Zum Inhalt der Seite

Corruptio optimi pessima

Die Entartung des Besten führt zum Schlimmsten
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

vernichtend

Als Tom am nächsten Morgen erwachte, hatte sich ein fester Knoten in seinem Magen gebildet.

Schwerfällig rappelte er sich auf und tapste ins Bad um seine Morgenhygiene durchzuführen. Als er geduscht und angezogen war, ging er in die Küche.

Doch beim Anblick des liebevoll angerichteten Frühstücks wurde ihm schlecht. Er würde nichts hinunter bekommen… da war er sich sicher.

Also nahm er sich die Brotbüchse und steckte sie in seinen Rucksack, bevor er sich zum Gehen wandte um die Bushaltestelle noch pünktlich zu erreichen.

Müde ging er zur Haustür, verabschiedete sich noch kurz von Sam und machte sich dann auf den Weg.

Er hoffte nur, dass seine Mutter wegen dem verschmähten Frühstück nicht allzu enttäuscht war, sie war bestimmt ziemlich früh dafür aufgestanden.
 

Er brauchte nur wenige Minuten zur Bushaltestelle.

Also blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten… unruhig tappte er von einen Fuß auf den Anderen.

Scheiße war er nervös!

Seine Haut kribbelte und sein Magen rumorte. So etwas hatte er schon lange nicht mehr empfunden. Eigentlich konnte er sich nicht erinnern sich je so gefühlt zu haben.

Er fühlte sich als würde er den Weg zum Schafott bestreiten.

Wenn er nur wenigstens nicht alleine wäre…

Wie automatisch berührte er seine Kette unter dem übergroßen T – Shirt mit den Fingerspitzen.

Immer wenn er das tat fühlte er sich ihm ein wenig näher, und gleichzeitig war es ihm, als würde ihm jemand die Luft abschnüren.

Das kalte Silber lag wie beruhigend auf seiner erhitzten Haut.

Irgendwann ließ er seine Hand wieder sinken und es war ihm, als wäre seine Angst kleiner geworden.

Was natürlich absoluter Unsinn war…

Er wartete noch weitere Minuten. Es kam Tom wie eine kleine Ewigkeit vor.

Doch er war wieder etwas ruhiger geworden.

Erst als er den Bus auf sich zukommen sah, bildete sich wieder dieser dicke Kloß in seinem Hals.

Oh Himmel…, das dürfte jetzt schwieriger werden, als alles was er bisher gemacht hatte.

Mit zitternden Knien stieg er ein und würgte ein ´Guten Morgen´ hervor, als er am Fahrer vorbei ging.

Und plötzlich fühlte er sich wie in diesen Träumen wo man ohne Hosen vor der Klasse erschien.

Alle Augen richteten sich auf ihn.

Sie starrten ihn an.

Tapfer versuchte er weiterzugehen. Er würde sich einfach normal benehmen.

Vielleicht würde dann alles halb so schlimm.

»Was ist das denn für Einer?«

»Hat seine Klamotten wohl aus der Kleidertonne…«

»Und ne linke Sau isser auch, schau mal die Schnürsenkel!«

»Und die Haare, ey. Wischmoppstyle würde ich sagen.«

Tom presste fest die Lippen zusammen und ließ sich auf den hintersten Platz im Bus fallen.

Sein Herz schlug heftig gegen seine Rippen, während der Bus anfuhr und ihn in Richtung Schule brachte.

Jede Hoffnung, dass der erste Tag gar nicht so schlimm war, war gerade gestorben.

Dieser Tag würde schlimm werden.

Das wusste er nun wo er neben einem Mädchen mit dicker Brille und einem Jungen mit viel Akne im Gesicht saß, die sonst eher nicht zu seiner unmittelbaren Umgebung gehörten.

Doch daran schien er sich gewöhnen zu müssen…

Mit seiner Heimatstadt, seinen Freunden, seinen Bekannten und seiner gewohnten Umgebung, hatte er auch seine Beliebtheit in Hannover zurückgelassen.

Ade…
 

Schlimmer geht immer…

Wer auch immer das gesagt hatte, war ein sehr schlauer Mensch gewesen.

