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Voll erwischt

von

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Kapitel 4
 

Schon wieder musste ich zur Bahn hetzen. Ich hatte erst in letzter Sekunde gemerkt, dass mein Wecker nicht geklingelt hatte und war dementsprechend überstürzt aus dem Bett gesprungen. Der Schlafentzug hatte sich fürchterlich gerächt, denn normalerweise verschlief ich nicht so leicht. Seit zwei Wochen waren meine Nächte auf ein Minimum geschrumpft. Ungefähr vier Stunden Schlaf, wenn man das so nennen konnte, waren definitiv zu wenig. Ein Glück war es dieses Wochenende soweit. Ich würde bei Konstantin und Philipp einziehen und hoffentlich endlich mal wieder ausschlafen können.

In den letzten Tagen hatte ich sowohl mit den Brüdern, als auch mit meinen Freunden ausgiebig telefoniert, um alles für den Umzug vorzubereiten. Die Taschen, Kartons und Boxen waren bereits gepackt und der Sperrmüll bestellt. Bis auf mein Bett und die Küche war wenig in der Wohnung noch nutzbar, was meine Abende nicht besonders abwechslungsreich machte. Der Laptop wurde auch hauptsächlich für die Uni genutzt und bot kaum Entspannung. Mein Kalender war gefüllt mit Vorbereitungen für den Umzug und Hausarbeiten.

Ich hatte es gerade noch geschafft, in die Bahn zu springen, bevor die Türen rot leuchteten. Ich warf mich auf meinen Stammplatz und grüßte Konstantin, der seine Nase wieder in einem Buch zu stecken hatte.

Da ich nichts Besseres zu tun hatte, versuchte ich ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Bisher waren meine Versuche erfolglos geblieben, ihn aus der Reserve zu locken. Die Antworten waren einsilbig oder ich bekam nur ein zustimmendes Brummen. Ich hatte immerhin herausbekommen, warum er immer so früh mit der Bahn fuhr. Denn eigentlich begannen manche seiner Kurse erst sehr viel später. Er war wirklich überfleißig, fast schon zu strebsam. Entweder er verbrachte die Zeit in der Bibliothek oder er setzte sich in die Cafeteria, um zu lernen, weil er zu Hause keine Ruhe fand. Ich hatte ihn gefragt, ob er denn nicht in der Bibliothek zu Hause lernte, dort war man so schön abgeschieden, aber er meinte, dass er die ganze Zeit an die noch unerledigten Baustellen denken musste und war deswegen momentan zu sehr abgelenkt. Er hatte sich vorgenommen, die alten Bretter der Diele und Treppen auszutauschen und die noch brauchbaren abzuschleifen und zu versiegeln. Das war eine Menge Arbeit für eine Person und er freute sich schon auf meine Hilfe, obwohl er gar nicht wusste, ob ich ihm vielleicht nur im Weg stehen würde.

„Was liest du?“ Er hielt das Buch nach oben, sodass ich den Titel lesen konnte. „Der letzte Traumwanderer“ stand darauf. Das war schon das fünfte Buch dieser Art, das er verschlang. Er schien ausschließlich Fantasybücher zu lesen. Er war immer hochkonzentriert und ich liebte es, seiner Mimik zu folgen. Es war die einzige Gelegenheit, bei der sein Gesicht nicht die starre Maske zierte, die er sonst der Außenwelt zeigte. Ab und zu fiel sie von ihm ab, wenn er Zeit mit seinem Bruder verbrachte. Dann hatte er so einen nachsichtig, leicht genervten, liebenden Ausdruck, der mich immer wehmütig machte. Meine Schwestern konnte man nicht die gefühlvollsten Wesen nennen. Susanne, meine ältere Schwester war mit ihren 31 Jahren zu weit von mir entfernt, sodass sich nie ein näheres Verhältnis entwickeln konnte. Sie war frühzeitig ausgezogen und ich hatte nur vage Erinnerungen an sie. Meine andere Schwester Sandrine war noch 17. Sie hatte demnächst Geburtstag und ich fürchtete, dass ich zu ihrem 18. Geburtstag zu erscheinen hatte. Ich glaubte ja, dass sie darauf ganz gut verzichten konnte, aber unsere Eltern sahen das bestimmt anders. Von Geschwisterliebe konnte man bei uns beiden ganz bestimmt nicht sprechen. Wir duldeten einander, aber mehr auch nicht.

