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Schreibübungen & Co.

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#25: Wortassoziation - Die Gegenstimme

Ein bisschen aufgeregt war Janine inzwischen schon. Fast schon so aufgeregt, dass „ein bisschen“ nicht mehr ausreichte, um das Ausmaß ihrer Aufregung zu beschreiben. Aber nur fast.

Sie warf einen schnellen Blick hinüber zu Marc. Er war völlig entspannt, daran ließen sein breites Grinsen und seine lockere Haltung keinen Zweifel. War er sich der Bedeutung des Momentes gar nicht bewusst? Immerhin liefen gerade die Abstimmungen für das Amt des Schülersprechers, beziehungsweise der Schülersprecherin. Und er war einer der zur Auswahl stehenden Kandidaten. Auch Lukas, neben Marc und Janine der dritte dieser Kandidaten, schien sich nicht allzu viele Gedanken zu machen. Vielltieicht war es kein Wunder: Die beiden waren beliebt in der Schülervertretung, und die Mitglieder derselben waren es immerhin, die heute über das höchste Schüleramt entschieden.

Nun trat Janines Freundin Lara als letzte hinter dem Betttuch hervor, das aufgehängt worden war, um wenigstens den Anschein einer Wahlkabine zu erzeugen. Sie grinste der Kandidatin aufmunternd zu. Immerhin eine Stimme, die ihr sicher war.

Herr Schröder, der als unparteiischer Lehrer der Wahl beisaß, schüttelte die Wahlzettel aus der Schuhkarton-Urne, auf einen Tisch und begann, die Stimmen auszuzählen und auf einem Blatt zu notieren.

Schließlich legte er den letzten Zettel beiseite und hob mit feierlicher Miene den Blick. Er ließ ihn über die versammelten Mitglieder schweifen und blieb schließlich bei Janine hängen. Er lächelte herzlich. „Alles Gute, Janine. Ab heute bist du offiziell Schülersprecherin der Max-Born-Schule. Und das mit einer überwältigenden Mehrheit, es gab nur eine Gegenstimme.“

Janine konnte nicht anders, als zu grinsen, als alle Köpfe sich zu ihr drehten. „Vielen Dank!“, sagte sie. „Damit hätte ich nicht gerechnet!“

Während die anderen nach und nach aufstanden, um ihr zu gratulieren, verdeutlichte sie sich selbst noch einmal, was dieses Wahlergebnis bedeutete. Obwohl Marc und Lukas so beliebt waren, waren alle bis auf eine einzige Person der Meinung, sie könnte der Interessen der Schülerschaft besser vertreten als die beiden. Nur ein einziger Schüler von den zwanzig, die hier versammelt waren, traute ihr diese große Aufgabe nicht zu. Nur ein einziger!

Auf einmal kam in ihr die Frage auf: Wer war das? Wer war es, der nicht daran glaubte, dass sie dieser Aufgabe gewachsen war? Eigentlich war ihr klar, dass diese Frage undankbar war, dass sie vor der Verkündigung des Ergebnis nicht einmal mit der Hälfte der Stimmen gerechnet hatte und dass es auf keinen Fall etwas bedeuten musste, dass einer dieser Leute hier vielleicht einen der beiden anderen als ein wenig geeigneter empfunden hatte. Dennoch beschäftigte es sie.

Sie hatte zwei Konkurrenten gehabt, also musste zumindest einer von ihnen ebenfalls für sie gestimmt haben, auch wenn es in einer geheimen Wahl keinesfalls eine Schande war, seinen eigenen Namen aufzuschreiben. Sie hätte das auch von beiden ohne nachzudenken erwartet, doch wenn einer es nicht getan hatte, war Janine sich fast sicher, dass es beim anderen ebenso war. Und die anderen? Mit einigen war Janine besser befreundet, mit einigen weniger. Einige waren manchmal nicht so begeistert von den Vorschlägen, die sie in der Schülervertretung machte, doch da sie in solchen Fällen ihre Konzepte mit den Ideen der anderen überarbeitete, hatte dies noch nie zu einer wirklichen Meinungsverschiedenheit oder gar einem Streit geführt. Wer konnte also diese eine einzige Gegenstimme abgegeben haben?
 

