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Nah am Herzen

Original-Only Wichteln 2011 - Wichtelgeschichte für Prussia
von

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Vermutungen, Feststellungen, Veränderungen

Alex hätte nie gedacht, dass er mal so abhängig von einem Menschen sein könnte. Es war Donnerstagnachmittag, der Schulalltag war bereits hinter sich gebracht. Dennoch hatte er das Gefühl, am liebsten wieder zurück zu gehen, weil ihm irgendetwas fehlte.

Obwohl Alex es selbst nicht eingestehen wollte, vermisste er tatsächlich Lukas. Er hatte sich so an seine Nähe in den letzten Tagen gewohnt, denn er war ständig mit ihm unterwegs gewesen und hatte ihn sogar nachmittags gesehen. Im Nachhinein fragte er sich, was er am Dienstag eigentlich getan hatte, schließlich war er da auch alleine gewesen. Heute hatte Lukas wieder sein Basketball-Training, also hatte er keine Zeit für ihn. Es war erschreckend, dass er nichts mit seinem Nachmittag anzufangen wusste.

Zumindest, bis sein Handy plötzlich klingelte und der Name Max auf dem Display erschien. Er nahm den Anruf an und meldete sich mit einem einfach „Ja?“.

„Alex, altes Haus!“, kam es aus dem Handy. Alex‘ Gesichtsausdruck sah in etwa so aus, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen.

„Hör auf mit dieser Ghetto-Sprache, Max.“

„Ach, die ist aber lustig. – Jedenfalls, hast du was dagegen, wenn ich mal mit meiner Gitarre vorbei komme und wir mal wieder ein bisschen was klimpern?“, fragte Max und mit einem Schlag erhellte sich Alex‘ Gesicht.

„Max?“

„Ähm, ja?“

„Warum hast du eigentlich immer die geilsten Ideen?“

Kurze Stille am anderen Ende der Leitung. „Weil ich halt geil bin. Und hör auf, so merkwürdig zu reden. Das klingt schwul.“, merkte sein bester Freund an.

„Schwul?“, wiederholte Alex spitz, „Was klingt hier bitte schwul?“

„Na, du mit deinem Hach-ja-Gelaber!“

„Ähm… ja.“

„Oh ja. – Vergiss es. Ich bin in zehn Minuten bei dir. Stimm deine verdreckte Gitarre bis dahin.“ Und damit legte er auf.

Alex musste zugeben, manchmal war Max ein durchaus merkwürdiger Mensch. Manchmal sprach er etwas komisch, manchmal machte er merkwürdige Sachen, aber manchmal hatte er tatsächlich die genialsten Einfälle der Welt.

Es musste ewig her sein, dass sie beide zuletzt Gitarre gespielt hatten, dabei hatten sie es sogar gemeinsam gelernt. Mit Max zusammen konnte er am besten spielen und es machte ihm auch am meisten Spaß. Was seine Gitarre betraf, hatte er vollkommen Recht gehabt – sie stand zwar auf seinem Gitarrenständer, doch sie war seit langem nicht mehr aus diesem genommen worden. Er nahm sich einen Lappen, um die dünne Staubschicht herunter zu wischen und stimmte schließlich nach Gehör die Saiten seiner Gitarre, weil er zu faul war, um sein Stimmgerät zu suchen. Dennoch begab er sich noch auf die Suche, weil er das Gefühl hatte, dass irgendwas sich nicht richtig anhörte.

Schließlich war dann auch mithilfe des Stimmgerätes die e-Saite perfekt gestimmt, als die Klingel unten läutete. Er stürmte nach unten und öffnete Max die Tür. Nahezu im selben Moment wurde er von einem lebenden Etwas namens Max beinahe umgestürzt. Er spürte, wie er ihm kräftig auf den Rücken schlug.

„Und wer ist hier jetzt schwul?“, murrte Alex, der beinahe erdrückt wurde.

„Ach, Schätzchen“, antwortete Max mit hoher Stimme, „Ich hab dich einfach total vermisst. Du mich etwa nicht?“

„Oh, ich vergaß, natürlich habe ich das, Maxime.“, entgegnete er mit vor Sarkasmus triefender Stimme.