„Ist das Buch spannend?“, mal sehen, ob ich überhaupt eine Antwort bekam. Das war ein bisschen wie Russisch Roulette. Selten antwortete er und meistens erhielt ich nur ein genervtes Brummen inklusive Augenbrauen zusammenziehen. Dann funkelte er mich kurz an und ich sah das Feuer, das eigentlich in ihm schlummerte und bewies, dass er nicht halb so ruhig war, wie er sich gab.

„Ja, ist es.“ Und damit ignorierte er mich wieder. Mich irritierten diese kurzen Antworten, obwohl ich wusste, dass er lieber zuhörte. Bisher hatte er nicht eine persönliche Frage gestellt und wenn ich ihn etwas fragte, waren die Antworten zurückhaltend, manchmal sogar abweisend. Wenn er las, zum Beispiel, schien er lieber ungestört zu sein und war schon bei der kleinsten Unterbrechung genervt.

Vielleicht war das ein Tick von ihm? Sollte ja Menschen geben, die alles um sich herum vergaßen, wenn sie mit etwas beschäftigt waren, das sie liebten. Ich gab also auf und lehnte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Das Wetter war besser geworden und ich hoffte, dass es am Wochenende so bleiben würde. Es machte nämlich keinen Spaß, Sachen durch den Regen zu schleppen. Ich hatte einen Transporter gemietet, den wir dringend brauchen würden. Es war schon erstaunlich, was sich in drei Jahren so alles ansammelte. Ich hatte gründlich ausgemistet, sonst wäre es noch mehr gewesen. Ich war ganz froh, dass die Größe meines Zimmers begrenzt war, sonst hätte ich viel mehr behalten und ein ernsthaftes Platzproblem gehabt.

Ich spürte, wie der Sitz neben mir besetzt wurde, als wir an der nächsten Station hielten. Die Bahn wurde erstaunlich voll. Was war denn los? Ach ja ein anderer Zug wurde wegen Bauarbeiten umgeleitet und die Fahrgäste mussten dadurch woanders umsteigen. Na super, Bahnfahren war klasse. Mein Sitznachbar hatte anscheinend einen leichten Rechtsdrall, denn der Oberkörper kam mir immer näher. Der Abstand war mittlerweile soweit geschrumpft, dass ich mich regelrecht belästigt fühlte und genervt weiter an das Fenster rutschte. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie ein Kopf im Takt der Bahn hin und her geschleudert wurde. Verdammt, er, nein sie war eingeschlafen. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sie halb auf meinem Schoß sitzen würde. Vielleicht wachte sie ja auf? Für eine Frau war sie echt groß und hatte ein verkniffenes Gesicht, das sich selbst im Schlaf nicht entspannte. Bei dem nächsten Rucken wachte sie kurzzeitig auf, nur um sofort wieder die Augen zu schließen. Die ältere Dame rutschte nun noch weiter in meine Richtung und langsam bekam ich wirklich Angst. Ob ich ihr anbieten sollte, den Platz zu tauschen? Dann konnte sie den Kopf an der Wand anlehnen und nicht mehr auf mich fallen. Aber sie hatte sich den Platz ja ausgesucht, hätte sich ja auch neben Konstantin setzen können, dann würde ich jetzt nicht so in der Klemme stecken. Sie kam immer näher, ich konnte schon ihr widerlich süßes Parfum riechen, das mir die Luft zum Atmen nahm. Die Bahn ruckelte wieder und sie schlug die Augen für zwei Sekunden auf, völlig benebelt. Ich nutzte die Gelegenheit und setzte mich zu Konstantin.

