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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Im Vertrauen

Was sollte ich sagen? Jede Beschwichtigung, jeder Versuch, vom ernsten Thema abzuweichen, schien im Angesicht dieses wissenden Jungen falsch zu sein. Ich glaubte nicht, ihn über meinen Verlust hinwegtrösten zu müssen, denn trotz seiner Annahme, mich zum letzten Mal zu sehen, blieb er förmlich und gestattete keiner Träne den Blick aus den Fenstern seines Innenlebens. Ganz im Gegenteil. Endlich erkannte ich die Gene seines Vaters in den kindlichen Pupillen, das Erbe jener eisblauen Augen, die selbst dann zum Furchteinfluss verdammt waren, wenn sie in Liebe und Zärtlichkeit schauen wollten. Ich erkannte nicht den matten Glanz eines hungrigen Raubtieres, den Eindruck des unberechenbaren Wahns kleiner Pupillen, aber ich erkannte die wachsende Stärke, das innere Eisen, aus welchem Lawrence Norrington das Schwert seines Triumphes geschmiedet hatte. James wollte mir zeigen, dass er groß genug war, sich über die guten Ratschläge seiner alten, kranken Amme hinwegzusetzen, und ich erkannte darin den entstehenden Geist eines inspirierenden, mitreißenden Helden einer Zeit des Umbruchs, der sich über all seine Vorgänger erheben würde. Ich sah etwas, das dem Admiral schon vor Langem aufgefallen zu sein schien: James würde zu allem in der Lage sein, zu dem das Schicksal – eben jenes, für das der Wolf gnadenlos einstand, gegen das die Löwin aber unermüdlich rebellierte – ihn erkoren hatte. Nun, wo ich meine Kräfte schwinden fühlte, war mir der Moment gegeben, ihn derart genau zu betrachten, dass ich ihm dieses Versprechen reinen Gewissens mitgeben konnte. Und natürlich ließ ich ihn nun bleiben. Wie einen großen Flügel hob ich die Bettdecke an und ließ seines Vaters Jesus der Seefahrt, meinen nichts ahnenden Odysseus darunterkrabbeln, nachdem er Rock und Schuhe abgestreift hatte. Ungeachtet meines feuchtwarmen Körpers drückte er seinen Kopf unter den meinen und legte seine Hände an meine Schultern, und jetzt spürte ich, dass er doch Angst hatte. Hier zitterte die einzige Kerzenflamme im Todeskampf und draußen schwankte friedlich der Schnee vor schwarzer Kulisse. Ohne Eile schliff die weiße Sense den Weg zum Anwesen empor und spazierte durch den Garten. Ich konnte sie hören, sie war schon sehr nahe, ich konnte sie spüren. Ja, unter Umständen würde James morgen allein erwachen. Und diese Möglichkeit schien auch ihm selbst – ohne dass er sie würde benennen können – eingeleuchtet zu sein, denn er war nicht zu mir gekommen, nur um das Bedürfnis eines Kindes nach schützender Nähe zu befriedigen. Wenn er die ungeschriebenen, aber ihm im vollen Umfang bekannten Regeln der Eltern überwand, um mich heute Nacht zu sehen statt morgen Mittag, so hatte sein verschlossenes Herz etwas zu erzählen, das keine weitere Aufschiebung duldete, weil es außerdem wusste, hoffte, dass das, was es erzählen würde, zwar endlich von jemandem gehört wurde, so wie jeder Mensch der Erleichterung eines Geständnisses bedurfte, anschließend jedoch mit diesem Jemand in die andere Welt übersetzte, wo es sicher der Kenntnis der Lebenden und der sein Leben Beeinflussenden war. Sich etwas von der Seele reden, ohne jemanden mit dem Wissen des Geheimnisses zu beauftragen, das ihm selbst zum Verhängnis werden konnte als Kind des kriegerischen Adels – eine Methode dieser erwachsenen Überlegung seines Standes hatte