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Der Pfau

Deutschland, das sind wir selber
von

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31 - ABC

Es waren zwanzig Drinks, alle neongrün und mit pinken Strohhalmen sowie einer halben Kokosnuss. Selbst Nicole war es erlaubt, zu trinken. Die Bundesländer feierten Silvester, und an diesem Abend sollte jeder glücklich sein, sollten sich alle zumindest für die zehn letzten Sekunden des alten Jahres und die ersten fünf Sekunden des neuen Jahres vertragen. Das war natürlich eine Utopie.
 

Ludwig beobachtete die Drinks nachdenklich. Neben ihm stand Gilbert und klopfte ihm optimistisch auf die Schulter. „Nicht so trübselig“, sagte er seinem Bruder, „ich weiß, was ich mache!“ Da war sich Ludwig nicht sicher, aber hatte er eine große Wahl? Sein Bruder hatte mal wieder einen Erfolg nötig, und er hatte mal wieder ein paar streitlose Stunden nötig. Also warum nicht?

Ludwig wusste nicht, dass die „Geheimzutat“, die Gilbert den Drinks zumischte, alles andere war als ein harmloses Mittelchen. Er hatte die Mischung aus Gretes Haus gestohlen und war sich selbst nicht sicher, was es bewirkte.

Zumindest Gilbert würde die Effekte wieder ausbügeln müssen.
 

---
 

Als Maximilian am nächsten Morgen aufwachte, war es warm und still, ein angenehmer Kontrast zum vergangenen Abend, mit dem lauten Feuerwerk und der kalten Januarluft. Irgendetwas war falsch. Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem warmen Körper neben sich.
 

Mit einem Ruck öffnete er seine Augen und sah nur den Schnee, der auf dem Fensterbrett lag. Seine Hand lag erstarrt auf einem nackten Oberarm hinter ihm. Er wagte nicht, sich umzudrehen, und so lag er noch ein paar Momente paralysiert da, ehe er den Kopf nach hinten drehte und wildes, rotes Haar sah.

Dann ereilte ihn der Drang, sich übergeben zu müssen.
 

Während Maximilian über dem Waschbecken hing, öffnete Zenzie langsam ihre Augen, und im Gegensatz zu ihm waren ihre Erinnerungen an den vergangenen Abend klar und deutlich, scheinbar hatte sie um einiges weniger Alkohol getrunken – seltsam.. Sie sah an sich hinunter. Ihre Unterwäsche war noch an ihrem Platz. Das war einerseits beruhigend, andererseits bedeutete es aber auch, dass sie eben nur noch in Unterwäsche war, und dass Maxi sie so gesehen hatte...
 

Er kam zurück aus dem Badezimmer, nur in rot-grün gestreiften Shorts, und sie sahen sich einen Moment lang an. Zenzie zog die Daunendecke über ihren gesamten Körper.

„Ähm...“, fing er an, aber sie hatte genau im selben Moment beschlossen, ebenfalls mit einem beschämten „Es...“ ein Gespräch beginnen zu wollen, und so verstummten sie beide, und peinliche Stille legte sich über die beiden, ehe Zenzie wieder das Wort ergriff.
 

„Deswegen heiraten wir aber nicht.“

Er schüttelte vehement den Kopf. „Und wir erzählen nie irgendjemanden davon, gell. Nie. Jemanden.“

Sie nickte ebenso vehement.
 

Ein Klopfen an der Tür unterbrach die beiden. Mit Panik im Blick schaute Max sie an. „Wem gehört das Zimmer?“, fragte er völlig verkatert. Sie sah sich um und kam zu dem Schluss, dass es ihr gehörte. Schnell verkroch sich Baden im Badezimmer; sie zog sich einen Bademantel an, der wirklich alles verdeckte, und öffnete, nur, um in eine noch schlimmere Stimmung gestürzt zu werden.

Vor der Zimmertür stand Gilbert und auf seiner ausgestreckten Handfläche lagen zwei kleine Pillen. Sein Gesichtsausdruck spiegelte eine Art Schuldbewusstsein, aber auch viel Amusement wider.

