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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Alexia

Wir haben den Äquator hinter uns gebracht.
 

Ich würde es Ihnen nicht schreiben, wenn es eine Überfahrt wie jede andere gewesen wäre. Das war sie nicht. Mein Herr Vater holte mich äußerst früh an diesem Morgen aus dem Nachtlager, alle anderen Midshipmen schliefen noch. Ich hatte sehr leise zu sein, um sie nicht zu wecken. Er sagte mir nicht, was er von mir verlangte, ich fragte auch nicht weiter nach. Draußen war es noch finster. Wir hatten wenig Wind. Aus uns allen war ein wenig die Antreibskraft gewichen, immer noch aufgrund des Vorfalls, von dem ich Ihnen in meinem letzten Brief berichtete. Bis zu diesem Morgen nach der Äquatorüberquerung.
 

Auf einmal wurde es laut. Die Matrosen schrien und jauchzten, gedämpft durch das Holz des Schiffsrumpfes. Dann schrien Kinder. Es wurde lauter und lauter, bis sie aus dem unteren Deck emporströmten. Ich sah Theodore, zwei Männer hielten ihn fest. Alle Midshipmen wanden sich in dem Griff der Älteren. Er sah mich nicht. Von der Höhe des Achterdecks aus hatte ich einen guten Blick über das gesamte Spektakel. Ein abnormer Geruch von Alkohol und Fisch stieg auf, und ein Mann, dem ich zuvor noch nie an Bord begegnet zu sein glaubte, in seltsamer Kleidung verhüllt, stach aus den Matrosen in großer Haltung. Theodore und die anderen wurden vor ihm auf die Knie geworfen. Er stellte sich ihnen in Versen als Triton vor, der im Namen seines Vaters Neptun, der Herrscher über alle Gewässer sei, gekommen war, und warf ihnen vor, man müsste sie nun, da sie in die südlichen Meere eingefahren waren, vom Dreck des Nordens befreien. Außer den Midshipmen selbst schien sich niemand über die angebliche Präsenz eines Gottes auf unserem Schiff zu wundern. Triton wandte sich meinem Herrn Vater zu, um den Kapitän zu grüßen, da riss er mich rasch hinter sich. Die laut lachenden Männer schnitten Theodore und den anderen grob die Haare ab, wiesen sie mit verknoteten Seilenden zurecht, wenn sie aufschauten, und, ehe sie sich versahen, überschütteten sie sie mit einer undefinierbaren, klebrigen Substanz, Muscheln und Fischteilen, rieben sie damit ein. Sie verschwanden unter der Schar betrunkener Seeleute, dass nur ihr Geschrei Gewissen gab, dass sie noch lebten. Ich verstand nicht, weshalb mein Herr Vater, der grundsätzlich keinerlei ausschweifende Geschehen seiner Männer an Bord duldete, dies zuließ. Später erklärte er mir, das Ritual sei notwendig, um die ernste Atmosphäre unter der Crew zu lockern. Ich kann es dennoch nicht im Ganzen nachvollziehen.
 

Die Midshipmen wurden unter den Achseln gegriffen und in ein Becken mit Salzwasser geworfen. Als Theodore auftauchte, war sein ganzer Körper rot. Sie drückten seinen Kopf immer wieder unter Wasser, obwohl er sich wehrte, obwohl er selten keinen guten Dienst leistet. Gewiss brilliert er nicht vor unserem Lehrer, manchmal beschwert er sich über die große Anstrengung, macht Fehler oder schwärmt von den Abenteuern der Piraten, aber er gibt, was er zu geben in der Lage ist, um seinen Vater nicht zu enttäuschen. Schließlich zog man sie heraus, sie zitterten und schluchzten, stellte sie vor den Mann, der sich als Triton herausgegeben hatte. Ein einheitliches Jubeln ging durch die Menge. Ihnen wurden Decken umgelegt. Triton sprach einen Segen aus und gab ihnen eigentümliche Namen, die sie zu wiederholen und sich unbedingt zu merken hatten. Dann verabschiedete er sich von der Mannschaft, dem Kapitän und der Victory und sprang über Bord. Zum Jubeln gesellte sich enormer Applaus, dann spendierte man den Getauften einen halben Becher Rum, ehe sie von den Lieutenants unter Deck gebracht wurden.
 

