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Liebe führt, wie zu erwarten, zu Dummheiten

von

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Rubinrote Leidenschaft

Der restliche Tag verging ruhig, es wurden keine Fragen mehr gestellt und sie verbrachten den Samstag wie sonst auch. Nur Rei war unruhig und aufgeregt gewesen, die Müdigkeit plötzlich wie weggefegt.

Kai war kurz nach Sonnenuntergang dann gegangen, hatte ihm nur noch seine Adresse mitgeteilt. Er lebte in einem sehr gehobenen Viertel der Stadt, war Rei etwas wunderte, besonders wenn man bedachte, dass er ihn vor kurzer Zeit noch für einen Straßenjungen gehalten hatte. Kai lief wirklich nicht herum, als hätte er Geld, aber das machte ihn in Reis Augen eher sympathisch. Dennoch war es ungewöhnlich, aber vielleicht kam er ja irgendwann hinter sein Geheimnis.
 

Als Rei letztendlich zu Bett gegangen war - so aufgeregt er auch gewesen war, irgendwann musste er schlafen - fand er zu seiner großen Überraschung einen kleinen Zettel mit einer zwölf stelligen Zahlenfolge darauf. Er hatte schmunzeln müssen. Ja, jetzt konnte er auch absagen, wenn ihm etwas dazwischen kam.
 

Gerade in diesem Moment stand er jedenfalls mit ziemlich heftig klopfendem Herzen vor einer ziemlich großen Villa. Darin wohnte Kai? Kein Wunder, dass er Samstags draußen war, in so einem riesigen Gebäude würde Rei auch wahnsinnig werden.

Noch einmal überprüfte er, ob die Adresse richtig war und zum wiederholten male überlegte er, ob er Kai nicht einfach anrufen sollte um ihn zu bitten, ihn am Tor abzuholen. Aber je öfter er darüber nachdachte, desto lächerlicher erschien ihm dieses Vorgehen. Nein, so feige war er nicht. Er hatte in seinem Leben schon wesentlich Schlimmeres durchgemacht als an dem Tor einer sündhaft teuren Villa zu klingeln.

Er stieß noch einmal einen Seufzer aus, nahm seinen Mut zusammen und drückte den Kopf. Dann wartete er angespannt. Er mochte Gegensprechanlagen nicht, besonders nicht in einem Land, in dem er die Sprache nicht vollkommen fließend sprach. Man verstand die Personen am anderen Ende einfach wesentlich schlechter.

Bei dieser Anlage wurde er aber überrascht. Eine vollkommen klare, weibliche und überaus höfliche Stimme meldete sich:

"Wen darf ich melden?"

Das war eine merkwürdige Frage. Hatte er sie vielleicht doch falsch verstanden?

"Eh... ich... Rei Kon. Ich bin ein Freund von Kai. Ehm.. aus der Schule."

Oh Mann war das peinlich!

"Herzlich willkommen Kon-san! Master Kai erwartet Sie bereits. Folgen Sie bitte dem Weg bis zur Tür, das Tor ist jetzt offen."

Das war unkomplizierter als gedacht und die Frau klang wirklich ganz sympathisch. Vorsichtig versuchte Rei das Tor auf zu drücken und schritt dann einen gepflasterten Weg bis zur Eingangstür entlang. Er versuchte sich wirklich nicht anzumerken wie beeindruckt er von all dem war, versuchte so zu wirken, als wäre das für ihn ganz normal, aber das gelang ihm ganz und gar nicht!

Dieses Gebäude war einfach riesig, der Garten war einfach gigantisch und das alles machte so einen unglaublich imposanten Eindruck, wie konnte man da nicht staunen!? Er hatte so was noch nie gesehen, musste er sich deshalb jetzt schämen?

Eigentlich ja nicht.
 

An der Tür angekommen wollte er schon nach einer weiteren Klingel suchen, als die Tür ganz von alleine aufschwang. Oder nicht ganz so alleine, wie er dann feststellen durfte, denn so etwas wie ein Butler machte ihm die Tür auf.

"Willkommen Kon-san! Wenn Sie mir bitte folgen möchten? Ich bringe Sie zu Master Kai."

Unsicher nickte Rei und folgte dem etwas älter wirkenden Butler durch das riesige Gebäude. Er hatte so was in Filmen schon ab und an gesehen, aber in Natura war das alles noch viel beeindruckender. Dennoch noch immer kein Wunder, dass Kai regelmäßig flüchtete. Das alles erschlug einen ziemlich, wirkte irgendwie kühl und streng und einfach viel zu groß. Man verlor sich richtig in dem Haus und das war kein angenehmes Gefühl. Ganz und gar nicht.