Die Frage ließ Janine keine Ruhe. In der Nacht träumte sie davon, von einem Mann mit schwarzer Maske verfolgt zu werden, der sie töten wollte, damit sie als Schülersprecherin kein Unheil anrichtete. An diesem Morgen wachte sie schweißgebadet und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch auf. Ob die Gegenstimme wirklich dieser Natur gewesen war? Also nicht nur eine Nicht-Dafür-Stimme, sondern eine richtige, überzeugte Dagegen-Stimme? Was, wenn diese Person eine Eigenschaft an ihr bemerkt hatte, die eine Schülersprecherin nicht haben sollte, vielleicht dass sie manchmal viel lieber shoppen ging als ihren Pflichten nachzugehen? Die anderen würden es auch herausfinden und schon bald würden sie alle bereuen, sie gewählt zu haben. Würden sie es ihr wohl wenigstens offen sagen? Oder würden sie versuchen, sie durch irgendwelche hinterhältigen Aktionen dazu zu bringen, das Amt selbst aufzugeben?

Eine ganze Woche lang quälte Janine sich mit diesen Fragen. Manchmal war sie sich absolut sicher, dass die meisten wirklich zu ihr standen und es auch weiterhin tun würden und dass diese Gegenstimme eigentlich gar nichts zu bedeuten hatte, aber dann kamen doch immer wieder die Zweifel in ihr auf.

Schließlich stand sie dann vor der versammelten Schülervertretung und eröffnete die Sitzung: ihre erste offizielle Amtshandlung. Während sie sprach, war sie unsicherer als sonst, kam mit den Wörtern durcheinander und brachte manches überhaupt nicht so heraus, dass jemand sie verstand. Sie sah ein wenig Erstaunen in den Augen ihrer Zuhörer und meinte, hier und da auch Unzufriedenheit zu erkennen. Zuerst war es nur einer gewesen, der durch seine Gegenstimme seinen Unmut ausgedrückt hatte, doch ihre Gegner mehrten sich schneller als sie gedacht hatte.
 

„Was ist los?“, fragte Lara ihre Freundin besorgt, als die Versammlung vorüber war. „Geht's dir nicht gut?“

Janine stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich weiß es auch nicht. Vielleicht haben die anderen mich auch einfach überschätzt und ich bin eigentlich gar nicht geeignet als Schülersprecherin.“

Lara sah sie empört an: „Was soll das denn? So ein engagiertes, überzeugendes und redegewandtes Mitglied wie dich hat die Schülervertretung lange nicht gesehen. Wenn du keine gute Schülersprecherin bist, dann ist es keiner. Vielleicht war das ja einfach die Aufregung, immerhin war das ja die erste Sitzung, die du alleine geleitet hast.“

Einen Moment lang musterte Janine ihre Freundin skeptisch, doch dann musste sie lächeln. Vielleicht waren es ja wirklich alles nur Hirngespinste.
 

Eine Weile war alles gut und Janine dachte fast nicht mehr an ihre Befürchtungen. Sie warf sich in die Arbeit und tat alles, was sie nur konnte, um den Anforderungen an ihr Amt gerecht zu werden. Doch dann stand bald die zweite Sitzung bevor und auf einmal war die Angst zurück. In der Nacht vor dem entscheidenden Tag tat die Schülersprecherin kein Auge zu. Sie war sich sicher, dass sie wieder alles durcheinander bringen würde, dass sie niemanden von ihrem Plan, einen Teil des Schulhofs als Bolzplatz für die Kleinen abzugrenzen, würde begeistern können. Wahrscheinlich würde es ihre letzte Sitzung werden, denn sie wusste, dass einige der Schülervertreter ziemlich schnell ungeduldig wurden. Sie würden ihren Putsch so schnell wie möglich in die Tat umsetzen.

Am Morgen, noch vor Beginn der ersten Stunde, klopfte Janine an die Tür des Lehrerzimmers. Sie ließ Herrn Schröder rufen, den Lehrer, der auch bei der Wahl zugegen gewesen war. Dieser war überrascht, als sie ihn bat, ihn unter vier Augen sprechen zu dürfen, doch er folgte ihr in den SV-Raum.

„Ich möchte als Schülersprecherin zurücktreten“, sagte sie ohne Umschweife, aber ohne dem Lehrer mittleren Alters dabei in die Augen sehen zu können.

Er war einen Moment still, doch dann fragte er: „Wie kommst du denn zu diesem absurden Wunsch?“

„Ich fühle mich von den anderen nicht akzeptiert. Ich glaube, ich bin für diesen Posten nicht geeignet.“ Erst jetzt, als sie es laut aussprach, wurde ihr bewusst, wie seltsam dies für ihn klingen musste.