Es erscheint mir dumm, überhaupt den Gedanken zu heben, doch hätte ich vielleicht, statt hinter dem Rücken meines Herrn Vaters, dort unten auf dem Deck, zwischen den anderen Midshipmen stehen sollen?
 

Der diesjährige Herbst war ungefähr zwei Monate alt, da ließ Lady Elizabeth nach mir rufen. Ich warf die Strümpfe hin, in dessen Vollendung ich vertieft gewesen war, bis ich Marys dünne Stimme meinen Namen kreischen hörte, und stemmte mich in die Höhe, um sofort in das Zimmer meiner Herrin zu rasen. Die zarte Zofe kam mir mit einem Gesicht entgegen, das vollkommen ausgebleicht und feucht war, Tränen schimmerten in ihren Augen. „Schnell! Schnell! Bei Gott, es ist so schrecklich! Blut! Überall Blut!“ Lady Elizabeth selbst, verkrampft und in einer nassen Lache auf ihrem Bett noch immer prächtiger als manch andere Damen in ihren besten Jahren, bagatellisierte es hingegen. Sie hatte sogar noch die Muße zu einem frechen Lächeln. Es war für sie schmerzhafter als zuvor; die vergangenen Monate schon waren qualvoller gewesen, als sie es aus der Erinnerung kannte, und das bereitete mir Sorgen. Vorsichtig und dennoch zügig brachte ich sie in eine vertikale Position, welche ich aus eigener Erfahrung als die Beste empfinde; auf den Knien und an das Bett gestützt, sodass die Schwerkraft ihr behilflich sein konnte, und ertappte mich glattweg, wie sich mir am guten Ausgang leise Zweifel auftaten. Sie schrie plötzlich auf, was mich zusammenfahren ließ, hatte sie sich doch nie diese "Blöße" geben wollen, wie sie es nannte, und in der Tat hatte sie natürlich gestöhnt, geächzt, gekeucht, aber bis zu jenem Tage niemals geschrien. Würde sie jetzt etwa, wo der Lord nicht daheim war und James ebenfalls nicht, wo alle sie verlassen hatten, würde sie da etwa uns verlassen? Würde sie zuhause sterben, während Mann und Sohn in seemeilenweiter Entfernung in ständiger Lebensgefahr schwebten? Ich wartete auf Mary in der Hoffnung, dass sie an das Wasser gedacht hatte, doch war das Mädchen viel zu sensibel, um sich auch nur in Türnähe zu trauen. Schließlich aber blieb dort Benedict mit seiner vollen Blechkanne stehen, mit welcher er zuweilen die Pflanzen im Inneren des Anwesens wässerte, und ich befahl ihm förmlich, zu bleiben.
 

Zirka vier Stunden später lag Lady Elizabeth reglos da.
 

Das Haar strömte von ihrem schlanken Haupt fort, über die Kanten des großen Ehebettes wie Flüsse aus einem schwarzen See. Ihre Wimpern, noch ungeschminkt außergewöhnlich lang, strebten an den geschlossenen Lidern der Zimmerdecke entgegen, und wäre nicht ihr Mund, man könnte meinen, das sich bietende Bild sei ein einziger Kontrast von Schwarz und Weiß. Doch ihre Lippen schimmerten in der Farbe der Kirschen, sehnten sich danach, durch die Blassen des Gatten Ausgleich zu erlangen. Schweiß wie Wasser waren getrocknet, und wir wussten, dass sich jeder Monat, jeder Tag, jede Minute des meist stummen Leidens gelohnt hatte, als ich den neuen Mitbewohner des Domizils Elizabeth in die Arme legte. „Endlich eingeschlafen?“, fragte ihre heisere Stimme amüsiert. „Hilf mir, Abda, wenn ich mich irre, doch ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass James damals genauso laut gewesen ist.“