Nach einer riesigen Treppe und zwei langen Gängen kamen sie dann auch endlich vor einer Tür zum stehen. Der Butler klopfte, es ertönte ein gedämpftes 'Hm' und die Tür wurde geöffnet.

"Master Kai, ihr Gast ist da."

Woah, sogar mit richtiger Ankündigung und allem. Rei hatte bisher immer gedacht, das gäbe es nur in Filmen.

"Lass ihn rein und dann bring bitte den Tee."

Der Butler verneigte sich leicht, schritt etwas zur Seite, verneigte sich nochmal vor Rei und ließ ihn dann an sich vorbei in eine Art Esszimmer hinein. Rei vermutete einfach mal, dass das ein kleineres Esszimmer war, da es so abgelegen war. Dennoch war es immer noch mindestens halb so groß wie die Wohnung seiner Eltern. Wie klischeemäßig. Er musste schmunzeln.
 

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel beendete er erst einmal das mustern des Zimmers und schritt auf Kai zu, der ihn aufmerksam beobachtete. Was er wohl erwartete? Misstrauen lag wie meistens in seinem Blick und vorsichtige Abweisung. Als würde er erwarten, dass Rei ihm jetzt mitteilte, dass er seine Handynummer verbrannt hatte und jetzt doch noch absagen wollte. Oder als warte er auf irgendeinen dummen Spruch, was seinen offensichtlichen Reichtum betraf. Rei hatte nichts von beidem vor, aber er wusste sonst irgendwie nichts zu sagen.

Die Eindrücke waren so intensiv, dass er sie unmöglich aus seinem Kopf bekam, wie sollte er da locker bleiben?

"Na, da lag ich mit meiner Vermutung du würdest auf der Straße leben ja ziemlich weit daneben.", versuchte es Rei möglichst locker, doch die Miene von Kai blieb steinern.

"Aber hätte ich mir ja eigentlich denken können, wenn man bedenkt, dass dein Großvater eine Firma hat."

Zumindest eine, die es wert war übernommen zu werden.

Kai zuckte daraufhin nur mit den Schultern, was für Rei das Zeichen war, dass das Eis gebrochen war. Der junge Chinese setzte sich also seinem Gastgeber gegenüber und sah sich noch einmal in dem Raum um.

"Dass du es hier drin erträgst erstaunt mich ein wenig..."

Es rutschte Rei eher raus, als dass er das wirklich absichtlich sagte. Ja, er provozierte schon mal gerne, aber das Heim von jemand anderem zu beleidigen lag ihm fern. Glücklicherweise war Kais Blick eher verwundert als verärgert.

"Na ja, ich meine, es ist so groß und so kühl. Total unpersönlich.", fuhr er dann vorsichtig fort.

"Ich könnte mich hier auch nicht wirklich wohl fühlen..."

Kai schnaubte darauf hin nur, eine Antwort gab er aber nicht ab. Stattdessen ging die Tür auf und der Butler kam wieder herein, diesmal mit einem Tablett auf dem zwei Tassen und eine Teekanne platziert waren. Das musste ziemlich teures Porzellan sein.
 

Mit geübten Griffen wurde ihnen der Tee eingeschenkt, dann verschwand der Mann wieder.

Rei wollte ihm noch schnell 'Danke' sagen, aber er reagierte nicht schnell genug. Diese Situation überforderte ihn einfach irgendwie. So beschränkte er sich erst einmal darauf, den Tee zu probieren.

"Wow, der ist gut."

Kai schmunzelte nur leicht, sagte dazu aber nichts, trank selbst einen Schluck.

"Übrigens danke für die Einladung, das hab ich ganz vergessen! Ich find's wirklich cool, dass ich hier sein kann."

"Ich war ja schließlich auch bei dir zu Hause.", kam nur die ruhige Antwort.

Irgendwie machte sich jetzt doch etwas Enttäuschung bei ihm breit. Rei hatte wirklich angenommen, dass ihn sein Gastgeber eingeladen hatte, weil er ihn bei sich haben wollte. Jetzt hatte er das Gefühl, dass Kai sich dazu gezwungen gefühlt hatte um eine Schuld zu begleichen. Vielleicht aber schob der den Grund auch einfach darauf, um nicht zugeben zu müssen, dass er ihn bei sich haben wollte. Das würde ehrlich gesagt auch wesentlich besser zu dem Russen passen. Also nahm er das einfach so hin und trank weiter diesen köstlichen Tee.
 

