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Der Jadejunge

Die Erzählungen, Teil 1 - Shounen-Ai
von

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Stadtrundgang

Halmsdorf war eine ruhige Stadt. Trotz der schon recht großen Einwohnerzahl schien es keine schlimmeren Streitigkeiten zwischen den Bewohnern zu geben. Einzige Ausnahme war wohl die Behandlung von sogenannten ‚Wildblütern’, worunter alle Wesen fielen, die von den weißen Engeln nicht als ‚rechtschaffene’ Wesen betrachtet wurden.
 

So erklärte zumindest Daniel diesen Begriff, während sie durch die Straßen und Gassen Halmsdorfs schlenderten. Die Sonne stand inzwischen etwas tiefer und ließ die bunten Verzierungen des Sonnentempels im Herzen der Stadt aufleuchten. Sie liefen eine Seite des Baus entlang und Daniel erzählte mit unterstreichenden Handbewegungen eine alte Geschichte – oder Legende – über den Magier, der Halmsdorf einst vor dem sicheren Untergang gerettet haben soll, als die Stadt wirklich noch ein Dorf war.

„Hinter dem Sonnentempel wurde eine Statue für ihn errichtet. Damals war der Tempel natürlich noch nicht so groß und der dominierende Teil des hinteren Tempelplatzes war die Statue. Später rissen die weißen Engel sie teilweise ein – der Magier war kein Engel gewesen. Daran erinnern sich heutzutage aber nur noch wenige und die Priester des Tempels sorgen dafür, dass dem so bleibt.“
 

Dakkas hörte dem Heiler nur mit einem Ohr zu. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen und all die interessanten Dinge zu begutachten, die er entdeckte. Oder nicht entdeckte. Bis jetzt hatte er nur Engel und Elfen gesehen. Wo waren die anderen Städter?
 

„Das hier ist der hintere Tempelplatz.“, schnitten plötzlich Daniels Worte seinen Gedankengang ab.

Dakkas sah weg von einer Frau, die er so diskret wie möglich beobachtet hatte und richtete seinen Blink auf den Platz.

Seine Schritte starben ab und stumm starrte er erst einmal nur nach vorne.
 

Der Platz war groß, wenn auch nicht so groß wie der Marktplatz vor dem Tempel. Ein paar Bäume verzierten in regelmäßigen Abständen, gesäumt von jeweils zwei Bänken, den Platz, zusammen mit dem einen oder anderen bunte Blüten und Blätter tragendem Busch. Einige der Städter hatten es sich auf den Bänken bequem gemacht und unterhielten sich. Zwischen ihnen saßen Kinder auf dem Boden, die miteinander spielen und eine allgemein fröhliche Atmosphäre umgab den Ort.

Umso mehr irritierend erschien die alte, nur halb vorhandene und langsam weiter abbröckelnde Statue. Sie stand in der Mitte des Ganzen und bildete sich aus dem Sockel aus Stein und dem Rest der eigentlichen Statue, wovon nur noch die Beine und Teile des Oberkörpers erhalten waren. Die Arme fehlten gänzlich.
 

Fast wie von selbst schien sich Dakkas Körper auf die Statue hinzu zu bewegen. Als er vor ihr stand und Daniel, der still geworden war, sich neben ihn stellte, konnte er sie gänzlich

betrachten.

Der Mann – oder was von ihm übrig war – trug eine Robe mit Umhang und zwei kleinere Schwerter. Von seiner Kleidung her erschien er wie ein typischer Magier und selbst jetzt, in marodiertem Zustand, wirkte er immer noch eindrucksvoll. Am Sockel der Statue schien einmal eine Plakette oder eine Inschrift angebracht gewesen zu sein, aber ein großer Teil des Steins war methodisch herausgeschlagen worden und alles, was übrig blieb, war eine große Lücke. Ihre Ränder waren jedoch glatt und bewiesen Handwerkskunst, da der Steinsockel nicht weiter beschädigt wurde, als unbedingt nötig. Beim genauen Hinsehen erkannte Dakkas auch, dass Kopf, Arme und der obere Teil des Oberkörpers ebenfalls fein säuberlich abgetrennt worden waren. Unebene Kanten hatte die Statue nur an den Stellen, an denen aufgrund von Zeit einige Teile des Steins abgebröckelt oder von Wind und Wetter angegriffen worden waren.

Irgendjemand war sehr vorsichtig und sorgfältig darin gewesen, die Statue unkenntlich zu machen, ohne sie dabei zu zerstören. Waren die weißen Engel wirklich so sehr daran interessiert, dass niemand erfuhr, ob diese Person einer ihresgleichen war oder nicht?

Anscheinend schon
 

„Interessant, wie gründlich Engel sein können, hm?“, murmelte Daniel neben ihm. „Eines muss man ihnen lassen, sie sind ausdauernd, was ihre Pläne angeht und sehr, sehr sorgfältig.“

„Und gewissenhaft.“, fügte Dakkas geistesabwesend hinzu. Irgendetwas stimmte mit dieser Statue nicht – nur konnte er beim besten Willen nicht herausfinden was.
 

Der Heiler schaute ihm nur zu und verstummte vollends. War das eine Erinnerung, die in seinem Unterbewusstsein lauerte und nur darauf wartete, aktiviert zu werden? Würde der junge Mann, der nach einem Edelstein benannt worden war, sich gleich vielleicht an seinen wahren Namen erinnern?
 

Nein. Eine dunkle Ahnung war alles, was Dakkas verspürte und dabei blieb es. Seufzend wandte er sich von der Statue ab. „Was für einen Sinn macht das hier überhaupt, Daniel? Ich weiß doch gar nichts mehr. Vielleicht bin ich ein Waisenkind ohne Familie, Freunde oder sonst wen und finde nie heraus, wer oder was ich war.“

Niedergeschlagen wanderte er zu einer nahestehenden Bank und ließ sich darauf nieder. Daniel folgte ihm, tat es ihm gleich und versuchte, den Grünäugigen zu beruhigen.

