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Der Pfau

Deutschland, das sind wir selber
von

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34 - Vier Kinder

Der Frühling bringt Blumen
 

Das schalkhafte Kichern erfüllte den langen Weg von Ostpreußen bis zur Spree die Kutsche. Gilbert spielte an seinem mit Federn geschmückten Hut herum, riss einzelne Federn heraus und zerrupfte sie, bis der Boden der Kutsche aussah, als hätte ein Fuchs ein Huhn geschlagen. Jede zweite Minute rammte er dem jungen Mädchen, das ihm gegenüber saß, den Zeigefinger in die knochigen Knie, was ihr keine Regung entlockte. Königsberg starrte nur unbewegt auf die Landschaft, die sich vor ihren Augen erhob, und sie war kein bisschen erfreut.
 

„Stephanie, warum so miesepetrig?“, fragte er seine kleine Begleitung mit neckendem Unterton. Sie starrte nur weiter hinaus auf den Weg, der sich noch nicht Straße nennen durfte, hinaus auf die von Frühlingsschein verwöhnten Felder, und schob die Unterlippe nach vorne.
 

Gilbert kicherte nur umso lauter.
 

Paul war in seine beste Kleidung gesteckt worden. Er glitzerte geradezu mit all dem Goldschmuck, der irgendwo an seinem Körper hing, und mehr als verunsichert blickte er zu Albrecht auf, der neben ihm stand. Aus seinen Augen war abzulesen, dass er dieser Prozedur eher misstrauisch gegenüberstand. Seine Haare, flach gegen seinen Kopf gepresst und ordentlich gescheitelt, taten ihr Übriges, um in ihm einen Widerwillen gegen das kommende Rendezvous wachsen zu lassen. Würde er seinen Vormund ansehen, dann würde Paul sehen, dass dieser die Arme völlig schlaff und leblos an seiner Seite hängen ließ und auch sonst die Situation nicht unbedingt positiv einschätzte. Hinter ihnen stand das Anwesen, in dem die junge Familie wohnte. Vor ihnen hielt eine Kutsche, und erst, als die Türen sich geradezu majestätisch öffneten, konnte man einen Blick auf den bekannten weißen Haarschopf erhaschen.
 

Gilbert sprang munter auf den Boden und packte Paul unter den Achseln. Prüfend musterte er ihn, dann setzte er ihn mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht wieder ab und fuhr durch die Haare, zerstörte damit die Frisur, mit der Albrecht sich so viel Mühe gegeben hatte. So, als würde ihm einfallen, dass es da ja noch etwas anderes gab als Paul, wandte sich der Preuße um und sah seinen Partner an. Sie waren seit ein paar Jahren verheiratet, und Gilbert gefiel die ganze Geschichte ausnehmend gut.

„Dich gibt’s ja auch noch!“, rief er geradezu erstaunt aus und zog den anderen in eine warme Umarmung; sein Mund fand sich am Ohr des anderen wieder, und Albrecht hoffte, dass Paul die Worte, die ihm zugeflüstert wurden, nicht verstehen konnte.

Die beiden lösten sich voneinander. Albrecht begrüßte seinen Partner mit den Worten, dass er froh sei, dass er wieder zurückgekehrt sei, dass sie aber auch ohne ihn gut zurecht geko--, und an dieser Stelle wurde er von Gilbert unterbrochen.
 

„STEPHI!!!“, schrie Gilbert, und nach ein paar stillen Minuten stieg aus der Kutsche ein zerzaustes, dürres Mädchen mit sehr langen, lockigen, dunklen Haaren, deren Blick gen Boden gerichtet war. Ein paar Sekunden verstrichen. Das Mädchen bewegte sich nicht. Gilbert stand da wie ein stolzer Berg, Albrecht war etwas verunsichert und Paul begann, sich zu langweilen.

„Stephi, kommst du dann mal rüber?“ Gilbert klang nicht unfreundlich, aber seine Stimme war unmissverständlich fordernd. Mit kleinen Schritten folgte das Mädchen der Aufforderung und blieb einen Meter vor Gilbert stehen, den Blick noch immer auf ihre nackten Füße gerichtet. Auch ihr Kleid war Pauls Klamotten ganz und gar nicht angemessen. Scheinbar legten Gilbert und Albrecht andere Maßstäbe an, was das Auftreten der Kinder anging.
 

