Zwiegespräch
Zwiegespräch
„Hach, was muss dieses Fliege binden auch so verdammt kompliziert sein?“
Wild fummelte Shinichi vor dem Spiegel sitzend an dem kleinen, hellen Stück Stoff umher, das sich ebenso wild weigerte, eine ansprechende Form anzunehmen.
Sehr zum Amüsement des Betrachters, der einigermaßen schmunzelnd auf einer Couch ein paar Meter neben ihm Platz gefunden hatte und seinen Anzug unwissentlich in der Sitzfalte zerknitterte.
„Warum nimmst'de nich die rote Fliege vom Professor? Die hast'de doch quasi standardmäßig getragen die letzten Jahre.“
Die Finger des Angesprochenen ruhten augenblicklich an der kleinen Schleife, wanderten langsam nach unten, während sich sein Kopf dem Redner zu wandte. Ein böses Funkeln traf Heiji, ließ ihn augenblicklich aus seiner legeren Position kerzengerade hochfahren, so dass der Anzug wieder perfekt saß.
Eine Weile verharrten beide stumm, bis Shinichi selbst zu lachen anfing, ohne wirklich den Ernst fahren zu lassen.
„Glaubst du ernsthaft, rot passt zu diesem Anzug?“, triefte es vor Sarkasmus. Heiji musterte kurz den cremefarbenen, ja fast schon hellvioletten Satin kurz, fasste sich dann übers Gesicht.
„Schon klar...“ Er wusste, das war nicht der Grund für Shinichis Blick eben.
„Außerdem... Hattori... möchte ich diese Fliege nie wieder tragen.“ Bitterkeit hatte für den Augenblick seine Stimme übermannt. Die Bitterkeit, die er auch in seinen Augen funkeln sah. Genau die, die er erwartete. Es ging um das alte, leidliche Thema, worauf der Osakaer Detektiv im Moment keinerlei Ambitionen hatte. Also stand er gemächlich auf.
„Ich warte mal draußen auf dich, ja? Lange kannst du damit nicht mehr zubringen, sonst gibst'de eh auf.“
„Mhm... OK, bis gleich.“ Shinichi war eigentlich schon wieder auf den Spiegel fixiert, als Heiji an der Tür stehen blieb.
„Du solltest endlich nen Schlussstrich ziehen, Kudo. Es is vorbei. Er is weg... und er kommt nich wieder. Wenn de ihn schon nich einfach als Teil deiner Vergangenheit akzeptieren kannst... dann vergiss ihn! Gerade heute.“
Er schloss mit dem letzten Wort die Tür von außen. Er wusste, Shinichi hätte ihn sonst nicht gehen lassen, hätte ihn in ein unliebsames Streitgespräch verwickelt. Aber draußen angekommen, als ihn scheinbar die frische Luft erfasste, lehnte er sich kurz zurück an das Holz der Tür.
'Man, Kudo... wie kannst du nur so... verbissen sein, wenn es um dieses Thema geht?
Die Organisation ist beseitigt, alle Köpfe im Gefängnis oder in der Hölle, du bist wieder du... so hoffe ich zumindest und heute ist immerhin...
Shinichi, Conan Edogawa... ist tot!!'
Tatsächlich wollte Shinichi gerade noch Einspruch erheben und etwas zu seinem Freund erwidern, fand aber die Tür bereits verschlossen vor. Bedächtig senkte sich sein Kopf, und der Gram wich einer leichten Betrübtheit.
'Du hast ja Recht, Heiji... es ist vorbei. Und doch... hinterlässt diese Zeit zu große Narben. Ich kann ihn nicht vergessen... und will es auch nicht. Ich hasse ihn!'
Die Hände auf seinen Knien ballten sich zu Fäusten, verkrampften sich direkt, das Rot des Blutes drückte auf die Haut, bis er einmal tief durchatmete.
'Aber nicht heute.'
„Hübscher Anzug, Shinichi.“
Dasitzend erstarrte der junge Mann zur Salzsäule, für den Moment gefror um ihn alles ein. Sein Magen verkrampfte sich, sein Herz drohte kurzzeitig auszusetzen, als die Stimme in seinem Kopf zum Bild der dazugehörigen Person wurde.