„Das kann doch niemand mit Gewissheit sagen. Vielleicht läuft uns in wenigen Augenblicken deine Mutter über den Weg. Vielleicht erinnerst du dich von ganz alleine. Du solltest die Hoffnung nicht verlieren.“

„Hoffnung…“ Dakkas schnitt eine abschätzige Grimasse. „Was bringt mir diese Hoffnung? Gar nichts… Das ist doch Träumerei.“

Sein Sitznachbar runzelte die Stirn. „So hatte ich dich nicht eingeschätzt. Du klingst fast wie Molokosh, wenn er schlechte Laune hat.“

Ein Anflug von einem Lächeln huschte über das Gesicht des Schwarzhaarigen. „Du meinst, Molokosh hat auch mal gute Laune?“

Verdutzt starrte der Heiler ihn an, bevor sie beide leise lachten. „So schlimm ist der Herr nicht.“, murmelte der Halbdrache dann. „Manchmal ist er nur etwas… aufbrausend. Und bestimmend. Aber das muss er auch sein… er hat es nicht leicht.“

Für den Amnesie-Erkrankten hörte sich das stark nach Ausreden an, aber er kommentierte dies nicht weiter. Stattdessen ließ er seinen Blick noch einmal über den Platz schweifen.
 

Fast augenblicklich veränderte sich seine gesamte Körperhaltung. Eine Spannung breitete sich in ihm aus und ein ungutes Gefühl entstand in seiner Magengegend.

Unweit von ihnen waren einige der Mütter mit ihren Kindern von den Bänken gewichen und hatten sich mit einer Gruppe nervös aussehender Männer zusammen getan. Immer wieder schielten die Frauen und Männer zu einer anderen Gruppe von Leuten, während sie gleichzeitig ihre Kinder in ihrer Nähe hielten.
 

Der Grund für die steigende Nervosität und Anspannung der Städter war wohl eine kleine Gruppe von Kindern oder Jugendlichen, die jüngst den Platz betreten hatten. Der Älteste von ihnen konnte nicht mehr als 15 Jahre auf dem Buckel haben, dachte sich Dakkas. Umso unverständlicher war für ihn die Reaktion der anderen auf die Kindergruppe.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Die Kinder waren Wildblüter.
 

Der älteste war ein rothaariger Werwolf, der zwischen zwei Drachen herlief, die bereits in ihren frühen Jahren weitaus größer waren als ihre Altersgenossen. Hinter ihnen tapste ein kleines Mädchen, welches eine Art Puppe in der Hand hielt und eine weitere Jugendliche, die wohl gemischter Herkunft war.
 

Die Gruppe war wohl zum Spielen auf den Platz gekommen. Während die älteren begangen, ein Spiel mit kleinen Steinen und bunten Murmeln vor sich aufzubauen, setzte sich die Kleinste daneben und spielte mit ihrer Puppe.

Dakkas gefiel die Stimmung nicht, die auf dem Platz herrschte. Die Erwachsenen etwas weiter abseits tuschelten augensichtlich über die gerade angekommenen Kinder, und ihre Worten waren sehr wahrscheinlich nichts Gutes. Von den Engels- und Elfenkindern wagte sich keines näher an die fünf Neuankömmlinge heran, doch sein Gefühl sagte ihm, dass dies nicht lange anhalten würde.
 

Sein Gefühl behielt recht. Während er die Leute auf dem Platz beobachtete, fielen ihm zwei jugendliche Engel auf, deren Blicke immer zu den Neuankömmlingen wanderten und deren hämischer, verächtlicher Gesichtsausdruck nichts Gutes versprach. Als die zwei sich dann in Bewegung setzten und auf die kleine spielende Gruppe zuhielten, war es für den Grünäugigen mit der Ruhe vorbei.

So ganz wusste er nicht wieso, aber genauso wie er sich sicher war, dass diese beiden Bengel die anderen Kinder gleich ärgern würden, genauso sicher war er sich, dass er etwas dagegen unternehmen musste.
 

Kurz bevor die beiden ihren Zielort erreichten, erhob sich Dakkas.

„Was ist los?“, wollte der Heiler wissen, der anscheinend nicht so sehr auf seine Umgebung geachtet hatte, wie der Schwarzhaarige.

„Was die Halbstarken da vorne vorhaben, gefällt mir nicht.“, brachte dieser heraus und begann, ruhigen Schrittes auf die Kinder hinzu zu gehen.

„Was-?“ Hinter ihm blieb Daniel verdutzt sitzen, bis ihm nach einem kurzen Blick über den Platz klar wurde, was sein Begleiter gemeint hatte. Kaum hatte er dass verstanden, stand er auch schon auf und lief Dakkas hinterher.

„Dakkas… Das ist keine gute Idee. Wir sollten uns nicht in solche Angelegenheiten einmischen und die Engel unnötigerweise auf uns aufmerksam machen. Wir werden sowieso schon argwöhnisch beobachtet!“

Der Grünäugige lächelte grimmig, setzte seinen Weg aber weiter fort. „Werden wir das? Schau dich um, Daniel. Jetzt, wo Molokosh und Nostradamus nicht bei uns sind, blicken die Leute uns nur flüchtig an. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Den beiden erkennt man an, dass sie Drachen sind. Sie sind groß, riesig im Vergleich zu Engeln, haben ihre harten Gesichtszüge, die Muskeln und sonstiges. Aber bei dir hat man Zweifel – berechtigte Zweifel, möchte ich sagen und hoffe, dass du mir das verzeihst – und ich bin definitiv kein Drache. Nach Werwölfen oder ähnlichem sehen wir auch nicht aus. Kurz gesagt, die Leute auf dem Platz hier denken, wir wären fremde Engel. Solange wir diese kleine Vermutung nicht zerstören, brauch auch keiner wissen, mit wem wir hier sind.“

Die Worte des Grünäugigen überraschten nicht nur den Heiler, sondern auch ihn selber. Vor allem überraschte ihn die Einfachheit, mit der er diesen Gedankengängen folgte. Das war nicht das erste Mal, dass er jemanden in einem Irrglauben über sich selbst ließ, und er war sich sicher, dass er schon oft genug über seine Identität gelogen hatte.
 

Diese Erkenntnis – oder Erinnerung – traf ihn plötzlich und er lief etwas langsamer, aber dennoch zielstrebig weiter.

Wenn er sich so sicher war, andere belogen zu haben… gab es da überhaupt eine Chance, herauszufinden, wer er denn nun war? Was, wenn es einfach niemanden gab, der ihn wirklich kannte? Er würde nie wieder der sein, der er mal war.
 