Dieser hatte von meinem Dilemma nichts mitbekommen, da er immer noch in dieses doofe Buch vertieft war. Oh Gott, jetzt war ich schon eifersüchtig auf ein Buch. Ich beobachtete die Frau noch eine Weile. Zum Glück hatte ich mich weggesetzt, denn jetzt hatte sie eine Hand auf meinem ehemaligen Sitz abgelegt, um sich mehr schlecht als recht, abzustützen. Alles in allem sah sie aus wie ein nasser zusammengesunkener Sack. Ganz schön rücksichtslos, wenn man bedachte, dass die Bahn schon so voll war und sie mich mehr oder weniger von meinem Platz vertrieben hatte.

Dafür roch Konstantin wesentlich besser. Ob das sein Aftershave war? Ich würde im Bad einfach mal gucken, was da so rumstand und vielleicht war ich dann schlauer.

Ich versuchte einen Blick in sein Buch zu erhaschen. Ich weiß, das macht man nicht, aber ich wollte wissen, was daran so ungeheuer spannend war. Aber aus diesem Manöver wurde nichts, da meine Augen sein Gesicht mal wieder interessanter fanden, als alles, was in diesem Buch passieren könnte. Er kaute auf seiner Unterlippe, was es für mich nicht leichter machte, den Blick abzuwenden und ich musste mich zwingen, aus dem Fenster zu sehen. Los Jona, denk an was Abtörnendes. Eltern, das war ein gutes Thema. Ich musste demnächst mit ihnen telefonieren, wegen meiner Schwester. Lieber würde ich über glühende Kohlen marschieren, aber es ließ sich nicht vermeiden. Im Prinzip wusste ich schon, wie das Gespräch mit meiner Mutter laufen würde. Erst das Übliche Geheuchel von Interesse, wie mein Studium lief. Die Standpauke dafür hatte ich zwar schon kassiert, aber ich glaubte nicht, dass sie das Thema schon abgeschlossen hatte. Sie fand immer ein Haar in der Suppe. Erst sollte ich studieren und ging arbeiten, was ihr nicht passte. Dann studierte ich und es war immer noch nicht richtig, weil dieses Studium ihrer Meinung nach keine Zukunft hatte. Dass es mir Spaß machte, war da nebensächlich. Für meine Eltern zählte nur Prestige und Geld.

Eigentlich war ihr Leben so oberflächlich, dass sie mir nur leidtun konnten. Aber diese ewigen Vorwürfe machten mich so langsam mürbe und ich hatte gestrichen die Nase voll. Was war denn so schlimm daran, dass ich vielleicht nie soviel verdienen würde, dass ich mir ein Haus leisten konnte? Vor allem, weil sie sich ja selbst auch nie eines gebaut hatten. Die Knete dafür war ja da, aber ich hatte trotzdem mein Leben lang nur in Wohnungen gewohnt. Weder besonders geräumig, noch besonders luxuriös. Was machten die nur mit dem ganzen Geld? Mein Vater verdiente schließlich nicht schlecht. Aber meine Mutter sah immer aus, wie geschniegelt. Wahrscheinlich verschleuderte sie ihr Vermögen in Boutiquen und das war das, was dabei herauskam.

Ging mich nichts an. Sie konnten machen, was sie wollten, nur sollten sie mich mit ihren Vorurteilen und „Verbesserungsvorschlägen“ zufriedenlassen.

