste er ein wirklich guter Arzt und Heiler gewesen sein. Am bekanntesten war die Stadt natürlich für das rote Vulkansalz mit seinen besonderen Heilfähigkeiten, aber an zweiter Stelle war sie vor allem für ihre begnadeten Ärzte, Heiler und Schulen der Heilkünste bekannt.
 

„Aber ich dachte, deine Mutter hätte den Namen ihres Mannes angenommen?“, hakte Molokosh beharrlich nach.

Daniel nickte. „Hat sie auch. Nach drakonischem Brauch war sie verheiratet und Frau Rosalie Daragan.“ Er lächelte, ein wahres, echtes Lächeln. „Nach Engelsgesetz war sie aber immer noch Fräulein Rosalie Liebrenn, unverheiratet aber mit einem deutlich älterem Drachen zusammen wohnend und bald darauf unverheiratete Mutter.“ Er zuckte mit den Schultern. „Weswegen mein Name, was das Engelsrecht angeht, auch Daniel Liebrenn ist.“
 

Etwas in Dakkas Geist schien sich aneinander zufügen bei dieser Erklärung des Heilers. Es war fast so, als würden einige Puzzlestücke richtig zusammen gesteckt.
 

Er sah eine Frau vor seinem inneren Auge. Keine umwerfende Schönheit, aber sie besaß dieses ‚gewisse Etwas’, dass einem ein warmes, geborgenes Gefühl gab. Die Art Frau, die auch ohne wunderschön auszusehen attraktiv und charismatisch wirkte.

Ihr Haar war braun und obwohl sie wie eine Engeldame aussah, trug sie ein knielanges dunkelblaues Kleid mit drakonischen Runen. Sie lief durch eine breite, von vielen Leuten begangene Straße und wurde von einem hochgewachsenem, grauhaarigem Drachen begleitet, der augenscheinlich kampferfahren und gut bewaffnet war. Die Wölbung ihres Bauches verriet, dass sie schwanger war.
 

Seine Sicht schaltete sich um und die Welt verschwamm zu bunten Farben. Die Frau war ein gleichmäßig pulsierendes, angenehmes Weiß-Rot, doch in ihrer Bauchgegend zuckte und pulsierte ein zweites Leben, ein kleines Bündel voller Energie und Tatendrang. Das Kind war stärker, viel stärker als die Mutter oder der Drache neben ihr.
 

„Milosh, du brauchst mich nicht zum Einkaufen begleiten.“ Die Frau sah ihren drakonischen Begleiter mit einer Mischung aus Vorwurf und Belustigung an. „Das schaffe ich auch alleine.“

Der Drache, Milosh, schüttelte nur seinen Kopf. „Quatsch. In deiner Verfassung solltest du dich nicht überanstrengen, das hat sogar dein lieber Mann gesagt.“

Die Frau schnaubte. „Zaresh macht sich zu viele Sorgen. Mir geht es- uff!“
 

Beide waren so vertieft in ihr Gespräch gewesen, dass sie Dakkas nicht gesehen hatten, bis die Frau in ihn hinein gelaufen war. Schnell packte der Kleinere die Schwangere am Handgelenk und balancierte sie beide aus. Milosh umfasste die Schultern der Engelsfrau und zog sie einen Schritt von Dakkas weg.
 

„Alles in Ordnung, Rosalie?“

„Ja, ja.“ Die Frau sah Dakkas entschuldigend an. „Verzeiht, Herr.“

Dakkas Sicht hatte sich wieder umgeschaltet und jetzt konnte er den warmen Ausdruck in den Augen der Frau erkennen. Der Kleinere lächelte. „Nicht doch, es ist genauso meine Schuld. Man sollte nicht gedankenverloren in die Gegend starren auf so einer belebten Straße.“
 

Die Muskeln des Drachen entspannten sich merklich, als Dakkas keinerlei böswilligen Handlungen unternahm. Als wenn er aggressives Handeln erwartet hatte…

Doch Dakkas hielt sich nicht mit dem angespannten Drachen auf. „Elf gesegnete Monate für Euch.“, sprach der Kleine den traditionellen drakonischen Glückwunsch für eine Schwangerschaft aus. Milosh der Drache entspannte sich vollends und Rosalie lächelte.

„Danke, Herr. Fünf sind davon schon um.“

Dakkas lächelte die stolze werdende Mutter an. „Habt Ihr schon einen Namen?“

„Dartesh.“, verkündete die Engelsdame fröhlich, bevor sie und ihr Begleiter sich verabschiedeten.


 

„Daniel… Daniel war nicht dein eigentlicher Name, oder?“, sprach Dakkas, als er wieder den Schankraum vor sich sah. Der Heiler blickte überrascht auf und sah den lächelnden Dakkas fragend an. „Deine Mutter schien sich von ihrer Familie lossagen zu wollen. Sie hätte dir keinen Engelsnamen gegeben.“

„Du hast Recht, Dakkas.“, gab Daniel leise zu. „Bei meiner Geburt bekam ich den Namen Dartesh.“
 

Das war in der Tat ein drakonischer Name. Und es bewies, dass Dakkas einmal in der Vergangenheit Daniels Mutter getroffen hatte, wenn auch nur flüchtig und im wahrsten Sinne des Wortes. Es bedeutete jedoch auch, dass er selbst einiges älter als der Halbdrachen Heiler sein musste.

Die Erkenntnis traf Dakkas wie ein Schlag. Er war alt.

Die zweite Erkenntnis kam kurz nach der ersten. Sein Gedächtnis schien sich zu reparieren; so, wie Daniel es ganz am Anfang vorausgesagt hatte. Dinge, die er schon einmal gehört oder gesehen hatte, weckten Erinnerungen in ihm.

Innerlich grinste Dakkas bis über beide Ohren. Äußerlich trank er etwas von dem komischen Alkohol in seinem Glas, um zu feiern. Fast sofort bereute er es. Nur schwerlich unterdrückte er einen Husten und entschied für sich, dass starker Alkohol nicht sein Ding war.
 

„Ich kannte dich all die Jahre lang nur als Daniel Daragan. Warum hast du einen Engelsnamen angenommen?!“, wollte Molokosh wissen. Der Schwarzhaarige klang nicht erbost, allerdings auch nicht wirklich froh.

„Habe ich nicht… nicht wirklich. Nachdem… Nachdem Großvater meine Mutter hatte umbringen lassen, hat Papa lange Zeit versucht, es beweisen zu können, dass Großvater der Verantwortliche war. Er hat es nicht geschafft.

Als Großvater starb entdeckte mein Onkel, dass ich nach Engelsrecht erbberechtigt war. Mama hatte mich als Daniel Liebrenn bei der Volkszählung eingetragen. Es ist also mein Name, wenn man so will.“
 

„Warum hat sie das gemacht, wenn sie nichts mehr mit ihrer Familie zu tun haben wollte?!“ Jareds Frage schwirrte in den Köpfen aller Anwesenden umher.

Daniel grinste trocken. „Rache, wie nur meine Mutter sie nehmen konnte.“ Auf die unverständigen Blicke der anderen hin erklärte er: „Ein männlicher Nachfahre ist nach Engelsrecht immer erbberechtigt. Auch, wenn er unehelich ist, Vorraussetzung jedoch ist dann, dass er der letzte männliche Nachkomme ist. Zur damaligen Zeit hatte mein Onkel zwei Töchter in jungen Jahren und eine schwangere Frau, aber noch keinen Sohn.“
 

Dakkas runzelte seine Stirn. „Was dich zum Erbgrafen machte.“

Daniel nickte und seufzte.

„Großvater hatte Mama umbringen lassen, weil sie ihn und die Familie ‚öffentlich beleidigt und hintergangen’ oder einen ähnlichen Schwachsinn getan haben sollte. Ich war für ihn nicht von Interesse – warum sich mit einem Halbdrachen-Bastard abgeben? Aber für meinen Onkel war ich plötzlich eine Gefahr.“

„Er wollte dich beseitigen.“, schloss Shan und Daniel nickte.

„Papa schickte mich zu einem Freund der Familie, in dessen Obhut ich bleiben sollte. Graf Tishken Gra vom Klan der Trec’ba.“
 

Molokosh blinzelte. „Tishken Gra… der Boreas-Anhänger?“

Daniel nickte. „Ein bekennender Gläubiger vom Gott des Verrats und der Intrigen. Attentäter machen einen großen Bogen um Boreas-Anhänger, ich war also ziemlich sicher bei dem Grafen. Papa… blieb in Den-Seng und nach seinem Tod wollte ich eine Erinnerung an meine beiden Eltern haben, also mischte ich meine Namen.“ Er breitete seine Hände aus. „Daniel Daragan.“

Mit einem langen, schweren Seufzer beendete Daniel seine Erzählung. „Einige Zeit später landete ich dann in der Grauen Zone, wo Ihr mich kennen lerntet, Lanar.“
 

Dakkas umklammerte sein Glas. Er hörte zum ersten Mal, dass Daniel ebenfalls in der Grauen Zone gelebt hatte. Das war fast noch interessanter als sein adliger Hintergrund und seine Kindheit bei einem Grafen der Drachen.