Sein Tag entwickelte sich jedenfalls zur Hölle schlechthin.

Die Schüler ignorierten ihn vollkommen und tuschelten hinter seinem Rücken aufgeregt miteinander und die Lehrer musterten ihn verachtend und weigerten sich ihn im Unterricht sprechen zu lassen.

Am Sport durfte er Aufgrund seines Piercings, das er nicht rausnehmen wollte, und der weiten Klamotten nicht mitmachen und auch ansonsten lief nichts wie es sollte.

Tom fühlte sich seltsam ausgeschlossen und einsam.

Gefühle die er nie kennengelernt hatte und jetzt fielen sie ihn einfach von hinten an.

Spontan und unerwartet.

Und es tat weh…

Trotzdem ließ er sich nichts anmerken.

Das ließ sein Stolz einfach nicht zu.

Er setzte sich in den Pausen in eine stille Ecke, grenzte sich im Unterricht ab und war stiller als sonst.

Alle seiner Freunde hätten ihn wohl gefragt ob er krank war…

Aber die waren natürlich nicht hier.

Absolut niemand war hier bei ihm.

Er war alleine.

Der Tag wurde immer mehr zu seiner persönlichen Hölle und er ertrug es notgedrungen. Doch bei dem Gedanken, dass es jetzt jeden Tag so gehen würde, wurde ihm schon wieder schlecht.

Wie sollte er das je aushalten?

Innerhalb von einem Tag wurde Tom auf der neuen Schule zum Antichrist. Er galt als Großstadtgör, Freak, arrogant und dauerschlechtgelaunt. Letzteres war er tatsächlich, aber eigentlich nur, weil er immer noch nicht mit seiner neuen Position unter den Schülern klarkam. Je schlechter seine Mitschüler ihn behandelten, desto mehr vermisste er seine alte Schule. Seine Freunde und vor allem seine Stadt. Dort wo nicht jeder, jeden kannte… dort wo es Privatsphäre gibt.

Er war noch nie so unbeliebt gewesen. Wäre es wohl auch nicht, wenn ihm die Anderen eine Chance geben würden Fuß zu fassen. Aber hier waren alle Vorurteile stärker.

So ertrug er alle Gemeinheiten.

Jedes Schimpfwort, jeden Streich… einfach alles, mit so viel Würde wie es ihm möglich war.

Er sagte nichts als sie seine Tasche aus dem dritten Stock warfen, er sagte nichts als er in der Mittagspause mit Essensresten beworfen wurde, er sagte nichts als er die unzähligen Spekulationen über seine Herkunft über sich ergehen lassen musste.

Und dann kurz vor Schulschluss reichte es.

Es waren nur ein paar unbedachte Worte gewesen, aber das reichte um sein Fass zum Überlaufen zu bringen. Und es quoll eine richtige Sintflut daraus hervor.

»Wenn der einen Bruder hätte würde er sich sicher unendlich für diesen Wischmopp schämen« hatte der Anführer der coolsten Clique seiner Klasse, gesagt. Nicht ahnend, was er damit lostrat.
 

**

Tommy… lass mich nicht alleine.

Nein, niemals.

Also bleiben wir immer zusammen?

Natürlich.

Versprichst du es?

Ja das tue ich.

Dann sind wir Beide von heute an nie mehr alleine…

**
 

Die Erinnerungen brachen einfach über ihn hinein und ehe er sich versah, war er bei diesem Hans oder wie der hieß gewesen und hatte ihm seine Faust ins Gesicht gerammt.

Im Nachhinein hätte er nicht einmal mehr sagen können, wie er so schnell vor den Idioten gekommen war.

Was er wusste war allerdings, dass er ihn übel erwischt hatte.

Und ehe Tom überhaupt wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, befand er sich in einer ausgewachsenen Prügelei mit dieser ach so coolen Gruppe.

Er steckte einiges ein, doch er teilte genauso sehr wieder aus. Alles an negativen Gefühlen, was sich im Laufe des Tages angesammelt hatte, brach aus ihm heraus.

Er mutierte zum Berserker ohne es zu merken.

Blinde Wut tobte in seinen Inneren.

Nur am Rande bekam er mit wie immer mehr der Anderen die Flucht ergriffen. Anscheinend bekamen sie langsam Angst vor den Großstadtfreak…

Gut so!