Dann sprach er. „Wenn...“
 

-
 

In Pauls Zimmer befand sich ein Doppelbett, aber er lag nicht im Bett, er lag auf dem schwarzweißen Teppich. Seine Arme griffen ins Nichts, und er schnarchte leise. Auf dem Bett saß ein fahler, bleicher Württemberg mit angezogenen Beinen und starrte durch Paul hindurch, in nervöser Erwartung des Erwachens der Hauptstadt. Er konnte sich genau daran erinnern, warum sie gemeinsam in diesem Zimmer gelandet waren. Da war der Preuße gewesen, mit seinem seltsamen Gesöff, und irgendwann hatten sie ein lustiges Spiel gespielt, irgendetwas mit dem Alphabet, so genau erinnerte er sich nun auch nicht mehr. Dann, und daran konnte er sich nur noch mit Abscheu erinnern, war er mit Paul gemeinsam in diesem Raum gewesen, und er fühlte noch die warmen Fingerspitzen auf seiner Haut.

Ein wenig zitterte er bei dem Gedanken daran.
 

Bevor Paul aufwachen konnte, trat Gilbert ohne anzuklopfen ein und musterte die beiden Anwesenden einen Moment lang. Mit hastigen Schritten rannte er erst zu Paul auf dem Boden und schob diesem eine Tablette in den Mund, dann wandte er sich zu Lukas, der ihn mit brennendem, roten Gesicht anblickte, aber nicht zurückwich, als der Preuße sich ihm näherte und ebenfalls eine Tablette anbot.
 

Gilbert erhob die Stimme. „Wenn ihr...“
 

-
 

Das Wasser war eisig kalt. Bremen war noch immer wach. Er hatte die Nacht durchgemacht, und nun lag er in einer Badewanne, inmitten von kaltem Wasser, in den Armen Albrechts. War eigentlich gar nicht so schlecht. Das Beck's ließ seine Adern pulsieren, und die leeren Flaschen im Badewasser waren auch nicht so schlimm, wie man es sich vorstellte.

Er sah auf. Brandenburg war schon vor Stunden eingeschlafen, aber er hielt ihn trotzdem sicher in seinen Armen. Roland kuschelte sich etwas enger in diese Hände, die ihn an eine Mutter erinnerten, die er nie gehabt hatte. Seine eigenen Finger schlangen sich um die Finger des anderen, und Albrecht wachte auf.
 

„Was zum...“, murmelte er schläfrig. Roland hielt die Augen fest geschlossen und hielt die Hände fest um Albrecht umklammert.

„Bremen?!“, fragte Albrecht schockiert. Roland nickte kaum merkbar.

„Warum--“, fügte er an. Roland konnte ihn nicht ansehen.
 

Ihre Klamotten hatten sich mit Wasser vollgesogen, und fiel beiden schwer, aufzustehen, aber Albrecht nieste, und Roland sah ein, dass es Zeit war, aufzustehen. Bei ihm war der Effekt des Drinks von Gilbert noch nicht vollständig abgeklungen, vielleicht, weil er so viel kleiner war als Albrecht. Mit nassen, glitschigen Händen kletterte er aus der Wanne hinaus und fiel auf den Fließenboden, wobei er sich den Kopf schmerzhaft anschlug.

„Brandenburg, das tut weh!!“, beschwerte er sich bei dem anderen Bundesland. Albrecht schluckte. Der Satz klang falsch.

Er kletterte aus der Wanne und suchte mit durchweichten Fingern inklusive eingeschrumpelten Fingerkuppen ein Handtuch, das er geschwind um Bremens Kopf wickelte.

„Besser?“, fragte er und nieste erneut. Bremen nickte.
 