Daniel war also ebenfalls ein Grauzonler, wenn man so wollte. Anders als Shan oder Jared hatte er sich jedoch nicht diesem mysteriösen Meister angeschlossen, sondern war irgendwie an Molokosh geraten.
 

Markus nutzte die plötzlich entstandene Stille, um sich zu räuspern. Als Daniel aufsah, blickte der ältere Engel ihn besorgt an.

„Verzeihung, Herr, aber Ihr solltet da etwas wissen…“

Daniel runzelte seine Stirn. „Was gibt es da denn noch zu wissen? Den Titel zu bekommen…“ Der Halbdrache schnaubte. „Das ist mit zuviel Aufwand verbunden. Jeder Engel, der könnte, würde sich quer stellen, nur damit kein ‚Halbling’ einen alten Adelstitel kriegt.“
 

Der Herbergsvater verzog seine Lippen zu einer bizarren Grimasse. „Genau da habt Ihr unrecht, Herr.“

Daniel sah Markus fragend an. Auch Shan, Jared und Molokosh wirkten sehr interessiert.

„Seitdem Praina Hohensonn an den Königshof zurückgerufen wurde, hat sich einiges verändert.“, meinte der Herbergsvater.

„Zurückgerufen?“ Molokosh stellte sein Glas ab und mischte sich in das Gespräch mit ein. „Ich dachte, er wäre bloß wieder da aufgekreuzt und hätte die Adligen geärgert, nicht, dass er offiziell zurückgerufen wurde.“

Der Name Praina Hohensonn war Dakkas bekannt, aber er hatte keine Ahnung, worüber gerade gesprochen wurde. Der Mann war der Bruder des Sonnenkönigs, es gab also keinen Grund, warum er nicht am Königshof sein sollte.
 

„Nein, nein.“, setzte Markus sofort zu einer Erklärung an. „Seine Verbannung ist aufgehoben worden. Oder zumindest scheint es so. Einige seiner Gesetzesvorschläge sind angenommen worden und er hat immer mehr Macht im Königspalast. Seine blaue Garde wurde sogar offiziell wieder eingesetzt und alle inhaftierten Mitglieder freigelassen.“
 

Dakkas war sehr froh, dass er saß und sein Glas nicht fallen lassen konnte, da es auf der Theke stand.

Praina Hohensonn war verbannt worden, warum auch immer. Mitglieder seiner Garde waren inhaftiert worden.

Er hatte sich in seiner Erinnerung nicht mit einem Prinzen oder Königsanwärter getroffen, sondern mit einem Verbrecher im Exil. Kein Wunder, dass der Engel einen Schlüssel von seinem Bruder geklaut hatte. Besagter Bruder hatte ihn ja anscheinend schon zum Freiwild erklärt.
 

Aber was hatte Molokosh gerade gesagt: Dort wieder aufgekreuzt um die Adligen zu ärgern…

Anscheinend hatte Praina sich nicht großartig an seiner Verbannung stören lassen. Und trotz der offiziellen Verbannung hatte er sich noch frei im Engelsreich bewegen können.

Da stimmte doch etwas nicht. Irgendeinen Trumpf musste der Hohensonn im Ärmel haben, der es für seinen Bruder unmöglich machte, ihn wirklich ernsthaft verfolgen zu lassen. Und Dakkas hatte so dieses Gefühl, dass dieser Trumpf nicht nur das Blut in seinen Adern und seine Abstimmung war.
 

Doch das hatte sich jetzt, aus welchem Grund auch immer, geändert. Irgendetwas war geschehen, das Hepai Hohensonn veranlasst hatte, seinen Bruder wieder am Hof zu dulden. Und dieses Etwas musste groß gewesen sein.
 

„Das sind interessante Neuigkeiten, aber was haben die mit meinem möglichen Titel zu tun?“, warf Daniel ein.

Markus lächelte sanft. „Die blaue Garde hat angefangen, ihre alten Tätigkeiten wieder aufzunehmen. In erster Linie die sinnvolle Wahrung der Gesetze im Reich. Und der Herr Praina erwartet, dass sich jeder hundertprozentig an diese Gesetze hält, auch Adlige. Ihr kennt doch sicherlich das reichsweite Erbrecht, oder, Herr Liebrenn?“

Daniel schien angestrengt nachzudenken. „Damit habe ich mich nie wirklich beschäftigt. Ich weiß, dass jeder männliche Nachkomme erbberechtigt ist und…“ Der Heiler blinzelte. Als er wieder sprach, war seine Stimme heiser.

„Der nächste erbberechtigte Nachkomme hat nach dem Tod des vorherigen Titelträgers vier Monate Zeit, um den Titel zu beanspruchen, bevor der nächste Berechtigte es tun darf.“
 

Markus nickte. „Der Großhändler Merwen, der Freund Eures Cousins, will Eure Großcousine heiraten und den Titel so bekommen… aber die blaue Garde lässt den Ehe-Absichtsvertrag nicht in Kraft treten, solange die vier Monate nicht herum sind und Ihr noch lebt.“
 

Daniel starrte leblos in sein Glas und die anderen am Tresen sitzenden starrten geschockt ihren Heiler an.

„Daniel hier wäre also ein ganz legitimer Adliger, wenn er diesen Titel annehmen würde?“, hakte Jared nach. Markus nickte, doch Daniel lachte bloß heiser.

„Ein Titel ohne jeden Wert. Die Liebrenns haben seit mehreren Generationen praktisch kein Vermögen mehr. Was immer auch übrig war, haben mein Onkel und mein Cousin vollends verschleudert. Es ist praktisch nichts mehr, außer einem Titel.“
 

„Warum sollte dieser Merwen deine Großcousine dann heiraten wollen?“, wollte der Halbwolf genervt wissen.

Dakkas kam Daniel beim Beantworten zuvor. „Weil er ein Großhändler ohne Titel ist. Das Geld hat er wahrscheinlich schon, der Titel ist, was er will. Oder?“

Daniel nickte stumm.

Jared runzelte seine Stirn. „Warte mal, wie alt soll das Mädchen gleich noch gewesen sein? Zwölf? Wie kann man denn so ein junges Ding heiraten?“

„Eheverträge, Ehe-Absichtsverträge, Handel zwischen reichen und oder adligen Familien…“ Daniel zuckte mit den Schultern. „Es ist immer noch üblich, solche Verträge oder Versprechen abzuschließen.“

„Aber… zwölf?“ Der Werwolf schüttelte sich. „Die arme Kleine. Mit so jungen Jahren einen älteren Kerl heiraten zu müssen…“
 

Ein lautes Schnauben ertönte hinter den am Tresen sitzenden. Geglash war von seinem Platz bei Xin-Mei und Ischa aufgestanden und hinter Sar’Shan getreten.

„Komisch, bei diesen Worten fällt mir diese vorlaute kleine Halbwerwolf ein, der es sich mit nicht ganz 16 Jahren in den Kopf gesetzt hatte, meinen Kommandanten ins Bett zu kriegen.“ Der blauhaarige Drache grinste schief.

Dakkas lachte leise und selbst Molokosh zog amüsiert seine Augenbrauen hoch. Shan seufzte und Jared schmollte. „Und er hat trotzdem darauf bestanden, zu warten bis ich 19 bin.“ Als Antwort bekam der Halbwolf einen Kuss von seinem Liebhaber.
 

Daniel hatte angestrengt auf das Glas vor ihm gestarrt, seitdem Jared von der armen Kleinen gesprochen hatte. Nun sah der Heiler auf und fragte Markus, wo und wie man den Titel würde annehmen können. Dakkas hatte eine sehr gute Vermutung darüber, warum der Heiler plötzlich doch an seiner Engelsfamilie interessiert war.
 

„Die blaue Garde kümmert sich darum. Ihr müsstet in eine ihrer Garnisonen gehen.“, war die Antwort des Herbergsvaters.