Diese trübseligen Vermutungen schob er weit von sich. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Die beiden jugendlichen Engel waren längst bei den spielenden Kindern angekommen und hatten angefangen, diese zu beleidigen und zu ärgern. Gerade in diesem Augenblick nahm einer von ihnen der Kleinen die Puppe weg.

Der rothaarige Werwolfjunge sprang auf und schien die Puppe zurück zu fordern. Zur gleichen Zeit scheuchte er die Kleine hinter sich und die Drachen.
 

Dakkas gefiel der Werdegang des Ganzen überhaupt nicht. Er machte sich nicht Sorgen darüber, ob die Kinder unbeschadet eine mögliche Prügelei mit den Engelsjugendlichen überstehen würden. Neben ihrer Größe wiesen die meisten Drachen auch erstaunliche Muskelkraft auf und Werwölfe verfügten über eine angeborene Heilfähigkeit, die sie weitaus mehr einstecken ließ als Engel.

Die beiden halbstarken Bengel waren den Wildblüterkindern hoffnungslos unterlegen. Ohne die Kleine zu zählen waren es immer noch vier von ihnen und nur zwei Bengel.

Nein, worüber Dakkas sich Sorgen machte, war etwas anderes. Es waren die umherstehenden Erwachsenen, die nichts taten, um die beiden zurecht zuweisen, aber sicherlich einschreiten würden, sollte eines der Kinder sich handgreiflich wehren. Und dann würden diese den Ärger bekommen, nicht die beiden Bengel.

Das konnte er nicht zulassen.
 

„Warum braucht jemand wie ihr eigentlich eine Puppe, hm? Ihr könnt doch eh nicht mit so etwas spielen, ihre Barbaren.“, stichelte einer der beiden, als Dakkas und Daniel endlich in Hörweite waren. Nur noch ein paar Schritte…

„Meine Schwester würde sich sicherlich über ein neues Spielzeug freuen. Ich glaube, wir sollten es ihr mitbringen.“, fügte der zweite Engel hinzu und grinste seinen Freund an. Dieser pflichtete ihm bei. „Und die hier haben eh kein Recht, so ein kleines, nettes Ding zu besitzen.“

„Gebt mir die Puppe zurück!“, forderte der rothaarige Junge dann. In seiner Stimme schwang Ärger mit, aber sie zitterte auch leicht. Wahrscheinlich weil er wusste, dass die Lage eigentlich aussichtslos war.

„Oh, schau dir das an!“, der eine Engel sah seinen Freund an, „Der kleine Hosenscheißer hier meint, er könne sich die Puppe zurück holen!“

„Die gehört meiner kleinen Schwester, gebt sie zurück!“, wiederholte der Werwolf noch einmal.

„Sonst was, Hundebaby? Du fängst an zu heulen und rufst Mami?“
 

In dem Augenblick entschied sich Dakkas, einzugreifen. Er riss dem Engel, der abgelenkt war, die Puppe aus der Hand. „Sieh an, sieh an. Und ich dachte immer, dass Stehlen laut den Gesetzen der Engel verboten wäre.“

Die beiden fuhren rum. Auf ihren Gesichtern war zuerst Verwirrung, dann Häme zu sehen. „Geben Sie uns die Puppe zurück, das geht Sie nichts an.“, forderte einer der beiden.

Der Grünäugige lächelte nur und schüttelte seinen Kopf. „Oh nein. Ich habe sehr genau sehen können, was hier los ist. Und euch gehört das Spielzeug hier sicherlich nicht. Geht nach Hause und legt euch mit Jungen eures Alters und Fähigkeiten an, Puppen von kleinen Mädchen zu stehlen ist kein Zeichen von Größe, sondern eins von Feigheit.“
 

Das schmeckte den beiden Halbstarken gar nicht gut.

„Nennen Sie uns etwa Feiglinge?“, wollte einer von ihnen mit einem bedrohlichem Unterton in der Stimme wissen.

Dakkas Lächeln verformte sich. Er selbst konnte die Verwandlung nur spüren und nicht sehen, aber sie musste Eindruck machen, denn die beiden Bengel wirkten auf einmal nicht mehr so selbstsicher.

„Nein. Ich nenne euch zwei feige, ängstliche kleine Bengel, die nicht in der Lage sind, sich Respekt unter ihresgleichen zu verschaffen und deswegen auf fünfjährige kleine Kinder losgehen müssen, um zu beweisen, dass sie wenigstens stärker sind als eine Person. Zusätzlich dazu seid ihr auch noch dumm und ungebildet, denn sonst wüsstet ihr, dass Drachen weitaus stärker sind als Engel und Werwölfe sich selbst heilen können. Demnach wäret ihr unterlegen, solltet ihr sie tatsächlich soweit ärgern, dass ihr euch prügelt.“

Der eine Engel bekam einen roten Kopf und sah immer wütender aus, während der andere immer unsicherer wurde. Dakkas war mit ihnen aber noch nicht fertig.

„Ja was denn? Keine tollen Antworten mehr von euch beiden? Hat es euch die Sprache verschlagen, jetzt wo ihr einmal mit jemandem konfrontiert werdet, der nicht nur intelligenter und stärker ist als ihr, sondern auch keine Scheu hat, euch Einhalt zu gebieten? Geht nach Hause, weint euch bei eurer Mutter aus und lasst andere Kinder in Ruhe, die euch nichts getan haben.“ Mit einer Geste seiner Hand gab der Schwarzhaarige zu verstehen, dass das Thema hiermit für ihn erledigt war.
 

Die beiden Halbstarken sahen das leider nicht so. „Ich wird mir doch von einem eingebildetem Fatzke nichts sagen lassen!“, brüllte einer der beiden und setzte dazu an, Dakkas anzugreifen.

„Halt!“, tönte es da auf einmal von der Seite. Anscheinend waren jetzt, wo Dakkas eingegriffen hatte, auch andere hellhörig geworden. Plötzlich jedenfalls schien es einige Engel zu interessieren, was mit den Kindern hier los war.
 