Etwas im Blick des anderen sagte Albrecht, dass dieser ihm erneut um den Hals fallen wollte, aber zu seinem Glück klopfte es an der Tür, und ohne nachzudenken, rannte er zur Tür, um sie zu öffnen und einen fröhlich grinsenden Gilbert zu erblicken. Albrecht öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, hatte ihm der andere schon eine kleine, weiße Pille in den Rachen geschmissen.
 

„Wenn ihr das...“, setzte er an.
 

-
 

Ihre Hand war verschwitzt, aber sie klammerte sich mit aller Macht an Heins dünnen Fingern fest. Sie wusste nicht, warum sie draußen auf dem Fensterbrett im fünften Stock geschlafen hatte, und sie wusste nicht, warum Hein neben ihr geschlafen hatte, aber nun war sie aufgewacht, und nun hing Hamburg an Bremerhavens Hand, und wenn der Griff sich lockern würde, dann würde sie hinunterfallen, und sie wusste jetzt schon, dass dies schmerzen würde. Außerdem trug sie aus einem Grund, der ihr nicht bekannt war, ihr Holzbein nicht mehr, und auch sonst nur sehr spärliche Kleidung.

Hein versuchte, sie nicht anzusehen, während er sie festhielt.
 

„Warum habe ich dich geküsst, Jette?“, fragte er mit seiner leisen Stimme. Sie sah ihn irritiert an. Achja. Da war ja was gewesen. Vor ihren Augen blitzte ein Bild auf, von Hein, der sie auf den Boden drückte und ihr in die Augen sah, und sie wusste wieder, warum sie ihre Kleidung verloren hatte.

„Ich weiß es nicht.“, erwiderte sie, denn warum sollte sie auch nur den Hauch einer Ahnung davon haben, wieso Hein plötzlich solch verwirrende Aktionen tätigte? Noch weniger Ahnung hatte sie davon, warum sie ihn hatte gewähren lassen. Wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte, das war jedoch gut möglich, war sie, nachdem er sie ausgezogen hatte, auf das Fensterbrett geklettert, und nun, ein paar Stunden später, hing sie ihr, mit zappelnden Beinen und einem Fuß, der keinen Halt fand.
 

Hein hörte, wie Gilbert eintrat, aber er konnte sich nicht umsehen, um ihn zu begrüßen, er musste sich darauf konzentrieren, die starke Frau festzuhalten, deren Leben am seidenen Faden hing – oder alternativ an seiner Hand. Gilbert stellte sich neben ihn und betrachtete die Szene interessiert, aber bevor er half, teilte er den beiden noch mit, wieso er gekommen war.
 

„Wenn ihr das nehmt, ...“
 

-
 

Dreckig. Er war von Kopf bis Fuß verdreckt. Karol sah an sich hinunter, und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Er stand draußen im Garten, hielt die Schaufel von Hans und lehnte hockend an einem Baumstamm. Außerdem fröstelte er: Schnee lag überall um ihn herum, die kalte Luft fühlte sich so schneidend an wie Messerscheiden, und er trug keine angemessene Kleidung. Eigentlich trug er gar keine Kleidung, wie er nüchtern feststellte. Eigentlich lag ein Paar nackter Füße auf seinem Schoß. Zumindest eine Unterhose trug er.

Glück gehabt.
 

Karol wandte den Kopf, bis er den Besitzer der Füße erspähte, und entgegen seinen Erwartungen gehörten sie zu Mecklenburg-Vorpommern. Fritz war nicht im Geringsten entblößt, und er war auch nicht dreckig; er lag friedlich schlummernd da, schien nicht einmal zu zittern oder zu frieren.
 

Ein wenig beneidete Karol ihn. Hauptsächlich um die Kleidung.
 

„Fritz?“ Er rüttelte an dem Bein. Trotz der warmen Hose konnte er spüren, dass die Haut darunter kalt war.

„Fritz?“, wiederholte er und war seltsam erleichtert, als das andere Bundesland erwachte. Zwar sehr langsam, mühselig gähnend und ohne sich die ersten paar Minuten zu bewegen, aber er erwachte.
 