"Die Klavierstunde ist in etwa einer dreiviertel Stunde, wir gehen dann in das Musikzimmer. Da kannst du dich dazu setzen. Erwarte aber nicht zu viel, es ist ja nur eine Unterrichtsstunde."

Kai wirkte kühler und distanzierter als gestern, was daran liegen könnte, dass er wieder erholter war oder aber, weil ihm die Situation unangenehm war. Ob er bereute ihn eingeladen zu haben? Er wirkte doch sehr verspannt.

Rei lächelte möglichst aufmunternd:

"Ich bin sicher, dass du das gut machen wirst und es mir gefallen wird. Mach dir darum mal keine Sorgen."

"Ich mache mir keine Sorgen."

Jetzt konnte sich Rei ein leicht spöttisches Lächeln nicht verkneifen: "Natürlich nicht."

Daraufhin kam nur noch ein Schnauben von seinem Gegenüber, danach kehrte erst einmal wieder Ruhe ein.
 

"Wie kommt es eigentlich, dass du Klavier spielst?", fragte Rei irgendwann in die Stille hinein. Irgendwas musste er doch wenigstens sagen und es interessierte ihn ja wirklich. Er wusste immer noch viel zu wenig über seinen Freund.

"Ich habe es schon sehr früh angefangen. Ich weiß nicht mehr warum genau."

Kurz wirkte Kai so, als wolle er ihm noch etwas sagen, doch er schwieg nach dieser kurzen Erklärung einfach wieder. Das war so eine Situation in der Rei nicht wusste, ob der Andere darauf hoffte, dass er weiter nachfragte oder ob er besser die Klappe hielt. Aber was sollte schon passieren? Er hatte nicht wirklich das Gefühl, dass sein Gastgeber ihn plötzlich raus werfen würde, wenn er eine Frage stellte, die ihm unangenehm war. Über die Phase waren sie wahrscheinlich schon lange hinaus. Es wurde Zeit, dass er selbst begann darauf zu vertrauen, dass Kai ihm schon sagte, wenn ihn etwas störte. Das war ein fast erwachsener, junger Mann... oder? Wie alt war Kai eigentlich? Aber da er mit ihm in derselben Stufe war, musste er auch so um die 16 oder 17 Jahre alt sein. Aber das war jetzt erst mal unwichtig, das konnte man auch später noch klären.
 

"Wenn dir was auf der Seele lastet, kannst du es mir ruhig sagen. Was wolltest du gerade noch sagen? Sprich dich aus, das tut dir sicher mal gut."

Nervös und unruhig lagen die Augen seines Gastgebers auf ihm. Hier in seinen eigenen vier Wänden schien Kai doch ein klein wenig offener zu sein, auch wenn er sich anscheinend nicht wohl fühlte. Er konnte das verstehen. In dem eigenen Terrain herrschte immer trügerische Sicherheit und das Gefühl, alles Negative einfach aussperren zu können. Es war wirklich nur ein Trugschluss, denn einmal in das Haus eingelassen, bekam man Unheil nur schwer wieder heraus. Dennoch schien Kai hier seine Fassade ein wenig zu lockern, was ihm das Gespräch wesentlich erleichterte.
 

Am Ende dieser wirren Gedanken, war genug Zeit vergangen, dass derjenige um den sich seine Welt augenblicklich drehte, sich sammeln konnte. Er schien einen Entschluss gefasst zu haben:

"Nachdem meine Eltern verstorben sind, habe ich das Klavierspiel etwas vernachlässigt... ich hätte am liebsten ganz aufgehört. Seit ich hier bei meinem Großvater lebe, habe ich es wieder intensiver aufgenommen."

Wieder war sich Rei nicht sicher, wie er jetzt reagieren sollte. Kai selbst sah ihn vollkommen teilnahmslos an, als würde er gerade über das Wetter reden. Er hatte schon vermutet, dass etwas mit den Eltern seines Gastgebers wäre, hatte aber irgendwie gehofft, dass sie es waren die in Moskau auf ihn warteten. Rei hatte es sich gedacht, weil Kai bisher nur seinen Großvater erwähnt hatte und er auch dessen Firma und nicht die seines Vaters übernehmen wollte. Dennoch... wurde jetzt Mitleid erwartet? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Kai hatte so lange gezögert und war von seinem Naturell her so stolz, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass der mit Mitleid mehr als pure negative Gefühle verband. Hmm...