Der Schwarzhaarige sah den älteren Herrn an, der zusammen mit zwei Müttern und einem anderen Mann dazu gekommen war. Typisch, dachte er bei sich, solange die beiden die Wildblüter ärgern, haben sie kein Problem, aber versucht jemand, ihre Kinder zur Ordnung zu rufen, werden sie gleich aktiv. Er gab sich Mühe, die Verächtlichkeit, mit der er über die Engel dachte, sich nicht anmerken zu lassen.

„Was ist denn hier das Problem?“, fragte der alte Mann erneut mit einer beschwichtigenden Stimme. Bevor die beiden Halbstarken auch nur einen Ton herausbringen konnten, hatte Dakkas bereits mit einer Erklärung angefangen.

„Ich musste mit ansehen wie die beiden hier ohne ersichtlichen Grund auf diese spielenden Kinder losgegangen sind. Sie haben sie beschimpft, angestachelt und dem kleinen Mädchen ihre Puppe geklaut. Da niemand sonst Anstalten machte, einzugreifen, habe ich es getan.“

Eine der Mütter schürzte ihre Lippen bei dieser Erklärung und schien überhaupt nicht zufrieden damit zu sein.

„Aber, aber.“, beschwichtigte der alte Mann erneut, „So schlimm wird es sicherlich nicht gewesen sein. Wahrscheinlich haben sie sich nur über eine Murmel oder so etwas gestritten und der Streit ist etwas ausgeartet.“
 

Der Grünäugige sah den Mann ungläubig an. „Denken Sie das wirklich? Wenn ja, müssen ihre Fähigkeiten, sich selbst zu belügen, grandios sein. Ich weiß, dass Sie tatenlos zugesehen haben, ich habe sie alle tuscheln sehen. Die beiden unreifen Bengel hier sind ohne Grund auf die Kinder losgegangen. Es tut mir Leid, wenn Sie darin nichts Böses erkennen können, aber bei mir ist das eine Ungerechtigkeit, die ich nicht zulassen kann.“

Dakkas wusste, dass er sich gerade keine Freunde machte. Die eine Mutter sah immer wütender aus, während auch der alte Mann schnell an Geduld verlor. Die weißen Engel nannten sich das ‚gerechte Volk’ und beriefen sich auf ihren Schutzgott, den Sonnengott, Herr des Lichts, der Gerechtigkeit und der Ordnung. Sie auf ihre eigentliche Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen war ein schneller Weg, um sie aufzuregen.

„Also, jetzt hören Sie mal-“, setzte die eine Mutter auch schon an, doch Dakkas winkte nur ab. „Nein, danke. Im Laufe meines Lebens habe ich mir viele Reden von vielen Engeln anhören müssen und die Inhalte haben mich nur selten begeistert.“ Der Satz kam, ohne dass der Schwarzhaarige ihn bewusst gedacht hatte, dennoch spürte er die Wahrheit dahinter. „Ich schlage vor, dass Sie die beiden hier einfach wieder zurück pfeifen, während ich der Kleinen ihre Puppe wieder gebe und sie nach Hause bringe. Ihre Eltern werden die arme vielleicht wieder beruhigen können.“

Das hoffte der Grünäugige wirklich, denn die Kleine weinte stumme Tränen und klammerte sich an dem älteren Mädchen fest. Sie versteckte sich fast gänzlich hinter dieser und wirkte eingeschüchtert und verstört.
 

Der alte Mann hatte ein Einsehen. „Nun gut, das ist vielleicht das Beste für alle… kommt ihr beiden.“ Er deutete den Bengeln an, ihm zu folgen, was diese nur widerwillig taten. Einer von ihnen sah Dakkas noch einmal durchdringend an, als wenn er sagen wollte: Ich krieg dich noch. Der Schwarzhaarige lächelte nur finster, bevor er sich zu den anderen Kindern wandte und dem rothaarigen Jungen die Puppe überreichte. „Da, du kannst sie deiner Schwester wiedergeben.“ Dankbar nahm dieser das Spielzeug an und reichte es an das weinende Mädchen weiter, das sich daraufhin etwas beruhigte.
 

Daniel, der bis dahin still gewesen war, stöhnte auf. „Dakkas, willst du uns Probleme bereiten? Der Lanar reißt mir den Kopf ab, wenn er hiervon erfährt.“

Die Köpfe der beiden Drachen waren hochgeschnellt, als sie das Drakonisch aus dem Mund des vermeintlichen Engels, der ihnen zur Hilfe geeilt war, vernommen hatten.

Der angesprochene Schwarzhaarige grinste nur. „Du bist zu paranoid. So. Wo wohnt ihr denn? Es wäre sehr ungünstig, wenn diese beiden Stänkerer euch auf dem Heimweg noch einmal begegnen würden, da begleite ich euch lieber. Ist das in Ordnung?“

Zögerlich sahen die Kinder sich untereinander an und nickten dann.
 

„Vielen Dank, dass ihr uns geholfen habt.“, sprach das ältere Mädchen dann zögerlich, während die kleine Gruppe durch die Straßen Halmsdorfes liefen. Der Rothaarige hatte wieder die Führung übernommen und brachte sie immer tiefer in einen schlecht erhalteneren Teil der Stadt. Dakkas hätte sich ja denken können, dass die Wildblüter in den schlechten Stadteilen leben mussten.

„Nicht der Rede wert. Jeder Erwachsene hätte euch helfen sollen.“

„Ihr seht gar nicht aus wie ein Drache.“, piepste plötzlich die Kleine, die ihre Puppe umklammerte. Dakkas musste lachen. „Ich bin auch kein Drache. Aber ich hatte vor einiger Zeit einen sehr schweren Unfall und einige Drachen waren so nett, mir zu helfen.“ „Dann ist Dakkas also Euer Spitzname?“, wollte einer der beiden Drachen wissen und der Angesprochene bejahte. „Wegen meinen Augen, wurde mir gesagt.“, fügte er noch hinzu und lächelte. Der Drache, der ihn gefragt hatte, nickte zustimmend. „Eure Augen sehen wirklich aus wie Jade.“ Der Ton, in dem er das sagte, verriet Dakkas, das hinter seinem Namen noch mehr stecken musste, als eine bloße Anlehnung an einen Edelstein. Die Drachen schienen dem Begriff ‚Jade’ eine besondere Bedeutung beizumessen. Sobald er Molokosh wieder sah, würde er diesen fragen müssen.
 