„Ey, Namensverstümmelungen sind tabu, Alexandra!“, beschwerte Max sich und pfefferte seine Schuhe in die Ecke eines Flures, wie er es seit Jahren tat. Alex seufzte und stellte sie ordentlich hin.

„Manchmal frage ich mich, wann du auf die Idee gekommen bist, dass mein zu Hause ein Hotel ist.“, murrte Alex und ging seinem besten Freund hinterher zu seinem Zimmer.

„Hotel ist doch gar kein Begriff dafür.“, antwortete er aus Spaß. Alex hoffte inständig, dass seine Eltern bis abends arbeiteten, ansonsten könnte es wieder passieren, dass sie ausrasteten. Als sie in seinem Zimmer ankamen, schritt Max sofort zu seiner Gitarre, die er vorhin auf dem Bett abgelegt hatte. Er ließ kurz alle Saiten erklingen. „Hey, du hast sie ja wirklich gestimmt, herzlichen Glückwunsch.“, meinte er, „Ich hab übrigens meine Akustikgitarre mitgenommen, ich dacht, das wär praktischer, wo du doch nur eine Akustik hast.“

„Joa, ist gut so. Damit kann man auch einiges spielen. Und übrigens kannst du deine komische Pornobrille hier drinnen abnehmen, hier ist keine böse UV-Strahlen absondernde Sonne oder so.“

„Sicher kann man sich ja nie sein“, sagte Max, nahm aber die Brille ab. Dann schnappte er sich seine Gitarrentasche, packte seine Akustikgitarre aus und nahezu stumm einigten sie sich auf einige Lieder, die sie schon immer gespielt haben, und wenn darunter auch „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“ war, weil sie dieses Lied als eines der ersten bei ihrem Gitarrenunterricht gelernt hatten.

Es gab viele Lieder, die sie noch spielen konnten, obwohl sie sie vor einigen Jahren das erste Mal einstudiert hatten, und das perfekt. Es schien wie ein Déjà-vu. Plötzlich war alles wieder da und man fühlte sich in die Vergangenheit gesetzt. Sie spielten Lieder, die sie irgendwann einmal selbst komponiert hatten, und welche, die aktuell waren und erstmal einstudiert werden mussten.

Es war eine sehr angenehme Atmosphäre, was nicht zuletzt daran lag, dass Max immer nur dann ruhig war, wenn er Gitarre spielte.

Schließlich legten sie nach etwa zwei Stunden zur Seite und ließen sich zurück auf Alex‘ Bett fallen. „Angenehm…“, murmelte Max, „Ich finde, wir sollten das wieder öfters machen. Allgemein haben wir uns in letzter Zeit wenig gesehen, findest du nicht?“

„Ja, leider…“, stimmte er ihm zu. „Die Schule ist mittlerweile ziemlich einnehmend, aber ich würde wirklich gern wieder öfters mit dir Gitarre spielen.“

„Wird schon klappen.“, meinte Max nur optimistisch, bevor er einen plötzlichen Themenwechsel vollzog, „Aber sag mal – was ist eigentlich plötzlich mit Lukas? Ihr hängt ja momentan ziemlich aneinander. Läuft da was?“

Ruckartig setzte Alex sich auf. „Ob da was läuft? Das hört sich ja, als würde ich etwas von ihm wollen.“

„Na ja, vielleicht willst du das ja.“, spekulierte Max.

„Wer sagt das?“

„Ich“, erwiderte er, und bei einem bösen Blick seitens Alex fügte er noch hastig hinzu: „Und Karo, die sagt das auch.“

Stöhnend ließ er sich wieder auf das Bett zurück fallen. „Wie kommt ihr alle darauf? Ich meine, wie kommt ihr darauf, dass ich etwas von Männern will?“

„Alex, du hast noch nie was von Mädchen gewollt…“, er seufzte leise, „Sicher, vielleicht war noch nicht die Richtige dabei, aber vielleicht solltest du es mal am anderen Ufer probieren?“

„Das sagt der, der mir nach jedem Wochenende beteuert, wie geil die Mädels auf der und der Party doch waren?“, fragte Alex skeptisch.