Gerade als er dem Letzten der Clique hinterhersetzen wollte, wurde er am Handgelenk festgehalten.

»Woha. Mach mal ruhig, Neuer.« hörte er deutlich eine weibliche Stimme hinter sich.

Tom wirbelte herum und blitzte die Person an, die ihn gerade davon abgehalten hatte, diesen Idioten eine weitere Lektion zu erteilen und …

und sich wahrscheinlich gleich den ersten Schulverweis zu holen.

»Fahr mal ein Gang runter, ey. Was ist denn mit dir?«

Vor ihm stand ein Mädchen, dass ungefähr gleichgroß war, schwarze, schulterlange Haare hatte, die mit auffälligen blauen und pinken Haarverlängerungen verziert waren. Auf ihrer Nase saß eine große Sonnenbrille, die beinah ihr komplettes Gesicht verdeckte. Sie trug eine Lederjacke und an sich sehr ausgefallene, enge Klamotten.

Überhaupt war sie hier das Auffälligste was er heute gesehen hatte.

Er starrte sie an.

»Hallo? Hast du deine Zunge verschluckt oder so?« wollte sie nun wissen und schob ihre Sonnenbrille elegant hinauf in die Haare.

Plötzlich sahen ihm die faszinierendsten blau – graue Augen entgegen, die er seit langem gesehen hatte.

»Ich… wo kommst du denn her?« brachte er perplex heraus.

Wie konnte er so jemanden wie sie bis jetzt übersehen haben?!

»Wo ich herkomme? Aus meiner Klasse… du bist doch der neue aus der Parallel oder?«

Tom nickte nur.

Es war unfassbar. Er war sich sicher, dass sie auch nicht vom Dorf kam.

»Hey, schön dich kennenzulernen. Ich bin Jenny.«

»Tom.« sagte er und griff mechanisch nach der ihm dargebotenen Hand.

»Die haben dir ganz schön übel mitgespielt, hm? Du blutest ja…«

Wieder nickte er nur.

»Mach dir nichts draus… an alles Neue was unbekannt ist, müssen sie sich erst Mal gewöhnen. Ignorier das einfach. War bei mir und meinen Schwestern nicht anders.«

»Hab ich bemerkt.« murmelte er und sammelte seinen Rucksack wieder ein, den er beim Angriff auf den Boden geworfen hatte.

Jenny grinste. »Die Wunde da an deinen Kopf müsste auch versorgt werden und dann… - Magst du mit mir ne Kaffee trinken? Du scheinst cool zu sein.«

»Klar.«

Sie grinste breiter und gemeinsam gingen sie zuerst zu einem Lehrer, der ihnen skeptisch die Utensilien gab um die Wunde des Blonden zu versorgen.

Und nachdem das vollbracht war, gingen sie runter in den Essensaals der Schule und zogen sich am Getränkeautomaten einen Kaffee, ehe sie sich hinsetzten und diesen gemeinsam tranken, ehe die letzte Stunde begann.
 

So kam es das Tom Jenny kennenlernte.

Sie war eine von Drillingen, wie er erfuhr und kam ursprünglich aus Berlin. Sie waren mit ihrer Mutter hierher gezogen um sich von der Großstadt zu erholen, wie sie es nannte und waren bereits ein halbes Jahr hier in Loitsche zu Hause.

Wenn man der Schwarzhaarigen glauben konnte, ging der Anfangsstress vorbei.

Irgendwann gewöhnten sich die Leute an alles, hatte sie gesagt und dabei gelacht.

Jennys Schwestern gingen nicht an ihre Schule sondern holten ihre kleinere Schwester immer von der Schule ab und begleiteten sie nach Hause. Sie waren beide in einer Schule in Magdeburg…

Es war merkwürdig, als er sie das erste Mal zu dritt erlebt hatte… sie sahen völlig identisch aus.

Alle hatten schwarze Haare mit Verlängerungen in den gleichen Farben und trugen diese engen Lederklamotten die sie mit schrillen Accessouris verfeinerten. Und alle drei hatten diese großen, blau – grauen Augen. Eigentlich konnte man sie für Klone halten.