„Da vorne wohnen wir.“ Während der Rothaarige sprach, deutete er auf ein etwas größeres, aber alt aussehendes Steingebäude. Es hatte als einziges in der Umgegend einen größeren Vorgarten, in dem auch etliche andere Kinder spielten. Kinder unterschiedlicher Herkunft und Alters… Dakkas runzelte die Stirn. Ein Schild am steinernen Gartenzaun bestätigte seine Vermutungen: Das Gebäude war ein Waisenhaus. Die Kinder, denen er geholfen hatte, waren Waisen.
 

„Das Waisenhaus wird von Sia Theresa geleitet.“, erklärte der junge Werwolf. Sia… der Ausdruck sagte Dakkas etwas. Die Bedeutung dieses Wortes war ihm anscheinend nicht mit dem Rest seiner Erinnerungen verloren gegangen. Eine Sia war ein weibliches Ordensmitglied des Ordens der Kindergöttin. Die Mitglieder dieses Ordens leiteten fast alle Waisenhäuser im Reich der weißen Engel und zeichneten sich durch ihr Mitgefühl und ihr Engagement aus. Die Kindergöttin, Schutzgöttin der Kinder und Göttin von Hilfe, Unterstützung und Mitgefühl, war wohl die einzige Engelsgöttin, die Dakkas leiden konnte.

„Wie viele Sias hat euer Heim?“, wollte der Grünäugige wissen. „Nur zwei.“, erklärte der junge Werwolf, „und Ani Greshak. Er ist ein Halbdrache.“ Also wurde das Waisenhaus von nur drei Anhängern der Kindergöttin geleitet. Ziemlich beeindruckend, fand Dakkas, da es allem Anschein nach viele Kinder gab.
 

Sie durchquerten die Eingangshalle des Waisenhauses und folgten dem Rothaarigen in einen gemütlich ausgestattetem Raum. Die Sofas, Stühle und Kissen, welche überall herum lagen oder standen, sahen zwar nicht mehr gerade neu aus, doch waren sie gut erhalten und gemütlich. Eine ältere Frau mit blonden Haaren saß auf einem der Stühle und strickte an einem dicken Wollhemd, während sie ab und zu einen Blick auf die beiden spielenden Kleinkinder neben sich warf.

„Sia Theresa!“, rief die Kleine mit ihrer Puppe dann und sprintete auf die alte Dame hinzu. „Wir haben Gäste mitgebracht! Sie haben meine Puppe gerettet, Sia Theresa!“ Die Kleine wurde von der Dame auf den Schoß genommen und das Strickzeug weggelegt. „Dann wollen wir unsere Gäste doch begrüßen, Lisa.“ Ihre Augen waren freundlich und ihr Lächeln offen, als sie das kleine Mädchen an sich drückte. „Herzlich Willkommen im Waisenhaus von Halmsdorf.“ Ihr Gesicht war gezeichnet von vielen Linien und sorgenvolle Jahre hatten ihre Spüren hinterlassen. Trotz alledem wirkte sie noch lebendig und eine ruhige Wärme schien von ihr auszugehen.

„Vielen Dank, Sia Theresa.“, sprachen sowohl Dakkas als auch Daniel, bevor sie sich auf zwei der Stühle setzten, die der alten Dame gegenüber waren. Der rothaarige Junge nahm indessen die beiden Kleinkinder und gab jedes von ihnen einem der Drachen. Nach einem kurzen Blickaustausch mit seiner ‚kleinen Schwester’ nahm er diese auf den Arm und verschwand mit ihr und dem Rest der Kinder aus dem Zimmer. Er hatte effektiv dafür gesorgt, dass die Erwachsenen unter sich reden konnten und Dakkas musste schmunzeln.

„Er ist ein so lieber Junge,“ erklärte Sia Theresa, „und schon so verantwortungsvoll.“ In ihrer Stimme schwang Stolz mit, was der Grünäugige gut verstehen konnte.

Daniel lächelte ebenfalls. „Werwölfe werden auch schneller erwachsen, als die meisten anderen Völker… In nur ein bis zwei Jahren wird er wahrscheinlich schon eine Familie gründen wollen.“ Die Sia seufzte. „Ja, wahrscheinlich. Wir werden uns alle für ihn freuen, aber wir werden ihn vermissen, wenn er das Waisenhaus verlässt.“

„Oh, ich denke nicht, dass er das Waisenhaus verlassen wird.“, meinte Dakkas da plötzlich und überraschte die anderen. „Es ist klar, wie sehr er an allem und jedem hier hängt. Sein Familiensinn wird ihn nicht weit von hier weglassen.“

„Ihr macht einer alten Frau Hoffnung.“, schmunzelte die Sia.
 

„Ach, meine Manieren.“, meinte Daniel dann plötzlich und lächelte verlegen. „Verzeiht, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben. Ich bin Daniel Daragan und das hier ist Dakkas.“ Der Grünäugige lächelte freundlich.

„Sia Theresa, Leiterin dieses Waisenhauses. Aber das wissen Sie ja schon.“ Die alte Dame lächelte. „Was ist denn das nun für eine Geschichte, dass sie Lisas Puppe gerettet haben?“

Der Schwarzhaarige zog eine Grimasse. „Die Kinder wollten auf dem hinteren Tempelplatz spielen und zwei jugendliche Engel wollten sie ärgern. Einer von ihnen nahm der Kleinen die Puppe weg.“

Theresas Gesicht war ernst geworden und in ihren Augen stand Sorge geschrieben. „Dann muss ich Euch sehr danken, dass Ihr die Puppe wiedergeholt habt. Wir haben hier im Waisenhaus nicht viel Spielzeug und hätten die Puppe wohl auch nie wieder bekommen, hätten die beiden Jungen sie behalten.“

„Nicht der Rede wert.“, wiederholte Dakkas seine Worte noch einmal. „Wir wären immer dazwischen gegangen, wenn jemand Kinder bedroht oder piesackt.“
 

„Verzeiht, wenn ich zu neugierig bin, aber Ihr seht mir nicht wie ein Drache aus, Herr. Euer Name ist doch Drakonisch?“

Daniel lachte leise und sein grünäugiger Begleiter seufzte. „Nein, ich bin kein Drache. Der Name ist ein Spitzname, den mir meine drakonischen Begleiter gegeben haben.“ „Oh. Verzeiht mir noch einmal, aber was ist Euer wahrer Name?“

Der Humor wich aus Daniels Gesicht. „Das weiß niemand. Wir – mein Lanar, sein Bruder und ich – fanden Dakkas als einzigen Überlebenden eines Bergrutsches. Durch das Unglück hat er jedoch all seine Erinnerungen verloren.“

Dakkas fragte sich, ob es wirklich nötig war, jedem, den sie trafen, seine Leidensgeschichte zu erzählen. Er selbst konnte auch gut damit leben, wenn man es nicht tat.Darüber würde er auch noch mit den Drachen reden müssen.
 