„Oh ja, das sage ich. Junge, ich mach mir einfach Gedanken um dich und dein Liebesleben.“

Alex kam nicht umhin zu lächeln, auch wenn seine Vermutung mehr als hirnrissig waren. „Wie süß von dir“, meinte er dann, „So kenne ich dich ja gar nicht. Dennoch muss ich euch wohl sagen, dass ihr damit wohl falsch liegt.“ Während er das sagte, versuchte er hartnäckig die Bilder vom gestrigen Tag zu verdrängen, seine Gedanken, als er Lukas halbnackt vor sich stehen sehen hatte… Er spürte, wie seine Wangen langsam warm wurden. Warum hatte er nur diese nervige Angewohnheit, so leicht rot zu werden?

„Okay. Aber was ist dann mit Lukas?“, hakte Max trotzdem weiter.

„Ach, er hat mir nur ein bisschen geholfen. Hat mir Biologie-Nachhilfe gegeben und so, das war sehr nett von ihm.“, erzählte er, doch Max zog nur die beiden Augenbrauen hoch, als er die Röte auf Alex‘ Wangen sah.

„Das war nicht alles – oder warum wirst du wieder so rot?“, neckte er ihn, „Was ist noch passiert?“

Alex schloss kurz die Augen um sich zu beruhigen, doch das half nichts, denn dann schoss ihm nur wieder das Bild von dem halbnackten Lukas in den Kopf. „Da ist nichts, wirklich.“

„Und das soll ich dir jetzt glauben…“

„Ja, es wäre zumindest besser für dich.“

„Uh, jetzt fährt unser lieber Alex aber harte Geschütze aus. – Ach nein, wie zweideutig…“
 

Es war kurz nach Mitternacht. Alex lag alleine in seinem Bett. Max war vor einigen Stunden wieder nach Hause gegangen und er hatte es vermieden, noch mal das Thema Lukas oder alles, was damit zu tun hatte, zu erwähnen. Stattdessen hatten sie über alte Zeiten geredet und wie sich alles entwickelt hatte.

Dennoch ließ ihn das Thema Homosexualität nicht los. Es kränkte ihn nicht unbedingt, dass seine beste Freundin und sein bester Freund so etwas von ihm dachten, doch es verwunderte ihn stark und verwirrte ihn zutiefst. Er hatte sich nie in irgendeiner Art schwul verhalten, und wenn er dies richtig verstanden hatte, dann sahen Karolina und Max das genauso. Das hieße aber, dass sie auf diese Vermutung mit dem Schwul sein nur kamen, weil er sich nie für Mädchen interessiert hatte?

Sicher, das war eine naheliegende These. Aber ob sie stimmte, war eine andere Sache und dessen war Alex sich nicht sicher. Doch je länger er darüber nachdachte, desto weniger schlimm kam ihm dieser Gedanke vor.

Es war merkwürdig, sich selbst eingestehen zu müssen, dass er nie einen Gefallen daran gefunden hatte, Mädchen auf Arsch oder Titten zu schauen. Das war nie wirklich reizend für ihn gewesen, aber er musste zugeben, dass es ihm manchmal gefallen hatte, den Jungs in der Sportumkleide unauffällig ein paar Blicke zu schenken. Jedoch war es auch nicht so, dass er Mädchen nicht vollkommen mied. Er mochte sie – sie verstanden ihn und er kam gut mit ihnen klar. Aber war das nicht noch ein Anzeichen mehr, dass man mehr an Jungs interessiert war?

Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Dennoch versuchte er einzuschlafen, weil ihm das Grübeln Kopfschmerzen bereitete.
 

Das Thema Mädchen holte ihn gleich am nächsten Tag wieder ein. Er saß zusammen mit Lukas am Freitagvormittag in seinem Philosophiekurs, in dem sie gerade über Gleichberechtigung der Geschlechter sprachen. Ein Thema, das immer mal wieder durchgekaut wurde, hatte Alex das Gefühl, und auch Lukas schien so zu denken. Sie waren durch diese Thematik aus irgendeinem Grund auf die Eigenarten von Mädchen gekommen.