Erst letztens hatten sie mir „nahegelegt“ doch umzusatteln auf Jura oder BWL, das waren beständige Studiengänge mit sehr guten Aussichten usw. Dabei hatte ich im Hintergrund meine Schwester quaken gehört, dass ich das mit seinem Abidurchschnitt sowieso nicht schaffen würde und wäre am liebsten durch den Hörer gesprungen. Diese kleine Mistmade wusste ganz genau, welche Knöpfe sie drücken musste, um mich zur Weißglut zu bringen. Meine Eltern waren so unglaublich stolz auf meine talentierte Schwester, dass ihnen anscheinend gar nicht auffiel, dass an der Stelle, wo ihr Herz sein sollte, nur ein schwarzes Loch war. Es gab für solche Menschen auch einen Begriff, gefühlskalt traf es nur noch nicht ganz. Da war mehr. Dieser Drang sich vor anderen zu profilieren, immer im Mittelpunkt zu stehen und gnadenlos jeden Gegner ausschalten zu müssen.

Wo war ich? Genau, meine Mutter, angesehene Chemie- und Mathelehrerin an einem Gymnasium, konnte es nicht ertragen, dass ihr Sohn vielleicht einmal arbeitslos sein würde, nur weil ich mich für ein Studium entschieden hatte, das nicht so lukrativ und vielversprechend war. Mein Vater, von Beruf Architekt, hatte mich aufgegeben. Aus mir würde doch nichts werden, selbst wenn ich versuchen würde, ihre Wunschabschlüsse zu bekommen. Dass mir solche Aussagen weh taten, schien sie nicht zu interessieren. Wichtig war nur, wie sie vor ihren Freunden und Kollegen dastanden. Sie wollten sagen können, dass sie stolz auf ihren Sohn waren. Da konnten sie so lange warten, bis die Hölle einfror. Ich würde mich ganz sicher nicht ihren altertümlichen Ansichten beugen. Ich war nicht umsonst ausgezogen, weil ich ihre Borniertheit nicht mehr ertragen hatte. Wenn nicht alles nach den vorhergesehen Bahnen verlief, dann musste dieser Makel beseitigt werden.

Meine Mutter hatte es tatsächlich gewagt, mir die Einschreibeunterlagen für BWL ausgefüllt zu schicken, ich sollte nur noch unterschreiben. Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Das war so anmaßend und wir hatten ungefähr eine Stunde lang am Telefon gestritten. Keiner von uns war als Sieger daraus hervorgegangen, denn ich hatte irgendwann wutentbrannt aufgelegt und seitdem sprach sie nicht mehr mit mir.

Doch ich wartete nur auf den nächsten Anruf, ich hoffte nur, dass ich nicht allzu lange auf dieser blöden Geburtstagsparty bleiben musste. Mein einziger Hoffnungsschimmer war meine Großmutter, die anscheinend die einzig vernünftige Person in dieser Familie war. Na gut, meine große Schwester war auch ganz nett. Aber sie würde nicht lange bleiben, da sie ihr Kind versorgen musste, das erst 6 Monate alt war und den Stress sicher noch nicht so gut vertrug. Immerhin wohnte sie fast 100 km entfernt in einem schönen Bauernhaus, mit vielen Tieren. Dieses Kind würde es bestimmt besser bei ihr haben, als wir es bei unseren Eltern gehabt hatten. Ihr Mann war auch ganz in Ordnung, solange er nicht zu tief ins Glas schaute. Aber er musste bestimmt fahren. Da konnte er glücklicherweise nichts trinken.

Meine Gedanken wanderten zu Sandrine. Sollte ich ihr etwas schenken? Eigentlich hatte sie ja nichts verdient, weil sie immer so eklig zu mir war, aber ich wollte nicht mit leeren Händen aufkreuzen. Immerhin schenkte sie mir auch immer etwas. Meistens Sachen, die ich überhaupt nicht gebrauchen konnte. Einen Aschenbecher zum Beispiel, obwohl sie wusste, dass ich Nichtraucher war. Zu einer Gemeinheit konnte ich mich jedoch nicht durchringen und so würde ich ihr die Ohrringe kaufen, die ich den einen Tag in einem Schmuckgeschäft gesehen hatte. Es waren winzige Stecker in Schmetterlingsform, die in einem schönen Grün leuchteten. Sie würden gut zu ihrer Augenfarbe passen.