Die Sia sog scharf Luft ein und sandte dem Schwarzhaarigen einen mitfühlenden Blick. „Das ist schrecklich! Kann man da nichts tun?“

Der Heiler schüttelte seinen Kopf. „Soweit wir wissen, nein. Mit der Zeit könnte er sich von alleine erinnern, oder etwas, das er sieht, könnte eine Erinnerung wachrufen, aber ansonsten…“ Hilflos zuckte der Halbdrache mit den Schultern.

Sia Theresa hätte wahrscheinlich erneut bekundet, dass dieser Schicksalsschlag ihr leid tat, wenn nicht in diesem Augenblick eine weitere Dame, diese jedoch etwas jünger, ins Zimmer gestürmt wäre.

„Theresa! Tobias Fieber ist wieder gestiegen und Greshak und ich wissen nicht, was… Oh, verzeiht. Ich wusste nicht, dass wir Gäste haben.“, stoppte die junge Frau sich selbst, als sie die beiden Männer bemerkte.

„Was ist mit Tobias, Evandria?“ Sia Theresa erhob sich.

„Es geht ihm schlechter. Die Medizin, die Greshak besorgt hat, hat nichts gebracht.“

Während die beiden Frauen über den erkrankten Jungen sprachen, stand Daniel auf. Seine Stirn war in Falten gelegt und er wirkte besorgt. „Entschuldigen Sie, ein Kind des Waisenhauses ist erkrankt? Ich bin Heiler, vielleicht kann ich helfen.“
 

Keine fünf Minuten später standen die zwei Frauen und die beiden Männer am Bette des kranken Jungen Tobias. Neben ihnen war der schwarzhaarige Halbdrache Greshak.

„Hm… sieht wie Sommerfieber aus…“ Daniel beugte sich bereits über den Jungen, befühlte dessen Stirn, öffnete vorsichtig seinen Mund und besah sich Zunge und Rachen. Die Sias schauten abwartend und hoffnungsvoll auf den Heiler, doch Dakkas hatte sich an die Wand des kleinen Zimmers gelehnt und beobachtete die Szene. Was ihm auffiel, war Greshak.
 

Der Halbdrache war offensichtlich besorgt um den kranken Jungen, aber immer wieder glitt sein Blick von diesem zu Dakkas und immer wieder schien er den Grünäugigen anzustarren. Das gefiel dem Schwarzhaarigen überhaupt nicht.

„Ah… Dachte ich’s mir doch. Ich weiß jetzt, was er hat.“, verkündete Daniel. „Sia Theresa, wenn Sie oder einer der anderen so gut sein könnten, ein wenig Wasser zu kochen? Die eigentliche Medizin gegen Sommerfieber habe ich nicht dabei, aber die anderen Heilkräuter sollten das Fieber lange genug senken, dass er die Krankheit unbeschadet übersteht.“

Die drei Anhänger der Kindergöttin atmeten erleichtert aus. Während Greshak lossprintete, um das Wasser aufzukochen, bedankten die Frauen sich herzlich bei Daniel.

„Aber wir haben leider wenig Geld, Heiler Daniel.“, begann Theresa, doch der Heiler schüttelte nur seinen Kopf. „Das macht nichts, Sia. Ich möchte kein Geld von Euch. Der Junge wird wieder gesund werden, dass ist das Wichtigste. Und abgesehen davon brauche ich auch keins, für mich ist gut genug gesorgt.“

Damit hatte Daniel sich zum Liebling der beiden Frauen gemacht, die ihm gleich noch einmal dankten. Schnell lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema um.

„Gibt es sonst noch Kinder hier, die Anzeichen des Sommerfiebers zeigen? Hohe Müdigkeit, Gelenkschmerzen, aber weder Husten noch Schnupfen? Wenn ja, dann sollten diese Kinder auch etwas von dem Kräutersud trinken, den ich zubereiten werde. Die Krankheit ist schnell ansteckend, aber für die meisten Erwachsenen harmlos. Nur Kinder und bereits Kranke sollten sich in Acht nehmen.“
 

Eine Stunde später war der Kräutersud zubereitet und jedes Kind mit den Symptomen, einschließlich des schwererkrankten Jungen, versorgt. Daniels Kräutervorrat war stark abgesunken und der Heiler schien gedanklich schon wieder aufzuzählen, wo er was wieder aufstocken konnte.

Momentan waren die Erwachsenen wieder in dem Aufenthaltsraum mit den vielen Sofas versammelt, zusammen mit ein paar von den Kindern des Waisenhauses. Daniel unterhielt sich mit der alten Theresa und Evandria, die jüngere Sia, war mit einem Kleinkind beschäftigt. Dakkas verspürte den Drang, mal an die frische Luft zu gehen und bemerkte erst zu spät, dass Greshak ihm gefolgt war.
 

Es war einige Zeit vergangen und langsam neigte sich die Sonne dem westlichen Horizont zu. Dakkas lehnte an der Hauswand und sah hinaus auf die Straße, wo nun keine bis kaum Engel zu sehen waren, dafür aber Wildblüter. Als Greshak an ihn herantrat drehte er seinen Kopf in die Richtung des Halbdrachen. „Ja?“

„Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr so früh wieder zurückkehrt, Herr.“

Der Schwarzhaarige spitzte seine Ohren. Zurückkehren? Herr? Der Halbdrache kannte ihn!

Er war sich unsicher, wie er auf das Gesagte reagieren sollte. Greshak war nicht dabei gewesen, als Daniel den Sias von seiner Amnesie erzählt hatte… und bis jetzt war es im Gespräch auch nicht aufgekommen. Ein Gefühl sagte ihm, dass es vielleicht besser wäre, nicht überall herum zu posaunen, dass er sich an nichts erinnerte.