„Und wenn meine Schwester mal kreischend durch die Wohnung rennt“, erzählte Lukas gerade im Flüsterton zu Alex, „Dann können es drei Sachen sein: Erstens, sie hat irgendwo einen Pickel bekommen. Zweitens, sie hat Splisshaare. Oder drittens, ihr Puder, Mascara oder was auch immer ist alle. – Oh, warte, es gibt noch ein viertens: Wenn sie von irgendeinem süßen Jungen bei Facebook angeschrieben wurden. Dann läuft sie auch kreischend durch das Haus.“

Alex musste sich ein lautes Lachen verkneifen. „Warum tut man sowas?“, fragte er sich selbst, aber Lukas zuckte auch mit den Schultern.

„Frag mich nicht.“

„Und überhaupt, Frauen sind sowieso immer so rechthaberisch, habe ich das Gefühl. Meine Mutter ist zumindest so, und Karo manchmal auch. Können die nicht einmal einsehen, dass sie auch mal nicht Recht haben?“

„Keine Ahnung. – Aber wo du gerade deine Mutter erwähnst-…“

Ein Räuspern vor ihnen. Ein Blick nach oben und eine etwas ältere Frau mit strengem Zopf stand vor ihnen. „Ähm, ja, Frau Baganz?“, fragte Alex mit einem lieben Lächeln.

„Nichts, Alexander. Ich frage mich nur gerade, ob Sie wissen, was ich eben zuletzt gesagt habe.“ Sie sprach es mehr als Aufforderung, doch Alex schien dies nicht zu stören.

„Natürlich. Sie sagten gerade, dass die Rolle der Frau nicht zu unterschätzen sei.“, antwortete er so selbstsicher, dass Lukas aufpassen musste, nicht total ungläubig zu schauen. Frau Baganz schnaubte.

„Nun gut, dann haben Sie noch einmal Glück gehabt.“ Und damit ging sie zurück zu ihrem Lehrerpult und setzte ihren monotonen Unterricht fort.

„Wie zum Geier hast du das gemacht?“, flüsterte Lukas ihm zu. Alex grinste ihn überlegen an. „Du hast nicht wirklich zugehört, oder?“

„Nö. Aber den Satz sagt sie doch ständig, wenn es um dieses Thema geht, also hab ich das auf gut Glück mal rausgehauen.“

Fassungslos starrte der Blonde ihn an. „Alex, du hast… du bist… nein, keine Ahnung. Das ist merkwürdig. Darauf kommst auch nur du.“ Und die beiden mussten sich dazu zwingen, nicht laut los zu lachen. Unglaublich, dass diese Frau so einfach abzuspeisen war.

Damit fiel Lukas wieder ein, was er vorhin ansprechen wollte. „Aber was ich vorhin wollte: Was ist nun mit deinen Eltern? Wie ist momentan zwischen ihnen?“, fragte er leise.

Alex runzelte die Stirn, als er darüber nachdachte. „Ich bin ihnen den letzten Tag eigentlich ziemlich aus dem Weg gegangen… aber ich habe sie nie streiten gehört, wenn ich zu Hause war. Ich hoffe, dass es besser wird. Vielleicht erzählt meine Mutter mir irgendwann etwas darüber.“

Aufmunternd lächelte Lukas ihm zu und unwillkürlich erwiderte Alex es. „Das klingt doch schon viel besser als letztens. Ich bin mir sicher, es wird wieder alles gut.“
 

Für diesen Nachmittag hatte er sich mit seiner besten Freundin Karolina Abel verabredet. Sie hatten vor, eine große Runde mit ihrem Terrier Scotty zu gehen. Alex begleitete sie oft, wenn sie etwas größere Runden drehte, damit sie nicht ganz so allein war beziehungsweise jemanden zum Reden hatte – denn Scotty konnte schlecht mit ihr reden.

Er holte sie an ihrem Haus ab, welches etwas weiter weg als die seiner anderen Freunde lag, sodass er den Bus benutzen musste.

Im Gegensatz zu Max war Karolina eine etwas Ruhigere. Das merkte man alleine schon daran, dass sie mit einer leichten Umarmung und einem freundlichen „Hey!“ begrüßte. Die Begrüßung Scottys fiel da schon etwas heftiger aus. Er bellte und sprang ihn an, weil er sich einfach freute, den ‚guten alten Alex‘, wie Karo ihn gern einmal nannte, wiederzusehen.

