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James Norrington

Ⅰ. Ankerlichtung
von

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I. Die Sense im Schnee

Mit unbarmherzigen Klauen griff der Winter nach Europa und England war seiner Farben beraubt. Kein Leben bewegte die Fläche, das Gut lag still. Dem Garten war es selbst zum Schlafen zu kalt. Die öden Bäume und Hecken lasteten ungeheuerliche Schneemengen, der Teich verbarg sich unter einer unzerbrechlichen Eisschicht. Seine Tiere waren weitergezogen oder hatten das despotische Spätjahr unterschätzt. Vereinzelt standen tote Blätter aus der Lawine. Wie ein wuchtiges Monument ragte das renaissancistische Bauwerk aus dem grauweißen Schaum, seine Gänge und Zimmer lagen noch bei Tage in hungrigen Schatten. Verloren brutzelte das Kaminfeuer und Lawrence Norrington zeigte mir, dass er sich in die Neue Welt zurückträumte. Ich stellte sie mir als einen faszinierenden Ort von feinweißem Sand, glitzerblauem Wasser und kräftiggrünen Palmen vor und wusste nicht, inwieweit meine Imagination der Wahrheit entsprach, denn der Lord pflegte, wenn überhaupt, lediglich seiner Familie von den unendlich vielen Gegenden, zu denen er fuhr, zu berichten. Als Kriegsherr war womöglich selbst seine Sicht der Landschaften und Strände verzerrt, verfälscht. Lady Elizabeth saß wie Helena zu Sparta in einem Sessel und badete im flackernden Licht der Wärme. Auf dem indischen Teppich zog James in akkurater Haltung Striche und Kurven auf ein leeres Blatt Papier; als Unterlage diente ihm das Theatrum Orbis Terrarum. Ich strickte in seiner unmittelbaren Nähe einen Schal und hätte ihn sich gerne einmal mit Spielzeug beschäftigen sehen. Dann hätte ich meiner Aufgabe als Kinderfrau nachkommen können; so aber würde ihm die wortfreundliche und unternehmenslustige Alte nur lästig sein. Abseits prüfte ein Diener zwei Tassen Tee auf sein Aroma und ein anderer gab dem Feuer Nahrung, der Dritte brachte eine Pfeife. Irgendwo hielten sich die Franzosen mit Waffenschwingen warm, starb ein ehemaliger Erzbischof und Primas, tobte nicht nur das Wetter auf der See, die der Wolf so sehr liebte und die ihn nicht über das neue Jahr hinaus entbehren konnte. Scharfes Eisen und spitzes Eis fuhren einmal gezielt, einmal wahllos durch Familien, viele Länder, alle Stände. Elizabeth stellte fest, dass sie schwanger war, und dann, dass es nicht mehr lebte. Ihre schwarze Melancholie dauerte sechs, so viele Tage wie der Tod des Erstgeborenen Jahre zählte. James lag manchmal mit Fieber darnieder, aber nie aufgrund der kräftigen Kälte, was mir ein Rätsel aufgab. Inzwischen war er den Prozess gewohnt, sodass er aus dem Bett kletterte und sein Selbststudium fortsetzte, wenn man nicht auf ihn achtete. Immer weniger Lehrer hatte man zu bedienen, denn die streikten im Verlauf der nächsten todbringenden Winter, ihr Heim, geschweige denn ihre Stadt zu verlassen, um den langen, zugeschneiten Weg auf sich zu nehmen, welcher uns schließlich von der Außenwelt abgrenzen sollte – mehr noch, als die Gutseigner es sich gewünscht hatten, da sie es zu ihrem Domizil bestimmten. Zwar erkannte Lady Elizabeth auf das Drängen der Dienerschaft die Not und schickte ein paar Arbeiter aus, um den Weg zu räumen, doch wiedersehen sollten wir diese nicht. Dass der Verkehr zum Anwesen noch immer eingestellt war, bestätigte, dass sie nicht einmal hatten ihre Arbeit beenden, vielleicht gar beginnen können. So hatten mehrere Dutzend Menschen von verderblichen Vorräten zu leben; bald aßen die beiden Adligen nicht besser als durchschnittliche Bürger Londons. Eines Morgens fand man im Stall James‘ schöne Stute ärmlich verendet vor, und am Tisch der gehobenen Hausbewohner warf man sich mit endlich vollen Backen und über den Kopf des Jüngsten hinweg vielsagende, von der Furcht der Entdeckung durchdrungene Blicke zu. Lady Elizabeth blieb der wiedergekehrte Optimismus erhalten und sie versuchte, jedem einen Teil davon zu schenken. Oft verlebte sie die Tage ganz und gar mit dem Jungen, auf dass ich mich ein wenig zurückzog. Wenn der Admiral nicht gegenwärtig und seit James selbstständig war, beanspruchte mich seine Pflege an sich nicht; ich bemerkte den Unterschied kaum, sehr wohl jedoch mein Alter, was mich in mein Inneres kehren und über das eigene Leben nachdenken ließ. Viel hat es mir geschenkt – viele Siege, viele Verluste – es hat mich reich gemacht. Ob es ein außergewöhnliches Leben war, vermag ich nicht zu bewerten, für mich als Individuum jedenfalls ist es aufregend gewesen. Lawrence Norrington war der einzige Mensch, der es in seiner kompletten Fassung kannte; wie es dazu kam, ist ein Geheimnis, das ich wohl mitnehmen werde.