Ich hatte mir ein Stuhl an das Bett gerückt und hielt ihre Hand. „Nein, Mylady, Ihr irrt nicht. James war sehr still gewesen, schon am Abend seiner Geburt.“

Sie lächelte erschöpft. „Können wir also aus ihrem Gebrüll schließen, dass sie ein nervenaufreibendes, aggressives Energiebündel werden wird?“

„Sie ist eine Norrington“, sagte ich, als würde dies alles beantworten. Um ehrlich zu sein, schockierte mich die Vorstellung. Ich fühlte mich zu alt für ein Energiebündel. Mit den anderen beiden Norrington-Sprösslingen hatte man es gut mit mir gemeint. Auf so etwas wäre ich gar nicht vorbereitet.

„Sie trägt immerhin das blonde Haar ihres Vaters“, bemerkte die Mutter stolz, „und sogar seine wundervollen Augen.“

„Und welchen Namen?“

Mir gegenüber, auf der anderen Seite des Bettes saß Benedict auf einem weiteren Stuhl. Als ich ihn angewiesen hatte, ruhig zu bleiben, hatte er beide Fäuste so weit, wie es ihm die Elastizität seiner Gesichtsmuskeln gestattete, in seinen Mund gesteckt und sie seitdem nicht mehr herausgenommen, als wäre er sich im vollen Umfang bewusst darüber, dass er sich selbst manchmal nicht unter Kontrolle hatte. Womöglich war er das auch.

„Jetzt, wo Seine Lordschaft nicht hier sein und Euch in dieser Sache "beraten" kann, ist die Entscheidung ganz Euch überlassen.“

Lady Elizabeth summte den Ton des Nachdenkens, ihr Blick immer auf das wahrlich engelsgleiche Antlitz Alexias, wie sie später genannt werden sollte, gerichtet. Von James’ vielen Vornamen war letztlich kein einziger auf ihr Geheiß entstanden. Lawrence hatte ihn nach zwei englischen Monarchen taufen lassen sowie nach einem großen Eroberer und natürlich nach sich selbst. Elizabeth hatte ihn Julius nennen wollen, nach ihrer verehrten Mutter Julia, und Charles im Gedenken an den Schwiegervater, den kennen gelernt haben zu dürfen ihr stets ein unersetzliches Glück gewesen war. Umso größer war die Freude, ausgiebig über den Namen der ersten Tochter sinnieren zu können, ohne dass ihr jemand irgendwelche als Vorschläge verkleideten Vorschriften machte.

Ich will gleich an dieser Stelle verraten, dass Alexia Juliett Charlize Elizabeth Norrington mit ihrer goldenen Lockenpracht, den sehnsuchtsvollen, himmelblauen Augen, der weichen Elfenbeingestalt und ihrer frühreifen Weiblichkeit ein Engel – wie ein solcher in der Imagination der ihr zu Füßen liegenden Männerwelt eben zurechtgedacht ist – bleiben sollte. Allein ihr Charakter vereinte das Schlechte, worum sich bei derart vollkommener Schönheit sowieso niemand scherte: Durch die ihr völlig entgehende Vaterstrenge würde sie sich zur Manifestierung aller sieben Todsünden entwickeln: So war sie faul und lebte verschwenderisch, war selbstgefällig und intrigant, gönnte niemandem etwas, über das sie nicht selbst verfügte oder verfügt hatte; sie liebte die Affären in jedem Bereich ihres Lebens und sie liebte Macht. Ohne Zweifel verfügte sie über Macht. Über die Macht des Schönseins, und sie kannte keine Skrupel, diese auch auszuspielen. Musizierte, malte, reimte, tanzte sie, drang das Gräuel ihrer Persönlichkeit aber nicht in einem Ton, einem Klecks, einem Vers, einem Schritt hervor – es war, als habe Lady Elizabeth just das mit Gaben gesegnete Kind empfangen, das sie sich ewig gewünscht hatte.

„Warum duzt du mich nicht?“, fragte mich sie unvermittelt, als habe für sie soeben ein ganz neuer Lebensabschnitt begonnen.
 