"Ich finde es schön, dass du wieder damit angefangen hast. Ein Instrument spielen zu können, ist eine sehr wertvolle Fähigkeit und hält den Kopf wach."

Kurz huschte so etwas wie Erstaunen durch den Blick des anderen, dann nickte er.

"Und du? Spielst du ein Instrument oder tust du was anderes kulturelles?"

Rei freute sich insgeheim über das Interesse des anderen und lächelte deshalb, als er erwiderte:

"Kein Instrument nein. Und was wirklich kulturelles eigentlich auch nicht. Ich bin eher der Kampfsportler und Kampfkünstler."

"Was für Kampfsportarten und -künste?"

Logisch, wenn sein Großvater eine Firma führte die Sportler ausbildete, würde Kai sicherlich auch Grundkenntnisse oder mehr über diverse Sportarten haben.

"Von vielem etwas. Ich muss oft die Arten wechseln, weil es nicht in jedem Ort ein Dojo oder eine Schule gibt. Judo, Aikido, Capoeira, Martial Arts, Kickboxen. So was eben."

Ein Grinsen bildete sich zu Reis Erstaunen auf Kais Gesicht und er schien sogar kurz zu glucksen.

"Dann hatte ich ja Glück, dass ich dich bisher nur ein bisschen 'rumgeschubst habe. Das hätte wohl auch böse für mich ausgehen können."

Da sprach er allerdings etwas an, was für Rei eher ein heikles Thema war. Sie hatten das immer noch nicht geklärt und jetzt gerade war absolut nicht der richtige Zeitpunkt um tiefer gehend darüber zu reden. Also versuchte er das Gespräch etwas um zu lenken, ehe das hier noch von seiner eigenen Seite aus eskalierte. Das wollte er nicht, dafür hatte er sich viel zu sehr auf diesen Tag heute gefreut. Dennoch vermerkte er sich, dass das in naher Zukunft unbedingt endlich aus der Welt geschafft werden musste.

"Na komm, red' nicht! So muskulös wie du bist, machst du doch auch irgendwas, oder? Lass mich raten, Boxen?"

"Du hast ein gutes Auge. Ja, ich trainiere einmal die Woche. Allerdings ist es Kickboxen."

"Deshalb hast du die Typen letztens also trotzdem noch fertig machen können. Hätte ich mir auch gleich denken können."

Ja, das war doch viel angenehmer.
 

Sie unterhielten sich noch einige Minuten über verschiedene Techniken und Übungen, bis der Butler dann wieder kam und ihnen Bescheid gab, dass die Klavierstunde jetzt beginnen würde. So machten sie sich auf in das Klavierzimmer. Die Stimmung zwischen ihnen war angenehm entspannt. Sie hatten endlich ein Thema gefunden, über das sie sich ganz normal unterhalten konnten. Ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.
 

Das Musikzimmer war nicht ganz so beeindruckend, wie Rei angenommen hatte. Auch wenn er nicht genau sagen konnte, was er sich denn überhaupt vorgestellt hatte. Es war recht schlicht, wobei der riesige Flügel natürlich beeindruckend war. Ansonsten war es noch mit einem Schlagzeug bestückt und Rei fragte sich, ob Kai das auch spielen konnte. Es würde auch irgendwie ziemlich gut zu ihm passen. Zusätzlich stand eine kleine Gruppe gemütlich aussehender Sessel im Raum, in deren Mitte ein kleiner Tisch. Abgerundet wurde das Bild durch das ein oder andere Bücherregal und große Fenster, die viel Licht herein ließen. Es war gemütlich, aber nicht beeindruckend. Vielleicht gewöhnte er sich auch einfach langsam an das Anwesen.

Alles in Allem fühlte er sich recht wohl in dem Zimmer. Es war ruhig und die Atmosphäre angenehm. So sollte ein Zimmer für ein Hobby sein.
 

Der Butler öffnete die Fenster und ließ so zusätzlich noch frische Luft herein. Eine leichte Brise erfasste Reis Haare und auch Kais Schal. Hmm.. den Schal hatte der Andere vorgestern auch angehabt, als er ihn gefunden hatte und wenn er sich recht erinnerte, hatte das Stück Stoff bei ihren gemeinsamen Treffen an Samstagen auch nie gefehlt. In der Schule trug er ihn nicht, aber soweit er wusste, war das außerhalb von kalten Tagen auch verboten. Ob er am Hals auch Narben hatte und die bedecken wollte? Die Schuluniform gab nicht viel vom Hals frei, aber irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen. Vielleicht war es einfach nur ein Accessoire oder eine Art Schutz? Vielleicht würde er ihn das irgendwann einmal fragen, aber nicht jetzt.