„Gibt es denn schon wieder welche?“, fragte Geglash ungläubig. „Wir hatten nur gehört, dass sie wieder offiziell eingesetzt wurde, aber nicht, dass die Garnisonen wieder belegt wurden…“

Der alte Engel lächelte. „Oh doch, einige stehen schon wieder unter Befehl der blauen Garde. Eine in Großgaren, eine in der Hauptstadt natürlich, eine in Friedesaue, eine in Wachtburg und eine in Vilai.“

Dakkas horchte auf. „Vilai? Der ehemalige Elfenaußenposten südlich von Tirin?“

Markus nickte. „Genau die Stadt.“
 

Man konnte Daniel seine Gedanken förmlich aus seinem Gesicht ablesen. Es herrschte Stille, bis Molokosh einmal schwer seufzte. „Du willst den Titel annehmen, um das Mädchen beschützen zu können, oder?“

„Ich kann nicht zulassen, dass sie an einen alten, gierigen Sack gefesselt wird.“

Molokosh lächelte. „Du bist zu gutmütig.“ Der Drache rieb sich die Schläfe. „Dann machen wir eben einen Abstecher nach Vilai. Du hast ja noch… ungefähr drei Monate Zeit, richtig?“ Der Heiler nickte freudig.
 

Nachdem ihr baldiger Ausflug nach Vilai beschlossene Sache war, bezogen sie alle ihre jeweiligen Zimmer beziehungsweise Schlafräume. Wie sich herausstellte, gehörte nicht nur das eine zur Straße hin gelegene Haus zur Herberge, sondern auch noch zwei etwas längere Bauten und einem angeschlossenem Stall, die einen Innenhof mit dem Schankhaus teilten.
 

Schnell war der Beschluss gefasst, den Rest des Tages als Verschnaufpause zu nutzen. Sie waren inzwischen etliche Tage gereist und ein halber Tag von Ruhe konnte ihnen allen nur gut tun. Außerdem würde der weitere Verlauf viel Planung und Vorsicht erfordern. Schließlich wollten sie in ein Dogenhaus einbrechen.

Wie gewohnt belegten Molokosh und Nostradamus ein Zimmer, Daniel und Dakkas das andere. Zunächst trafen die vier, zusammen mit Jared und Sar’Shan, sich jedoch in dem Zimmer der de’Sahr Brüder.
 

„Also, wie genau soll das jetzt funktionieren?“, wollte Shan wissen und sprach somit die Frage aus, die jeder der Anwesenden sich stellte.

„Nostradamus kann uns sagen, wo Olivier wohnt. Am sichersten wäre es wohl, ihn früh morgens aufzusuchen.“, schlug Dakkas vor.

„Nicht abends?“, meinte Jared verwirrt.

Dakkas blinzelte. Ja, die meisten Leute hätten wohl spät abends oder nachts so einen ‚Besuch’ getätigt, aber sein Geist hatte diese Möglichkeit fast selbstverständlich aussortiert. Der Grünäugige gab sich Mühe, seine wirren Gedanken zu sortieren und geordnet wiederzugeben – sowohl für die anderen als auch für sich selbst.
 

„Nein. Jemand, der spät abends oder nachts komischen Besuch empfängt, fällt auf. Und man kann immer gesehen werden: Nachbarn, die gerade heimkommen oder ausgehen, jemand hat Besuch und öffnet die Türe… morgens hingegen achtet kaum jemand auf solche Dinge, weil man dem eigenen Tagesablauf nachkommen muss. Die Chance, dass man auffällt, ist kleiner, wenn alle zu beschäftigt sind um auf einen zu achten.“, beendete Dakkas seinen kleinen Vortrag.
 

„Da stimme ich fast zu.“, brummte Molokosh, „Aber wer soll ihn besuchen? Wir alle?“

Dakkas überlegte und schüttelte seinen Kopf. „Das würde zuviel Aufsehen erregen, auch wenn wir noch in den dunklen Morgenstunden an seiner Tür stehen würden.“ „Alleine wirst du auf gar keinen Fall gehen!“ Molokoshs Augen funkelten, als er sprach und eine Hand auf Dakkas Schulter legte.
 

Der Grünäugige blinzelte und verschränkte dann seine Arme. „Erstens habe ich das gar nicht vorgeschlagen und zweitens kann ich auf mich selbst aufpassen.“ Molokosh sah aus, als wollte er widersprechen, aber Dakkas stechender Blick ließ ihn seinen Mund wieder schließen. Seufzend zog er seine Hand von der Schulter des Kleineren zurück.

„Was schlägst du dann vor?“
 

„Jared kann mitkommen.“ Die Drachen sahen den Halbwolf verdutzt an. Dieser sah auch überrascht aus ob dieser Aussage. „Ich?!“

„Ja, natürlich.“ Dakkas lächelte. „Solange du deinen Mund nicht aufmachst oder jemanden anknurrst, hält dich jeder für einen Engel. Das Aussehen dazu hast du.“

Der Zauberer gab ein halblautes Knurren von sich und brummte: „In einigen Teilen meiner Heimatstadt wäre das eine Beleidigung gewesen.“

Dakkas schmunzelte. „Dann kannst du ja froh sein, dass wir nicht in deiner Heimatstadt sind.“
 

Molokosh schien den Vorschlag abzuwägen, aber Sar’Shan war nicht damit einverstanden. „Die Idee ist Scheiße.“ Der Vash-Anhänger zog seinen Geliebten in seine Arme und umklammerte ihn. „Wir haben keine Ahnung, ob wir diesem Jerome trauen können oder nicht. Ihr beide werdet nicht ohne Schutz zu ihm gehen.“ „Wie bitte?!“ Jared streckte seinen Kopf nach oben, so dass er Shan in die Augen sah. „Ohne Schutz?! Ich glaub, ich hör nicht richtig.“

„Schatz… so war das nicht gemeint und das weißt du.“ Der Drache gab dem Werwolf einen Kuss. „Ich mache mir nur Sorgen. Schließlich ist das ein Doge.“

Jared blinzelte und setzte kurz darauf ein zuckersüßes Lächeln auf. „Liebling, deine Sorge wurde zur Kenntnis genommen.“ Nach diesen Worten stellte Jared sich auf seine Zehenspitzen und zog Shans Kopf herunter, so dass er dem Drachen etwas ins Ohr flüstern konnte.
 

Was auch immer es wahr, es ließ Shan feuerrot werden und den Halbwolf aus seinen Armen entgleiten. Als Jared neben seinen Freund trat, lag ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht und Shan räusperte sich.

„Wenn Jared möchte kann er dich natürlich gerne begleiten, Dakkas.“

Dakkas grinste und Daniel schien in seine Hand zu lächeln. Molokosh zog nur amüsiert seine Lippenenden hoch. „Es ist immer gut zu wissen, wer der derganar ist, hm, Sar’Shan?“ Die einzige Antwort des Kriegerdrachens war ein dunkler Blick aus seinen grauen Augen, bevor er seinen Kopf wieder senkte.
 

„Also, ich hätte kein Problem damit, Dak.“ Jared lächelte. „Außerdem wollen wir deinen Dogenfreund ja nicht verschrecken, indem einer von den Großen an seine Tür klopft, hm?“

„So kann man’s auch sehen.“, bemerkte Daniel halbleise und fuhr sich dann seufzend durch die Harre. „Wo lebt der Herr noch mal?“

„Kreuzweg 6, Kleingaren.“, intonierte Nostradamus in einer emotionslosen Stimme und ließ so alle Anwesenden auffahren. „Hintereingang.“

Molokosh lächelte seinen Bruder an, der auf seinem Bett saß und stur aus dem Glasfenster des Zimmers starrte. „Danke, Nostradamus.“ Jared schüttelte seinen Kopf. „Nichts für ungut, aber daran werde ich mich nie gewöhnen.“
 

„Entschuldigt mich, aber ich will noch etwas mit Markus reden.“, meinte Daniel plötzlich. „Abgemacht ist also, dass Jared und Dakkas morgen früh diesen Olivier aufsuchen und mit ihm darüber sprechen, wie man uns alle ins Dogenhaus kriegt und wo wir uns alle treffen können?“

Als die Versammelten nickten, verließ Daniel mit einem kurzen Abschiedswort das Zimmer.
 

Shan sah ihm nachdenklich nach. „Diese Sache mit seiner Familie bedrückt ihn.“, meinte der Krieger schließlich. Jared seufzte leise. „Würde es das nicht jeden? Man sollte ihm etwas Zeit lassen.“

„Eine gute Idee.“, bestätigte Molokosh. „Könntet ihr euren Freunden sagen, dass sie ihn heute nicht aufregen sollen?“ Der Schwarzhaarige sah die beiden Grauzonler bittend an.

„Das brauchen wir ihnen nicht sagen.“, brummte Shan, etwas beleidigt. „Wir sind schließlich keine Barbaren.“

Molokoshs Blick sagte deutlich, dass das noch zur Debatte stand.
 

„Dieser Markus wusste erstaunlich viel über die neuesten Ereignisse.“ Dakkas fiel nicht auf, dass er diesen gedachten Satz laut gesprochen hatte, bis Molokosh ihm antwortete.