„Hm?“, hörte Karol die leise, unauffällige Stimme.

„Würdest du mir behilflich sein, bitte?“, fragte der Hesse.
 

Fritz schien angestrengt nachzudenken, wie er das erreichen konnte. Dann stand er auf. Karol konnte seine Füße kaum mehr spüren, und je mehr Zeit verstrich, desto kälter wurde ihm, desto mehr litt er. Auch er richtete sich auf, auf temporal sehr unsicheren, da erfrierenden Beinen. Sobald er stand, fand er sich in einer Umarmung durch Mecklenburg-Vorpommern wieder, protestierte schwach, konnte diese Aktion aber nicht lange kritisieren, weil die Körperwärme des anderen sich lebensnotwendig anfühlte.
 

Noch bevor er sich an das behagliche Gefühl gewöhnen konnte, kam aus der Richtung des Hauses ein sichtlich verstörter Gilbert hergerannt, schmiss Karol zwei kleine Tabletten zu und verschwand sofort wieder. Über seine Schulter rief er den beiden noch etwas zu.

„Wenn ihr das nehmt, werdet...“
 

-
 

Seine Schaufel fehlte, bemerkte Hans mit verschlafenem, benebelten Geist. Er hatte gestern Nacht – er würde nicht „zu viel“ sagen, denn „zu viel“ gab es nicht, aber doch sehr viel – Alkohol gehabt. Nicht, dass ihm das irgendetwas ausmachte; normale Menschen oder Länder hätten an seiner Stelle wohl einen Mordskater gehabt, er war völlig unbeeindruckt von dem Nervengift, das durch seine Blutbahn raste.

Zurück zum Thema. Seine Schaufel fehlte. Stattdessen lag da irgendsoein komischer Typ in seinen Arm. Wo lag er überhaupt? Hä? Ah, achso, im Keller, in einer Grube, die er gebuddelt hatte. Dem Dreck unter seinen Fingernägeln nach zu schließen mit seinen eigenen Händen. Mal wieder eine klasse Aktion, Hans, sagte er sich selbst. Dann betrachtete er den braunen Haarschopf, der in seiner Armbeuge lag.

Unter sich spürte er Würmer den Boden umgraben. Brave Würmer. Ein kleiner frecher Wurm schlängelte sich seinen Unterschenkel hinauf, hatte seinen Weg hineingefunden in seine Jogginghose und kitzelte ihn nun, sodass Hans laut auflachte, sich schüttelte und den anderen Mann dadurch aufweckte.
 

Niedersachsen sah ihn mit einem Blick an, der nichts davon verriet, dass er bis eben noch geschlafen hatte.

„Hans?“, fragte er erst unsicher, aber bevor der noch immer grinsende Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit hatte, zu antworten, sprach er schon weiter. „Was soll das?“ Sein Blick war misstrauisch. Hans schien amüsiert zu sein und die Situation nicht mit dem gebührenden Ernst anzugehen.
 

Dabei war Ernst doch so angemessen. Georg lag hier halbnackt auf einem ebenso halbnacktem Hans, dem auch noch der Gürtel fehlte. Nicht, dass das eine ungewohnte Situation war, aber normalerweise war einer der beiden immer verschwunden, bevor man erwachte.

Hans sah ihn an, und er meinte, zu erkennen, wie er ihn anflehte, die Situation nicht zu verkomplizieren. Nein, Hans mochte es nicht, wenn Dinge allzu kompliziert wurden.
 

Georg wurde ein wenig wütend – er mochte komplizierte Dinge! Er verstand sie meistens nicht, aber er mochte sie! – stand dann aber auf und strich seine Hose wieder ordentlich hin. Gerade öffnete er den Mund, da stolperte Gilbert die Kellertreppen hinunter. Eine kleine Spinne huschte über den Boden und stellte sich dem Preußen in den Weg, aber er zertrat sie ignorant, ehe er Georg und Hans jeweils eine kleine Pille in die Hand dückte.

Er wirkte ein wenig außer Atem, als er sprach.