Kai wies ihn an sich auf einen der Sessel zu setzen, was er auch prompt tat. Das war eine interessante Position. Er konnte Kai gut beobachten, war sich aber sicher, dass er nicht direkt in seinem Sichtfeld saß. Allerdings musste der nur ein wenig den Kopf drehen, um ihn ansehen zu können. Ob das Absicht war? Möglich wäre es, denn es war die perfekte Position, dass der Spielende nicht von Besuchern abgelenkt wurde und sie dennoch beobachten konnte.
 

Doch er konnte seine Überlegungen nicht weiter ausführen, denn der Lehrer kam herein. Ein imposanter Mann mit sehr strengen Gesichtszügen. Das war kein freundlicher Zeitgenosse, das sah man sofort, aber Rei hoffte, dass es eine positive Strenge war, die er mitbrachte. So stellte er sich Lehrer vor, denen auch mal die Hand ausrutschte, wenn sie ungeduldig wurden. Die entspannte Atmosphäre war gleich wieder etwas gedrückt, das war schade.

Kai war anscheinend unverändert. Ob er wegen dem Lehrer diese Grundanspannung heute hatte? Das wäre wirklich schade.
 

Die Unterrichtsstunde verlief allerdings erstaunlich ruhig. Kai und sein Lehrer schienen sich gegenseitig in gewissem Sinne zu respektieren, auch wenn ihre Beziehung zueinander ansonsten auf rein geschäftlicher Kühle beruhte. Der Lehrer war wirklich gut, genauso wie Kai. Es fehlte dem Schüler ein wenig an Gefühl, wie Rei fand und der Lehrer sah das wohl genauso, dennoch war es unbeschreiblich schön dem jungen Russen zuzuhören. Bald schon erwischte er sich selbst dabei, wie er die Augen einfach nur schloss und sich zurücklehnte. Die oft wiederkehrenden Unterbrechungen für Verbesserungsvorschläge, störten dabei nicht einmal so sehr und am Ende wurde ein Stück sogar einmal komplett gespielt. Es war herrlich!
 

So sehr in Gedanken versunken bemerkte er gar nicht, dass der Lehrer sich verabschiedete und er öffnete auch erst seine Augen, als ein Schatten sich über sein Gesicht legte. Es war Kai, der zwischen ihm und seiner Lichtquelle stand. In seinen Augen lag etwas Abwartendes, Vorsichtiges. Dieser Kerl war so unglaublich unsicher, das war echt kaum zu fassen. Wieder einmal stellte Rei fest, dass nur seine bisherige Lebenserfahrung ihn dazu befähigte, überhaupt zu erahnen, was in Kai vor ging. Ein Umstand, der ihm merkwürdigerweise wirklich gefiel.

"Das war wirklich toll! Ehrlich. Richtig angenehm. Gibst du auch mal Konzerte oder so was? Ich würde mir gerne mal mehr von dir anhören."

Ein wenig schien Kai sich zu entspannen, aber Rei war sich da nicht so ganz sicher. Er wirkte noch immer merkwürdig, als hatte es definitiv nicht an dem Lehrer und nicht einmal daran gelegen, dass Rei zugehört hatte. Woran dann? An seiner allgemeinen Präsenz hier? Vielleicht sah sich Kai wirklich gezwungen wieder gut zu machen, was er vorgestern für ihn getan hatte und wollte ihn eigentlich gar nicht hier haben. Das sollte er auch einmal klären. So lief das bei ihm nicht.

"Nein, noch nicht. Sensei ist der Meinung, dass ich dafür noch nicht bereit bin."

"Das ist schade. Aber ich glaube, du kannst dem Urteil von deinem Lehrer vertrauen, auch wenn ich selbst nicht so viel Ahnung davon habe. Er scheint auf jeden Fall Ahnung davon zu haben. Ich bin sicher, irgendwann spielst du auf einer Bühne. Und wenn es soweit ist, will ich gefälligst eingeladen werden!"

Das entlockte Kai tatsächlich ein kleines Schmunzeln und er nickte.

"Versprochen."

Rei musste den Blick kurz von Kai abwenden. Dieses Lächeln und dieses eine, so sacht ausgesprochene Wort... ein Schauer lief Rei den Rücken hinab. Dieser Junge machte ihn fertig, auf eine angenehm gute Art und Weise.