Tom hatte sie nur angestarrt und die Drei hatten synchron angefangen zu lachen, was irgendwie noch beängstigender gewirkt hatte.

Aber langsam gewöhnte er sich an den Anblick und die Tatsache, dass es Jenny quasi dreimal gab.

Eigentlich unterschieden sich nur ihre Stimmen minimal voneinander und das war wirklich nicht viel. Es war verflixt schwer sie auseinander zu halten, doch irgendwie störte ihn das nicht.

Nach einigen Tagen hatte sich Tom ihnen einfach angeschlossen… und er genoss das Gefühl nicht mehr allein sein zu müssen. So etwas wollte er nie mehr fühlen!

Er verstand sich gut mit den Dreien und genoss jede Minute mit ihnen. Sie waren in dem grauen Dorfleben seltsam erfrischend und farbenfroh.
 

Die erste Woche verging.

Es wurde nicht besser, aber auch nicht unbedingt schlimmer.

Damit konnte der Dreadhead leben.

Seit der Prügelei waren die Meisten seiner Mitschüler in seiner Gegenwart relativ kleinlaut, dass hieß aber nicht, das sie nicht mehr redeten.

Jenny war ihm in den Pausen eine große Stütze und hörte immer zu, wenn er wieder einmal über seine Mitschüler oder die Lehrer klagen wollte. Natürlich galt das auch andersherum.

Tom hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ein Mädchen mal sein erster Ansprechpartner sein würde.

Er hatte noch nie eine beste Freundin gehabt…

Aber für alles gab es ein erstes Mal.

Und wenn er ehrlich war, war Jenny nicht ansatzweise so weiblich wie sie aussah…

Sie trank mehr Bier auf Ex als Gustav das jemals geschafft hätte (an Tom und Georg kam so schnell keiner ran), fluchte exzellent, hatte ein wirklich loses Mundwerk und schien in ihrer schmalen Figur Muskeln wie Drahtseile zu verstecken. Außerdem war sie gnadenlos ehrlich und direkt.

Tom erinnerte sich noch genau an den Tag, an den zwei Kerle aus seiner Klasse versucht hatten sie aufzuziehen, weil sie ständig mit ihm rum hang.

Jenny hatte nur gelacht und ihnen den Stinkefinger gezeigt… als die Beiden daraufhin echt wütend geworden sind und auf sie losgingen, hatte sie Tom kopfschüttelnd zurückgehalten, ihre Sonnenbrille abgelegt und die Beiden mit zwei Griffen einfach zu Boden geworfen.

Tom selber war wie erstarrt gewesen, aber die Worte, die die Schwarzhaarige so kalt ausgesprochen hatte, würde er so schnell nicht wieder vergessen.

Sie hatte sich über die Beiden gebeugt und gezischt:

»Ihr haltet euch für Götter, oder? Dabei seid ihr nur kleine Mücken, die sogar ne Großstadtfrau auf die Bretter schicken kann. Also haltet eure Kauleisten und lasst uns in Ruhe.«

Damit war sie gegangen und hatte den Blonden einfach hinter sich her gezogen.

Und ab da an fiel es ihm nicht mehr schwer sie als seine beste Freundin zu bezeichnen. Jenny war absolut taff und entsprach irgendwie nicht dem klischeehaften Bild einer Frau.

Später hatte sie ihm erklärt, dass sie Selbstverteidigungsunterricht genommen hatte, weil sie in Berlins Straßen einfach hatte auf sich alleine aufpassen müssen. Außerdem hatte sie zwei Jahre Kickboxen gemacht und nebenbei Karate angefangen.

Tom fand, dass das logisch klang und war beeindruckt.

Außerdem meinte sie, dass man den Leuten hier ab und an ruhig eine Lektion erteilen musste; man durfte einfach nicht zu viel über sich ergehen lassen, sonst würden sie es ausnutzen...

Auch darin stimmten ihre Meinungen überein.

Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden, doch erst ab da an waren sie richtig gute Freunde geworden. Mit jedem Tag mehr…
 

Als die zweite Woche an ihm vorbeizog, war er vom tristen Alltag hier fast erschlagen.