„Es… ging schneller als erwartet.“, war daher seine ominöse Antwort.

Greshak nickte, als wenn das alles sagen würde. „Ihr… Seid Ihr hier, um Euren Schlüssel abzuholen? Ich frage nur, weil dies das erste Mal ist, dass Ihr persönlich hierher kommt.“

Das erklärte zwar, warum der Halbdrache ihn kannte und die Sias nicht, aber Dakkas verstand beim besten Willen nicht, was es mit diesem Schlüssel auf sich hatte. Doch dies war der erste Hinweis auf sein früheres Ich, dass er bekommen hatte – er würde den Schlüssel einfach nehmen müssen.

„Ja, bin ich. Ich bin diesmal nur deswegen gekommen, weil… ich es für nötig fand.“ Wieder nickte Greshak, als wenn das eine allumfassende Aussage wäre, und verschwand kurz darauf mit den Worten ‚Wartet bitte kurz’.
 

Zurück blieb der verwirrte Dakkas, in dem sich ein wenig Hoffnung regte. Vielleicht brachte dieser Schlüssel ihm ja schon alles Nötige, was er brauchte, um seine Identität wieder zu finden.

Wenige Minuten später stand Greshak wieder vor ihm und überreichte ihm einen silbern glänzenden Schlüssel, der in ein schwarzes, weiches Tuch gewickelt war. „Bitte sehr, Herr.“ Lächelnd nickte der Schwarzhaarige. „Danke, Greshak.“ Der Halbdrache wirkte noch etwas verunsichert. „Werdet Ihr den Schlüssel wieder bei mir abgeben?“, fragte er dann.

Der Grünäugige runzelte seine Stirn. „Das weiß ich noch nicht.“, war seine ehrliche Antwort. In Gedanken fügte er hinzu: Das kommt darauf an, was ich finde.

Für Greshak schien das Ganze damit abgeschlossen zu sein und mit einer angedeuteten Verbeugung ging er wieder ins Waisenhaus.
 

Dakkas starrte auf den Schlüssel in seinen Händen und erweiterte seine geistige Liste mit Fragen über seine Vergangenheit. Warum gab er einem Ani einen Schlüssel zur Verwahrung? Wofür war der Schlüssel? Warum nannte der Ani ihn ‚Herr’?

All diese Fragen konnten vielleicht durch den Schlüssel beantwortet werden. Vorsichtig untersuchte er das Stück Metall.

Der Schlüssel glänzte nicht nur silbern, soweit er erkennen konnte, war es Silber. Er war auch etwas größer als die meisten konventionellen Schlüssel und würde wahrscheinlich ein schweres, älteres Schloss öffnen. Die Zacken waren in keiner besonderen Formation angeordnet, soweit er erkennen konnte, aber da hatte er ja auch nicht sonderlich viel Erfahrung. Was ihm jedoch noch auffiel, war eine kleine Gravur, die am Schlüssel angebracht war.

‚Gesellschaft Wellert 107’, stand da in einer kleinen Kursivschrift. Gesellschaft Wellert… den Namen hatte er schon mal irgendwo gesehen.
 

Jegliche weiteren Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als eine starke und große Hand ihn an der Schulter packte und herumriss. Plötzlich starrte er in das wütende Gesicht eines Molokosh de’Sahr, der ihn mit Blicken aufzuspießen versuchte.

„Wie seid ihr beide eigentlich auf die außerordentlich dumme Idee gekommen, einfach zu verschwinden?“, zischte der Drache. Neben ihm stand Nostradamus, der dem Geschehen nicht allzu viel Beachtung zu schenken schien.

Dakkas sah jedoch nicht ein, warum der Drache ihn jetzt plötzlich zurechtweisen wollte.

„Wie wir auf die Idee gekommen sind? Oh, mal schauen… Das könnte an dem Drachen liegen, der angefangen hat, auf seinem Bruder herumzureiten, einen Wutausbruch bekommen hat und uns unseren Zimmerschlüssel nicht gegeben hat. Hätten wir die ganze Zeit vor eurem Zimmer auf dem Boden sitzen sollen, oder was?“

Molokosh blinzelte und nahm seine Hand von der Schulter des Grünäugigen. Seine Wut schien wie weggeblasen, ersetzt durch Verwirrung. Anscheinend gab es nicht viele Leute, die dem Drachen wiedersprachen.

„Ihr hättet in dem Gasthaus bleiben können.“, grollte er dann endlich, erreichte jedoch nur ein Augenrollen bei seinem Gegenüber. „Ja, natürlich. Wie lange waren wir jetzt weg? Vier Stunden? Sollen wir solange etwa am Tresen sitzen? Du hättest uns wenigstens unseren Schlüssel geben können, bevor du anfingst zu zetern.“ Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Außerdem ist dein Bruder ein Seher, hat man mir zumindest erzählt. Und dem Anschein nach hat er ja auch gut genug gesehen, wenn du uns hier gefunden hast.“

Neben dem verdutzten adligen Drachen formte Nostradamus Mund sich langsam zu einem Grinsen. Die grauen Augen huschten kurz über das Gesicht Dakkas, dann lächelte der Seher.

„Ich hab meine Meinung geändert.“

Auf diese Verkündung hin sahen beide Schwarzhaarigen den Grauhaarigen verwirrt an. Eine weitere Erklärung seitens Nostradamus gab es jedoch nicht.
 

Molokosh schien sich endlich wieder beruhigt zu haben. Zumindest hatten seine Augen das wütende Funkeln verloren und seine Stimme klang wieder normal.

„Was habt ihr hier überhaupt gemacht?“, wollte der de’Sahr wissen. Den Schlüssel immer noch fest in seiner Hand antwortete Dakkas: „Ein paar Waisenkinder geheilt. Das heißt, Daniel hat sie geheilt. Oder es versucht. Ich habe mehr zugesehen.“

Der Drache schüttelte seinen Kopf und seufzte gutmütig. „Daniel hat ein zu weiches Herz. Ist er noch drinnen? Natürlich. Ich hole ihn eben. Wartet hier.“

Schon war Molokosh im Haus verschwunden.
 