„Doch, ich geb dir schon recht, rot hätte da nicht gepasst.“
Nein, es war keine Einbildung, leider keine Einbildung. Shinichis Hände, die sich gerade eben wieder entkrampft hatten, spannten sich schlagartig erneut, zitterten aber gleichzeitig. Wie in Zeitlupe wanderte sein Kopf, Zentimeter für Zentimeter, Grad für Grad, bis er wieder nach vorne blickte in den Spiegel vor ihm. Und noch langsamer öffnete er die Augen, sein eigenes Spiegelbild darin erflehend.
Aber es war nicht da. Das kleine Schränkchen vor ihm, mit all den aufgebauten Utensilien, die ihm zur äußeren Verschönerung dienten, die Möbel und Wände hinter ihm, das war alles zu erkennen im Bild und exakt seitenverkehrt, wie man es erwartete.
Nur in der Mitte seines Blickfeldes, dort wo er sich selbst erhoffte zu sehen, starrte ihn, angezogen wie er, nur ein paar Nummern kleiner maßgeschneidert, der Junge an, dessen Stimme er eben vernahm.
Conan Edogawa!
Mit ganz leicht emporgehobenen Mundwinkeln, einem schwach ironischen, aber auch für ein Kind diabolischen Lächeln, die Arme überzeugt vor dem Oberkörper verschränkt, sah er in die zittrigen Augen seines Gegenüber, deren Ausdruck mit Verstörtheit am besten beschrieben wurde.
„Hallo... Shinichi.“
Unwillkürlich fasste sich der große Detektiv mit der Hand erst über die Stirn – sie glühte nicht. Dann fuhr sie langsam über die Augen, begleitet von einem lang anhaltenden Stöhnen. Als er den Spiegel im nächsten Moment wieder sah, war das Abbild seines ehemaligen Alter Egos nicht verschwunden. Im Gegenteil.
Conan legte leicht den Kopf schief, sein Grinsen wurde ein wenig breiter.
„Hm?“
„Ich kriege Halluzinationen!“
„Nimm's hin! Du hast schlimmeres erlebt, soweit ich mich erinnern kann.“
Der beißende Sarkasmus in der Stimme des Jungen wirkte überraschenderweise wesentlich beruhigender für den erwachsenen Mann, als der Versuch, seinen Puls von selbst zu stabilisieren.
Schließlich legte er auch ein schwaches, kaum merkliches Grinsen auf.
„Hallo... Conan.“ Das Hallo wirkte lediglich entnervt, vielleicht gereizt, aber die Art, wie er den Namen förmlich zwischen den Zähnen hervor presste spiegelte eine ungeheuerliche Abscheu für die Person ihm gegenüber wieder.
Ein Spiegel der Seele, der nun von beiden Seiten gelesen wurde, und der das Lächeln von Conans Gesicht wegwischte. Sehr zur Freude Shinichis.
„Was willst du?“
„Dir vielleicht einfach nur gratulieren?“
„Danke.
War's das, dann verschwinde wieder, ich bin, wie du sicher bemerkt hast, beschäftigt.“
Natürlich war das nicht die Ursache, warum sich vom tiefsten Grund seines Unterbewusstseins diese imaginäre Gestalt löste und ihn auf geisterhafte Weise heimsuchte.
Conans Blick war von Ernsthaftigkeit nun zu tiefer Verstimmtheit gewechselt, er ließ die Verschränkung der Arme los, nicht zuletzt, weil seine Hände sich veranlasst fühlten, sich zu verkrampfen.
Oh, wie lange war dieses Gespräch eigentlich überfällig?
„Also gibt’s wohl doch noch was, ja?“ Shinichi spürte den Moment auf seiner Seite, wollte diesen nicht mehr ziehen lassen, sondern den unliebsamen Gast so schnell wie möglich aus seinem Kopf vergraulen. Aber die Antwort, die er erhielt, ließ diese Hoffnung gnadenlos zerplatzen.
„Ich will eine Entschuldigung, Shinichi Kudo!“
Die Augen gingen diesem wahrlich auf, er brauchte einen Moment, sich zu fassen, um dann laut loszulachen.