Alles war hier gleich; jeden Tag aufs Neue. Hier gab es nichts zu erleben und nichts zu tun.

Tom ertrank in seiner Routine.

Immer wieder versuchte er auszubrechen, doch in diesem Dorf gab es nicht viel zu unternehmen. Und nach Magdeburg konnte er auch nicht jeden Abend.

Er begann sich zu langweilen, da konnte auch Jenny nicht wirklich helfen, auch wenn sie sich sichtlich Mühe gab. Auch Georg und Gustav hatten nicht immer Zeit.

Sam war die einzige noch bestehende Konstante… er schaffte es immer ihn aufzumuntern, wenn er wieder überlegte ob er sich erst im nahegelegen kleinen See ertränken musste, damit etwas geschah.

Wenn er sich nicht gerade mit seinem Hund beschäftigte, spielte er Gitarre und arbeitete an seinen Liedern.

Das war ein Hobby, das er sich schon über Jahre erhalten hatte.

In Hannover hatte er mit seinen beiden Freunden in einer Band gespielt, aber als ihr Sänger abgesprungen war, hatte sich das auch im Sande verlaufen.

Nach Tobis Tod jedoch, hatte er wieder mehr gespielt und auch ein paar eigene Lieder verfasst.

An diesen arbeitete er, doch er sah bald ein, dass das seine Stimmung auch nicht wirklich besser machte.

Eher erinnerte es ihn immer mehr an den Verlust und das tat sehr weh…

Trotzdem zog ihn sein Instrument immer mehr magisch an.

Die Schule war nicht besser. Auch dort wiederholte sich alles…

Tom wollte bereits aufgeben, sich damit abfinden das er sich hier wahrscheinlich irgendwann zu Tode langweilen würde, da sah er ihn …
 

Er saß gerade, wie jede Mittagspause, mit Jenny in der Cafeteria und sie beredeten irgendetwas Unwichtiges. Er saß wie immer mit dem Gesicht zur Tür, das war so etwas wie sein Stammplatz geworden.

Und je ging die Tür auf und ein Junge kam herein und zog sofort alle Blicke auf sich.

Der Blonde konnte nicht anders als ihn anstarren.

»Wer ist das?« fragte er Jenny ohne weiter darüber nachzudenken.

»Wen meinst du?«

»Ihn.« meinte er und deutete so unauffällig wie möglich auf den Neuankömmling.

»Oh, das. Das ist Bill Kaulitz.« antwortete Jenny und winkte eben benannten zu.

Bill sah sie an und hob kurz die Hand. Danach wand er sich dem Automaten zu.

Tom fragte sich gerade wie er ihn nicht hatte bemerken können… er war nun wirklich alles andere als unauffällig. »Ist er in deiner Klasse?«

»Ja. Aber er kommt nicht oft zum Unterricht.«

»Aha?«

»Hm… wie du dir sicher denken kannst, hat er es hier alles andere als leicht, außerdem …- hey! Setzt dich doch zu uns, Bill!« rief sie, ihren vorherigen Satz einfach unterbrechend.

Er sah auf, als der Angesprochene an ihren Tisch erschien und sich einen dritten Stuhl näher zog.

»Hi, schön, dass du auch mal wieder im Lande bist… grade erst angekommen?«

Der Andere nickte nur und lächelte schief.

»Na ja, viel hast du nicht verpasst. Das ist übrigens Tom… er ist vor zwei Wochen neu hierhergezogen. Tom das ist Bill.« stellte sie die Beiden einander vor.

»Hallo, freut mich dich kennenzulernen.« sagte der Dreadhead und hielt ihm die Hand hin.

Das war nicht mal eine Floskel. Er freute sich wirklich; irgendwie faszinierte ihn der Andere sehr.

Seine Hand wurde ergriffen und ihm wurde ein schüchterner Blick geschenkt.

Eine Antwort allerdings blieb aus.

So unauffällig wie möglich musterte Tom den Neuankömmling genauer, während er seinen Kaffee trank.

Er trug ausschließlich schwarz, enge Röhrenjeans, ein Sweatshirt mit Nieten an den Schultern und Ärmeln bis zu den Fingerspitzen und schwere Stiefel. Viele Ketten verzierten seinen Hals und genauso viele Armbänder sein Handgelenk und… wenn er das richtig sah… trug er auch Ringe.