„Hast du nicht das Wappen hinter der Theke gesehen?“

Dakkas blinzelte. Wappen?
 

Er erinnerte sich an den Schankraum: Ein Raum wie alle anderen Schankräume in Engelstavernen. Hölzerne Tische, Stühle, eine Theke mit Stühlen davor, lange Reihen von Fässern, Flaschen und Gläsern. An der Seite die Tür zur Küche, aus der verlockende Düfte gekommen waren… Vielleicht würde er gleich etwas essen gehen.

Aber an ein Wappen erinnerte er sich nicht wirklich…

Halt, doch. Da war eins gewesen. Es war fast unsichtbar gewesen, sehr schlicht und einfach.

Ein kreisrundes Stück Stoff in einer sanften, hellblauen Farbe. Auf den Stoff war eine zweiter, kleiner Kreis von etwas dunklerem Blau gemalt oder gestickt worden und in diesen hinein wiederum eine Krone in einem sehr tiefem Dunkelblau.

„Hab’s nur am Rande wahrgenommen.“, sprach Dakkas schließlich.
 

„Das Wappen der blauen Garde.“, erklärte Molokosh. „Daniels Bekannte sind Praina-Loyalisten.“ Der Drache runzelte seine Stirn und zuckte dann mit den Schultern. „Kein schlechter Ort, um erst mal unterzukommen.“

„Die Grafschaften, die Praina Hohensonn treu blieben haben die ‚Experimente’ der Dogen für ungesetzlich erklärt.“, fügte Shan anbei. In der Stimme des Drachen schwang fast so etwas wie Respekt für den adligen Engel mit.
 

Praina Hohensonn war also ein Mann mit sehr unterschiedlichen Ansichten als sein Bruder und viele andere Engel. Dakkas merkte sich das und sinnierte darüber, was er noch mit dem Hohensonn zu tun haben könnte, während er sich auf den Weg zum Schankraum und einer warmen Mahlzeit machte.
 

Sein Gefühl sagte ihm, dass Praina und er mehr als nur einen Schlüssel und die Information über eine Trollfestung ausgetauscht hatten.
 

~*~
 

Die Herberge hatte einen erstaunlich guten Mittagstisch und Dakkas freute sich über die erste gute, warme Mahlzeit seit etlichen Tagen. Sogar Jared schien von den Kochkünsten der Frauen des Hauses beeindruckt: Der Werwolf kommentierte laut und lobend die Würzung des Fleisches und der Soße – obwohl er an Shan gewand immer noch meinte, dass die Soße mit rohem Fleisch noch besser schmecken würde.
 

Nach dem Essen verteilten die Mitglieder der Gruppe sich. Daniel setzte sich zu Markus an die Theke und dachte laut darüber nach, die Familie seines alten Kindermädchens zu besuchen. Jared ergriff Shans Hand und zerrte den Drachen mit sich in die Richtung ihres Schlafsaals. Über seine Schulter wies er die anderen Vash-Anhänger an, die nächsten Stunden dort nicht vorbeizuschauen.

Shan sah nicht so aus, als würde ihn das Verhalten seines Geliebten stören und von den wissenden Grinsen auf den Gesichtern des Trupps her geschah etwas dieser Art auch nicht zum ersten Mal.
 

Die Vash-Anhänger teilten sich in zwei Gruppen auf: Die eine wollte sich den Markt und die dortigen Geschäfte angucken, die andere begann ein Kartenspiel an einem der Tische in der Schankstube.

Molokosh bot Dakkas an, mit ihm etwas zu unternehmen, aber der Grünäugige lehnte ab.

„Die nächste Stunde will ich mal nichts tun, außer hier zu sitzen und zu faulenzen.“, meinte er.

Der Drache sah zwar etwas enttäuscht aus, akzeptierte die Antwort aber und entschwand ebenfalls in Richtung Markt.
 

Dakkas hatte die Wahrheit gesagt, er brauchte einfach einen Moment Ruhe nur für sich. Einen Augenblick, in dem er mal nichts weiter zu tun hatte als atmen und entspannen.

Die Schankstube war etwas voller geworden im Verlauf ihrer Mahlzeit und jetzt waren einige der Tische besetzt. Die Karten spielenden Vash-Anhänger schienen so etwas wie eine kleine Kuriosität zu sein, denn die anderen Gäste beobachteten sie neugierig und interessiert. Wie eine Ansammlung seltener Tiere.
 

Ungewollt musste Dakkas schnauben und seinen Kopf schütteln. Kein schöner Vergleich für Shans Trupp, aber doch ein sehr passender. Einige dieser Leute hatten wahrscheinlich noch nie etwas wie einen Drachen oder Visha gesehen.
 

Der plötzlich stärker werdende Wind ließ die hölzernen Fensterläden an der Außenseite des Hauses klappern und Dakkas, der am Fenster saß, auffahren.

Der Grünäugige blickte durch das erstaunlich saubere Fenster nach draußen und sah das im Wind schwingende Tavernenschild der Herberge. Der Himmel war etwas dunkler geworden, als wenn es bald regnen würde und zusammen mit dem stärker werdenden Wind sah es aus, als würde es bald einen Sturm geben.

Dakkas hatte schon mal besseres Wetter gesehen.
 

Lachen dröhnte von einem voll besetzten Tisch in der Ecke herüber und Dakkas drehte seinen Kopf in die Richtung. Eine Gruppe älterer Herren, Engel, rauchte Pfeife, trank Bier und schien über irgendeinen Witz zu lachen. Evelyn, die Herbergsmutter, brachte ein Tablett mit einigen belegten Brotscheiben und stellte es vor den Gästen ab. Die Gäste grüßten, Evelyn grüßte zurück. Ein kurzes, freundliches Gespräch entstand, bevor Evelyn ging und sich wieder ihrer Arbeit widmete.
 

Dakkas sah wieder aus dem Fenster.

All das besaß so eine heimelige Atmosphäre, ein gutes Gefühl. Das komische Gefühl, dass kurz vor Kleingaren von ihm Besitz ergriffen hatte, war wie weg geblasen.
 

Das Rascheln von Kleidung ihm gegenüber riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah Nostradamus, der einen Becher mit heißem, dampfenden Tee in seinen Händen hielt.

Der Kleinere blinzelte. Er hatte bisher noch keinen Tee in der Herberge gesehen.

„Wo hast du den her?“

Der Seher lächelte und nahm einen großen Schluck des heißen Gebräus. Wäre er kein Drache gewesen, hätte er sich den Mund und den Hals verbrüht. „Evelyn. Nette Frau.“

Es wunderte Dakkas nicht sonderlich, dass Nostradamus Tee von der älteren Dame bekommen hatte. Der Seher wirkte durch seine geistige Abwesenheit manchmal äußerst zerbrechlich. Evelyn wollte ihm wahrscheinlich etwas Gutes tun.
 

„Kleingaren hat eine Universität.“, sprach der grauhaarige Drache plötzlich und brachte so Dakkas ganze Aufmerksamkeit auf sich.

„Universität?“

Nostradamus nickte, sein Blick immer noch auf das Fenster und die Welt dahinter gerichtet. „Eine sehr gute. Magische Künste, Rhetorik, Geschichte, Sprachen, Technische Wissenschaften. Wer es sich leisten kann und aufgenommen wird, schickt sein Kind hierher.“
 

Das war zwar interessant zu wissen, aber Dakkas sah den Grund dafür nicht, warum der Seher ihm davon erzählte. Doch halt…

„…Du hast gesagt, ich hätte unterrichtet.“ Die Luft blieb ihm in der Kehle stecken und seine Stimme wurde heiser. „Hier?!“

Der Seher lächelte und trank einen Schluck Tee. „Nein, nicht hier. Ein, zwei Mal eine Gastvorlesung, aber soweit ich weis, warst du nie lange hier.“
 

Dakkas Herz pochte weiter, wo es ihm gerade noch vorgekommen war, als hätte es still gestanden. „Nicht hier.“

„Nicht hier.“, wiederholte Nostradamus sich, bevor er fortfuhr. „Aber die Universität hat eine öffentliche Bibliothek.“

Dakkas spitze seine Ohren. „Ja?“ Der Seher musste einfach auf etwas hinaus wollen mit diesem Gespräch.