„Was? Du willst... du willst von MIR eine Entschuldigung? DU?“
Aber nun war das Momentum wieder zum Spiegelbild gewandert und Conans triumphales Lächeln besänftigte den Lachanfall des anderen.
„Ja, ICH.“ Als trotz des langsam nachlassenden Lachens Conan sich nicht rührte, wurde auch Shinichi wieder ernst.
„Wofür?“ Für einen kurzen Augenblick umhüllte Stille den kleinen Ort der Darstellung, den eigentlich nur ein Protagonist bewohnte. Er merkte nichtmal, dass er Conans Sätze entweder wirklich nur in Gedanken hörte, oder, wie meistens, selbst sprach...
Und das bedeutete, er kannte die Antworten auf seine eigenen Fragen eigentlich.
„Dafür... dass du mich aus deinen Gedanken ausschließt, dass du mir nur Kälte entgegenbringst... um es mal diplomatisch zu formulieren. Ich könnte auch sagen, dafür, dass du mich hasst. Und zwar nicht für meine Fehler... sondern für deine.“
„Das ist nicht wahr!“ Deutlich lauter wurde Shinichi nun, bestimmter. Er war jetzt mitten in diesem Gespräch gefangen und es würde bis zum Ende geführt werden.
„Du hast mein Leben ruiniert, Conan Edogawa! Du hast mich dazu gebracht, alles, was mir wichtig war, zu verraten, zu hintergehen, alle, die mir etwas bedeuteten zu belügen!
Ich habe Fehler gemacht, ja, aber du... du bist einfach in meinem Leben aufgetaucht und hast es ohne mich zu fragen zunichte gemacht. Deinetwegen musste Ran so viel leiden. Ich habe ein Recht darauf...“ Er zögerte kurz, wählte seine Worte mit Bedacht.
„Ein Recht darauf, zu hassen, wozu du mich gezwungen hast. Du hast meine Existenz verleugnet, sie selbst eigentlich ausradiert und ich musste hilflos daneben stehen und zusehen. Das war... grausam.“
Er wartete eine Weile, was er sich selbst diesbezüglich wohl zu sagen hätte, beziehungsweise Conan, aber dieser zögerte auch unheimlich lange.
„Doch, ja... du hast Fehler gemacht. Fehler... die mich erst schufen.“
„Nein!“
„Wer musste damals unbedingt den bösen Jungs hinterher, auf Gedeih und Verderb, weil er sich überlegen glaubte?“
„Ich glaubte mich nicht überlegen, Gin war einfach zu gut damals und das habe ich nicht...“
„Nicht erwartet, genau. Genau das nennt man Überheblichkeit, nicht zu erwarten, dass jemand besser ist, obwohl es durchaus möglich wäre.“
Er grinste amüsiert das wütende Funkeln in Shinichis Augen an.
„Du willst es vielleicht nicht wahr haben, aber eigentlich warst du damals genau wie Omkel Kogoro. Vollkommen überzeugt, was deine Fähigkeiten angeht, so überzeugt, dass du nicht damit gerechnet hast, dass irgendwer dir mal wirklich gefährlich werden könnte.
Ihn befähigte das, immer wieder, erst recht, nachdem er zum... Meisterdetektiv wurde, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Und letztlich war dein Gedanke, du wärst in deinem Versteck damals sicher gewesen, auch nichts anderes. Eine... falsche Schlussfolgerung, die mich erschaffen hat.“
„Ich hab dich ganz sicher nicht gewollt!“ Ein wütender Schlag auf den kleinen Tisch vor sich, machte ihm Luft.
„Verdammt, ich weiß, ich hätte aufpassen sollen, ja. Ich weiß, ich hätte lieber Ran nach Hause bringen sollen, ja. Nun zufrieden? Ich habe für den Fehler gebüßt, durch dich, das gibt dir noch lange nicht das Recht, dafür Verständnis für dich zu verlangen. Du... du warst doch dabei... nichts weiter als ein Zufallsprodukt, ein unfreiwilliges, von allen Seiten!“
Conans Augen verengten sich bei diesem Satz zunehmend, dennoch ließ er Shinichi zu Ende reden, ihn danach auch ausatmen, und antwortete, ganz im Gegensatz zu seiner Empfindung, ruhig, leise sogar.