Als er seinen Blick schweifen ließ, fiel sein Blick erneut auf das Schlagzeug.

"Spielst du das eigentlich auch?"

"Ja, aber ich habe erst vor Kurzem angefangen. Da kann ich dir noch nicht viel zeigen."

Das war schade, aber er verstand auch, dass der stolze Russe ihm nichts halbfertiges zeigen wollte.

"Ich bin immer fasziniert davon, wie genau Schlagzeuger den Takt treffen können und dann auch noch mit allen vier Gliedmaßen einen unterschiedlichen Takt spielen können."

"Ist gar nicht so unterschiedlich zum Sport. Da muss man auch oft Beine und Arme unterschiedlich bewegen. Das ist einfach nur noch eine Erweiterung."

"Du bist nicht gut darin, einfach Komplimente anzunehmen, oder? Spiel dich selbst doch nicht ständig so runter."

Dazu sagte Kai nichts mehr, schien sich bei der aufkommenden Stille aber wieder zu verspannen. Was war nur los? Rei beschloss, einfach mal abzuwarten, was passierte.

Kurz streifte der Blick des jungen Russen unruhig und ziellos durch den Raum, ehe er ihn wieder auf ihm zur Ruhe kommen ließ.

"Ich habe noch deine Sachen. Sie sind gewaschen und ich würde sie dir gerne wieder geben."

Irgendein merkwürdiger Unterton lag in der Stimme seines Gegenübers. Irgendwas war definitiv seltsam abstrus an dieser Situation. Aber er verstand es noch nicht ganz.

"Klar, gerne."

Und damit stand Rei dann auch auf. Kai musterte ihn kurz noch einmal, wandte sich dann aber ab und ging voraus.
 

Sie durchquerten gefühlt das ganze Haus einmal. Es war nicht irgendwie verwinkelt gebaut oder so etwas, es war einfach nur verdammt groß. Wahrscheinlich wechselten sie gerade vom Ost- in den Westflügel oder so.

Schon nach einer Minute hatte Rei komplett die Orientierung verloren. Wofür brauchte man so viele Zimmer? Das war ihm unbegreiflich.
 

Letztendlich hielten sie vor einer großen Tür inne, die Kai mit einem Schlüssel, den er aus der Hosentasche angelte, aufschloss. Merkwürdig.

Hinter dieser Tür lag ein Zimmer, das unglaublich hell und freundlich wirkte. Ähnlich, wie das Musikzimmer, nur mit noch mehr und noch größeren Fenstern. Neben einem Klavier, einem Schreibtisch und einem Bett fanden sich auch unglaublich viele Bücher und entsprechende Regale. An der einzigen Wand, die keine Fenster beherbergte, hing ein riesiges Whiteboard auf dem allerlei Dinge zu finden waren. Das ging über kleine Modelle von Sonnensystemen. - oder waren das Atome? - über Skizzenhafte Musikfetzen aus Noten bis hin zu kleinen Zitaten, die sich mit Naturwissenschaft, Sport oder Musik beschäftigten.

Als er das sah, wurde ihm schlagartig klar in wessen Zimmer er sich gerade befand. Er schluckte und sein Herz begann aufgeregt zu klopfen. Das war ein gewaltiger Schritt in ihrer Freundschaft, ein unglaublicher Vertrauensbeweis und Rei war definitiv nicht darauf vorbereitet gewesen. Das überforderte ihn kurz, wenn er ehrlich war.

"Tja, ich habe keinen riesigen Tiger in meinem Zimmer hängen."

Kai hatte sich neben ihn gestellt und war ihm ungewöhnlich nah. Ein Schauer erfasste seinen sowieso schon aufgeregten Körper. Irgendwas an dieser Situation war merkwürdig surreal.

"Rei?"

"Hm?", mehr brachte er gerade nicht mehr heraus. Die ungewohnte Sanftheit, mit der Kai seinen Namen aussprach, ließ seine Kehle trocken werden. Er konnte den Blick nicht von der Tafel abwenden. Irgendwas war mehr als merkwürdig...
 

Plötzlich wurde Rei am Handgelenk gepackt, umgedreht und an den muskulösen Körper seines Freundes gezogen. Bevor er reagieren konnte, spürte er fordernde Lippen auf den seinen, während er in halb geschlossene, aber nicht minder vor Leidenschaft lodernde, rubinrote Augen sah. Einen absurden Moment lang fiel Rei auf, dass die Augen des anderen trotz des darin lodernden Feuers noch immer irgendwie stumpf wirkten. Nach diesem Moment kam sein Geist zurück in die Realität und er drückte den Russen von sich.