„In Ordnung. Berlin, das ist Königsberg. Königsberg ist ein schönes Mädchen. Irgendwann kriegt sie soooolche Brüste, und wenn der Tag gekommen ist, dann wirst du mir danken, dass ihr euch kennt!!“
 

Paul sah ihn verwirrt an.
 

„Ja, ich und Albi gehen jetzt mal Sachen besprechen und so.“ Er zwinkerte vielversprechend. „Ihr spielt hier draußen. Viel Spaß.“ Mit diesen Worten schlang er einen Arm um Brandenburgs Hüfte und führte ihn aus der Sicht der unschuldigen Kinderäuglein hinaus.
 

Ein paar Momente verstrichen.

Berlin beäugte Königsberg misstrauisch. Sie sah ihn nicht an. Die Kutsche fuhr fort.

Irgendwo sang ein Vogel sein Frühlingslied.
 

„Hm.“, sagte Berlin.

Königsberg sagte nichts.
 

Dann sah sie auf. In ihren auffällig bernsteinfarbenen Augen spiegelte sich die Sonne, und rosige Lippen machten sich daran, zu sprechen.

„Was soll ich hier?“ Ihr Tonfall war nicht anklagend, ihr Blick nicht vorwurfsvoll, eher klug – aber Paul fühlte sich, als hätte sie ihn persönlich angegriffen. Also, weil, 'was soll ich hier', das ist doch, das-- Er schüttelte innerlich den Kopf.

„Weiß ich doch nicht!“, erwiderte er aggressiver, als er es wollte. Ihr Blick änderte sich, sie schob die Unterlippe vor, wie so oft.

„Und warum bin ich dann hier?“ Ihr Deutsch war geprägt von der polnischen Umgebung, in der sie lebte. Der slawische Einschlag war klar herauszuhören. „Gilli hat mich ja nicht hierhergebracht, um in der Gegend herum zu stehen!“
 

„Gilli?“
 

„Ja.“
 

Wieder ein wenig Stille.

Paul sah sie irritiert an.
 

„Ich bin Paul.“, stellte er sich vor. In den goldenen Klamotten fühlte er sich mehr als unwohl, gerade, weil die andere so eindeutig leger gekommen war, um es vorsichtig auszudrücken.

„Stephanie.“, erwiderte sie.

„Und wer ist Gilli?“

Sie blickte ihn an, als wäre er ein Vollidiot.

„Gilbert, du Idiot?“, kleidete sie ihre Gedanken direkt in Worte.

„Hey!!“, protestierte Paul laut. Er sah sie böse an, aber sie schaute wieder auf ihre Zehen. Dann drehte er ihr den Rücken zu. Er hatte besseres zu tun, als den ganzen Tag mit so einer dummen Pute zu reden. Womöglich wollte sie auch noch mit ihm spielen! Bäääh! Das wäre so unendlich eklig! Mit schnellen Schritten schlappte er in Richtung der Spree. Stephanie blieb mit vorgeschobener Unterlippe reglos stehen.
 

Als die Sonne unterging, machte sich Gilbert auf die Suche nach seinen beiden Schützlingen. Sein Plan war perfekt gewesen. Er hatte Stephanie mitgebracht, seine geliebte alte Hauptstadt, um sie mit Paul, seiner ebenso geliebten neuen Hauptstadt, zu verkuppeln. Albi hatte genau das getan, wozu er ihn instruiert hatte: er hatte Paul inszeniert als ein Kind, das im Luxus schwamm. Es war eigentlich unmöglich, dass die beiden Kinder sich nicht sofort ineinander verknallten. Zumindest laut Gilbert, der von kindlichen Psychen etwa so viel Ahnung hatte wie von Computern.

Gilbert ließ den Blick über den Vorplatz des Hauses schweifen, in dem er wohnte. Niemand zu sehen.
 

„Pauuuul!!“, rief er in die immer kühler werdende Abendluft hinein.

Keine Antwort. Gilbert hatte keine Ahnung, wie er nach den Kindern suchen sollte – war schließlich nicht seine Aufgabe, sich um die Blagen zu kümmern – aber das hier war sein Projekt, das würde er Albi nicht überlassen. Es war seine eigene Verantwortung, die beiden zusammenzubringen, komme, was da wolle.