„Wäre dir lieber, du wärst damals gestorben?“
Shinichi zuckte erschrocken zurück, während sich Conan im Spiegel vorbeugte, vor ihm größer zu werden schien.
„Wäre... es dir lieber, wenn Ran noch am selben Abend erfahren hätte, dass Shinichi Kudo tot war, anstatt sich zu sorgen, und nur ab und an seine Stimme am Telefon genießen zu können?“
„Hör auf.“, flüsterte ihm sein Gegenüber zu, steif auf seinem Platz sitzend.
„Lieber, sie hätte vielleicht mit der Polizei versucht, die Gangster alleine zu finden...“
„Hör auf!“
„Du kennst sie doch, dank meiner Tarnung mittlerweile sogar noch viel besser. Sie hätte es getan, nachdem ihre Tränen versiegt wären, weil sie keine mehr hätte.“
„Hör auf!!“
„Und sie wäre bei dem Versuch sehr wahrscheinlich umgekommen.“
„HÖR AUF!“ Nun schrie er, aber Conan ignorierte es.
„Genau wie Shiho, die dann auch gestorben wäre, hoffnungslos in ihrem Keller Selbstmord begangen hätte.“
„Halt endlich die Klappe!“
„Oder deine Eltern, besonders dein Vater, der sicher auch nach der Organisation gefahndet hätte.“
„Verdammt, sei endlich still! Ja, ja, natürlich bin ich froh, es überlebt zu haben, ich danke für die zweite Chance in meinem Leben, die ich auch nutzen konnte, aber ich danke dabei ganz sicher nicht DIR!
Vielleicht einer höheren Macht, vielleicht auch einfach purem Glück, dass ich in diesem Moment vielleicht nicht verdient gehabt hatte, dem Schicksal, oder Gott im Himmel, so es ihn denn geben sollte.
ABER, ganz sicher, ganz sicher, hast du, du allein damit nichts zu tun. Gar nichts. Du bist nur die Konsequenz gewesen. Ich hatte keine Wahl, die hast du mir ja genommen.“
„Ach und deswegen darf ich also nicht leben?“ Nun schrie auch Conan.
„Ja, auch ich bin eine Existenz, zu Ihrer Göttlichkeit von Kudo Gnaden. Ich tauchte auf, als du dein Leben weggeschmissen hattest, musste alle deine Fehler ausbügeln, so gut es ging dich vertreten und falls es dir nicht klar sein sollte, ich bin auch ein Mensch, ich habe auch Gefühle, Empfindungen. Und dass du, der nur meinetwegen jetzt noch am Leben ist, das ignoriert, mich hasst, das ruft vor allem das Gefühl der Bitterkeit hervor!“
„Das sind nicht deine Gefühle, Conan, das sind meine! Du bist ich, zum Kuckuck nochmal. Du bist nur eine Hülle. Eine Maske. Conan Edogawa war immer Shinichi Kudo. Eine Figur, von mir erfunden, alle deine Emotionen waren meine eigenen, all dein Verhalten habe ich ersonnen, auch wenn du es als deinen freien Willen betrachten solltest.
Es gibt keine zwei, ist das klar? Es gab immer nur Shinichi Kudo. Aber wegen Conan Edogawa durfte Shinichi Kudo zeitweise nicht existieren, ich war tot. Ich konnte nicht bei Ran sein, wenn sie mich brauchte, ich konnte nicht mein normales Leben als Oberschüler führen, einfach Spaß haben, obwohl ich eigentlich anwesend war. Ich konnte nicht mal... den wichtigsten Satz meines Lebens aussprechen.“ Unwillkürlich glitten seine Gedanken zu dem einen Moment, damals, als alles geendete hatte und er erstmals wieder als Shinichi Kudo mit Ran einen Spaziergang machte. Die drei Worte, die ihm so lange auf den Lippen brannten.