„Wenn ihr das nehmt, werdet ihr...“
 

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Nicole und Villeroy versteckten sich unter dem Bett. Auf dem Bett lag Loreley, und ihre Hand hing hinunter, und Nicole war sich sicher, dass sie tot war. Sie hielt den Löwen fest an sich gedrückt und machte sich so klein, wie sie nur konnte, obwohl kein Mensch, der auch nur einen Zentimeter größer war als sie, sich unter dieses Bett hätte quetschen können.
 

Sie wusste nicht, wie sie hier hergekommen war. Sie wusste nichts mehr, absolut nichts mehr. Das warme Fell ihres Tierchens beruhigte sie ein wenig, bis sich die Zimmertür knarzend öffnete.
 

„Hallo?“, erschall Gilberts Stimme. Nicole war erleichtert. Da war jemand am Leben!! Sie kroch unter ihrem Versteck heraus, rannte auf Gilbert zu und versteckte sich hinter seinen Beinen, ohne sich umzusehen.

„Sie ist tooooot!!“, teilte sie ihm eindeutig traumatisiert mit.

Gilbert war irritiert.
 

Das friedlich schlafende Mädchen auf dem Bett war bestimmt nicht tot. Er kniete sich neben die „Leiche“ und schob ihr eine Pille in den offenen Mund. Ein leises Schnarchen war zu hören, dann drehte sich Rheinland-Pfalz um.
 

Auch Nicole wurde eine Pille überreicht.

„Keine Sorge, du Feigling. Sie ist noch am Leben.“ Wie zur Unterstützung seiner Worte drehte sich Loreley geräuschvoll um.
 

„Und was ist das für ein Teil?“ Misstrauisch sah Nicole die seltsame Pille an. Gilbert hielt sie ihr auf seiner ausgestreckten flachen Hand hin.

„Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die...“
 

-
 

Sachsen hing an einem Kronleuchter. Es schaute nach unten. Die Decke war wirklich sehr hoch. Es erinnerte sich genau daran, wie es hierhergekommen war. Da war Margarethe gewesen. Und ihr Besen. Irgendwie waren sie gemeinsam auf dem Besen gelandet. Dann waren sie umhergeflogen. Dann waren sie hier oben gelandet.

Sachsen erinnerte sich, dass Margarethe genau untersucht hatte, welches Geschlecht man besaß. Es schauderte und sah wieder nach unten.

Dort unten lag Margarethe, mit freigelegten Brüsten, auf dem Bett und sah aus starren Augen nach oben. Die Blicke der beiden trafen sich.
 

Margarethe wandte sich ab.

„Vergiss' die Nacht.“, befahl sie ihrem Namensvetter.

Sachsen sah sie stoisch an.

„Leochen wird nie davon erfahren.“

Sachsen zuckte mit den Schultern, so gut das eben möglich war, wenn man an einem Kronleuchter hing und sich nur mit purer Willenskraft davor schützte, hinunterzufallen.
 

Gilbert trat ein, sah Margarethe und wurde automatisch ein wenig sanfter. Nicht so viel, dass man eine Änderung seines Verhaltens bemerken würde – aber der Blick aus seinen Augen war nicht ganz so überheblich wie bei den meisten anderen Menschen.

Dementsprechend hatte er keinen Blick übrig für Sachsen oben am Kronleuchter, sondern drückte Margarethe zwei kleine Tabletten in die Hand.

„Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die letzte...“
 

-
 

Der Bär lag fest in ihren Armen. Das Problem war nur, dass sie keine Ahnung hatte, wem dieser Bär gehörte. Irgendwo hatte sie ihn schon einmal gesehen, er erinnerte sie dunkel an etwas, das weit in der Vergangenheit zurücklag. Gedankenversunken starrte sie ihn eine Weile lang an. Neben ihr saß Leopold. Auch er starrte seinen Teddybär an. Das schwarze Fell unter den hellen Fingern der norddeutschen Frau – Anna hieß sie, glaubte er sich zu erinnern – schien zu vibrieren. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein: er war nervös wie eine Maus, die weiß, dass hinter der nächsten Tür eine hungrige Katze auf sie lauert.