„Ich hab mir gedacht, dass wir heute im Wald spazieren gehen. Da war er lange nicht mehr.“, schlug Karo vor und Alex nickte zustimmend.

„Ich war da auch lange nicht mehr. Ich hab sowieso das Gefühl, in letzter Zeit kaum wirklich draußen gewesen zu sein, oder irgendwas mit dir oder Max gemacht zu haben.“, erzählte er, „Manchmal frage ich mich, was ich die ganzen Nachmittage immer tue.“

„Entweder sitzt du wie ich die ganze Zeit an diesen bescheuerten Hausaufgaben“, meinte sie und lachte kurz, „Oder du sitzt die ganze Zeit vor deinem Papier und betest deinen Bleistift an.“

„Dann wohl eher das letzere“, legte Alex grinsend fest, „Und hör bloß auf, von Schule zu reden, wir haben Freitag, jetzt ist erstmal Pause angesagt.“

„Besser so. Du willst nicht wissen, was für einen Mist wir momentan in Physik behandeln.“

„Nein… ich glaube, das will ich wirklich nicht.“

Sie betraten den kleinen Wald, der sich am Stadtrand befand. Karo machte den Hund von der Leine los, sodass er alleine rumtollen konnte. Scotty würde sofort wieder zu ihr kommen, wenn sie nach ihm pfiff. Es war angenehm still im Wald, wenn man von dem Singen der Vögel absah.

„Wusstest du, dass das hier eigentlich kein Wald, sondern eine Forstwirtschaft ist?“, fragte Alex nebenbei.

„Ja. Das hatten wir schon in der zehnten Klasse. Aber ich sehe, die Nachhilfe bei Lukas hat gefruchtet.“, sagte sie und schmunzelte kurz.

Alex verdrehte die Augen nur nach oben. „Woher weißt du das denn jetzt?“

„Max konnte mal wieder sein Plappermaul nicht still halten“, sie zuckte mit den Schultern, „Du kennst ihn doch. Außerdem hat er nur mir davon erzählt, keine Sorge.“

„Mhm“, machte er nur, „Oh ja, ich kenn ihn. Und vertrau mal darauf, dass niemand anderes das weiß. Was ja an sich nicht weiter schlimm wäre, da nur ihr zwei auf komische Gedanken kommt, von denen Max mir übrigens auch erzählt hat. – Möchtest du zufällig ein Statement abgeben?“, forderte er sie schon fast.

Karo seufzte und guckte ihn entschuldigend an. „Es tut mir leid, dass du das nicht persönlich von mir gehört hast, diese These. Aber irgendwann kamen Max und ich auf diese Idee, ich weiß auch nicht mehr, wann es war und warum genau.“

„Mach dir mal keinen Kopf, ich nehme euch das nicht übel.“, beruhigte er sie und überrascht zog die Augenbrauen hoch.

„Nicht?“

„Nein, wie könnte ich auch? Ihr meint es ja nicht böse. Und ich hab gestern Nacht auch ein wenig darüber nachgedacht gehabt.“ Der überraschte Blick von Karo war nicht von ihrem Gesicht gewichen. Sie öffnete den Mund halb, wollte anscheinend etwas sagen, aber ließ es dann doch. „Und nein, ich hab nicht wirklich ein… Ergebnis. Es erscheint mir nicht ganz abwegig, aber es ist trotzdem merkwürdig. Über sowas nachzudenken und zu entscheiden, was man nun ist, was man mag und was nicht. Ich glaube, das kann man gar nicht so leicht sagen, das kann man nur durchs Leben lernen.“

„Welch weisen Worte“, sagte Karo lächelnd, „Aber ich denke, du hast vollkommen Recht. Ich bin erleichtert, dass du uns diese Unterstellung nicht böse nimmst… viele andere würden das nicht so leicht aufnehmen.“

„Also bitte, Karo. Du kennst mich doch.“

„Lang genug, würde ich meinen.“
 

Als Alex am Samstagmorgen aufwachte, stellte er fest, dass es äußerst beruhigend gewesen war, mit Karolina zu reden. Sie war einfach ganz anders als Max. Nicht so aufbrausend, ruhig, angenehm neben sich zu haben. Aber hier spürte er auch wieder, dass so jemand nicht dafür geeignet wäre, ständig an seiner Seite zu sein. Es gab viele ruhige Frauen beziehungsweise Mädchen – das sah man an ihrer Klasse – und damit würde Alex auf Dauer nicht glücklich werden, das wusste er.