Nach einer halben Stunde hatte er die beiden gefunden. Der ganze Schmuck, der an Pauls Kleidung hing, verlor so langsam die dünne goldene Beschichtung, und das Kupfer drang ans Tageslicht. Paul selbst war von Kopf bis Fuß durchnässt. Stephanie bot auch kein beeindruckenderes Bild; die nassen Haare klebten an ihrem Rücken, und sie fröstelte erbärmlich.

Niemand erklärte, was passiert sei, und Gilbert war auch nicht daran interessiert. Er erfreute sich daran, dass die beiden so fröhlich miteinander gespielt hatten. Ein Frosch suchte sich seinen Weg aus dem Chaos auf Stephanies Kopf und sprang laut quakend auf Pauls Kopf hinüber. Während er die beiden Kinder zurück ins Haus geleitete, warfen die sich böse Blicke zu. Was Gilbert für ausgelassenes Spielen am Ufer der Spree gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Kampf auf Leben und Tod gewesen.

Im Nachhinein konnte keines der Kinder angeben, was genau passiert war, nur, dass sie sich nie nie nie nie nie wieder sehen wollten.
 


 

Der Sommer den Klee
 

Paul stand auf Zehenspitzen auf einer hohen Mauer, bestimmt zwei Meter hoch, und auf seinen Schultern stand Cölln. Er versuchte, sich die Äpfel von dem Baum zu klauben, dessen Zweige niedrig wuchsen, aber zu hoch, um problemlos hinaufklettern zu können. Es waren frühe Äpfel, der Sommer stand in vollster Hitze, das gesamte Stadtgebiet erstickte unter einer Decke schwüler Luft. Cölln streckte sich, er stand wackelig auf Zehenspitzen, seine Fingerspitzen berührten einen prallen roten Apfel knapp, nur noch ein paar Sekunden und er würde---
 

Zwei magere Hände packten Pauls Knöchel und zogen ihn unsanft hinunter, dass er auf dem Rücken landete, Cölln auf ihn drauf fiel und der Apfel noch immer in der Sonne glänzend am Baum hing. „Heeey!“, rief Paul, während er zappelnd aufstand, und als er sowie Nikolai wieder auf ihren Beinen waren, war da nur noch ein schnell verschwindender, dunkler Haarschopf. Nikolai zuckte nur mit den Schultern, aber Paul hatte das Mädchen erkannt, und sobald er wieder einigermaßen sicher auf der Erde stand, rannte er ihr hinterher.
 

„Was machst du, blöde Pute!!“, schrie er ihr hinterher, sodass sie stehenblieb und ihn mit zusammengezogenen Brauen böse anblickte, und er wurde unwillkürlich langsamer und kam erst einige Sekunden später bei ihr an. Sie stand im Schatten eines Hauses mit überhängendem Dach, aber die fast goldenen Augen schimmerten hell. Paul war mit seinen Vorwürfen allerdings noch nicht fertig. „Wir sind den ganzen Weg zu dir gekommen, und jetzt machst du sowas!!“
 

Störrisch schob sie die Unterlippe vor und zuckte mit den Schultern.
 

Paul sah sie wütend an.
 

Natürlich waren Paul und sein komischer kleiner Freund hierhergekommen, aber nicht extra für sie, dessen war sich Stephanie bewusst. Nicht, dass sie wollte, dass die beiden herkamen! Allein war Paul schon unerträglich, aber mit diesem anderen Gör zusammen hielt sie die Zeit nicht aus. Gilli war gekommen, das war alles, was zählte. Und dann war da noch dieser andere Mensch. Albrecht Fontane.
 

Sie nannte ihn Herr Fontane, und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihm diese Anrede gefiel, und dass er viel zu selten auf diese Art angesprochen wurde. Er war ihr egal. Aber sie mochte es nicht, wenn er Gilli dazu brachte, traurig zu sein. Und das tat er. Sie war gestern Abend bei Gilli gewesen, und sie hatte versucht, ihn zu einer gepflegten Partie Schach zu überreden, aber er hatte ihr lieber ein Märchen erzählt über den guten, feinen Ordenskrieger und den blöden Kurfürsten, der zwar unverschämt attraktiv war (wenn auch nicht so attraktiv wie der Ordenskrieger), aber auch unglaublich enervierend, zickig und undurchschaubar. Zumindest, seitdem der Ordenskrieger dem neuen Königreich den Namen Preußen gegeben hatte, und spätestens ab diesem Zeitpunkt war Stephanie klar gewesen, dass er von Herr Fontane sprach.
 