„In der Bibliothek gibt es eine Abteilung für ‚Magische Vorkommnisse’. In dieser Abteilung gibt es ein Buch – ‚Das Kompendium magischer Lebewesen’. Es steht im dritten Regal, das nach dem Bild vom heiligen Emil kommt. Nah am Fenster, nah am Boden.“

Der Seher blinzelte und sah kurz zu Dakkas, bevor er wieder das Fenster anstarrte. „Du solltest in dem Buch unter dem Begriff ‚Avatar’ nachschlagen.“
 

Dakkas starrte den Seher an. Das war eine sehr genaue Beschreibung und eine sehr eindeutige Anweisung. „Warum? Warum ist das wichtig?“

„Vielleicht ist es das gar nicht.“, meinte Nostradamus. „Vielleicht wäre es überflüssig, dass du es dir anguckst und durchliest. Vielleicht nützt es eh nichts. Aber ich gehe nur ungern Risiken ein, die sich vermeiden lassen.“ Der Seher lächelte und trank von seinem Tee.
 

Dakkas hatte seine Stirn gerunzelt und blickte auf seine Hände, die vor ihm auf dem alten Holztisch lagen. „Du hast wieder irgendwas gesehen, nicht war? Etwas möglicherweise gefährliches.“

Nostradamus wandte seinen Blick vom Fenster ab und sah Dakkas an. „Jeder Augenblick in deiner Gegenwart ist gefährlich. Jeder Augenblick in meiner Gegenwart ist gefährlich. Jeder Augenblick in Sar’Shans Gegenwart ist gefährlich – obwohl Daniel fast genauso gefährlich sein könnte, wenn er wollte.“ Nostradamus schmunzelte und Dakkas hatte kaum Zeit sich zu fragen, warum Daniel so gefährlich sein sollte, bevor der Seher fortfuhr: „Würde ich mir Sorgen über Gefahren machen, würde ich keine Zeit für irgendetwas anderes finden.“
 

„Aber du machst dir gerade Sorgen über irgendetwas.“, beharrte Dakkas. Innerlich fluchte der Grünäugige. Dieser Seher war verschlossener als eine zwergische Schatzkammer mit magischen Schutzvorrichtungen.

Nostradamus stockte und schien etwas zu kalkulieren, bevor er zögerlich sagte: „Es wäre möglich, dass wir uns in eine Sackgasse manövriert haben.“

Dakkas fühlte, wie ihm eiskalt wurde. „Sackgasse?! Was soll das heißen?!“

Der Seher lächelte humorlos und schüttelte nur seinen Kopf. „Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen. Ich kümmere mich um die Sackgasse, du liest das Buch.“ Der Grauhaarige legte seinen Kopf schief. „Einverstanden?“

„Habe ich eine große Wahl?“, fragte Dakkas zurück, seufzte aber resignierend. „Also gut. Ich gehe in die Universitätsbibliothek und schlage in dem Buch unter ‚Avatar’ nach.“

Nostradamus lächelte beruhigt und trank seinen Tee.
 

Dakkas hatte große Lust, dem Grauhaarigen einen Schlag ins Gesicht zu verpassen.
 

~*~
 

Die Universität in Kleingaren war ein Komplex von mehreren Steingebäuden, die zusammen einen relativ großen Häuserblock der Stadt darstellten. Die Geschäfte in diesem Teil der Stadt waren größtenteils Bücherläden, kleinere Tavernen und Herbergen sowie gemischte Geschäfte, die eine große Menge kleiner, unterschiedlichster Dinge anboten. Junge Engel, Elfen und Feen stellten den Großteil des Straßenbildes dar.
 

Die Bibliothek war in einem besonders alt aussehendem Steingebäude untergebracht, das aussah, als wäre es schon mindestens genauso alt wie das Gebirge, auf dem die Stadt errichtet wurde. Aber vielleicht war das auch einfach nur Absicht und sollte das Alter und die Ehrwürdigkeit der Universität unterstreichen. Jedenfalls hatte Dakkas keinerlei Probleme, die Bibliothek zu betreten und die von Nostradamus erwähnte Abteilung zu finden.
 

Man schenkte ihm auch keine große Beachtung; weder die in Roben gehüllten Bibliothekare noch die verschiedenen anwesenden Studenten schienen ihn großartig zu bemerken. Dem Schwarzhaarigen fiel auch bald auf wieso: Sein jugendliches Aussehen zusammen mit seiner etwas besseren, wenn auch eindeutig gebrauchten Kleidung, ließen ihn wie bloß einen weiteren Studenten aussehen.
 

Sein Aussehen ließ ihn seine Stirn runzeln, während er nach dem von Nostradamus erwähntem Heiligenbild suchte.

Er sah jung aus, das wusste er. Bislang hatte er sich nicht darüber gewundert, wie viel er in seinem bisherigen Leben bereits unternommen zu haben schien, da die Wesen Kvi’stas unterschiedlich alt werden konnten.

Der durchschnittliche weiße Engel schaffte locker 400 bis 500 Jahre. Elfen und Bowen ebenfalls, wobei letztere durchschnittlich etwas länger lebten.

Die Drachen hatten mit rund 800 möglichen Jahren die längste Lebensspanne aller Völker Kvi’stas. Da ihre größte Freizeitbeschäftigung jedoch das gegenseitige Töten war, erreichten nur sehr wenige von ihnen mehr als 300. Wenn es nicht hin und wieder ein paar glückliche, einsiedlerische Drachen geben würde, die tatsächlich rund 800 Jahre alt wurden, würden sie wohl für die kürzeste Lebensspanne bekannt sein.
 

Tatsache war jedoch: Dakkas war älter als Daniel und schien sich äußerlich so gut wie gar nicht verändert zu haben. Das schloss eine Menge möglicher Herkunftsvölker für ihn aus. Übrig blieben Drachen und Werwölfe, die aufgrund ihrer Selbstheilung äußerlich langsamer alterten.

Oder die immer noch von Shan favorisierte Variante: Dämonenabkömmling. Insgeheim, musste Dakkas sich eingestehen, hatte er sich mit dieser Erklärung bereits angefreundet. Es würde wirklich viel erklären.
 

Bei all dem Nachdenken hätte er es beinahe geschafft, an dem Heiligenbild vorbei zu laufen. Erst als er schon fast dran vorbei war, erkannte er neben sich den Magierstab des Heiligen Emil und blieb abrupt stehen.

Das Bild war groß und zeigte den Heiligen im üblichen Gewand der Sonnenpriester, zusammen mit seinem Magierstab. Im zu Füßen lag eine Art dämonischer Hund, blutend aus vielen Wunden und offensichtlich kurz vorm Sterben, wenn nicht schon ganz tot.

Das sollte höchstwahrscheinlich Quar-ta sein, der Hundedämon, für dessen Tod Emil heilig gesprochen worden war.
 

Da er an seinem Ziel angekommen war, machte Dakkas sich daran, dieses ‚Kompendium’ zu suchen.

Was sich als schwieriger als angenommen herausstellte.

Das dritte Regal zu finden war absolut kein Problem. Nah zum Fenster hin und nah am Boden engte die Suche auch noch etwas ein, aber trotzdem waren das immer noch etliche Bücher. Fast war der Grünäugige sich sicher, dass irgendein Magier das Regal verzaubert hatte, nur damit mehr Bücher als eigentlich möglich drauf passten.
 

Zwanzig Minuten später förderte seine Suche endlich das Kompendium zutage: Ein dicker, abgegriffen aussehender Wälzer von schier unfassbarem Gewicht. Dakkas hatte vorgehabt, den Begriff ‚Avatar’ eben im Stehen nachzuschlagen, aber das Ding wollte er nicht ewig in der Hand halten.
 

Fünf Minuten später saß er an einem der alten Holztische, die überall in der Bibliothek verteilt waren, und schlug den Ledereinband des alten Buches auf.

Die Schrift war erstaunlich gut lesbar, obwohl das Buch in der alten Schrift des Engelskönigreiches gedruckt worden war. Dakkas hatte keine Schwierigkeiten, es zu lesen.
 

Die kurze Einleitung überschlug er größtenteils. Dort schien nichts zu stehen außer allgemeinen Floskeln des Autors über die Herkunft der im Buch enthaltenen Informationen. Langweilig und uninteressant. Was er suchte war der Eintrag unter ‚Avatar’.
 

Glücklicherweise war das Buch alphabetisch sortiert und nicht nach den verschiedenen Arten der Magie oder etwas ähnlich idiotischem. Schnell blätterte Dakkas die Einträge unter ‚A’ durch, bis er endlich die Seite aufschlug, die mit großen Buchstaben ‚Avatar’ als Titel stehen hatte.
 

Das Kompendium magischer Lebewesen war genau das, was der Name andeutete: Eine Art Enzyklopädie für Wesen, die als ‚unnatürlich’ und magischen Ursprungs angesehen wurden. Dakkas hatte daher vielleicht eine Art Dämon, magischem Geist oder ähnlichem erwartet. Was jedoch tatsächlich unter dem Eintrag Avatar vermerkt war, ließ ihn stirnrunzelnd in den Stuhl sacken.
 