„Du hast mich davon abgehalten, obwohl du ich bist, obwohl du keinerlei natürliche Existenz auf diesem Planeten hattest.“
„Du irrst dich, Shinichi-Berkeley-Kudo. Du irrst dich... gewaltig!“ Er schaute auf, sah in die tief von Traurigkeit verzerrten Augen des kleinen Jungen. Augen, die einem unbeteiligten sicher das Herz zerrissen hätten. Aber Shinichi war kein unbeteiligter. Im Gegenteil, es waren seine Augen, die er nun erblickte. Und ihm wurde allmählich bewusst, wie weit ihn seine Emotionen eben getrieben haben. Berkeley, der englische Philosoph, der meinte Descartes Realitätsansicht, wir müssten durch unser Bewusstsein schon unsere Existenz sicher gestellt haben, ablehnte und meinte, genauso gut könnten alle Menschen nur Figuren in einem geschriebenen Buch sein und ihr freier Wille auch nur die Fantasie des Autors.
Genau so hatte er sich eben gegenüber Conan präsentiert, der Autor und seine Figur, sicher auch nicht ganz ohne Grund. Sie waren ein und dieselbe Person, zwei Seiten dieser, aber... waren sie damit gleich?
„Worin... sollte ich mich irren?“ Langsam, zögerlich und vor allem wieder in gemäßigtem Ton stellte Shinichi die Frage, um die es sich drehte.
„Du denkst, alles, was Conan Edogawa je tat, war dein Werk im Hintergrund, du hast sozusagen die Fäden gezogen und ich habe nur als ausführendes Organ fungiert.“
„Wir sind ein und die selbe Person, Conan. Jede deiner Handlungen war auch meine Handlung, jeder Gedanke auch meiner. Aber wenn du es so radikal formulieren willst, bitte schön, ja, das stimmt. Geht’s dir dann besser?“
„Wieso versuchst du ausgerechnet mich zu belügen?“
„Was?“ Verwirrung nahm mittlerweile den wesentlichen Teil seiner Gedanken ein und Shincihi fragte sich, ob es einfach nur Halluzinationen waren oder ob er über eine ernsthafte Schizophrenie nachdenken musste.
„In einem Satz sagst du, dass unsere Gedanken dieselben sind, im nächsten glaubst, ich würde deine nicht kennen.
Ja, wie oft hast du doch den Moment, als ich dich gewähren ließ, als du mit Ran spreche konntest, so genutzt, als wäre nie etwas geschehen? Du hast sie getäuscht, selbst am Telefon noch, hast getan, als wärst du noch derselbe wie vor dem Abend im Tropical Land.
Aber das bist du nicht. Du hast dich verändert seitdem. In vielerlei Hinsicht. Und diese Veränderung... das ist meine Seele.“
„Wovon... redest du da?“
„Ach bitte. Wo soll ich anfangen? Hätte der große Shinichi Kudo als Oberschüler jemals mit einer Gruppe kleiner Kinder gespielt, oder noch besser, wäre mit ihnen auf Verbrecherjagd gegangen?“
„Lächerlich, das war doch auch nur...“ Er stockte, als ihn plötzlich ein kleiner Schock über seine eigene Gemütslage traf. Ein Schockmoment, welches dem kleinen Jungen die Oberhand verschaffte.
„Ja... anfangs... anfangs war es eben nur dieses Schauspiel, dass du die ganze Zeit herunter gebetet hast, die Notwendigkeit, um deine Maskerade aufrecht zu halten.
Aber... sie sind deine Freunde geworden, sie mochten dich ehrlich, und bewunderten nicht einfach deine ungeheure Intelligenz. Und auch du hast sie als Freunde ins Herz geschlossen. Leugne es nicht, es sind deine Gedanken und damit auch meine.
Das ist nicht das Wesen Shinichi Kudos gewesen, Freunde zu suchen, es war meines! Meines, welches du ohne mit der Wimper zu zucken für null und nichtig erklärt hast. Mir haben die drei vertraut, nicht dir und ihnen hat sich Shinichi Kudo nie so verbunden gefühlt wie Conan Edogawa.
Und nur, ganz allein, weil du meinetwegen diese Freundschaft erleben konntest, schenkst du den Kindern heute eigentlich die Aufmerksamkeit, die andere ihnen versagen. Wenn sie angelaufen kommen und von einem neuen Fall berichten. Du hättest sie genauso abgewimmelt, wie es zunächst auch Kommissar Megure getan hat, nicht wahr?