Aber Paul, Paul wurde abgöttisch von Gilli geliebt (nicht so abgöttisch wie er selbst, aber das war selbstverständlich) und machte ihn nie unglücklich, und deswegen war Stephanie einfach nur eifersüchtig. Was hatte dieses Berlin schon, was sie nicht hatte? Er hatte einen lächerlichen kleinen Freund, er hatte einen blöden Fluss, er hatte-- er konnte nicht einmal schwimmen! Sie sah ihn weiterhin abschätzig an und biss auf ihrer Unterlippe herum, dann rannte sie auf ihn zu und blieb einen Zentimeter vor ihm stehen. Ihre dunklen Locken lagen um ihren Kopf wie eine Löwenmähne.

„Du bist jetzt Hauptstadt von einem Königreich. Warum lächelst du nicht mehr?“ Sie legte jeweils einen Finger in seine Mundwinkel und zog sie nach oben; er reagierte, indem er irritiert ein paar Schritte zurückstolperte und sie giftig anblickte. „Das geht dich ja mal gar nichts an, olles Gör!!“, verteidigte er sich.
 

Sie zuckte mit den Schultern und lief fast schon elegant an ihm vorbei.

Erst später merkte er, dass sie die hölzerne Brosche, die Albrecht ihm am Tag zuvor geschenkt hatte, hatte mitgehen lassen.
 

Über einem Teller Königsberger Klopse gebeugt sah Cölln Königsberg aus glänzenden Augen an. Sie spießte die Kapern auf und versuchte, möglichst wie eine vornehme Dame zu wirken, aber seiner Meinung nach sah sie eher wie ein Schlossgespenst aus, so dürr und klapprig, wie sie war, mit den endlos langen Haaren und den unheimlichen goldenen Augen.

„Stephi?“, fragte er.

Sie sah von ihrer Speise auf. Ein bisschen Soße hing an ihrem Mundwinkel, aber sie schien dies nicht zu bemerken. „Hm?“ Herr Fontane, Pisspaul, wie sie ihn in Gedanken getauft hatte, und Gilli waren im Großen Salon und besprachen wichtige Königreichsachen. Cölln war der einzige, den Stephanie für vernünftig hielt. Sie liebte ihren Gilli – eines Tages würde sie ihn heiraten, mit wunderschönem Goldschmuck, und Pisspaul würde hinter den Büschen stehen und eifersüchtig auf sie sein – aber er war manchmal schon sehr kindisch. Im Gegensatz zu ihr, Stephanie war weise. Und Cölln war zwar im Doppelpack mit Pisspaul unerträglich, aber allein mochte sie ihn ziemlich, ziemlich gern. Aber sie traute sich nie, ihn anzusprechen.
 

Auch nun konnte sie ihn nicht ansehen. Er schwieg eine Zeit lang, so, als würde er sich seine Worte sorgfältig zurechtlegen.

„Warst du mal krank?“
 

Sie sah ihn nicht an, konzentrierte ihren Blick auf ihren Teller und eine winzige Kaper, die sie durch die Soße schob. Ihre Unterlippe blutete ein wenig.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war leise. „Nie wirklich.“
 

„Na gut.“
 

Sie schwiegen. Stephanie hörte das klappernde Geräusch seines Bestecks auf dem wertvollen Geschirr.

Sie wollte nicht, dass das Gespräch schon zuende war.
 

„Also, einmal, da habe ich mich nicht gut gefühlt.“, versuchte sie und zerteilte einen der Klöpse. „Als ich noch ganz klein war, da bin ich fast gestorben, so miserabel ging es mir da.“
 

Cölln schien Interesse zu gewinnen. „Und... haben sich Leute um dich gekümmert?“
 

Das war eine seltsame Frage. Stephanie schaute auf. Cölln hatte kaum etwas gegessen. Einen Moment lang war sie verletzt. Das war ihr Lieblingsessen, das hatte sie sogar selbst gemacht! Aber Nikolai schien das gar nicht zu interessieren... Einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden. Nikolai sah ernst aus, ruhig, und nicht wie der Scherzbold, als den Stephanie ihn kannte. Unterm Tisch, im langen hellblauen Kleid, zappelte sie mit ihren Füßen, aber sie biss nicht mehr auf ihren Lippen herum.