er also erkannt. Mich ärgerte es nicht, eine Art Zweckmittel zu sein. Nein, ich fühlte mich geehrt, dass James mit diesem höchst bedeutenden Anliegen zu mir kam und nicht zu seiner Mutter. Die stillende Erkenntnis, demzufolge etwas richtig gemacht haben zu müssen, versüßte mir den bisher unerträglichen Abschied von einer Welt, an die ich mich zu sehr gewöhnt hatte. Endlich brachte ich ohne Anstrengung, tatsächlich ohne dass ich es gleich bemerkte, ein Lächeln zustande, das dem gedunsenen Gesicht sicher makaber stand, während ich auf die Bestätigung meiner mütterlichen Intuition wartete und sie nun in der Form eines undeutlichen Namens, der wahrscheinlich der meine werden sollte, seitens des Jungens einsetzte. Vielleicht hoffte er, seines Mutes beraubt, dass ich schlief. Bevor er auf das Angelegentliche kam, verging eine ganze Weile, die wir eng aneinander in der schwer zu ertragenden, klebrigen Hitze meiner Krankheit verbrachten, dann endlich fragte er vorsichtig – sich nun seiner eigenen Annahme nicht mehr gewiss – ob ich sterben würde. Weil meine Zunge ein trockener, schwerer Lappen war, brachte ich ihn mit schwacher Geste dazu, mir in die Augen zu schauen, dann endlich konnte ich Nein sagen, denn der blasse Kerzenschein zeigte mir, dass das Kind wieder Kind mit naiven Hoffnungen war und seine Angst vor dem Verlust von etwas Vertrautem beschwichtigt wissen wollte. Das determinierte Wissen des starren Blickes niederlag dem Wunsch nach illusionärem Unwissen schimmernder Augen, denen es noch gelang, jegliche unliebsamen Anzeichen zu verleumden, selbst wenn Anzeichen inzwischen keine gerecht werdende Bezeichnung für das Versprechen des kommenden Todes war, das mich wie ein nicht zu verbergendes Brandmal zeichnete. Dennoch klammerte sich James jetzt an meine Worte, er vergrub sein Gesicht wieder an meinen Hals, dass er das schwarze Mal nicht sehen und insofern nicht tolerieren brauchte; allein der Todeshauch, den er nun zwar nicht mehr riechen mochte, der jedoch jeden meiner Sätze höhnisch lachend verzerrte, war nicht zu ignorieren. Daher vermied ich, seine festgefahrene Illusion von Alles wird gut durch weiteres Sprechen zu verunsichern, und ließ ihm einfach die Zeit, um zu erzählen, auch wenn ich ihm damit ungewollt bestätigte, dass es richtig sei, mit einer Aussprache bis zum förmlich letzten Moment zu warten, wo er besser hätte lernen sollen, dass dieser geplante Zeitpunkt sich immer dann, wenn man ihn für derart Wichtiges bestimmt hatte, unvorhersehbar in die verpasste Chance zu verwandeln pflegte. Vielleicht würde ihm solch eine im Nachhinein fürchterlich qualvolle Frustration gleich heute widerfahren, denn er kämpfte noch mit dem Geheimnis, das es satt war, geheim zu sein, oder wieder, da er seinen anfänglichen Plan durch die Möglichkeit meines Überlebens bedroht sah. Ich wollte es ihm erleichtern und stellte ihn damit vor etwas, das James, für dessen Entscheidungen sich erstens der Vater, zweitens die Mutter und drittens die Mode aus Versailles verantwortlich gezeichnet hatten, in seiner Kindheit unerträglich war: Hier und jetzt, ganz spontan eine Wahl zu treffen. Ich verspielte die Ehre, Träger seines Geheimnisses zu werden, aber wenn ich nichts unternahm, würde ich wegnicken, und auch er schien schon halb im Schlaf versunken. In der völligen Dunkelheit griff ich ihn an den Rippen und setzte ihn aufrecht neben mich. Ich spürte Verwirrung aus seiner Richtung.