Er konnte über sich selbst den Kopf schütteln, als er bemerkte, wo seine Gedanken schon wieder hin drifteten. Wie hatte sich seine Welt nur so plötzlich drehen können?

Lukas hatte sich um ihn gesorgt, als er bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Er hatte sich ihm anvertraut und nun schien er in ein regelrechtes Chaos gestürzt zu sein. Er wünschte dennoch, er könnte ihn heute sehen und einen schönen Tag mit ihm verbringen, wie es Mittwoch der Fall gewesen war.

Aber er würde sich komisch fühlen, Lukas anzurufen und ihn zu fragen, ob sie etwas unternehmen wollten. Er wollte nicht anhänglich wirken.
 

Lukas nutzte das Wochenende und schlief am Samstag bis kurz nach halb elf. So mochte er am liebsten ins Wochenende starten: Ausgeruht und frisch. Er machte sich Frühstück und aß es genüsslich im Bett. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich wirklich gut, vielleicht hatte er ja gut geträumt. Wenn es so war, dann konnte er sich leider nicht mehr daran erinnern… er grübelte, doch er ließ es bald bleiben, denn das bereitete nur Kopfschmerzen, wie er aus Erfahrung wusste.

Stattdessen nahm er sich sein Handy, das neben dem Kopfkissen lag, um zu schauen, ob er eine neue Nachricht hat, doch nichts. Warum hatte er nur gehofft, eine SMS vorzufinden, in der wer Bestimmtes eventuell nach ihm fragte?

Lukas runzelte die Stirn. Verwirrt über seine Gedanken warf er sein Handy zurück auf das Kopfkissen und ließ es dort liegen. Er hatte nicht das Gefühl, dass er es heute noch einmal brauchen würde. Auch wenn er sich wünschte, dass sich irgendwer heute noch bei ihm melden würde. Irgendwer… vielleicht Alex.

Wie merkwürdig es doch war, dass er den etwas kleineren Jungen – oder konnte man schon Mann sagen? – mittlerweile so ins Herz geschlossen hatte. Sie kannten sich doch schon so viel länger, doch die letzte Woche hatte sie auf eine interessante Art und Weise zusammen geschweißt. Er mochte dieses Verhältnis sogar, er fühlte sich wohl, wenn er mit Alex zusammen war. Das Leben war schon manchmal merkwürdig…
 

Seine Eltern waren nicht zu Hause. Alex hätte sich zum Mittag auch sehr einfach Spaghetti kochen können, aber ihm war lieber danach, zum Dönerladen um die Ecke zu gehen und sich eine Köstlichkeit des Geschäfts zu kaufen. Wann hatte er schon zum letzten Mal einen Döner gegessen?

Er schnappte sich Schuhe, Schlüssel und ein wenig Kleingeld und machte sich auf den Weg. Zu dem Zeitpunkt waren noch nicht viele Menschen auf den Straßen. Diejenigen, die heute Vormittag arbeiten mussten, waren längst unterwegs und die anderen, für die es ein freier Tag war, schliefen aus und blieben zu Hause um sich zu erholen. Das hieß, dass er hauptsächlich Rentner auf den Straßen antraf.

Im Dönerladen war es etwas voller. Hier hatten sich einige Männer versammelt, die es anscheinend für nötig hielten um die Mittagszeit Alkohol zu trinken. Er beeilte sich beim Bestellen und Bezahlen seines Döners – er mochte diese Gesellschaft auf keinen Fall. Alkohol war nicht sein Ding. Sicher trank er auch mal ein Bier oder dergleichen, wenn es Gelegenheit dazu kam, doch er wusste auch, was Alkoholkonsum ohne Grenzen anrichten konnte. Manchmal hielt er Max stundenlange Vorträge darüber, während dieser Wodka in sich hinein kippte und davon eh nichts mitbekam.