"Kai!", zischte er in einer Mischung aus Wut und vollkommener Irritation.

"Was...?" Er war nicht einmal in der Lage diese Frage komplett auszusprechen. Er war einfach viel zu überfordert. Gestern noch hatten sie sich kaum gekannt und jetzt machte Kai so was!
 

"Was?", fragte Kai kühl. Er war wieder so angespannt. Seine Augen wirkten noch etwas stumpfer als zuvor.

"Wag' es nicht zu behaupten, dass du nicht auch schon daran gedacht hast. Ich hab' gesehen, wie du mich gestern angesehen hast."

Und plötzlich ergab so vieles einen Sinn. Die Angespanntheit, die Einladung, die Stimmung zwischen ihnen die zeitweise sehr absurd wirkte, weil er sie nicht hatte einordnen können. Kai hatte versucht ihn zu verführen!

Rei schluckte trocken, als Kai ihn wieder näher zu sich zog.

Kurz streifte ihn seine Hand an der Wange. Sein Blick lag intensiv auf ihm. Rei erschauerte.

"Du bist bi, du stehst auf mich und ich wette du hast hiervon schon geträumt. Wo ist das Problem? Kein Mensch wird hiervon je erfahren."

Irgendwie wusste Rei beim besten Willen nicht, was er darauf erwidern sollte. Er war so unglaublich überrumpelt und überfordert.

"Schlaf mit mir, Rei.", wurde ihm leise und sanft entgegen gehaucht. Und Rei schmolz, einfach so, ganz plötzlich. Er war nicht mehr in der Lage ein Gegenargument zu finden, obwohl er sich sicher war, dass es ein paar tausend gab. Ihm fiel kein einziges ein.

Seufzend ergab er sich dem nächsten Kuss und ließ sich mit in Richtung des großen Bettes ziehen. Er war einen Augenblick lang ziemlich verwirrt, dass Kai sich zuerst auf die Matratze sinken ließ, nahm es aber einfach so hin. Eigentlich fühlte er sich gerade beim ersten Mal in der passiven Rolle wohler, aber prinzipiell sprach nichts dagegen, ab jetzt die Führung zu übernehmen. Es wunderte ihn nur, weil er Kai das definitiv nicht zugetraut hätte.