„Naja, Gilli war ja auch noch ganz klein, der war kaum größer als ich. Aber der war ja auch Schuld daran, dass es mir so schlecht ging.“ Sie meinte, sich ein verächtliches Schnauben von Nikolais Seite einzubilden, aber sie war sich sicher, dass sie sich verhört hatte. „Und sonst gab's ja niemanden, niemand außer Gilli. Also nein, ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Niemand hat sich um mich gekümmert oder so.“
 

Einen Moment lang herrschte Stille. „Aber das war nicht schlimm! Ich wurde dann schnell sehr stark und sehr klug.“
 

Nikolai schien ihr nicht mehr zuzuhören.
 

Zehn Jahre später wusste sie, dass er ihr zugehört hatte, zehn Jahre später, als sie Paul seine hölzerne Brosche zurückgab, und als er ihr erzählte, dass Cölln gestorben war und dass er seine Krankheit nie ernst genommen hatte. Zehn Jahre später, nachdem auch sie schwerkrank gewesen war, nachdem Gilbert sich um sie gekümmert hatte, nachdem sie erfahren hatte, wie wichtig es für die Genesung war, jemanden zu haben, der sich um einen sorgte.

Trotzdem hatte sie geweint, als sie hörte, wie Nikolai gestorben war, und Paul hatte sie zum ersten und letzten Mal umarmt.
 


 

Der Herbst, der bringt Trauben
 

Als einer der Abgeordneten nach draußen trat und in gebrochenem Deutsch mit Königsberg redete, wusste Paul, dass es zu spät für irgendwelche Kompromisse war. Vielleicht war es schon seit Kriegsbeginn zu spät für Kompromisse gewesen.
 

Er beobachtete Stephanie. Es war ihr erster Besuch in Berlin, gar im westlicher gelegenen Deutschland seit Ewigkeiten. Ihr ehemals wildes, langes Haar war sehr kurz geschnitten, nur ein dünner schwarzer Flaum bedeckte ihren Kopf, sodass sie aussah wie ein müder Mann statt wie eine ausgemergelte Frau. Vermutlich hatte man ihr das Haar geschnitten, damit sie besser in der Armee dienen konnte, überlegte sich Paul. Oder, damit sie sich keine Läuse einfing während der Belagerung in den, wie es sich später herausstellen sollte, allerletzten Wochen des Krieges. Oder- nein, er hatte keine Ahnung, warum ihr Haar verschwunden war, er wusste nur, dass es ihn mit bitteren Gefühlen von Verlust erfüllte. Sie würde nie wieder wie ein Waldgeist aus der Welt der Mythen wirken, sondern ab nun war sie ein dürres Mädchen mit matten Augen, blutdurchtränkten Verbänden an den Armen und einer breitflächigen Schusswunde am Hals.

Beinahe hätte eine Kugel ihre Halsschlagader zerfetzt.
 

Sie nickte dem Mann mit dem starken russischen Akzent und den vertauschten Artikeln ruhig zu, ehe sie sich wieder neben Paul auf die harte Holzbank setzte.

Er blickte sie fragend an, und sie betrachtete ihre blassen Füße.
 

„Hast du irgendwas zu sagen?“ Die langen Momente der Stille gingen ihm auf die Nerven, waren ihm in ihrer Gegenwart immer auf die Nerven gegangen. Und auch nach dieser unmissverständlichen Aufforderung, mit ihm zu reden, zeigte sich nicht einmal ein Wimpernzucken in ihrem unbewegtem Gesicht, wie aus Stein gemeißelt.
 

Als sie letztendlich sprach, war ihre Stimme leise wie ein Windhauch.

„Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“ Paul nickte.