Zu Hause angekommen, setzte er sich vor den Fernseher und genoss sein Mittag allein.
 

Er nahm sich seinen Laptop zur Ablenkung. Lukas stöberte sich durch die YouTube-Welt, wie er es oft tat, wenn ihm langweilig war. Manchmal sah er sich dann bescheuerte Videos an, in denen Mensch und Tier gegen Wände liefen oder sonstige Dummheiten anstellten. Heute war ihm lieber danach, sich einige Musikvideos anzuschauen. Er entdecke ein neues von Planlos, und für einige Minuten genoss er es einfach nur, der Musik zu lauschen.

Ausnahmsweise schaffte er es, an nichts zu denken. Er hatte das Gefühl, Alex wäre ziemlich einnehmend gegenüber seinen Gedanken. Aber er wollte doch nicht daran denken… er stellte fest, dass es schwierig war das abzustellen.

Die Musik verstummte und Lukas klickte sich zurück auf die Startseite. Plötzlich nahm ein Titel eines Videos seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Es war unter der Rubrik „Meist gesehen“ verlinkt: „How to check if you’re gay

Und obwohl Lukas skeptisch die linke Augenbraue hochzog, wie er es so oft tat, klickte er darauf.

Vier Minuten später wünschte er es sich, das nicht getan zu haben. Niemals – nie und nimmer in seinem Leben hatte er den Gedanken gehabt, möglicherweise schwul zu sein und jetzt kam dieses daher gelaufene Video in sein Leben und meinte alles umdrehen zu müssen?

Okay, keine Panik., sagte Lukas sich in Gedanken und ließ das Video noch mal abspielen. Es schien es nicht besser zu machen. Erstens, er hatte zwar schon mal eine Beziehung mit einem Mädchen gehabt, doch ja, diese hatte nicht lange gedauert, nachdem er zu seiner damaligen Freundin gemeint hatte, dass es merkwürdig war, dass sie so weich war. Zweitens, es war schon mal vorgekommen, dass er von einem Mann geträumt hatte – egal, ob tags oder nachts. Drittens, ja, er fühlte sich zu einem Mann hingezogen und genoss seine Anwesenheit…

Er stoppte das Video. Was geschah hier eigentlich? Er konnte nicht einfach irgendso einem Mist im Internet glauben. Nein, das konnte er wirklich nicht. Er schloss den Tab mit dem Video und löschte es aus seinem Verlauf, als könne er es so auch aus seinen Gedanken verbannen.

Vielleicht funktionierte es, wenn er ein wenig auf Facebook umher stöberte.
 

Alex war einfach nur langweilig. Er schmiss sich auf sein Bett, stand dann wieder auf, weil er plötzlich den Gedanken gehabt hatte, seine Pflanzen zu bewässern und seinen Mülleimer mal zu entleeren. Nachdem er das getan hatte, legte er sich wieder hin, um nach zwei Minuten wieder aufzustehen, um ein bisschen auf Gitarre zu spielen.

Doch auch nach einer halben Stunde, in denen er es merkwürdiger hinbekommen hatte, nur irgendwelche Schnulzen wie von James Blunt zu spielen, legte er auch seine Akustikgitarre wieder weg und setzte sich an seinen Laptop auf seinem Schreibtisch.

Fünf Minuten später erwischte er sich dabei, Lukas‘ Facebook-Profilbild anzustarren. Er sah aber auch verdammt gut aus. Hatte er das gerade wirklich gedacht? – Mittlerweile war es ihm egal. Dann stand er halt zu seinen Gefühlen. Moment, welche Gefühle?

Und warum musste er sich eigentlich immer selbst verwirren? Er versuchte seine Gedanken, zurück auf das Bild zu lenken, doch das machte es nicht besser. Er war hier mit einem leicht geöffneten Mund abgelichtet worden und das erinnerte ihn einfach viel zu stark an den Moment am Mittwochnachmittag.