Meine Augen schlossen sich schwer, während ich lag und dachte, und ich sank in einen Schlaf, den unförmige, tanzende Kreaturen beherrschten. Sie zogen mich spottend und singend in ihren fantastischen Altarraum, in dessen Mitte ich niedergelassen wurde, um von ihnen zelebriert zu werden. Angst entstand. In einer Einheit streckten sie ihre lächelnden Gesichter über mich und zogen sie wieder zurück, rhythmisch zum Klang eines entfernten Trommelschlages, und jedesmal, wenn es geschah, hatte sich zwischen ihnen und mir der Abstand wieder ein wenig verringert. Ihre Bemalungen hinterließen bunte Streifen in der Luft, wenn sie zurückschnellten; immer mehr wurden es, bis alles von ihnen erfüllt war. Wie Würmer krochen sie über mir, nur sich selbst im Weg, tausend Würmer von allen Farben, grell und weitab jeder Vernunft. Auf einmal stoppten sie – gekrümmt, gestreckt – und stürzten auf mich nieder! Unfähig, irgendwie zu reagieren, sie aber auch nicht verspürend, harrte ich des Regens aus, der mir zwei Exemplare in die Augen trieb. Sie wuchsen und wuchsen, die gelbe und die pinke Flächen, bis ich nichts anderes sah als ihre wirre Mischung, die – ohne dass ich es sofort registrierte – in einem Schwarz endete!

Es ward still.

Unsicher horchte ich genauer in die Dunkelheit – nichts.

Ich entspannte. Nur ein böser Traum. Der wahre Horror dürfte hinter mir liegen, denn meine Zeit, so glaubte ich, war für einen erneuten Schicksalsschlag zu knapp bemessen. Kein Grauen würde sich herabwürdigen, den Rest meiner Tage für seine große Vorstellung zu wählen, wenn es keinen vollen Saal zu erwarten hatte. Ich hatte die Lichtung erreicht und würde sie nicht verlassen. Sie beruhigte die strapazierten Sinne und spielte entfernt die Ballade der Natur. Ich hörte den flötenden Wind und die Vogelchöre, Blätter, die sich gegenseitig strichen, sehr leise Tamburins der Fliegen, auf dem Boden spielten Flora und Fauna vierhändig das Klavier. Trommeldonner!

Die Fratzen!

Schossen hervor!