Seine schulterlangen, schwarzen Haare waren mit weißen Strähnchen verziert und perfekt gestylt.

Das auffälligste an ihm waren jedoch seine dunkel geschminkten Augen, die ebenso dunkel waren. Wahrscheinlich wirkte das durch die schwarze Schminke so, eigentlich waren die Augen hellbraun… zur Iris hin wurden sie immer tiefer braun…

Unglaublich. Dieser Bill war all das, was er niemals in diesem Dorf erwartet hätte.

Er blieb stumm und beobachtete die einseitige Unterhaltung von Jenny, die fast die ganze Zeit redete. Bill antwortete meist mit Kopfschütteln oder Nicken, nur manchmal fuchtelte er für den Blonden undeutlich mit den Fingern herum. Die Schwarzhaarige schien ihn jedoch genau zu verstehen.

Irgendwann stand er auf.

Er machte wieder schnell aufeinanderfolgende Handzeichen und wand sich dann ab.

»Okay. Geh schon Mal vor, bis gleich.«

Damit verschwand er genauso schnell wie er gekommen war.

Tom konnte nicht anders als ihn hinterher sehen.

Er stellte fest, dass sich Bill elegant wie eine schwarze Katze bewegte. Alles an ihm wirkte eher feminin… überhaupt nicht männlich.

Hatte er überhaupt ein einziges Wort geredet, als er hier saß?

»Hallo…? Hey! Erde an Tom!« meinte Jenny und fuchtelte mit ihrer Hand vor seinem Gesicht herum.

Auf ihren Lippen lag ein fettes Grinsen. »Ich sehe schon… Bill hat dich voll in seinen Bann gezogen.«

»Hm…« machte Tom nur einsilbig.

»Was ich vorhin eigentlich sagen wollte. – du hast es sicher schon mit bekommen. – Bill redet nicht. Nie.« sprach die Schwarzhaarige einfach weiter.

Der Blonde versuchte diese Information zu fassen.

Das ergab Sinn…

Ob das, für ihn sinnlose, Gefuchtel dann Gebärden gewesen waren?

Er hatte mal von Gebärdensprache gelesen… aber live gesehen, hatte er so etwas noch nie.

»Ist er stumm?« fragte er.

»Hm… nein. Er hat eine Stimme. Er summt manchmal und redet, denke ich auch das nötigste mit seiner Mutter. Aber gegenüber allen anderen ist er verstummt. Wenn man den Erzählungen hier glauben darf ist wohl irgendetwas Schreckliches vorgefallen… seit da an redet er nicht mehr. Das muss vor etwa zwei Jahren gewesen sein.«

Tom nickte.

Er versuchte alles Gesagte zu verarbeiten.

Was brachte einen Menschen dazu so lange nicht mehr zu sprechen?

Egal was es war… es musste sehr schlimm sein, oder?

»Stammt er von hier?«

»Ja, soweit ich weiß ist er hier aufgewachsen.«

»Das hätte ich nicht gedacht…«

»Mhm, wegen dem Stil? Sicherlich ist er ausgefallen, aber ich denke das will er auch irgendwo. Auffallen. Aber hier fährt er damit nicht gut… er hat es wirklich nicht leicht.«

Tom nickte.

Das glaubte er ihr aufs Wort.

»Komm, wir müssen los.«

»Ja. Okay.«
 

Auf die letzten Stunden konnte sich der Blonde so gut wie gar nicht konzentrieren.

Bill spukte durch seinen Kopf.

Er hatte tausend Fragen.

Zum ersten Mal in seinen Leben war er vom ersten Augenblick an, an einer Person interessiert, die er noch nie zuvor gesehen hatte.

In den kleinen Pausen ging er nicht raus, sondern blieb an seinen Tisch sitzen und grübelte.

Er war sich unsicher wie er mit dem Anderen umgehen sollte, wenn er nun bei Jenny mit stand.

Sie schienen sich ja gut zu verstehen, aber er verstand Bill nicht.

Was sollte er also tun?