„Sprich“, sagte ich barsch. „Sprich jetzt oder geh.“

„Woher wissen Sie…?“ Dieses Mal war es an mir, abweichende Fragen zu übergehen. In meiner Fantasie sah ich ihn sein Gesicht von mir abwenden, die Lippen aufeinanderpressen, wobei die untere kaum merklich vorrutschen würde.

„Ich“, begann er endlich, so andächtig, als würde er mir während einer Kirchenmesse einen Mord beichten wollen, und suchte lange nach den richtigen Worten. „Ich befürchte, eine… widersprüchige… oder zumindest zu Nachforschungen anregende…“

„James“, unterbrach ich den Jungen in seinem Bemühen um eine Sprache, die aus seinem Mund gestellt klang, und schickte ihn wieder auf die Suche. Er hatte verstanden, dass ich von ihm verlangte, ein Vokabular zu verwenden, in dem er vielleicht nicht einmal zu denken gelernt hatte.

„Seit ich wieder in England bin, gibt es Momente, da sagt mein Gefühl Nein zu etwas, mit dem sich mein Verstand verträgt.“

Ich sagte nichts. James sah in die Schwärze. Er brauchte seine Zeit.

„Ich glaube, ich kenne die Auslöser dieser Disharmonien, aber es sind ganz gewöhnliche Ereignisse; Dinge, die es auch schon vor der Reise gegeben hat. Alles, was sich an ihnen seitdem verändert hat, ist die Reaktion dessen, was ich spüre, wenn es wieder passiert.“

Was mochten es für Dinge, für Ereignisse sein? Er fesselte meine Aufmerksamkeit und das war es, was mich wach hielt, obwohl mein schmelzender Körper nach Schlaf schrie. Meine Augen brannten, doch ich dachte nicht daran, sie zu schließen.

„Soll ich mich nach meinem Gefühl richten? Oder soll ich mich damit arrangieren. Ist es ein vorübergehendes Fremdeln, vielleicht… aufgrund eines Abgewöhnens?“

Ich wusste, ich konnte nicht ewig schweigen, auch wenn mir jeder Satz wie eine Rasierklinge den Hals hinaufstieg. „Was geschieht, wenn du dich… nach deinem Gefühl richtest?“

Er wog es ab. „Es könnte jemanden verletzen. Vielleicht verstehe ich nur etwas falsch und muss mich wirklich erst wieder daran gewöhnen.“

„Wenn es doch dein Gefühl ist! Mein Kind, dein Gefühl… irrt sich nie.“

James nickte scheinbar einsichtig. Aber: „Vielleicht ist es nichtig.“

„Der… Auslöser?“

„Hm-hm.“

Um die Residenz Norringtons spukte ein schneller Wind. Das Echo einer sich schließenden Tür versetzte keinen von uns beiden in Bedrängnis. In einem großen Haus wie diesem, das von Herren und so vielen Domestiken bewohnt wurde, war es keine Besonderheit, wenn tief in der Nacht jemanden das Bedürfnis nach einem Glas Wasser oder einem dringenden Geschäft aus dem Schlaf holte. Lady Elizabeth hatte alles, was sie nachts gebrauchen könnte, in ihrer unmittelbaren Nähe – und der Rest scherte sich um diese Uhrzeit nicht um etwaige noch brennende Lichter oder auch die offene Tür zu den Gemächern des jungen Herrn. Neben mir hörte ich zwei Seidenstrümpfe über das Laken fahren. James beugte sich vor und legte die Arme um seine Knie. Die leichten, schuhlosen Schritte auf dem Flur endeten mit einer weiteren Tür, die in ihr Futter fiel. Und für Minuten hielt die Sense im Garten still.

„Dann wird das Gespräch darüber ebenso nichtig sein.“

„Das heißt, wenn es nicht nichtig ist, wird das Gespräch schwerwiegelnde Folgen ziehen.“

„Auch, wenn es nicht-nichtig“ – ich brachte es nicht so locker über die Zunge wie er, selbst wenn sie feucht und gewandt gewesen wäre – „ist, solltest… sollten Sie darüber sprechen.“

„Das tue ich“, entgegnete er fast ein bisschen adlig-empört.

„Nicht mit mir. Mit denen, die es auslösen.“

Jetzt rutschte ihm Verwunderung heraus. „Meiner Mutter?“ Nicht nur sie schien ein Versehen zu sein, auch die wichtige Information, die er mir durch seine Nachfrage vermittelte.

Ich bejahte, als hätte ich Bescheid gewusst, um ihn nicht durcheinander zu bringen. Während ich seinen sich mir öffnenden Gedanken lauschte, begann ich, die wenigen Teile jenes Rätsels, welches zu entschlüsseln er nicht bereit war (womit er eben doch nicht über das Nichtige oder nicht… Nichtige sprach, nicht einmal mit mir), zusammenzufügen.