In dem Fall war Margarethe die Katze. Was, wenn sie erfahren sollte, dass er in diesem Raum mit dieser Frau … so viel … getan hatte? Er hätte sein Leben verwirkt.
 

Anna wandte den Blick zu ihm.

„Anhalt!“

Sie erkannte ihn. Na, immerhin vergaß sie ihn nicht sofort. Das war nichts Schlechtes, oder? Leopold war, was One Night Stands anging, völlig unerfahren. Vor und nach Gretchen hatte er niemanden geliebt. Und jetzt das. Er wünschte nur, er könnte die letzte Nacht vergessen. Er wollte sich nie wieder an die weiche Haut unter seinen Fingern erinnern, so anders als die vertraute Haut, der leichte Geruch nach Meerwasser, der von ihr ausging und ihr diesen exotischen Charme verlieh.
 

Noch bevor Leopold sich einen effektiven Plan ausdenken konnte, die Katze zu befrieden (wenn er einen Plan gemacht hätte, dann hätte dieser viel Streicheln und Leckerlis beinhaltet), öffnete Gilbert die Zimmertür, trat ein und schmiss den beiden zwei Pillen vor die Füßen.
 

Er konnte nur eine einzige Erklärung anbieten.

„Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die letzte Nacht...“
 

-
 

Sie hatten Strippoker gespielt.

Wer war auf die Idee gekommen? Er sicherlich nicht. In Bernds Ohren schallten immer noch die hellen Töne von Ottos Stimme nach. Wie er das Spiel vorgeschlagen hatte. Wie sie danach nackt Flaschendrehen gespielt hatten, wie vierzehnjährige Schulmädchen. Sogar sich selbst hörte er noch sprechen: „Was tun Sie da, junger Mann?“ Aber all das hatte nichts genützt.
 

Sie hatten geknutscht.

Er hatte Schleswig-Holstein geknutscht.
 

Allein der Gedanke daran ließ sein Blatt in Flammen aufgehen. Nun stand er in der Küche und machte sich ein Frühstücksbrötchen. Auch für Otto schmierte er ein Brötchen. Mit Honig. Das Nordlicht saß auf einem Stuhl und sah ihm wachsam zu.
 

„Du hast einen schönen Po, Bernd!“, rief er fröhlich aus. Bernd sah ihn nicht an. Das Blatt auf seinem Kopf loderte greller und heißer, und er schnitt sich beinahe in die Hand, bei dem Versuch, das Brötchen in zwei gleichmäßig großte Teile zu teilen. Er strich Leberwurst auf die eine Hälfte und belegte die andere mit gekochtem Schinken. Mit den zwei Brötchen auf einem Teller setzte er sich neben Otto.
 

Sie schwiegen. Von draußen drang Sonnenlicht in den Raum. Irgendwo im zweiten Stockwerk erwachte Ludwig und wusste noch nicht, welch ein Chaos das Getränk verursacht hatte, das Gilbert so bereitwillig angeboten hatte – und er wusste auch nicht, dass Gilbert im Begriff war, jede Erinnerung daran auszulöschen.
 

Der Preuße trat ein. Die beiden waren die letzten, die er gesucht hatte, die beiden letzten, die noch nicht vergessen hatten.
 

Er legte je eine Pille auf ein Brötchen. Otto sah ihn misstrauisch an, Bernd noch misstrauischer.
 

„Wenn ihr das nehmt, werdet ihr die letzte Nacht vergessen.“
 

Bernd nickte und biss bereitwillig in das Brötchen, auf dem die Tablette lag. Aber Otto sah Gilbert nur weiter misstrauisch an, sogar mit etwas Traurigkeit im Blick.