Eigentlich konnte es ihm ja egal sein… schließlich kannte er ihn ja gar nicht. Doch aus irgendeinem Grund war es Tom nicht egal was der Schwarzhaarige dachte.

Irgendwie hatte er die leise Ahnung, dass dieser schon genug zu kämpfen hatte.

Und so reifte der Entschluss in ihm, Bill einfach so zu behandeln wie jeden anderen auch.

Er selbst würde das sicher auch wollen, wären die Rollen vertauscht gewesen.

Auch wenn es schwer werden dürfte.

Er war einfach kein Gefühlsmensch… noch nie gewesen. Empathie existierte bei ihm nur in ganz geringen Maßen. Es gab sie, aber eben nicht in Massen.

Damit mussten alle leben, auch wenn es nicht allen passte.

Es war nun einmal schwierig sich in andere Menschen hinein zu versetzten, da konnte man ihm erzählen was man wollte… dazu musste man geboren sein, fand Tom.

Und das war er definitiv nicht.

Also würde die Kommunikation mit Bill ihn wohl vor ein größeres Problem stellen.

Doch es nutzte nichts sich Gedanken darüber zu machen, wenn es noch gar nicht so weit war.

Er würde es einfach auf sich zukommen lassen. Irgendwie würde er das schon richten.

Wenn er seine Neugier stillen wollte, blieb ihm auch keine andere Wahl, als das.

Es ging bestimmt irgendwie…

Damit versuchte er seine Gedanken zu verdrängen um wenigstens noch die letzte Stunde ein wenig von dem Stoff in seinen Kopf zu bekommen.

Es nutzte nichts, wenn er sich hier unnötiges Kopfzerbrechen bereitete.

Er wand sich wieder den Unterricht zu.

Aber er erwischte sich immer wieder dabei, wie seine Gedanken abglitten. Fast zwanghaft musste er der Lehrerin zuhören, die irgendetwas über den zweiten Weltkrieg redete.

Es wurde wirklich langsam Zeit, das die Stunde zu Ende ging…

Er wollte nach Hause.
 

Als die letzte Stunde verstrichen war und die Lehrerin das Signal zum Einpacken gab, stopfte er schnell seine Sachen in den Rucksack und machte sich auf den Weg nach draußen.

Vor der Schule wartete er am Hoftor auf Jenny.

Diese kam auch Minuten später, im Schlepptau Bill.

Als die Beiden bei ihm ankamen, setzte er sich ein Grinsen auf die Lippen. Sein Entschluss stand fest… er würde auf jeden Fall versuchen ihn so normal wie möglich zu behandeln.

»Na, alles gut überstanden?«

»Joha… du?«

»Auch…«

»Wo warst du in der kleinen Pause?«

»Drinnen.« antwortete Tom. »Ich brauchte mal Zeit um meine Gedanken zu sortieren.«

Jenny nickte nur. »Gehen wir dann?«

»Hm… kommen deine Schwestern heut gar nicht.«

»Ne, die haben noch Unterricht. Irgend son wichtiger Tag heute.«

»Aha.«

Die Drei setzten sich in Bewegung und liefen die Straße hinunter.

Immer wieder spürte Tom schüchterne Blicke auf sich ruhen, doch wenn er hochschaute, schaute Bill wieder weg. Dieses Spiel spielte er dreimal mit, danach wurde es ihm doch etwas zu kindisch.

»Sag mal, wo wohnst du eigentlich?« fragte er den Schwarzhaarigen direkt. »Wenn es auf den Weg liegt, können wir dich ja noch bringen.«

Der Angesprochene sah überrascht zu ihm auf, dann biss er sich auf seine volle Unterlippe und senkte die Augen wieder. Ein paar Augenblicke herrschte Stille, bevor er Jenny hilfesuchend ansah.

»Er wohnt nicht weit von mir weg… wir sind quasi Nachbarn.«

»Okay. Dann bring ich euch…«

»Super.«

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.

Er hätte auch nicht gewusst was er noch hätte sagen können, beim besten Willen nicht. Trotzdem spürte er die scheuen Blicke auf sich ruhen. Sie hielten nie lange an, kamen jedoch immer wieder.
 

Eine Viertelstunde später kam er zuhause an.

Zuerst hatte er Bill und dann Jenny nach Hause begleitete.