Die ganze Zeit hatte ich aus dem Fenster gesehen, meinen Gedanken nachgehangen, Musik gehört, sodass ich erst merkte, dass Konstantin mich angesprochen hatte, als er meinen Namen noch einmal sagte. Mit Lichtgeschwindigkeit zog ich die Stöpsel aus den Ohren und verhedderte prompt mein Kabel, dass ich nun langwierig wieder auseinanderknotete. Das war nichts für Grobmotoriker. Ich machte es nur noch schlimmer und ließ es ganz bleiben.

„Ja, was ist?“

„Ich hab mich gefragt, ob du am Samstag noch ein paar Hände gebrauchen kannst, wenn ihr deine Wohnung ausräumt? Muss eigentlich noch gestrichen werden?“ In Gedanken fiel mir die Kinnlade bis auf die Knie. Konstantin wollte mir helfen?

„Oh. Ja, ja klar, kann ich Hilfe gebrauchen. Je mehr wir sind, desto schneller geht es natürlich. Ist das denn in Ordnung, hast du Zeit dafür?“ Langsam reden, sonst merkt er noch, dass du völlig aus dem Häuschen bist.

„Sonst würde ich nicht fragen.“ Er zog eine Augenbraue hoch, eine Geste, die mich verrückt machte. Einerseits war sie schon ein wenig überheblich, aber sie ließ ihn so männlich aussehen, dass ich ihn am liebsten den halben Tag angeschmachtet hätte. Was anschmachten? Komm mal wieder runter Jona! Das war ein Kerl, nur ein anderer Mann!

„Ähm, ja, genau, streichen müssen wir nicht, hab da noch nicht so lange gewohnt und wenig an der Wand gehabt. Ich denke, es reicht, wenn wir zum Schluss alles nochmal gründlich saugen und auswischen, das sollte ausreichen.“

„Okay, wann wolltest du denn anfangen?“

„Den Wagen bekomme ich ab 7 Uhr und ich hoffe, ich kann das Ding fahren. So ein Transporter ist eben doch was anderes als ein Auto.“ Ich verzog zweifelnd das Gesicht, ich durfte das Teil zwar fahren, aber das hieß nicht, dass ich es konnte.

„Wenn du willst, dann fahre ich. Ich habe unsere Möbel auch mit einem Transporter zum Haus gebracht. Ich wollte nicht, dass eine Umzugsfirma unsere Sachen anfasst.“ Aha, da war er also eigen.

„Gern, eine Sorge weniger. Dann kommst du vielleicht so gegen 6:45 Uhr und wir holen den Wagen gemeinsam?“ Er nickte, um sein Einverständnis zu signalisieren.

„Gib mir mal die Kopfhörer, das kann ja niemand mit ansehen.“ Der plötzliche Themenwechsel überrumpelte mich und ich brauchte zwei Sekunden zu lange, um zu reagieren.

„Die Kopfhörer?“ Er streckte seine Hand aus und ich legte sie vorsichtig hinein. Zu vorsichtig eigentlich, aber ich hatte Angst, dass wenn ich seine warme Haut berührte, wieder dieser Wirbelsturm in mir entfacht wurde und das war bei meinem derzeitigen Zustand sicherlich nicht gut. Er zog und fummelte an den weißen Kabeln mit einer Geduld, die ich bemerkenswert fand. Ich hätte schon längst die Krise bekommen und die Dinger in die nächste Ecke befördert.

„Fertig. Was hörst du denn?“, fragte er neugierig. Womit hatte ich diese Aufmerksamkeit verdient? Er hatte mit mir heute mehr geredet, als in einem Monat zusammengerechnet. Das verwirrte mich und brachte mich aus dem Konzept. Dabei hatte ich mir doch gewünscht, dass er mit mir sprach.