Avatar: Ein von göttlicher Magie verwandelter Einwohner Kvi’stas
 

Das versprach ja schon mal interessant zu werden.
 

‚Avatar’ ist die landläufige Bezeichnung für den obersten ausgewählten Verfechter einer Gottheit.

In seltenen Fällen tritt es ein, dass eine Gottheit einen ihrer Anhänger auserwählt, um besondere Aufträge oder Dinge zu erledigen, bewerkstelligen oder einzuleiten. Falls dies passiert, gibt die Gottheit dem ausgewählten Gläubigen einen dauerhaft anhaltenden Segen und schenkt ihm oder ihr einen kleinen Teil göttlicher Macht.

Avatare sind daher selten und normalerweise nur in Notzeiten anzutreffen.


 

Dakkas bekam an dieser Stelle das ungute Gefühl, dass Nostradamus von einer wirklichen Gefahr gesprochen hatte. Notzeiten bedeutete für Götter wahrscheinlich etwas anderes als für die Normalsterblichen Kvi’stas. Eine Notzeit, die so groß war, dass man einen Superkrieger auf der Welt brauchte, musste das Wort Not praktisch erfunden haben.
 

Avatare sind erfüllt von göttlicher Magie und erlangen somit fantastische Kräfte: Borbas der Schlächter vermochte flüssigen, brennenden Stein an seine Seite zu rufen; Leila die Weiße konnte durch Handauflegen die Purpurpest heilen.

Jeder Avatar erhält andere, von seiner Gottheit stammende Kräfte. Einige sind berühmt für ihre Wohltaten, andere für die Blutspur, die sie hinter sich ließen. In allen Fällen verfügt ein Avatar über einen fanatischen Glauben an seine oder ihre Gottheit: Da die Verwandlung sich nicht rückgängig machen lässt, wählt ein Gott nur mit großer Sorgfalt die Person aus, die so viel Macht erhalten soll.
 

Ja, das hörte sich tatsächlich nach großen Schwierigkeiten an. Warum ließ Nostradamus ihn das hier nachgucken? Würde bald ein Avatar auftauchen? War in diesem Moment einer erschaffen worden? War es nötig, dass ein Avatar erschaffen werden musste? Würden sie auf einen treffen?

Der Seher hatte einige Fragen zu beantworten, so viel stand fest. Und wenn Dakkas ihn dazu mit Hilfe seiner Magie fesseln musste, die Wichtigkeit von diesem Avatar-Zeug wollte er jetzt erklärt haben.
 

Das Augenmerk des Schwarzhaarigen fiel auf den letzten Abschnitt der Seite, wo noch eine kleine Liste vermerkt war. Da es nicht schaden konnte, las er auch diese.
 

Zu den bekannteren Avataren der Geschichte zählen:

Borbas der Schlächter, Avatar des zweiten Vash der ersten blutigen Ära;

Leila die Weiße, Avatar der dritten Mirabelle der zweiten blutigen Ära;

Sergei der Flinke, Avatar des ersten Turdas der chaotischen Ära;

Grom Eisenfaust, Avatar des Drengar der zweiten blutigen Ära
 

Blutige Ära… Chaotische Ära… Genau erinnerte Dakkas sich nicht an die Bedeutungen dieser Worte, abgesehen davon, dass es Namen vergangener Zeitalter waren. Aber die gebrauchten Adjektive hörten sich nicht sehr vielversprechend an.
 

Besorgt schloss er das Buch und stellte es an seinen Platz im Regal zurück.

Diese ganze Angelegenheit wurde immer komplizierter. Vielleicht sollte er sich mal genau anschauen, was um ihn herum passierte.
 

Sein Geist kramte die Erinnerung an eine stürmische Nacht in einer Hütte im Wald zutage. Und Cecilia, Göttin der Jagd und des Überlebens, die von einem ‚Umbruch’ gesprochen hatte. Die Göttin schien vor etwas warnen zu wollen, auch wenn Beauron ihn später vor ihr gewarnt hatte.
 

Jetzt wo er darüber nachdachte, Cecilia hatte ihn zwar warnen – beeinflussen – wollen, aber sie hatte nichts genaues gesagt. Nur genug, um sein Interesse zu wecken. Das war doch etwas suspekt… aber wahrscheinlich war es unmöglich, die Motive für ihr Erscheinen zu erahnen.

Trotz alledem glaubte Dakkas, dass dieser ‚Umbruch’ echt war. Irgendetwas geschah in Kvi’sta, dass viele Götter und mächtige Personen in Aufruhr versetzte.
 

Praina Hohensonn, der aus dem Exil zurück kehrte. Cecilia, die von einem Umbruch sprach. Beauron, der gefangen war und anscheinend von Dakkas befreit werden sollte. Dämonen, die unbedeutende Dörfer angriffen ohne ersichtlichen Grund. Nostradamus, der ihn auf obskurer Art und Weise vor Avataren gewarnt hatte – oder zumindest über diese Gotteskrieger informieren wollte.
 

Warum bei den Teufeln hatte er überhaupt mit alledem zu tun?! Es musste doch einen Grund geben, wegen dem er Beauron befreien wollte. Der Todesgott war schließlich verrückt, gefährlich und-

Nein, nein, das war Beauron nicht.
 

Während Dakkas die Bibliothek der Universität verließ, zeigten seine brüchigen Erinnerungen ihm Beauron, wie er mit einem Lächeln auf seinem Gesicht auf einer Holzschaukel saß und mehr wie ein verlorenes Kind als ein Todesgott aussah. In der Erinnerung umgab Beauron bereits das andersweltliche Gefühl, dass einen Gott verriet, wenn man wusste worauf zu achten war. Aber der kleine Junge auf der Schaukel schien so unschuldig und harmlos zu sein, während er mit seinen Füßen auf dem Boden scharrte.
 

Beauron war kein Monster, tief in seinem Inneren war er ein verschreckter Junge. Er hatte nie ein Gott sein wollen. Seine Gottwerdung war ein Unfall gewesen; ein schrecklicher, schrecklicher Unfall.

Dakkas würde den kleinen Gott befreien; ihm seine Freiheit wiedergeben. Das war sein Ziel gewesen, bevor er diese Amnesie bekommen hatte. Und er würde sich von so einem kleinen… Zwischenfall nicht stören lassen.
 

Bevor Dakkas zur Herberge zurück kehrte, erlaubte er sich noch einen Gang über den Markt. Da es bereits spät wurde, nahmen die Besucher des Marktes bereits immer mehr ab. So brauchte Dakkas sich nicht durch ein dichtes Gedränge wühlen.
 

Es gab zwar nichts, was sein Interesse weckte, aber in der Zeit konnte er sich gedanklich einige Fragen für Nostradamus zurecht legen. Und die besten Methoden dafür überdenken, wie er den Seher zum Antworten bringen könnte. Am liebsten würde er dem Grauhaarigen an die Kehle springen und Antworten fordern, aber da Nostradamus ein gutes Stück größer und muskulöser war, würde der Seher ihn wahrscheinlich mit einer Hand von sich fern halten können.

Außerdem würde Molokosh das nur sehr ungern sehen wollen, auch wenn Dakkas einen guten Grund hatte, um über den Seher frustriert zu sein.
 

Zur Abendmahlzeit kehrte er dann schließlich zum Königsgraben zurück.

Molokosh, Daniel, Jared und Shan saßen an einem der Tische und aßen eine recht ordentliche Mahlzeit. Die Vash-Anhänger waren auf drei umliegende Tische verteilt und wurden von Evelyn bewirtet. Markus stand hinterm Tresen und kümmerte sich darum, den vielen Bierbestellungen nachzukommen.

Es war erstaunlich voll geworden in der Herberge, und so musste Dakkas sich an anderen Gästen vorbei quetschen, um zu Molokoshs Tisch zu gelangen. Freundlicherweise schien Daniel ihm einen Platz neben sich, gegenüber von Jared, reserviert zu haben.
 

„Dakkas! Wir dachten schon, du wärst irgendwo in einem Straßenloch verschwunden.“, kommentierte Jared auch sofort mit vollem Mund, als der Kleinere sich an den Tisch setzte.

„Ich war in der Universitätsbibliothek.“

Jared verschluckte sich und musste husten. Shan klopfte seinem Liebhaber auf den Rücken und schüttelte gleichzeitig seinen Kopf. „Das wundert mich irgendwie nicht.“

„Was? Dass ich Bücher lese, oder dass Jared nicht richtig essen kann?“ Dakkas grinste frech. Jared schmiss mit einem Stück Brotkruste nach ihm. Molokosh stöhnte laut auf.