Wenn er wüsste, dass ein gewisser blonder Kerl ein paar Häuser weiter dasselbe tat…
 

Lukas fragte sich, wer das Foto geschossen hatte. Wahrscheinlich war es Karolina gewesen – er wusste, dass sie eine Spiegelreflexkamera besaß. Er erinnerte sich daran, dass er das bald damals, als Alex es Ende April reingestellt hatte, schon gut gefunden hatte (er sah schließlich auch, dass er mal auf Gefällt mir gedrückt haben musste), doch jetzt fand er es einfach nur wunderschön. Er mochte besonders seine Haare und am liebsten würde er einmal durch sie durch wuscheln, wie er es manchmal bei Finn tat, um seine Frisur zu zerstören. Doch Alex‘ Haare sahen einfach weich aus.

Er dachte schon wieder Stuss.

Fing er etwa gerade an ihn zu vermissen? Anscheinend. Eigentlich fing er nicht gerade damit an, sondern war schon mitten in der Phase, in der er sich einfach sehnte… nach der Nähe des anderen.

Er sah, dass Alex online war und überlegte ihn anzuschreiben, und zu fragen, ob er nicht rüber kommen wollen würde. Doch im selben Moment, in dem er den Namen Alex Lietzow anklickte, war eben jener offline gegangen.
 

Enttäuscht zu sein wäre jetzt nicht richtig. Er hätte ihn doch genauso gut anschreiben können, nicht wahr? Sie waren beide die letzte Viertelstunde online gewesen, und dennoch kam keine Nachricht von Lukas. Wahrscheinlich hatte er schon etwas vor für diesen Samstag. Er brauchte sich keine Hoffnungen machen, fiel Alex ein, Lukas ging am Wochenende bestimmt oft aus.

Somit konnte er sich auf einen langweiligen Samstag gefasst machen. Abermals schmiss er sich auf sein Bett und zappte durch das Fernsehprogramm.
 

Der Tag verging schleichend und Lukas vegetierte vor sich hin. Musste er sich gerade heute eingestehen, dass er Alex vermisste? Dass er ihn sehen wollte? Es schmerzte in seinem Inneren, und eigentlich konnte er gerade das nicht fassen.

Seit dem Nachmittag hatte er ihn nicht mehr in Facebook gesehen. Aber er hatte das Gefühl, dass es so nicht weiter gehen konnte. Lukas schnappte sich sein Handy und blickte darauf – keine Nachricht. Er atmete tief durch und suchte sich Alex‘ Nummer, die ganz oben in seiner Liste stand, heraus und drückte auf den grünen Hörer.
 

Sein Handy klingelte.

Sein Handy klingelte? – Oh mein Gott, sein Handy klingelte! Zumindest hörte sich das ziemlich nach seinem Handy an. Er beeilte sich die Klospülung zu betätigen und sich die Hände zu waschen und rannte zurück in sein Zimmer, um den Anruf sofort anzunehmen. Auf die Idee, dass es auch jemand anderes als Lukas sein könnte, kam er nicht.

„Ja?“

„Alex!“, meldete sich eine alte Frauenstimme, „Du könntest auch mal öfters bei deiner Oma anrufen!“ Er antwortete nicht. Bildlich stellte er sich vor, wie er jetzt seinen Kopf gegen die Wand schlug.

„Ähm, hallo, Oma…! Ja, weißt du, die Schule ist in der elften Klasse sehr anstrengend, da bleibt mir leider kaum Zeit.“, beteuerte er.

„Ach, stimmt ja! Du bist ja jetzt schon in der elften Klasse. Wie die Zeit vergeht…“

„Ja, Oma, das ist leider so. Und ich muss deswegen jetzt auch schon auflegen – ich, ähm, bin verabredet für gleich. Bis später mal, ich hab dich auch lieb, Oma!“, haspelte er schnell und legte dann einfach auf. Er hasste es, seine Oma derart unhöflich abzuspeisen, aber er konnte nicht auf fröhlich tun und mit ihr lieblos telefonieren… nicht, wenn er die ganze Zeit an Lukas dachte und sich schon gefreut hatte, dass er anrief.

Im selben Moment klingelte sein Handy abermals. „Ja, Alex hier?“, meldete er sich etwas lustlos.

„Ähm. Hast du schon was vor heute Abend?“, fragte da plötzlich Lukas‘ Stimme. Augenblicklich hellte sich Alex‘ Gesicht auf.

„Sag mir, was du machen willst, und ich habe was vor.“, erwiderte er nur und lächelte glückselig.



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