Oh ja, ich sehe es genau vor mir. Ich habs ja oft genug erlebt, und du damit doch auch. Demoralisierend, wenn man die Wahrheit kennt, aber niemand hört einem zu. Jeder Mensch hat zumindest ein Recht darauf gehört zu werden, erst danach kann man bewerten, wie sinnvoll oder sinnlos seine Gedanken sind.
Das hast du nicht verstanden, bis ich es dir gezeigt habe.“
Shinichi war in seinem Stuhl nun deutlich zurückgelehnt, entspannt eigentlich. Aber die Gedanken über die Detective Boys hingen ihm nach. Conan hatte nicht Unrecht. Er hatte es erst eingesehen durch die Kleinen, die Bedeutung darin, ihnen Gehör zu schenken und nicht voreilig ihr Verständnis für reale Sachverhalte zu verurteilen.
Aber das war es nicht, was ihm wirklich Probleme bereitete. Unter diesem Aspekt wirklich den Sachverhalt anders zu sehen. Die Freundschaft zu Ayumi, Mitsuhiko und Genta war ihm viel Wert, aber sie stand nicht über seiner Meinung zu Conan Edogawa.
Aus einem ganz bestimmten Grund...
'Ran.'
Seinetwegen konnte er nicht so für sie da sein, wie er es wollte, wie er gehofft hatte, wie sie verdient hatte, wie sie es... gebraucht hatte. Der Schmerz über die Bilder Rans in seinem Kopf übertrugen sich auf seinen Blick und Conan konnte sie genau erkennen.
„Du denkst an sie. Jetzt in diesem Augenblick.“
„Nein... immer, in jedem Augenblick denke ich an Ran. Das weißt du doch.“ Shinichis Stimme wurde leise, verhalten. Conan nickte nur sanft.
„Ich weiß, wie sehr es dich mitgenommen hat, die Momente, in denen du nicht bei ihr sein konntest, obwohl du vor ihr standest. Und ich gebe zu...“
Er sah verlegen zur Seite.
„Auch verstehe ich genau, dass es diese Momente waren, die dich zum Hass auf mich verleiteten. Aber... du schaust in die falsche Richtung.
Dein Schmerz war für mich ja auch immer spürbar und ich wollte ihn gerne lindern, genau wie ihren. Das, was eben auch du wolltest, aber nicht konntest. Wirklich glücklich machen konnte sie stets nur Shinichi Kudo, das war... wie du ja mittlerweile heraus gefunden hast... schon sehr lange so.“
Ein leichter Rotschimmer durchzog beide gleichzeitig. Ja, seit Ran mit sechs Jahren in einem getrennten Elternhaus aufwuchs, seit damals sehnte sie sich nach der Lösung dieses gordischen Knotens, den Kogoro Mori und Eri Kisaki damals spannten. Und seit damals legte sie all ihre Hoffnungen in die einzige Person in ihrem Umfeld, die scheinbar alle Probleme und Rätsel, die es auf dieser Welt gab, irgendwie zu begreifen und zu lösen verstand. Der kleine Junge mit dem scharfen Verstand, der sie schon damals so faszinierte. Shinichi Kudo.
Aber das wurde ihm auch erst klar, als er ihr endlich seine Liebe gestand, als sie begannen, wirklich offen miteinander zu reden, als sie endlich... sich gefunden hatten.
„Aber... wenn du nicht da warst Shinichi, war ich es, der sie getröstet hat. Ich war da, als sie weinte, deinetwegen. Als sie Tränen vergoss, ob aus Trauer, oder aus Wut, weil ihr Krimispinner wiedermal die Kurve kratzte, scheinbar ohne Manieren...
Oder... als du einfach so sie dazu brachtest, eine Person, die sie bewunderte, des Mordes zu überführen.“
„Tse...“, entgegnete Shinichi nur gelassen, ließ sich noch weiter in den Stuhl zurück sinken, blickte traurig auf den Spiegel, fast durch das Gesicht dort hindurch.