Ich schrie! James zuckte und fiel auf den Hosenboden. Seine Maske fixierte mich. Als ich mich zu ihm lehnen wollte, ihn zu beruhigen, musste ich einsehen, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ein nasser Lappen scheuerte mich förmlich und ich hörte den Dampf des Wassers zischen. Als müßig in mein Bewusstsein drang, wo ich war und was, wurde mir auf den Schlag hundeelend. Eine widerlich warme Säule stieg in mir empor und ich widersetzte mich ihrer Forderung nicht; glücklicherweise hatte der Herr mit Monokel über mir vorgesorgt. James an meiner Seite starrte mich seltsam an. Ich wollte nicht, dass er hier war – ich hatte keine Ahnung, weshalb – er sollte nur verschwinden. Beinahe stieß ich ihn fort, doch ich fand nicht die Kraft dazu. Mir war, als sei er die Quelle meines Übels; eine Annahme, welche jeglicher Rationalität entbehrte. Trockenheit hatte mich ausgehöhlt. Das Wasser von Lappen und Becher waren dürftige Tropfen auf heißem Stein; nichts frischte die raue Steppe in mir, deren Furchen immer wieder unter einem schwülen Vulkanausbruch aufrissen. Erlosch er, schien ich mich immer weiter von mir selbst zu entfernen – ohne zu denken, sah ich dem beglasten Mann bei seinen Bemühungen zu, den breiten, bebenden Körper auf dem Lager zu stillen und gleichzeitig am Leben zu erhalten – als ob mit der Galle immer auch ein Teil der elastischen Masse, die uns beseelte, hinausgeworfen wurde. James war noch da und Lady Elizabeth, Benedict und die junge Mary und wenige weitere, ihre Hände trugen hohe Kerzen, da stand meine Mutter, sie alle umgaben einen Sarg, geschlossen von jenem Mann mit dem Monokel, eine Bibel auf dem Tisch, ich war nicht katholisch, nicht protestantisch, doch ich wusste, die Bibel dort bedeutet, sie bedeutet…

Ein Wechsel von Hell und Dunkel ließ die Besucher kommen und gehen. Nur meine Mutter kehrte nicht wieder. Des Winters Kinder bildeten eine Räuberleiter und spähten durch das Fenster auf dieses leblose Fleisch. Ich hörte die weiße Sense über den Weg schaben, wusste jedoch nicht, ob sie sich dem Hof näherte oder ob sie ihn verließ. Mit der Nacht würden ihre dünnen Spuren verblassen. Als es aufhellen sollte, wurde es schwarz um mich; ich öffnete die Augen und wieder stand James neben mir, meinem Kopf. Ich musste verachtenswert ausschauen. Als Kind solcher Eltern war der Junge gewohnt, das Hässliche zu verachten. Kein mit Sorgfalt und Geduld errichtetes Zelt einer Spinne wurde auf dem Landsitz toleriert. Es fehlte ihm an der Stimme, um zu schreien, aber er ging zu seinem Vater, wenn der anwesend war, und teilte ihm seine Entdeckung schlicht mit. Das gab mir ausreichend Zeit, dieselbe vorsichtig in den Garten zu verfrachten. Ich ließ ihr Netz dem Lord zum lustlosen Zerquetschen, dass James nicht als Lügner dastand, und niemand sprach mehr darüber. Ob der Sohn eines Sturmstrategen die Taktik durchschaut hatte? Er wirkte noch so unschuldig, wie er hier stand, die kleinen Hände auf meiner, wie ich jetzt spürte, und keine Abscheu zeigend vor dem üblen Gesicht, welches ihn aus tiefen Augen anstierte. Der Gestank von Krankheit und Medikamenten ließ kaum Luft zum Atmen, sodass ich in meiner Verzweiflung – was ich ansonsten nicht wagen würde – James bittend anwies, die Fenster zu öffnen. Zu spät fiel mir ein, dass er die Griffe ohne Hilfsmittel gar nicht würde erreichen können, und so schnell es mir möglich war, wollte ich mich aufrichten, doch da hatte er zu meiner Erleichterung (und Verwunderung!) mit dem schlanken Kerzenständer Vorlieb genommen, statt auf den nicht weit entlegenen Stuhl zurückzugreifen, dessen Gefahr für sich er nicht einzuschätzen in der Lage war. Die Scheiben klappten auf, ich hörte das etwas linkische, aber ordnungsgemäße Platzieren des Ständers, dann kam er zurück an meine Seite. Der eisige Wind, der mich erst in diese offenbar ernste Lage gebracht hatte, wie ich später erfahren würde, versorgte mich jetzt schuldbewusst mit seiner willkommenen Frische, doch weit drang sie nicht. Die mich abartig warm umschlingende Ermattung presste mir Stück für Stück das Leben aus. Mir schien, mein Körper würde sich gemächlich in Laken und Decke zergehen. Innerlich war ich verdorrt, mein Rachen war eine erhitzte Höhle in der Steppe, ich schmeckte den widerlichen Geruch meines Atems. Ohne James anzusehen, bedankte mich mit einer mürben Stimme und fragte ihn, um mich von unliebsamen Gedanken abzulenken, ob er überhaupt hier sein durfte. Er antwortete nicht, was hieß, dass er zumindest nicht nach der Erlaubnis gefragt hatte. Mir schoss durch den Kopf, dass er sich anstecken könnte, und wieder reizte mich etwas, nach ihm auszuschlagen, ihn anzuschreien, aber erneut scheiterte es an meinen verzagenden Kräften, als wüsste mein geschundener Körper besser als ich, was ich bereuen würde, wenn mir die Zeit zum Reuen überhaupt noch gegeben war. Meine Erregung – ohne dass sie sich zeigte – war dermaßen stark, dass sie mich vor einer Ohnmacht bewahrte.