Als der ihn zu sich runter zog, verflogen diese kurzen, klaren Gedanken aber sofort wieder.
 

~~~
 

Heiß prasselte das Wasser auf den immer noch verspannten Körper. Es half nichts. Es half kein Stück. Er fühlte sich schmutzig, fühlte sich benutzt. Er fühlte sich benutzt von sich selbst, was für ein absurdes Gefühl.

Es war so einfach gewesen. So unglaublich einfach. Er hatte erwartet, dass es mehr Überzeugung brauchte. Ein Kuss, ein paar sanfte Worte... Rei war so einfach zu lesen. Der junge Chinese war intelligent, hatte viel Erfahrung, aber er war genauso einfach zu manipulieren, wie er kompliziert war. Er hatte ihn absichtlich überrumpelt, denn er hatte geahnt, dass er nur so an ihn heran kam. Es war so einfach gewesen...

Er stellte das Wasser noch ein wenig wärmer, langsam färbte sich seine Haut rot, doch die Hitze tat gut. Er konnte seine eigenen Gedanken nur nicht damit fort waschen, genauso wenig, wie das Gefühl schmutzig zu sein. Nein, er war noch längst nicht bereit gewesen diesen Schritt zu gehen. Eigentlich hätte es noch Monate gedauert, bis er sich auf den Chinesen eingelassen hätte, aber dann wäre es für ihn zu spät gewesen. Nicht, weil Rei dann vielleicht schon weg gewesen wäre, sondern, weil er sich selbst gefühlsmäßig dann zu weit geöffnet hätte. Jemandem derart Vertrauen zu schenken, der danach für immer aus seinem Leben verschwinden würde, hätte ihm den Boden unter den Füßen entrissen. Er kannte das schon... er hatte das schon einmal mit gemacht. Deshalb war er zu dieser Maßnahme über gegangen, als ihm gestern aufgefallen war, wie Rei ihn ansah. Sein Blick hatte sich im laufe des Tages verändert. Er kannte diesen Blick so gut.

Daraufhin hatte er selbst seine Strategie geändert. Er hatte dem Chinesen wirklich eine Chance geben wollen, um eine lose Freundschaft aufzubauen, die hauptsächlich daraus bestand, dass sie sich Samstags im Park trafen. Das wäre kein Problem gewesen und unglaublich angenehm, aber durch diesen Blick, war das schwierig geworden. Ihm war bewusst, dass er sich irgendwann auf Rei eingelassen hätte, wenn der nur energisch genug versucht hätte an ihn heran zu kommen und Kai zögerte nicht zu glauben, dass der die Ausdauer dafür hatte. Er zögerte nicht mehr, seit er bemerkt hatte, wie viel Mühe sich Rei mit ihm gab und wie schwer es gewesen war, ihn davon abzubringen, sich mit ihm zu beschäftigen. Da hatten andere Methoden her gemusst.

Er hatte sich nicht nur versichert, dass der andere wirklich auch auf Männer stand, nein, er hatte auch so viel über ihn heraus gefunden, dass er sich sicher sein konnte, dass er niemals etwas von dem eben Geschehenen ausplaudern würde. Niemand durfte einen Beweis dafür finden können, dass er wirklich schwul war. Sein Großvater würde ihn sofort verstoßen und er ertrug den Gedanken nicht, noch mehr seiner Familie zu verlieren. Sein Großvater, so streng er auch manchmal war, war sein letzter, ihm bekannter Verwandter.

So abgesichert, hatte nichts mehr schiefgehen können. Nur Rei selbst war eine Unbekannte gewesen, die es zu handhaben galt. Es war wirklich einfacher gewesen als gedacht. Menschen waren so einfach gestrickt, es war erschreckend.

Kai war etwas unsicher gewesen, wie der andere auf seinen Reichtum reagierte. Es gab Menschen die sich davon abschrecken ließen, aber auch solche, die davon angezogen wurden, wie Motten vom Licht. Beides wäre nicht vorteilhaft gewesen, doch Rei hatte so reagiert, wie er es sich erhofft hatte. Er hatte es als normal hingenommen. Danach war es unproblematisch und simpel gewesen. Er hatte Tee kommen lassen, obwohl er selbst eher Kaffee mochte, doch ihm war bekannt, dass der Chinese einen guten Chai vorzog.

Danach hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, ihn auf Sport ansprechen zu können. Durch seinen Großvater hatte er erfahren, dass ein neuer, aufstrebender Junge sich in zwei Dojos angemeldet hatte. Es war nicht schwer herauszufinden gewesen, dass Rei derjenige war. Damit hatten sie eine Gemeinsamkeit gehabt, über die sie hatten reden können.

Die Musikeinlage war dann nur noch pro Forma gewesen und das zeigen seines Zimmers hatte ihm eindeutig den Rest gegeben. Er hatte ihn manipuliert, von der ersten Sekunde an, die er dieses Grundstück betreten hatte.

Es war ein wenig heikel gewesen, ja, aber es hatte funktioniert. Natürlich hatte es das, schließlich hatte er es geplant.

Dennoch war er selbst noch lange nicht dazu bereit gewesen, aber es war nötig gewesen.

Dass er sich hatte beschlafen lassen, war ein weiterer Trick gewesen, um Rei nicht nervös zu machen. Zum Einen gab es viele Männer, er schloss sich da selbst mit ein, die ein Problem damit hatten unten zu liegen und der junge Chinese war stolz genug, dass er unter die Kategorie fallen könnte, zum Anderen war die Gefahr von Zweifeln in der passiven Rolle wesentlich höher, weil man die Verantwortung abgab und damit mehr Kapazitäten zum Nachdenken hatte. Das hatte er nicht riskieren wollen, war schließlich der Überraschungseffekt Dreh- und Angelpunkt seines Plans gewesen um den ausgeprägten Verstand des anderen komplett abzuschalten. So hatte er ihm andere Sachen zum nachdenken gegeben und es hatte hervorragend funktioniert.
 

Und nun stand er hier und ekelte sich vor sich selbst. Am liebsten hätte er sich die Haut vom Fleisch geschrubbt, aber er wusste, dass das nichts brachte. Er stellte die Dusche noch ein wenig wärmer.

Rei würde sich jetzt von ihm fern halten. Er hatte sich zu einem Großteil offenbart und der Chinese hatte oft genug betont, dass er keine engeren Bindungen wollte. Es war jetzt alles geklärt. Ab morgen würde er sein Leben wieder normal weiter führen.



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