„Das war Immanuel.“ Ihr geliebter Immanuel. Sie wusste nicht, ob Berlin mit seinen philosophischen Schriften bekannt war, ob er die Aufklärung auch nur ein Zehntel so leidenschaftlich vorangetrieben hatte wie sie damals, als sie das wissenschaftliche Herz Preußens genannt worden war, ob er auch nur ein Zehntel von ihrem Mut hatte, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

Er nickte noch einmal. Nun, zumindest schien er zu wissen, wer Immanuel war und dass er der größte Philosoph unter der Sonne war. Ihrer bescheidenen Meinung nach zumindest. Wer vor diesem Genie war schließlich auf die Idee gekommen, zuzugeben, nichts zu wissen? Nun gut, Sokrates, aber Immanuel hatte sehr viel gedacht, von dem Sokrates nicht zu träumen gewagt hätte. Der kategorische Imperativ! Oder die Kritik der reinen-

„Was hat er dir gesagt?“, fragte Paul sie, riss sie aus ihren Erinnerungen an ihren geliebten Sohn heraus und ließ sie grob in der Realität aufkommen.
 

„Oh, nichts besonderes. Immanuel wäre nicht davon begeistert.“ In den Kriegsjahren hatte ihre Rhetorik gelitten, aber während der Epoche der Aufklärung hatte sie sich ein beeindruckendes Vokabular angeeignet. „Aber es geschieht mir gerade Recht. Hätten wir uns an den Leitspruch gehalten, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, so wäre alles in bester Ordnung.“
 

Pauls Geduld war genauso dünn wie Stephanies Oberarme.

„Also?“
 

„Ich meine, wir haben die Menschen als Mittel benutzt, nicht als Endzweck unseres ganzen Handels. Wir hätten damit rechnen müssen.“ Alles an ihr ging ihm auf die Nerven; die Pausen, ihre Ablehnung von klaren Worten, ihre merkwürdige Art, das R zu rollen, ihr Blick auf ihre Füßen, ihre Art, auf ihren Lippen zu kauen, wenn sie unzufrieden war.
 

„Stephanie.“
 

Sie schreckte auf und sah Berlin an, als wäre sie aufgewacht.

„Natürlich, natürlich. Entschuldige. Ich bin in letzter Zeit oftmals gedanklich... hmm... abwesend...“ Ihr Kopf wurde zur Seite geneigt, die Zähne trafen auf die weiche Unterlippe, und dann blickte sie ihm direkt in die Augen, und Paul merkte, dass ihre Augen nicht so matt waren, wie er es gedacht hatte.
 

„Metaphysik der Sitten, 1785. Darf ich Immanuel Kant zitieren? "Hat er aber gemordet, so muss er sterben."“

Das waren immer noch nicht die klaren Worte, die Paul sich wünschte, aber als sie aufstand, fühlte er, dass er nicht noch einmal fragen musste. Sie wirkte schwankend und schwach, als könne sie sich kaum auf den Beinen halten. Er bemerkte, dass ihre Beine bandagiert waren, zumindest bis zu den Knien, nach denen die kurzen Wehrmachtshosen die Sicht auf alles andere verdeckten.
 

„Ich werde russisch.“ Sie klang, als beträfe sie diese Aussage nicht im Geringsten.
 

Einige Momente verstrichen. Sie war scheinbar wieder in ihren Gedankenkäfigen verschollen, jedenfalls sah sie Paul nicht mehr an.

„Warum?“

„Ach. Weil diese Alliierten das so wollen. Weil Russland das so will. Ich werde sowieso bald sterben. Guck mal.“ Ein paar Zuckungen durchliefen ihre Schultern. Ansonsten geschah nichts. „Ich kann nicht einmal mehr den linken Arm bewegen.“
 

Paul schüttelte den Kopf. Es steckte nicht viel Vehemenz dahinter. Er selbst war ein Opfer des Krieges, und er konnte nicht so viel Mitleid für Stephanie aufbringen, wie es angebracht wäre.

„Du stirbst nicht. Aber- Russland-“
 

Stephanie wunk ab, obwohl sie nicht einmal wissen konnte, was Berlin sagen wollte. Auch sie schüttelte den Kopf, und dann drehte sie sich um, drehte ihm ihren Rücken zu.

Als sie wieder sprach, waren ihre Worte gewispert, leise, ruhig, sodass Paul sie kaum verstehen konnte.

„Finde Gilli.“, sagte sie.