„Wie kommst du darauf? Du wurdest fast einstimmig gewählt und das will schon was heißen, immerhin waren deine Gegner auch nicht gerade Idioten. Auch ich halte dich für mehr als geeignet für diese Position. Du bist da genau in deinem Element.“

Obwohl Janine ihn nicht anschaute, war sie sich sicher, dass er sie gerade freundlich und gleichzeitig verständnislos anschaute. Er war der Typ, der niemals die schlechten, sondern immer nur die guten Eigenschaften anderer hervorhob. Außerdem war er bei der letzten Sitzung nicht dabei gewesen, er konnte es gar nicht beurteilen...

„Es gab eine Gegenstimme“, sagte Janine, noch leiser als zuvor. Sie wusste, dass es töricht klang, aber andererseits konnte sie diesen Mann auch mit nichts anderem als der Wahrheit abspeisen.

„Ja, eine unter zwanzig“, sagte Herr Schröder verblüfft. „Und das beschäftigt dich so sehr? Meinst du nicht, dass vielleicht Marc oder Lukas sich selbst gewählt hat, ohne groß darüber nachzudenken? Oder dass jemand -“

Ja, das kann ja alles sein“, unterbrach Janine ihn ein wenig gereizt. „Aber was, wenn es nicht so ist? Ich kann nicht einfach so weitermachen wie zuvor, wenn es in der SV – und vielleicht noch bei anderen Schülern! – Leute gibt, die an mir zweifeln und die nicht daran glauben, dass das, was ich tue, dem Wohl der Schüler dient! Vielleicht haben sie ja recht und ich steuere in eine völlig falsche Richtung, und die anderen haben es nur noch nicht bemerkt!“

Der Lehrer legte ihr die Hand auf die Schulter. „Weißt du eigentlich, dass gerade all diese Befürchtungen dich zur besten Schülersprecherin der Welt machen? Du machst nicht einfach das, was dir am besten gefällt, nur weil die anderen dich gewählt haben, sondern du bist dir deiner Pflichten voll und ganz bewusst. Und du entscheidest doch nie etwas ganz alleine, es ist immer eine Entscheidung der ganzen SV und da ist auch dein angeblicher Gegner eingeschlossen. Wenn ihm etwas auf dem Herzen liegt, dann kann er es vorbringen und wird dabei sowohl bei dir als auch bei allen anderen sicherlich auf Verständnis stoßen. Meinst du nicht?“

Janine blieb stumm. Normalerweise ließ sie sich von anderen überzeugen und ließ auch von ihrer ursprünglichen Überzeugung ab, wenn ihr klar wurde, dass es bessere Möglichkeiten gab, doch in diesem Fall konnte sie das nicht.

„Ich wüsste nur gerne, wer es war...“, murmelte sie so leise, dass sie kaum noch zu hören war. Dieses Gespräch wurde ihr immer peinlicher, da sie Seiten von sich offenbarte, die keiner je zuvor bei ihr gesehen hatte. Aber trotzdem konnte sie nicht anders, als weiterzumachen.

„Wenn du das willst, dann versuchen wir, es herauszufinden.“

„Wie das?“, wollte Janine fragen, doch ihr Lehrer stand schon an der Kiste mit dem Papiermüll und zog einen Zettel nach dem anderen daraus hervor. Er zwinkerte ihr zu. „Das zerstört zwar das Wahlgeheimnis, aber ich nehme an, wenn wir es nicht tun, wird uns etwas viel Bedeutenderes genommen.“

Herr Schröder breitete die Zettelchen auf dem Tisch aus und sie begannen gemeinsam, einen nach dem anderen durchzusehen. Jeder hatte nur eine der Zahlen 1, 2 oder 3 für die Kandidaten aufgeschrieben, damit aus der Handschrift nicht zu schnell ersichtlich wurde, von wem die Wahl kam, doch wenn sie Glück hatten, hatte der einzige, der keine 2 darauf geschrieben hatte, eine besonders charakteristische Schrift.

„Hier ist er“, sagte Herr Schröder schließlich beim vorletzten Zettel. Janine nahm ihm den Zettel aus der Hand und starrte darauf. Einen Moment lang verstand sie nicht, was sie dort sah, doch als es ihren Kopf erreicht hatte, begann sie auf einmal zu lachen – mit einem Mal befreit von allem Druck der letzten Wochen.

„Was ist so lustig?“, fragte der verwirrte Lehrer.

„Das ist Lukas' Zettel“, erklärte Janine und wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Er schreibt immer so schlampig, darum könnte man das hier für eine Eins halten, aber ich weiß, dass er Einsen immer als einen senkrechten Strich ohne Häkchen schreibt.“

Nun begann auch Herr Schröder zu lachen. „Dann gibt es also gar keine Gegenstimme?“

Janine schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich sollte den Guten wirklich mal darauf hinweisen, was für fürchterliche Folgen so eine Sauklaue haben kann!“



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