Etwas verärgert seufzte Dakkas. Dieser Drache konnte einen vielleicht aufregen… Und jetzt stand er hier draußen, mit dem Seher, der ihn sowieso nicht mochte. Hoffentlich würde Daniel sich beeilen mit dem Verabschieden.
 

Eine halbe Stunde später waren die vier schon fast wieder bei ihrem Gasthaus. Die Sonne neigte sich immer mehr dem Horizont zu und die Einwohner Halmsdorf strebten zum Sonnentempel, zur Abendmesse.

Der Schlüssel der Wellert Gesellschaft lag schwer in Dakkas Tasche – der sich immer noch nicht daran erinnern konnte, woher er den Namen kannte. Molokosh schien den Schlüssel vorhin vor dem Waisenhaus nicht bemerkt zu haben, oder aber er kommentierte ihn nicht. Erst als sie auf den kleinen Platz mit dem Kirschbaum bogen, fiel es Dakkas wie Schuppen von den Augen.

Die Gesellschaft Wellert lag direkt neben ihrem Gasthaus. Er hätte sich ohrfeigen können dafür, dass er sich daran nicht erinnert hatte.
 

„Hey!“ Daniels ärgerlicher Ausruf kam daher, dass der vor ihm laufende Dakkas gerade abrupt angehalten hatte. Zwei Augenpaare richteten sich auf den Kleineren, während Nostradamus bereits zur Eingangstür der Gesellschaft lief und dort wartete.

Im Nachhinein wurde Dakkas klar, dass der Seher schon längst gewusst haben musste, dass es diesen Schlüssel gab, wer ihn hatte und wann er ihn bekommen würde. Und der Grauhaarige hatte kein Wort gesagt.
 

Er holte den Schlüssel aus seiner Tasche und hielt ihn hoch. „Hier. Den Schlüssel habe ich von Greshak, dem Halbdrachen Ani im Waisenhaus. Er schien mich zu kennen und sagte, der gehöre mir.“

Misstrauisch nahm Molokosh den Schlüssel in die Hand und inspizierte ihn. „Warum solltest du dem Halbdrachen diesen Schlüssel anvertrauen? Warum solltest du überhaupt einen Schlüssel von der Gesellschaft haben?“

„Wenn ich das wüsste, hätte ich keinen Gedächtnisverlust.“, erklärte Dakkas trocken und nahm den Schlüssel wieder an sich. Gemeinsam schlossen die drei zu Nostradamus auf und betraten dann, Dakkas an ihrer Spitze, das Gebäude der Gesellschaft Wellert.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Momachita
2009-05-06T06:05:03+00:00 06.05.2009 08:05
Endlich kriegt man hier mal 'nen Hinweis geliefert!
Sorry, aber unter den gegeben Umständen... ich muss jetzt einfach Weiterlesen, da bleibt keine Zeit für großartiges kommentieren xD
LG, Deine
MomoCookies ^w^b
Von:  sunny01
2007-04-24T20:17:17+00:00 24.04.2007 22:17
Beeindruckende Story! Komme mir vor wie bei Eragon, mit den ganzen Uebersetzungen fuer drakonisch. Du kannst locker mit Paolini oder Rowkling mithalten, es ist eine beachtliche Leistung eine eigene Fantasywelt zu erschaffen, ine Sprache zu kreieren oder eine andere als Vorlage zu nutzen und darueber hinaus nicht den ueberblick zu verlieren. Den Charakteren eigene Zuege und Eigenheiten zu verleichen , sie dabei verschieden aber nicht voellig unzusammenhaengend wirken zu lassen und fuer besagte erschafene Welt noch historische Hintergruende festzulegen. Zwei Thumbs-up also, fuer eine eigene Fantasywelt, die wird dir nie jemand nehmen koennen.

By the way gefallenmir deine Charaktere noch sehr sehr gut! Ich liebe Daniel, er ist das typische "Guter Junge" beispiel und dieser ausgeglichene Charakter, den man in jeder Reisegruppe findet. Beglueckwuenschen muss ich dich fuer Dakka, er ist ein wirklich interessanter -Mensch moechte ich nicht sagen, weiss doch noch keiner welcher Rasse er angehoert- Mann. Nur der Dieb, der den Engel in der Hoehle toetete will (noch?) nicht so ganz zu ihm passen. Er ist mir durchaus sympathisch, obwohl enige seiner Gedankengaenge mich ihm gegenueber arwoehnisch machen; aber er teilt meine Zuneigung fuers Zynische, daher mag ich ihn! Ich bin ziemlich gespannt, wie es mit ihm weiter geht.
Molokosch (ich tu mich an diesem Namen echt schwer) ist sich meiner Begeisterung gewiss, ich finde ihn faszinierend, undurchschaubar und irgendwie hat er diese dunkle Aura, die alle abschreckt, aber ihn nicht zu einem boesen (Mensch geht schon wieder nicht) Drachen werden laesst. Irgendwie hat er Pflicht -Erhgefuehl und Herz am rechten Fleck, wenn ihm auch nicht immer ganz wohl dabei zu sein scheint.
Zu guter letzt haben wir noch den Seher Nostradamus. Er ist geheimnisvoll und ein unheimlicher Zeitgenosse, ich glaube du willst uns (die Leser) darueber im Unklaren lassen, auf wessen Seite er steht und was genau in seinem Kopf vorgeht, ist dir gelungen!!

Von daher, ich hoffe es geht bald weiter, aus meiner Begeisterung kannst du sicher schliessen, dass du einen neuen Leser gewonnen hast. Kritik hab ich uebrigens kaum, die Kapitel haben die richtige Laenge und du haste eine gute Rechtschreibung mit einem schoenenn fluessigen Schreibstil. Manchmal ein paar Widerholungen oder merkwuerdig Grammatikalische Saetze. Auch koenntest du die Gedanken von Dakka sichtlicher kennzeichnen, was aber nicht unbedingt sein muss.
Du siehst also, nichts von Belang, was deiner Geschichte wirklich zusetzen koennte.

Weiter so, freue mich auf ein weiteres Kapitel,
LG sunny =)
Von:  Love-chan
2006-12-18T23:44:51+00:00 19.12.2006 00:44
wie immer einfach super klasse das Kapitel und ich wollte noch fragen ob
du mir eine ENS schicken kannst wenn der näste Teil kommt bitte



Love-chan


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