»Bin wieder da!«

»Das ist aber schön. Wie war dein Tag?«

»Ganz gut, eigentlich.«

»Hast du Hunger?«

»Ein wenig…«

»Dann setz dich doch zu mir, ja? Und erzähl mir ein bisschen was…«

Tom seufzte. Aber diesen Gefallen konnte er seiner Mutter einfach nicht abschlagen.

Eigentlich erwischte er sich seit dem Unfall öfter dabei, dass er mehr versuchte ihr alles Recht zu machen als sonst. Er wollte sie einfach nicht noch mehr verletzen.

Also setzte er sich zu ihr an den Tisch, aß etwas von dem Nudelauflauf und erzählte von der Schule.

Als er seinen Teller in den Spüler gestellt hatte, verabschiedete er sich und ging auf sein Zimmer.

Seit die Möbel eingetroffen waren, sah es hier schon wohnlicher aus. Nichts desto trotz fühlte er sich hier einfach nicht so wohl wie in seinem alten Zimmer. Da war die Einrichtung egal…

Er schmiss den Rucksack in die Ecke und sich selber auf die Couch. Dann griff er nach seiner Gitarre.

Bei den ganzen Grübeleien heute, war ihm eine neue Melodienidee gekommen.

Der Blonde stimmte das Instrument nach Gehör und begann dann darauf zu spielen.

Er versuchte viel herum, verwarf Griffe und prägte sich die guten ein. Stellte Akkorde um, bis ihm die Reihenfolge gefiel…

Irgendwie war die Melodie, die er da spielte ziemlich tragisch.

Aber irgendwie fühlte er sich so… mitgerissen von der Geschichte die er heute gehört hatte und die er so gerne noch näher ergründen wollte.

Was brachte einen Menschen dazu zu verstummen?

Diese Frage interessierte ihn schon sehr.

Er war neugierig; ohne Frage.

Immer weiter baute er sein Spiel aus und versuchte sich die Griffe einzuprägen.

Nur am Rande bekam er mit wie Sam in sein Zimmer getapst kam und sich zu seinen Füßen niederließ.

Während er spielte, ruhte sein Hund auf seinen Zehen und schien zu lauschen.

Der Melodie die von Einsamkeit und Trauer zu erzählen schien…
 

Vor dem zu Bett gehen, spielte er dieses Lied noch einmal.

Versuchte sich die Griffe einzuprägen, bis ihm die Augen zufallen wollten. Erst dann stellte er die Gitarre zur Seite und legte er sich ins Bett.

Als er das leise Fiepen hörte, rutschte er näher zur Wand und ließ es zu, dass Sam zu ihm aufs Bett sprang. Irgendwie hatte er sich so an die Nähe seines Hundes gewöhnt, dass er gar nicht mehr so streng sein konnte, wie er es gerne wollte.

Sam vergrub seine Schnauze zwischen Toms Arm und seiner Seite und gab ein zufriedenes Geräusch von sich, ehe er die Augen schloss.

Er tat es dem Tier gleich und driftete auch fast augenblicklich in einen unruhigen Schlaf ab.
 

In dieser Nacht kehrten die Träume wieder.

Eine Endlosschleife unruhiger Bilder von Tobi, dem Unfall und Bill.

Unlogische Szenerie und Horrorszenarien.

Und im Hintergrund erklang leise diese tragische Melodie, welche er heute zum Leben erweckt hatte…
 

__
 

Nachwort:
 

Ich bin begeistert das meine Blitzidee so gut bei euch Lesern anzukommen scheint. Ich danke noch mal den Kommischreibern und freue mich natürlich weiterhin über eure Meinungen.
 

Damit ihr eine Ahnung habt was Tom sich da Schönes zusammenklimpert ist hier ein Link für euch.

Dieses Lied ist einfach unvergesslich toll, finde ich.^^
 

http://www.youtube.com/watch?v=LCyhW7kU1Lk



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  G-Saite
2018-06-28T07:35:03+00:00 28.06.2018 09:35
Okay, ich hab mich geirrt, die FF kenne ich noch nicht. Allerdings bin ich jetzt schon ziemlich neugierig. Weiter gehts!


Zurück