„Gilbert ist tot.“

„Nein. Er lebt. Er lebt immer. Ich weiß das.“

Paul konnte es nicht sehen, aber Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie lächelte. „Ich war seine Hauptstadt. Königsberg und Preußen. Das ist etwas besonderes. Das verstehst du nicht.“
 

Paul antwortete nicht.
 

„Wenn du ihn findest, dann sag' ihm bitte etwas.“ Sie zitterte.

„In Ordnung.“

„Gilli mochte mein Haar. Er hat mich immer gekämmt. Als wir noch ganz klein waren natürlich. Er hat das als Kampf gesehen.“ Sie lachte heiser. „Sag ihm, dass ich mein Haar versteckt habe. Es ist im Bernsteinzimmer. Und es wartet auf ihn. Ich will, dass er das Bernsteinzimmer nach Preußen zurückbringt. Nach Hause. Wo es hingehört. Es gehört hier hin. Ja. Und meine Haare.“
 

Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges fühlte Paul Mitleid mit diesem armen, armseligen Mädchen in sich aufsteigen. Sie war verwirrt, unheimlich, hatte den Bodenkontakt verloren, und sie war der festen Überzeugung, zu sterben. Es war unmöglich, ihr diesen letzten Wunsch abzuschlagen.
 

„In Ordnung.“, sagte er, und das waren die letzte Worte, die er an Königsberg richten würde.
 


 

Der Winter den Schnee.
 

Stephanie hatte falsch gelegen, dachte Paul, während er im Auto nach Kaliningrad saß. Sie war nicht gestorben. Nach dem Krieg war Königsberg zwar umbenannt worden, aber es existierte noch, es war eine Stadt in einer russischen Exklave geworden.

„Verkommen“, würde Gilbert wohl sagen, der am Steuer saß und ein fröhliches Lied auf den Lippen hatte. Paul beobachtete ihn ein paar Momente lang, ehe er seinen Blick wieder aus dem Fenster richtete und endlose von Schnee bedeckte Felder betrachtete.

„Paul, warum so miesepetrig?“, fragte Gilbert, und Paul rollte nur mit den Augen.
 

Auch, als die Ortsschilder der Hauptstadt der Oblast Kaliningrad in Sichtweite kamen, verstummte Gilberts Lied nicht. Er schwieg erst, als sie aus dem Auto stiegen und gefrorener Schnee unter ihren Stiefeln knirschte; als sich ein zwölfjähriges Mädchen in einer Seitengasse einen Schuss setzte; als unter einem Müllbeutel ein erfrorener Obdachloser lag.

Die Probleme der Stadt waren seit dem Zerfall der Sowjetunion nur noch schlimmer geworden.
 

„привет!“, wurden die beiden Deutschen von Ivan begrüßt, der in der Vorhalle des Rathauses stand. Zerknirscht fragte Gilbert ihn auf russisch, wo „die Kleine“ sei, erhielt keine zufriedenstellende Antwort und stellte genau dieselbe Frage noch einmal – nur lauter. Bevor Gilbert allerdings zu Gewalt greifen konnte, öffnete sich eine Tür und eine schmale, geradezu dürre, kleine Frau trat hinaus.
 

Sie hatte sich nicht im Mindesten verändert. Der einzige Unterschied zu 1945 bestand aus den zwei eindrucksvollen Brüsten, die wie aufgeklebt auf ihrem Oberkörper schienen und sich unter dem braunen Kleid unangenehm abzeichneten.
 

Gilbert beruhigte sich, aber das Lächeln auf seinen Lippen war gezwungen.

„Hallo, Stephi.“, wandte er sich an seine ehemalige Hauptstadt, die ihn ausdruckslos ansah. Als keine Antwort kam, suchte sein Blick den von Berlin. „Paul, rede mit ihr. Unter vier Augen. Wenn-“ Er brach sich ab. „Egal. Viel Spaß.“ Ein paar russische Worte wurden mit Ivan getauscht, und Berlin und Kaliningrad waren allein.
 

Stille breitete sich aus, eine unangenehme, erdrückende Stille.
 

„Königsberg.“, sagte Paul. „Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?“

Noch immer war ihr Blick ausdruckslos. Die dunklen Haare waren knapp vor Schulterlänge geschnitten. Es war ein praktisches Schnitt, ein Haarschnitt, der der Realität angemessen war; sie ar kein Waldgeist aus einem Märchen mehr.