„Dies und das. Meistens hab ich das Radio an, aber da quasseln sie in letzter Zeit soviel. Ich mag Rock ganz gerne und ein paar Popsachen auch. Und du?“, diese Gelegenheit ließ ich mir sicher nicht entgehen, wenn er schonmal so gesprächig war.

„So ziemlich das Gleiche, aber ich mag auch klassische Musik.“ Ich verzog das Gesicht und er grinste mich an. Mein Herz legte gleich einen Takt zu und ich zwang mich ruhig und gleichmäßig zu atmen.

„Das ist gar nicht meins. Dieses Gejaule.“ Keine Ahnung, was er daran fand, für mich war es das Grauen.

„Manche Stücke sind sehr schön, ich mag besonders die ruhigen. Aber ich merke schon, ich kann dich dafür nicht begeistern.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, eher nicht.“ Wir grinsten uns gegenseitig an und ich merkte, wie die Ameisen in meinem Bauch wieder hibbelig wurden. Werdet ihr wohl stillhalten! Sonst räucher' ich euch aus! Dieses verschmitzte Lächeln war umwerfend und ich fragte mich wirklich, wie es wäre, wenn er mich einmal richtig anlächeln würde. Oder vielleicht sollte ich mich das lieber nicht fragen, weil ich es bestimmt nicht überleben würde. Ich war ja nicht selbstmordgefährdet. Nur ein wenig masochistisch, denn ich wünschte mir schon wieder, dass er mich angrinste und all seine Geheimnisse offenbarte.

Ich überlegte krampfhaft, worüber wir noch reden konnten, damit die Unterhaltung nicht schon wieder vorbei war.

„Das Buch, das du vorhin gelesen hast, davon besitzt du ja anscheinend eine ganze Menge, oder? Wo hast du die denn untergebracht? In der Bibliothek habe ich zumindest auf den kurzen Blick keine davon gesehen.“ War bestimmt nicht die beste Wahl über Bücher zu reden, wenn man davon keine Ahnung hatte, aber vom Handwerken hatte ich genauso wenig.

„In meinem Zimmer habe ich eine Menge zu stehen und auf dem Dachboden ist auch so einiges. Aber da darfst du erst rauf, wenn wir die Treppe repariert haben. Ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr da oben und weiß gar nicht, was da alles liegt. Bestimmt alter Krempel von meinen Großeltern, sie konnten sich schon immer schwer von etwas trennen. Wenn du Lust hast, können wir ja zusammen dort ausmisten? Philipp würde wahrscheinlich mehr Chaos hinterlassen, als dort sowieso schon ist.“ Ich lächelte, das konnte ich mir gut vorstellen, dass er alles andere im Kopf haben würde, als aufzuräumen.

„Hast du eigentlich was dagegen, wenn meine Freunde von Samstag zu Sonntag übernachten? Ich hab euch noch gar nicht richtig gefragt.“

„Nein, geht klar. Du hattest überlegt, wo alle schlafen sollen.“ Wieder wurde ich fragend angesehen und hilflos zuckte ich die Schultern.

„Einer muss sein Zimmer räumen. Vielleicht könnten du und Philipp in einem Zimmer schlafen, dann nehm ich Dom oder Ben zu mir. Aber dann muss einer von uns zusammen mit Sammy in ein Zimmer. Oder Dom schläft alleine, das ist für alle am sichersten. Keine Ahnung, ob du es mitbekommen hast, aber ich glaube, er steht auf deinen kleinen Bruder.“ Ernst wurde ich aus diesen tiefbraunen Augen angeschaut und wand mich innerlich. Was, wenn er damit ein Problem hatte? Ich schätzte ihn zwar nicht so ein, aber ich konnte nicht in ihn hineinsehen.

„Ja, hab ich. Die Frage ist nur, wie ernst er es mit Philipp meint. Ich möchte nicht, dass ihm wehgetan wird.“ Da war wieder dieser Große-Bruder-Ausdruck in seinem Gesicht.