Bis zu dem Lebensjahr jedoch, da sich der Charakter eines Menschen erst entfaltete, hatten wir alle unsere Freude an dem zauberhaften Geschöpf, welches da aus der letzten Blüte des Jahres auf das Grundstück gepurzelt war. Alexia erleuchtete jeden Winkel des Hauses und unserer Herzen; der Winter zog unbemerkt vorbei. Als wir im neuen Jahr erfuhren, dass Admiral Norrington James versehentlich auf ein Kriegsschiff der spanischen Marine eingeschrieben hatte und Elizabeth schwor, ihren Gemahl dieses akzeptierte Risiko mit dem übrigen Arm zahlen zu lassen, zeigte das goldige Mädchen bereits ehrliches Interesse an dem großen Bruder, den es noch nicht einmal gesehen hatte, indem es jedes Mal auf die Erwähnung seines Namens mit Aufmerksamkeit reagierte. James selbst beruhigte uns: Er habe sich gut eingliedern können und dabei die Möglichkeit, eine neue Sprache zu erlernen. Außerdem seien sich der spanische capitán und sein Vater nicht fremd. Das konnte ich mir durchaus vorstellen. Doch dass es ein freundschaftliches Verhältnis war, daran wollte ich nicht glauben. Die Angst um den mir aus den Armen entwachsenen Schützling überzog jeden Tag unmerklich und unbezwingbar wie morgendlicher Dunst die nahen Felder, ganz gleich, ob die kaum leeren Hände dank Alexia erneut ordentlich zu tun hatten. Während Seine Englische Majestät völlig überraschend von uns ging, eine Frau seinen Platz einnahm und James in eine spanische Auseinandersetzung um die dort weniger entschiedene Thronfolge, damit zugleich in seinen ersten Krieg verwickelt wurde, musste das Mädchen adligen Ursprungs früh in Lesen und Schreiben unterrichtet werden, in Hauswirtschaft und Konversation, damit es in der Lage sein würde, Gäste angemessen zu unterhalten, und in den Schönen Künsten natürlich. Anfangs zeigte es den lernwilligen Geist, der schon für seinen Bruder typisch gewesen war, und war stets zur Stelle, wenn es darum ging, kleinere Dinge in der Küche oder im Garten zu erledigen. Unter dem Einfluss der Mutter lernte es, Blumen, Düfte und allem voran Schmuck – überaus teuren, überwältigend teuren Schmuck – zu lieben und Schiffe zu verabscheuen. So erwischte ich es bei der Reinigung von James’ unbenutzten Zimmern, welche darin bestand, sämtliche Schiffsmodelle einfach vor die Tür zu stellen. Irgendjemand würde sie schon forträumen. Auf der Fensterbank fand Alexia nun genügend Platz, ihre Alpenrosen zu platzieren.

Ich sollte nicht vergessen zu vermerken, weil es so kurios war, dass Elizabeths Freundin, Lady Amalia Swann, uns beide nicht lange nach der Niederkunft der Gattin Norringtons in einem Brief darüber unterrichtete, ebenfalls eine Tochter zur Welt gebracht zu haben. Wahrscheinlich war es unsinnig, darüber nachzudenken, und trotzdem fragte ich mich, ob die beiden Mädchen ungeachtet der großen geografischen Entfernung, die jetzt noch zwischen ihnen lag, in Anbetracht der geringen Entfernung ihrer Geburtstage zueinander weitere Ähnlichkeiten teilen würden. Ob das Schicksal sie eines Tages auf irgendeine ungewöhnliche Weise gegenüberstellen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-06T14:42:33+00:00 06.03.2011 15:42
Gut, ich bin ehrlich: Ich mag Alexia jetzt schon nicht ;)
Und es mag fies und gemein klingen, aber ich hoffe sie geht bald (von uns) weit weit fort und taucht nie wieder auf. Sie bringt doch nur Schande über James.
Nein... Ich mag sie nicht. Verzeih ;) Dennoch glaube ich, dass sie bald aufeinander treffen werden.


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