„Wunderbar. Wenn du damit fertig bist, dich wie ein Kind zu benehmen, Jared, kann ich dann mit Dakkas sprechen?“

„Halte ich dich denn davon ab?“, war Jareds Antwort, bevor er wieder in sein Brot biss.
 

Molokosh grummelte nur etwas unverständliches und wandte sich dann an Dakkas. „Wo ist Nostradamus?“

„Huh?“ Der Grünäugige war dabei gewesen, sich ein Brot zu schmieren und sah verwirrt von seinem mit Butter beladenem Messer auf. „Woher soll ich das wissen? Ich war fast den ganzen Nachmittag damit beschäftigt, erst die Bibliothek und dann ein Buch zu finden.“

„Ischa sagte, ihr hättet vorhin miteinander geredet und wäret zusammen gegangen.“ Molokosh hörte sich ernsthaft besorgt an.

„Nostradamus und ich haben uns unterhalten.“, bestätigte Dakkas, während er mit dem Knauf seines Messers auf Jareds Handrücken einstach. Der Werwolf zog seine Hand schnell von Dakkas Teller zurück. „Nimm dir deine eigene Scheibe Brot.“ An Molokosh gewandt fuhr er fort: „Nostradamus wollte sich um irgendetwas kümmern… etwas besorgen oder so, aber er hat mir nicht gesagt was und auch nicht, wohin er wollte. Eigentlich sind wir auch nicht zusammen weg, er muss kurz nach mir losgegangen sein oder so.“
 

Molokosh runzelte seine Stirn. „Und du hast ihn einfach gehen lassen?!“

Dakkas warf dem Schwarzhaarigen einen ungläubigen Blick zu. „Was hätte ich tun sollen, ihn am Tisch anketten? Tut mir ja Leid, dir das mitzuteilen, aber ich bin nicht für die Taten deines Bruders verantwort- Jared, kannst du nicht vom Teller deines Liebhabers klauen?!“ Grüne Augen sahen Jared eiskalt an, der beschämt grinsend erneut seine Hand von Dakkas Teller wegzog. Inzwischen zierte diese eine rote Furche, wo Dakkas Messer entlang gefahren war. „Wenn ich Werwolfblut auf meinem Brot finde, klaue ich dir deine Spielkarten.“
 

Shan seufzte betont laut und steckte seinem Freund seine angefangene Brotscheibe in den Mund. „Entschuldige, Dakkas. Gossenkind-Syndrom. Er bedient sich normalerweise von jedem Teller außer seinem eigenem.“ Um weiteren ‚Attacken’ auf Dakkas Abendbrot vorzubeugen schlang Shan einen Arm um Jared und zog ihn näher zu sich heran. Schnell wurde Dakkas klar, dass der Halbwolf sein eigentliches Ziel erreicht hatte, als Shan anfing ihn zu füttern.
 

Molokosh schob indessen seinen Teller von sich weg. „Ich hoffe, Nostradamus ist nichts passiert.“

„Ihm wird schon nichts zustoßen, Lanar.“, warf Daniel ein. „So gefährlich ist Kleingaren auch nicht, und außerdem kann Euer Bruder besser auf sich aufpassen, als man zuerst denkt, das wisst Ihr.“

Molokosh brummte leise etwas, nickte dem Heiler aber zu. „Trotzdem wäre es mir lieber, wenn er mir bescheid geben würde, bevor er losgeht.“

„Er wird schon noch wieder auftauchen.“, meinte Dakkas und zuckte mit den Schultern. Seiner Meinung nach konnte der Seher sich besser verteidigen als einige andere Mitglieder ihrer Gruppe.
 

Als Nostradamus auch zwei Stunden nach Mondaufgang noch nicht da war, wurde auch Dakkas langsam ungeduldig – Molokosh stolzierte eh schon im Schankraum auf und ab und machte die anderen Gäste nervös.

Der Seher hatte sich um ein Problem kümmern wollen. Das wusste Dakkas und sonst keiner. Inzwischen fragte der Grünäugige sich, ob er Molokosh von diesem Problem und dem Gespräch vorhin erzählen sollte.

Doch was würde das bringen, außer Molokosh erst recht besorgt zu machen? Dakkas hatte keine Ahnung, was der Seher vorhatte oder wohin er gewollt hatte. Das von ihm erkannte ‚Problem’ konnte praktisch jeder und alles sein. Sie würden niemals eine Chance haben, den Seher zu finden.
 

Irgendwann dann brachte Daniel es fertig, Molokosh zum Schlafen zu überzeugen. Es war spät, sie hatten keine Ahnung wohin Nostradamus unterwegs war und würden ihn so schnell auch nicht finden. Daniel ließ von Markus einen Botenjungen bestellen, mit dem der Heiler einige Nachrichten an alte Bekannte verschickte, die vielleicht helfen konnten, den Seher wiederzufinden. Antworten auf diese Nachrichten würden aber frühestens am nächsten Tag eintreffen.
 

Shan, Jared und die anderen Grauzonler waren ebenfalls unruhig geworden. Shan schlug vor, am nächsten Morgen in der Garnison nachzuschauen, ob dort jemand etwas wüsste. Schließlich würde es schon ausreichen, wenn Nostradamus beim Passieren einer Taverne in eine Schlägerei geraten war, um von den Gardisten aufgegriffen zu werden.
 

Dakkas lag in dieser Nacht wach in seinem Bett und starrte im Dunkeln die Decke an. Wenn sie morgen in der Garnison nichts über Nostradamus hören würden, würde er Molokosh von den Befürchtungen seines Bruders erzählen. Wer wusste, vielleicht würde Nostradamus ja auch mitten in der Nacht wieder in der Herberge auftauchen. Das hoffte Dakkas zumindest insgeheim.
 

Irgendwann fiel der Grünäugige dann doch noch in einen unruhigen, von vagen Alpträumen geplagten Schlaf. Beim Aufwachen erinnerte er sich nicht an den Inhalt der Träume, doch steckte eine eisige, bedrohliche Kälte in seinen Knochen, als wenn sein eigener Körper ihn vor etwas zu warnen versuchte.
 

Und Nostradamus war immer noch verschwunden.
 


 


 

--------------
 

Nostradamus, ashxa itkig? – Nostradamus, wo bist du?
 

derganar, Nomen, männlich – Hausherr, Ehemann, traditioneller Familienvorstand einer drakonischen Familie



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (31)
[1] [2] [3] [4]
/ 4

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Momachita
2009-05-06T06:05:20+00:00 06.05.2009 08:05
...
Färbt es die Zunge rot?
Wacht Dakkas möglicherweise am nächsten Morgen mit geschwollenen Zehen oder stark rot unterlaufenden Augen auf?
Oder ist es eigentlich gar nicht rot, sondern wechselt die Farbe, je nachdem, wie es gerade drauf ist? Ist es eventuell eigentlich ein magisches Wesen?
Was ist das für ein Pulver?? Man (und Frau ebenso wenig xD) weiß es nicht.
Aber ich will's unbedingt wissen. *lach*
Also... ich hab mir den Brief glatte zweimal durchgelesen, aber gerade mal weniger als die Hälfte verstanden xP und ich weiß noch, dass da ganz oft das Wort 'Monat' stand. XD Aber ansonsten war der gänzlich verwirrend, wenn ich das hier mal so anmerken darf.
Auf jeden Fall wurden schon mal eine ganze Menge Fragen beantwortet, wofür ich ja soooo dankbar bin *lach* Ich hab's ja kaum noch ausgehalten ^^
Und dem dummen Engel-Bengel geschieht so was ganz recht! Hah!
*Engel auslach* x333
Bin gespannt wie's weitergeht >o<
LG, Deine
MomoCookei ^w^b
Von:  Momachita
2009-05-06T06:05:03+00:00 06.05.2009 08:05
Endlich kriegt man hier mal 'nen Hinweis geliefert!
Sorry, aber unter den gegeben Umständen... ich muss jetzt einfach Weiterlesen, da bleibt keine Zeit für großartiges kommentieren xD
LG, Deine
MomoCookies ^w^b
Von:  Momachita
2009-05-06T06:04:49+00:00 06.05.2009 08:04
Hmm...
Okay, du hast es bis jetzt, glaub ich, wirklich geschafft keine (oder kaum eine) Antwort auf die Abermillionen von Fragen, die Dakkas und den Leser selbst beschäftigen, gegeben. *lach*
So kann man auf jeden Fall die Spannung halten und sich die Lesertreue sichern. Außer der Leser fühlt sich nach diesem oder einem früheren Kapitel verarscht und liest aus Trotz nicht weiter. Oo
xDD
Also, ich gehöre jedenfalls nicht dazu. Soll heißen: Ich bin ein braves Tucki und werde die Geschichte auf jeden Fall weiter verfolgen! :D
Schon alleine deshalb, weil ich einfach diese Fragen beantwortet haben möchte! >.<
Zum Beispiel: Welche Peron meinte Daniel? Wer ist der Werwolf, der Dakkas den guten Rat gibt? Was hat es mit diesem Wort ('Dakosh') und Molokosh auf sich? ... und wie passt in all das dieser komische Kristall vom Anfang rein??
Hmn~
Mein Kopf qualmt schon vor Grübelei xP
Bis zum nächsten Kapitelchen
Deine
MomoCookie ^w^b
Von:  Momachita
2009-05-06T06:04:31+00:00 06.05.2009 08:04
Huii~
Ich mag kleine schwarze Wichtel mit großen Sensen, ich will eins als Haustier haben, schenkst du mir ein?!
Bitte, bitte, bitteeeeeeeeeeeee?? Ó3Ò
*lach* xD
Sorry, ich kann mal wieder nicht ernst bleiben! ~.^
Aber Dakkas... manno mann. Am Anfang war der ja total verschreckt und verschüchtert, aber jetzt...
So langsam, wo sich sein Charakter allmählich wieder zu heraus zu bilden scheint, wird er noch geiler, als er ohne schon war! xP
Ich liebe einfach dieses ständige Parrieren und Kontern, das ist einfach großartig und amüsant! >.<
Aber natürlich tauchen nicht nur für Dakkas immer mehr Fragen auf, sondern ebenso für den Leser. Jaja, man leidet ganz schön mit dem kleinen Fratz xD Man möchte selbst unbedingt wissen, was los ist! Mann!
~X3
Hmm~ Vielleicht werden ja im fünften Kapitel endlich mal welche beantwortet, ich hoffe es sehr. ^^b