Als sie sprach, wirkte sie maschinell.

„Ja. Wir böse. Du böse. Ist viel Wasser.“
 

Ihr Deutsch war wohl über die Jahrzehnte ein wenig eingerostet. Paul schluckte.

„Erinnerst du dich an Cölli?“

Sie schien nachzudenken, dann schüttelte sie den Kopf.
 

„An deinen Gilli?“

„Gilli. Immer.“, antwortete sie, und noch immer regte sich kein Muskel in ihrem Gesicht.
 

„Du bist nicht gestorben. Stephanie, du lebst noch!“ Er versuchte, zu lächeln, und endlich, endlich zeigte sich eine Emotion in ihrem Gesicht.

Es war Verwirrung.
 

„Stephanie?“, fragte sie. „Ich nicht Stephanie. Ich Renata. Stephanie tot, Stephanie lange tot. Kein Kjonigsberg. Nur Kaliningrad.“
 

Paul schwieg.
 

„Kein Kjonigsberg.“, wiederholte sie sich. „Russland.“
 

Und dann wurde Paul etwas klar. Er hatte sich darüber gewundert, dass Stephanie auf der einen Seite behauptet hatte, sie würde russisch werden, und auf der anderen Seite, dass sie sterben würde. Das war ein Widerspruch, aber er erkannte, dass sie mit beidem Recht behalten hatte.
 

„Was ist mit Kant?“, fragte er. „Immanuel? Kritik der reinen Vernunft und so?“

Das brachte ein Lächeln zum Vorschein. „Immanuel“, sagte sie leise, und die russische Aussprache war fast unerträglich. „Immanuel Kant. Er sehr gut.“ Sie rollte das R beinahe übertrieben.
 

Bevor Paul die Tränen in die Augen steigen konnten, kehrten Gilbert und Ivan zurück. Ivan fragte Steph- Renata etwas, und sie antwortete mit schnellen Worten, sodass selbst Gilbert Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen, und er hatte vierzig Jahre lang Russisch gelernt. Sie hatte ihre Rhetorik nicht verloren, das war eindeutig, nur ihre Deutschkenntnisse.
 

„Komm, Paul, wir sind hier nicht mehr erwünscht. Obwohl wir eingeladen wurden. Blöde russische Idioten.“, knurrte Gilbert und taxierte Ivan mit einem abwertenden Blick; der Russe erwiderte diesen Blick nur mit einem fröhlichen Lächeln.
 

Als sie das Rathaus wieder verließen - „Wenn wir schon acht Stunden fahren, dann bleiben wir aber auch! Willste die Statue von Herzog Albrecht sehen? Oder wir gehen einen heben.“ - drehte Paul sich nach einigen Metern um.

Kaliningrad stand vor der Tür und schien trotz der Kälte nicht zu frieren. Hinter ihr war Russland aufgebaut. Sie sah Paul an, und irgendwo in ihren Augen sah Paul den Glanz des kleinen, wilden Mädchens, das ihn ertränken wollte. Ihre Lippen bewegten sich, ohne, dass sie etwas sagte, ohne, dass Russland sie hören konnte, und Paul bildete sich ein, dass sie „Ich bin in Ordnung.“ sagte.
 

Er lächelte und schaute nach vorne. Kleine Schneeflocken fielen auf seine Winterjacke.

„Vermisst du Stephanie?“, fragte er unvermittelt und unterbrach damit Gilberts nicht enden wollenden Monolog. Der sah ihn irritiert an und schaute dann auf die Straße.

„Naja, sie war meine Hauptstadt.“

„Gilbert. Vermisst du sie?“

„... Ja.“

Pauls Lächeln wurde breiter. Die Temperatur fiel noch ein wenig weiter, während die Sonne ihre letzten Strahlen über die Stadt warf, und das Schneegestöber wurde noch ein wenig dichter.

„Egal, wie kalt und ewig ein Winter ist... irgendwann kommt der Frühling.“
 

Gilbert schwieg, Paul lächelte.

Königsberg wartete auf den Frühling.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Otakuplant
2011-08-05T13:44:20+00:00 05.08.2011 15:44
Philli, du bist sooooooo~ toll/doof! Zum wiederholten Male kann ich nur sagen: Du schreibst so toll, dass ich weinen muss, weil es mich so berührt. <3


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