Die Bilder huschten durch seinen Kopf, der Abend nach dem Frühlingsfest, als er sie sitzen ließ, der Valentinstag, als sie über seine Schokolade Tränen vergoss, die Skihütte, in der sie Conan verzweifelt um den Hals fiel, jedes einzelne Mal, wenn wegen ihm die salzige Flüssigkeit ihre Augen verließ. Oh, wie sehr hasste er sich selbst dann immer?
Hatte er etwa... im Laufe der Zeit, im nachhinein, diesen Hass auf Conan Edogawa übertragen?
„Ich hab es ganz sicher nicht deinetwegen getan, Shinichi, das ist dir hoffentlich klar. Ich habe dich vor Ran nie wirklich verteidigt. Ich wüsste auch ehrlich gesagt kaum weswegen. Das einzige war... an und für sich... dein Motiv. Ich konnte ihr darum nichts sagen, also fiel auch das als Argument weg. Und wärst du da gewesen... und hättest sie, wegen etwas anderem trösten müssen, hättest du es auch nicht gekonnt.“
Es war diesmal nur ein Wimpernaufschlag, der sich bei ihm regte.
„Denk zurück, Shinichi, am Abend im Tropical Land. Ran hatte diesen Fall in der Achterbahn erlebt, war wegen der Frau, die für eine verlorene Liebe tötete, so frustriert. Und was hast du getan? Ihr gesagt, sie solle sich an so was gewöhnen und es nicht so wichtig nehmen.
Idiot!“
„Hm... ja... ein Idiot macht so was. Nur ein Idiot.“ Resignierend richtete er sich langsam auf, drückte seine Arme auf den Tisch ab, bis er auf diesen gebückt stand und dem Abbild des kleinen Jungen ganz nahe kam.
„Aber du... du konntest offen mit ihr reden, konntest ihre Empfindungen nachfühlen, besser als ich es je konnte. Und mit dir konnte Ran offener reden, als jemals zuvor mit mir. Unter den gegebenen Umständen warst du in der Lage, dich eigentlich besser um sie zu kümmern, als ich.“
„Mhm... und ich tat es einzig und allein, um ihr das Leben etwas einfacher zu machen. Das war... meine Entscheidung, Shinichi. Die Entscheidung, was Conan Edogawa mit der ihm gegebenen Zeit anfangen würde. Und alles, was aus dieser Entscheidung folgte, waren Geschenke, von mir, an euch beide. Ich wusste, dass meine Existenz begrenzt war, du würdest niemals zulassen, dass ich ganz dein Leben übernehme, dass ich der letzte von uns beiden werden würde.
Deswegen hab ich euch versucht zu helfen, und mein eigenes Leben dafür zurück gestellt.
Wenn... wenn du mich... wenn du mich deswegen immer noch hasst... dann werde ich es akzeptieren.“
Lange blickten sich beide schweigend in die Augen, ohne die Mienen zu verziehen, endlos lange, kam es ihnen vor, bis der ältere die Augen schloss und den Kopf senkte.
„Du bist nur deswegen hier... nicht wahr?“ flüsterte er fast, versucht seine Stimme aufrecht zu erhalten.
„Du bist hier... weil ich deine Gedanken als meine gesehen habe. Deine Leistungen als meine Schutzreaktion... und weil... ich dich nicht nur verleugne... nein.“
„Du hast den Fehler gemacht, Shinichi, den die Menschen nur allzu gerne machen. Du hast deine Probleme, die du sicher hattest und die negativen Erinnerungen, die du..., durchaus zu recht, mit mir verbandest, alle auf mich fokussiert und mich zu deinem ganz persönlichen Sündenbock erklärt.
Und... ja, deswegen konnte ich nicht einfach... wieder ein Teil von dir werden, wie du nicht einfach wieder den unbeflissenen Grundschüler mimen kannst, um den Leuten ihre Geheimnisse zu entlocken.“
Conan grinste schmunzelnd, aber auch leicht heiser, während Shinichi sich nicht rührte. Erneut umfiel Stille die kleine Bühne, bis...
„Danke.“, flüsterte Shinichi so leise, dass man meinte, es wäre nur ein Hauch gewesen.
„Hm?“ Conan sah etwas verwundert auf den Haarschopf vor ihm. Er ließ seinen Kopf unten, man hörte nur die heisere Stimme Shinichis. Mit den aufgestützten Armen wirkte es fast als verneige er vor dem kleinen Kind sein Haupt.