„Du meinst, er hätte echt Chancen? Ich war mir nicht so sicher, ob die beiden sich daraus nicht nur einen Spaß machen.“ Prüfend sah ich ihn an und prompt richtete sich mein Blick auf seine Lippen, als er antwortete. Seine Zähne waren schön weiß und ich hatte Mühe, mich auf seine Antwort zu konzentrieren.

„Ich denke schon, wenn Philipp nicht interessiert wäre, hätte er es bereits im ersten Moment abgewürgt. Ich denke, er muss erstmal ausprobieren, ob das was für ihn ist. Aber, dass er so locker reagiert hat, ist ein gutes Zeichen.“ Ich war erstaunt, dass Konstantin darüber so unverfänglich sprechen konnte. Viele Menschen, besonders die, die einem nahestanden, konnten oft schlecht akzeptieren, dass sich das Kind, der Bruder, der Freund zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Das machte ihn mir gleich noch sympathischer.

„Was meinst du, sollen wir da ein wenig nachhelfen?“ Vergnügt schaute ich ihn an und er schien zu ahnen, was ich dachte.

„Du willst beide in ein Zimmer stecken? Und Philipp ins Verderben schicken?“ Das Lächeln ließ den Satz nicht ganz so fies klingen.

„Dann kommen Ben und Sammy in mein Zimmer. Damit sie sich mal richtig aussprechen können. Ich wünsche den beiden alles Glück auf der Welt und ich glaube, dass sie das finden, wenn sie einander haben. Das bedeutet...“ Über diese Möglichkeit wollte ich eigentlich gar nicht nachdenken. Und es war eine dumme Idee. Eine dumme verführerische Idee. Ich würde sein Zimmer sehen. Würde nicht nur unter einem Dach, sondern in einem Raum mit ihm schlafen. Beziehungsweise auch nicht, denn ich würde vor Aufregung bestimmt kein Auge zu machen. Die Ameisen versuchten nun gewaltsam in meinem Bauch auf und nieder zu krabbeln.

„...dass du bei mir schläfst. Hab ich kein Problem mit.“ Aber ich!, schrie mein Verstand und mein Herz lachte ihn aus voller Kehle aus. Ich war verloren. So was von verloren. Wenn ich dieses Wochenende überlebte, dann würde ich mich in die Psychiatrie einweisen lassen. Vielleicht konnte die was gegen meine Ungezieferplage unternehmen?

„Okay, also abgemacht.“ Ich ließ meinen Kopf an das Polster sinken, nur um sogleich wieder von der kratzigen mechanischen Stimme hochgeschreckt zu werden.

„Wir müssen raus. Was hast du jetzt?“ Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Französisch und danach Altgriechisch.“ Nicht unbedingt meine Lieblingsfächer, aber da musste ich durch.

„Gut, also dann bis später. Vielleicht sehen wir uns auf dem Rückweg.“ Er winkte mir zum Abschied und machte sich schnurstracks auf den Weg zur Cafeteria. Eigentlich hätte ich nach der Aktion einen Kaffee gebrauchen können, aber ich war schon spät dran, also flitzte ich zur Vorlesung. In Französisch passte ich nicht wirklich auf, denn mein Kopf war noch voll von dem Gespräch mit Konstantin. Wie kam es, dass er auf einmal mit mir redete? Er hatte doch selbst zugegeben, dass er nicht der Gesprächigste war. Und doch hatte er mir heute soviel erzählt und so viel gefragt. Ich war noch völlig überfordert. Insbesondere der Gedanke, dass ich am Samstag in seinem Zimmer übernachten durfte und es mehr oder weniger seine Idee gewesen war, ließ mich nicht stillsitzen.
 


 

Sorry, schon wieder ein Fillerkapitel, aber das nächste dreht sich dann nur um den Einzug, versprochen ^^



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