LG, Deine
MomoCookie ^w^
Von:  Momachita
2009-05-06T06:04:18+00:00 06.05.2009 08:04
Ich hab ja schon gesagt, dass ich Nostradamus unsympathisch finde! XD
Aber das er gleich so abblockt und störrisch ist, wenn es um Dakkas geht... tse, tse, tse, dem sollte man, trotz (oder gerade wegen ? o.o) seiner alten Jahre, mal Manieren beibringen. *lach* ^^
Auch niedlich find ich, dass Molokosh seinen älteren Bruder 'Brüderchen' nennt. Das ist ja soooo süß~ x3
Hmm~
Die Aktion in der Taverne hat mir richtig gut gefallen!
Ich hab so gelacht, als Dakkas den 'Hühnchen' so dermaßen dreist die Stirn geboten hat, dass die überhaupt nicht mehr wussten, wo oben und unten ist!
XDD
Weiter so, Dakkas! Langsam aber sicher kommt sein Gedächtnis schon wieder, das merkt man... er bekommt – wie sagt man so schön in der neudeutschen Sprache? – Personality! ~.^
Und das will ich unbedingt weiterverfolgen, deswegen les ich jetzt sofort das nächste Pitelchen. *kicher*
LG, Deine
MomoCookie ^w^b

p.s.: Was ist bitteschön 'Chaositektische Architektur' ?! *lach* Das kann ich ja noch nicht mal aussprechen xD
Von:  Momachita
2009-05-06T06:04:05+00:00 06.05.2009 08:04
...
ich glaube, ich finde Nostradamus unsympathisch xDD
Er ist so fies zu Dakkas. ^^
Und Daniels Geschichte... ó_ò (← Smiley, weil mir dazu einfach die Worte fehlen ~.^)
Also, so langsam beginne ich deine Welt zu verstehen, denke ich *lach*
Bisher waren bei allen Büchern, die ich im Fantasy-Bereich gelesen habe, mit passenden Karten ausgestattet, da war das mit den Ortschaften und Landstrichen recht einfach. Aber so ist das auch mal schön, alles durch den Text erklärt zu bekommen. Und ich find klasse, dass du dir eine eigene Sprache ausgedacht hast! Ernsthaft, ich hab schon Schwierigkeiten mit Englisch und Französisch, bin froh, dass ich gan gut in Deutsch bin, da könnte ich nie eine eigene neue Sprache entwickeln! *lach*
^_^ Find ich jedenfalls richtig cool~ *zwinker*
Die Erinnerungen von Drakkas... so schön verwirrend. xP
Ich will unbedingt weiterlesen... also tu ich mir mal keinen Zwang an und werd mich Kapitel 3 entgegen! x3
Bis dahin, Deine
MomoCookie ^w^b

p.s.: und diesmal ist mir auch kein Wort unangenehm aufgefallen ~.^ *lach*
Von:  Momachita
2009-05-06T06:03:44+00:00 06.05.2009 08:03
MomoCookies Kommentar: (Kap. 1 - Jadejunge)

Ähm... okay, das erste Kapitel.
Ich versuche das mal in wenigen Worten zusammenzufassen:
Kristall, Dieb, toter Kendrick, alter Zauberer, einstürzender Berg, noch mehr Tote... dann diese Truppe da, finden den Dieb (, der die ganze Aktion bestimmt nicht aus purem Zufall überlebt hat, wenn ich schon mal die ersten Überlegungen meinerseits ansprechen darf ~.^), Dieb sieht sexy aus... äh, ich meine natürlich, ist verletzt... (>//>), erlitt offenbar eine Gedächtnisauslöschung und... soll gerettet werden, jedenfalls ist ein etwas älterer, bestimmt weiser Mann, namens Nostradamus, dafür.
Ende. Also, des Kapitels, versteht sich. Wenn die Geschichte jetzt hier schon zu Ende wäre, würde ich das als schlechten Witz auffassen. *lach*
Nein, jetzt werden wir hier mal ernst. (Man, ist das schwer für mich xD)
Also, dein Schreibstil, sprich: die Grammatik, die Worte, die Namen; passt alles super in eine Fantasy-Geschichte ^_^b
Aber einmal, da konnte ich nicht anders, als innehzuhalten und zu schmunzeln, nämlich, als du das Wort 'joggen' verwendet hast. Also, meiner Meinung nach, das Wort (aber wirklich nur das im gesamten Kapitel) passt überhaupt nicht rein. Also... da würde ich wirklich eine Verbesserung vornehmen und das Wort eventuell mit „hechtete“ oder „lief schnell“ ersetzen. Oder was anderes, aber nicht 'joggen', das... klingt einfach so modern... ^^
Ansonsten freu ich mich schon total auf das 2. Kapitel, will mich deswegen nicht länger an diesem Kommentar aufhalten (xP) und hoffe mal, dass der Dieb aufwacht und... na, mal sehen, was sonst noch so passiert. Vielleicht wacht er auch nicht auf.
Und vielleicht sterben alle von diesem Trupp von attraktiven Männern, weil sie keine Vorräte mehr finden, und alle jämmerlich verhungern müssen!!! Ôo
.. scherz! ~.^

LG
MomoCookie ^w^
Von:  Momachita
2009-04-12T08:56:57+00:00 12.04.2009 10:56
Okay.
Der Prolog hat mich Ôö
xDDD
Ist zwar kurz, aber echt guuuut~
*schnurr*
~.^
Und noch so viele Kapitelchens vor mir... =3=
*sfz*
Ich hoffe du verzeihst mir, wenn ich die FF erst mal auf Favo stelle und später in meinem Leben (*scherz*) diese FF lese und natürlich auch Kommentare abgebe *zwinker*
Bin im Moment nur sooo beschäftigt @@
schlimm...
Ach, und noch eine Frage hätte ichda:
*Trommelwirbel*
Ist der erste Heini (sry, kenn ja die Chras noch nicht >o<) bei den Steckis nicht Jared Leto?! Ôó
Ich meine... ich VERGÖTTERE diesen Musiker und himmle ihn an, er muss es sein, hab ich nicht Recht?
Ach und, keine Angst, ich find jetzt nicht schlimm, dass du ein Bild von ihm genommen hast ^_^
Naja, auf gutes Lesen (oder so xDD)

LG
MomoCookie ^w^
Von:  Titzian
2008-06-12T20:53:30+00:00 12.06.2008 22:53
Hi, ich habe deine Story endlich bis jetzt durch und mir gefällt sie sehr gut.
Deine Welt ist gut durchdacht und wird immer interresannter.
Und man kommt wirklich mit allem mit.
Ich freue mich auf jedenfall auf neue Teile.
Bis dann, Titzian!!!
Von: abgemeldet
2008-05-31T16:04:44+00:00 31.05.2008 18:04
hi
cih hab deine story eben gelesen und alles was ich sagen kann ist... sie gefält mir super. besonders gut gefällt mir, neben der ganzen idee natürlich, dein schreibstil*dickes lob*
würdest du mir ne ens schicken wenns weitergeht?

lg koi



Zurück