„Ich danke dir... Conan... dafür... dass du mir etwas über die Freundschaft beigebracht hast, dass du stets im besten Sinne für mich gehandelt hast, obwohl du anders hättest entscheiden können, zu deinen Gunsten.“
Seine Stimme wirkte brüchig, als er den Kopf aufrichtete. Im blassen Augenwinkel meinte Conan eine Träne zu erkennen.
„Ich danke dir... von ganzem Herzen..., dass du dich um Ran gekümmert hast..., als ich Idiot Verbrechern nachjagte. Dass du sie getröstet hast, als sie Trost brauchte, dass du ihr Halt gabst, als sie zu fallen drohte, dass du ohne Rücksicht, auf dich wie auf mich, sie aufgebaut hast, sie auf dem richtigen Weg begleitet hast.
Ich... ich weiß nicht, was ich mehr sagen kann, als dass ich... solange ich noch lebe, dir dafür unendlich dankbar bin, Conan Edogawa.“
Dieser konnte selbst kaum glauben, was er sah, viel weniger noch, was er hörte. Dieser Dank war echt! Nicht so hohl, wie die Phrase am Beginn ihres Gesprächs, er hatte tatsächlich etwas bewirkt, die Meinung seines Gegenüber maßgeblich verändert.
Shinichi indes ging das ganze Gespräch erneut durch, nur um eine einzelne noch fehlende Aussage zu finden.
„Und ich...“ Er biss sich auf die Lippen, wartete, bis Conan ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte.
„ich... bitte dich um Verzeihung... dafür, dass ich dich nicht als das gesehen habe, was du wirklich warst. Ein Teil von mir und doch eine eigene Seele, ein Stück Wahrheit, welches ich erst durch deine Existenz finden konnte. Sie als falsch zu verleugnen, das war vielleicht ein noch größerer Fehler, als damals im Tropical Land...“
Er stockte erneut, sah verwundert zu Conan, der selbst immer noch leicht überrascht wirkte. Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Jungen mit der Brille ab und er schloss sanft seine Augen.
„Du... solltest es lassen.“
„Wie? A-aber... aber, ich meine das ernst, ich...“
„Und ich meine die Fliege.“
Noch etwa eine Sekunde blickte ihn der Detektiv verwirrt an, bis ihm schlagartig bewusst wurde, was er eigentlich schon vor zehn Minuten hätte fertig bekommen sollen.
„Schande, wie soll ich nur...“
„Ich sag doch, lass sie. Du brauchst sie nicht und schaffst es sicher auch so. Ran wird dich auch ohne Fliege heiraten. Vertrau mir, ich kenn sie.“
Diesmal wurde nur Shinichi rot im Gesicht, lächelte dann aber sanft zur Grinsekatze im Spiegel zurück, zog das Stoffstück aus dem Kragen und legte es auf der Kommode vor sich ab.
„Du kannst nicht einfach aufhören, mich zu belehren, oder?“, entgegnete er mit immer noch leicht brüchiger, aber schon wieder zu Witzen aufgelegter Stimme.
„Meine Art. Hab ich von dir. Und nun geh endlich, die anderen warten schon!“ Noch einen Augenblick lächelte er den Grundschüler an, bevor er sich schlagartig umwandte und die Tür aufsuchte.
„Shinichi?“ Genau im Eingang hielt ihn die Stimme noch kurz an, er blieb nur stehen, drehte sich zunächst nicht um.
„Viel Glück. Für dich und Ran. Ihr habt es... wirklich verdient.“
Nun wollte er sich doch noch einmal zu dem Jungen wenden, fand aber im Spiegel nur noch die Möbel, die Kommode und in etwas Entfernung sich selbst wieder. Conan Edogawa war verschwunden. Und diesmal... endgültig.
'Aber nicht aus meinem Herzen.
Ich danke dir für alles, was du für Ran und für mich getan hast, Conan Edogawa.
Und ich werde... dich niemals... vergessen.'
Damit schloss er sanft die Tür und machte sich auf den Weg zur Wagenkolonne. Auf zum schönsten Tag seines Lebens.