„Dann könnte ich sie verletzen. Ich weiß, dass es ihr sehr wichtig ist. Sie ist so glücklich…“

Sprach er von seinem Schicksal? Wollte er der Mutter bedeuten, dass er sich nun, nach seiner ersten Seefahrt, für die Marine, für den Acker seines Vaters entschieden hatte? Ich hob eine Hand auf seinen dünnen Oberarm. „Es geht um dich. Du kannst für das der anderen nicht dein eigenes Glück verwerfen, auch… wenn du das, das vermutlich gerne würdest. Von Zeit… von… Zeit zu… Zeit müssen Sie“ – ich hielt inne und versuchte mich zu räuspern, wobei ich allerdings in ein nasses Würgen verfiel, das James in Bewegung setzte, den armen Jungen, um zu flüchten oder Hilfe zu holen – ich wusste es nicht – doch meine Hand ließ ihn nicht los. Er tat mir unendlich Leid – „müssen Sie sich über allem geltend machen.“

„Sie meinen, ich soll mich allen anderen bevorzugen?“

„Egoistisch sollen Sie nicht sein. Und bevorzugen ist das falsche Wort… Wenn du aber dein körperliches oder seelisches Heil riskierst, nur um jemanden nicht zu verletzen… dann solltest du daran denken, dass… eine Mannschaft, dessen Kapitän zu viel für sie gewagt hat, sehr oft verloren ist. Sein Opfer ist sinnlos, denn er… er ist ihre Laterne in der Nacht. Verstehen Sie? Wenn der Kapitän an sich selbst denkt, dann denkt er an seine Mannschaft.“

Ich spürte, dass sich James‘ romantische Vorstellung eines Anführers an meiner Äußerung schnitt. Wir hörten dumpfe Schritte und eine Tür, die geschlossen wurde.

„Deshalb stürmt der gute Kapitän niemals zuerst auf die Gegner zu.“ Trotzdem hielt ich Lawrence Norrington für einen guten Kapitän.

„Was soll er tun?“, fragte dessen Sohn, sich an sein Ideal klammernd. „Sieht er zu, wie seine Männer sterben?“

„Die Männer eines guten Kapitäns sterben nicht, James.“ Als mir auffiel, dass ich dem künftigen Seefahrer damit ein utopisches Kriterium mit auf den Kurs gab, fügte ich rasch hinzu: „Natürlich lassen sich einige Verluste in einer Schlacht oder einem Unwetter kaum vermeiden.“

Er ging nicht darauf ein. „Man sagt doch auch: Für seine große Liebe sterben.“

Meine Finger wanderten in seinen Schopf. Sie glitten jedoch ab, über seine spitze Schulter und schließlich auf das Bett. Etwas berührte mich und ich erschrak, bevor ich registrierte, dass es nur seine Hand gewesen war. Er klang besorgt. „Ruhen Sie sich aus, Ms Abda. Bitte.“

Ach, James.

„Sagen Sie es Ihrer Mutter. Sie wird es ver…kraften. Sie wird… es… Sie will nur, dass Sie glücklich… Sie glücklich sind… Sagen Sie’s ihr…“

Er versuchte, die Bettdecke zu wenden, wie ich es immer bei ihm tat, wenn er Fieber hatte. Es gelang ihm nicht, weil ein Teil unter mir eingeklemmt war. „Jetzt werde ich darüber nachdenken.“

Meine Augen schlossen sich, das Ende des Gesprächs ersehnend. Ein Fliegengewicht lag auf meiner rechten Hälfte, es streckte sich und atmete mir ins Ohr. „Danke.“

Dann schob er sich hinunter. Ich hörte das unaufdringliche Rauschen der Decke, spürte den sanften Druck, als er sich wieder zu mir legte.

„Lady Elizabeth liebt mich, oder?“

„Natürlich“, versicherte ich ihm gleich, doch das allein schien ihm nicht zu genügen.

„Sie liebt mich wirklich, oder?“

„Ja, James… deine Mutter liebt dich mehr als die Strahlen der Sonne, mehr als ihre… Unabhängigkeit, sie liebt dich mehr als alles, was ihr unsere Welt bieten kann…“

„Ich verstehe“, murmelte er gedankenverloren und ich war für den Augenblick zufrieden. Ich wäre entsetzt gewesen, hätte ich hier in ihm einen klar kalkulierenden Heranwachsenden mit ernsthaften Problemen gesehen und nicht das kleine Kind, das ich nicht loslassen wollte. So war ich mir nicht bewusst darüber, sein Unbehagen nunmehr intensiviert zu haben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-05T14:59:58+00:00 05.03.2011 15:59
In diesem Kapitel musste ich immer und immer wieder an die Szene denken, in der James unter den Rock seiner Mutter kroch.
Der arme Kleine, er tut mir fast mehr Leid als Abda. Aber das er sich wahrscheinlich (wir wissen es ja) für die Marine entscheidet... was ihn dazu bewogen hat? Wenn er doch so "verstört" nach Hause kam? Ich bin gespannt.


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