„Aber ich will das nicht vergessen!“

Gilbert zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht. Aber jeder andere hat es bereits vergessen.“
 

Bernd schluckte. Einen Moment später griff er sich an den Hals, als würde er ersticken, und kullerte vom Stuhl hinunter. Geschockt eilte Otto an seine Seite und schüttelte ihn sacht, während er zärtlich seinen Namen rief, immer und immer wieder.

Nach genau sechsundzwanzig Sekunden wachte Bernd wieder auf und wich zurück. Er sah sich verwirrt um, entdeckte Gilbert und Otto, und rannte weg, ohne sein Frühstück aufgegessen zu haben.

Otto sah ihm enttäuscht nach, ehe Gilbert ihm fast väterlich eine Hand auf die Schulter legte und laut loslachte.
 

Die Sonne stand noch lange nicht in ihrem Zenit, als Gilbert wieder zurück in das Zimmer schlüpfte, das er mit seinem Bruder teilte, und sich gähnend unter die warme Bettdecke legte. Kurz betrachtete er Ludwig. Der hatte mal wieder gar keine Ahnung, was eigentlich abging!!

Und das sollte besser so bleiben, sonst würde er ihm nie wieder so ein Vertrauen schenken.
 

Gilbert schlang die Decke eng um sich und genoss noch ein kurzes Nickerchen, ehe der Alltag begann, ehe sich alle wieder wie üblich streiten würden. Ludwig würde Gilbert vorwerfen, dass sein kleiner Zaubertrank nicht gewirkt hätte, Gilbert würde ihn nur auslachen, und dann würden sie alle gemeinsam Rodeln gehen, und es würde einige ernsthafte Verletzungen geben, aber alles würde ganz normal bleiben.

Ganz normal.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  moi_seize_ans
2011-06-13T16:46:03+00:00 13.06.2011 18:46
Oh man.....

das sind aber auch Kombinationen, die sich da irgendwie zusammen gefunden haben... verdammt sei unser ABC..
Wobei ich gestehen muss, dass ich Sachsen und Margarethe wahnsinnig witzig fand... die Vorstellung mit dem Kronleuchter ist einfach zu herrlich... am erschreckensten wird wohl immer noch Jette und Hein sein... oh man... da würde ich Gilbo auch gerne um eine kleine neutralisierende Pille bitten...

aber mal hand aufs herz, das war ein verdammt witziges, sehr geiles, ja regelrecht übergeiles Kapitel. Das ich natürlich wieder viel zu spät und vor allem viel viel viel zu spät kommentiert habe.
Ach... du bist einfach eine Göttin im FF schreiben. <3
Von:  Mitsune
2011-04-23T00:07:16+00:00 23.04.2011 02:07
Ich würde Schlussfolgern, das in dem Alkohol Alkohol war ;D
Nee, im Ernst, awesome shit und so!
Ich weiß, ich kommentiere immer viel zu wenig, aber ich will mal gesagt haben, dass ich deinen Schreibstyl wirklich total awesome finde, und das echt immer für nen Lacher gut ist.

Komm, schreib mal ein Buch >D
Forget about Stephenie Meyer, Phillia is on the island!
Von:  pokingmadness
2011-04-13T12:05:47+00:00 13.04.2011 14:05
Wieso kommentiert niemand? Ts.

Ich finds jedenfalls.... hm!! Ja, genau, was wollte ich sagen? Ach so, ja, verstörend, es ist sehr verstörend. Mentale Bilder die ich wohl nie wieder loswerde. Vielen Dank dafür! :D
Ich hab aber auch wie blöd gelacht, oh Mann, was bewahrt Grete da in ihren Schränken auf?? Und wiesoooo hat Gilbos Handeln IMMER so ne Konsequenzen? xD

Jedenfalls: Ganz große Klasse. Da muss man sich auch erstmal zu überwinden, so etwas zu schreiben. Und du hast das mit Bravour geschafft. Und einem außergewöhnlich schönen Schreibstil, habe ich dir schon mal davon erzählt, dass ich deinen Schreibstil mag? Ich mag deinen Schreibstil.


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