„Gehen Sie“, forderte ich ihn schwer verständlich. Meine Worte gelangten kaum von meinen Lippen, eher schienen sie in meiner Brust zu verweilen und an meinen Lungen zu zerren. Von allen Seiten, je mehr ich sprach oder es versuchte.

Zu meinem Bedauern bewegte sich James nicht. Stockend schob ich ihm mein Gesicht zu, wobei ich riskierte, dass mein fauliger Atem ihn niederzwingen würde, was es mir wert war, um genau jetzt einen Blick in seine Augen zu erhaschen. Und tatsächlich hatte irgendetwas das stille Gewässer in Wallung versetzt.

„Wenn ich gehe“, sagte er, nachdem seine Augen meine eingefangen hatten, „dann kann ich wiederkommen.“

Ich zwang mir ein Lächeln ab. „Natürlich. Dennoch sollten Sie Ihre Mutter vorher…“

Er schien mich nicht zu hören. „Doch wenn Sie gehen…“

Stille.

Die Worte blieben in der Luft hängen. Der Wind trieb seine Wellen mir entgegen und die Kälte ließ mich erstarren. Tiefer und tiefer drückte ich mich in das Kissen, doch ich konnte nicht fliehen. Genauso wenig, wie er mich ihn würde belügen lassen. Er starrte mich durchdringend an und ich erschrak vor der Drohung, die dieses Kind ausgesprochen hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Daikotsu
2011-03-03T22:11:27+00:00 03.03.2011 23:11
Wieder ein sehr schönes und zugleich trauriges Kapitel. Ich fürchte, das Abda bald von uns gehen wird.
Zudem erstaunt mich die Haltung James... seine ja, man kann sagen "Reife".
Es wurden viele Einzelheiten beschrieben, die die visuelle Vorstellung wirklich gut unterstrichen.

Nur ein Satz bereitet mir Kopfzerbrechen.
"Ihre schwarze Melancholie dauerte sechs, so viele Tage wie der Tod des Erstgeborenen Jahre zählte."


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