Joshuas Zimmer war eng, aber es fand sich trotzdem genug Platz für nutzlosen Kleinkram.
Der Junge schob mit dem Fuß die Tür zu, dann schaltete er den Fernseher ein. Das Mädchen ließ währenddessen ihren Blick durch den Raum schweifen. Kein einziges Poster zierte die fleckigen dunkelblauen Wände. Durch das kleine Fenster konnte sie den regengrauen Himmel sehen. Die Einrichtung war minimalistisch gehalten: es gab ein Bett, einen Schrank und einen schmalen Schreibtisch. Das war’s. Sein Bett nahm den Großteil des Raumes ein, das Kissen lag ordentlich an seinem Platz und auch die Decke war sauber zusammengelegt. Auf dem grauen Bettzeug schlief eine magere, schwarzweiß gefleckte Katze, die müde den Kopf hob, als die Musik einer Werbesendung aus dem Fernseher schallte.
Hana betrachtete fasziniert die Vielzahl von Objekten, die Joshua der Größe nach auf seiner Bettkante angeordnet hatte. Zuallererst kam ein winziges goldenes Glöckchen, dann ein Zahnrad, eine Briefmarke, ein gelber Plastikwürfel, eine Sanduhr, die Kindern die Zeit zum Zähneputzen angab, ein farbiger Radiergummi, eine unscheinbare Muschel, eine Origamigiraffe, eine rote Armbanduhr, ein leeres Tintenfass, eine geschmacklose Duftkerze, eine Glasscherbe mit schönen Farbverläufen, eine Glühbirne, ein Strohstern für den Weihnachtsbaum, ein CD-Rohling, ein Block mit farbigem Papier, ein Sparschwein, und ganz am Ende ein alter Gipsverband.
Das Unbehagen von eben war von einem Moment zum anderen der unverhohlenen Neugierde gewichen. Hana löste den Blick von dem seltsamen Kleinkram und sah sich weiter um. Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Joshua sie dabei beobachtete, doch das kümmerte sie im Moment nicht.
Seine Schulbücher und Hefter standen in einem Regal seines Wandschrankes kerzengerade nebeneinander; sie waren nicht nach Fächern sortiert, sondern ebenfalls nach ihrer Größe geordnet. Hinter den geschlossenen Schranktüren vermutete Hana Joshuas Klamotten. Ein Einkaufszettel war mit Tesafilm unter den Knauf geheftet, doch Hana konnte natürlich nicht lesen, was darauf stand.
„Nein, sie ist zum ersten Mal hier.“, murmelte Joshua.
Hana fuhr erschrocken zu ihm herum. „Wie bitte?“
Joshua schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“
Eine Stimme aus dem Fernseher berichtete begeistert von dem herausragenden Geschmack eines supersauren Kaugummis.
Hana trat mit klopfendem Herzen einen Schritt zurück. Joshua hatte gerade mit sich selbst gesprochen! Schon wieder. Vor ihren Augen. Sie wusste ja, dass er das häufig tat. Trotzdem schockte sie die Tatsache, dass er in ihrem Beisein so offensichtlich Selbstgespräche führte.
„Was soll das?“, fragte Hana verwirrt und feindselig. Joshua erwiderte ihren misstrauischen Blick gelassen, forstete in ihren Augen nach einer Regung.
„Du hast Angst vor mir.“, stellte der Junge fest.
„Quatsch!“, schnaubte Hana. Aber hatte sie denn Angst?
Joshua seufzte. „Wenn du gehen willst, dann kann ich dich jetzt wieder rauslassen.“ Er klang fast etwas enttäuscht. Oder irrte sie sich?
„Nein.“, antwortete Hana stockend. Nein? Was sagte sie da eigentlich? Natürlich wollte sie gehen!
„Wie du willst.“ Joshua lächelte. Hana konnte nicht einordnen, ob es das ehrliche oder das gestörte Lächeln war. Es war ihr auch egal. Sie bereute nur ihre Dummheit. Es klang sicher bescheuert wenn sie jetzt sagen würde, dass sie doch lieber gehen wollte. Aber sie hatte echt keine Lust darauf, dass sie dem unheimlichen Jungen noch einmal bei seinen Selbstgesprächen zuhören musste.
„Du kannst dich gern setzten.“ Er deutete auf den Platz neben seiner Katze.
Hana blieb noch einen Moment mit zusammengepressten Lippen stehen, unschlüssig was sie tun sollte, dann setzte sie sich steif auf Joshuas Bett. Die Katze nahm keine Notiz von dem Mädchen.
„Danke dass du noch bleibst.“ Joshua ließ sich auf der anderen Seite des Bettes nieder und starrte zum Fernseher.
Hana atmete tief durch. Immer schön die Ruhe bewahren. Was ist schon dabei. Dann hatte er eben mit sich selbst gesprochen, na und? Schließlich war ihr das nichts Neues. Unbehaglich schielte sie aus dem Augenwinkel zu Joshua herüber. Sein blasses Gesicht wurde vom Fernseher in hastig wechselnden Farben angestrahlt.
Sie dachte an seinen Brief, und wie absurd es war, dass sie jetzt neben ihm und seiner schlafenden Katze in seinem Zimmer saß und sich Werbung ansah.
Sie hatte noch nie mit jemand anderem zusammen ferngesehen. Und sie war noch nie von irgendjemandem in seine Wohnung eingeladen worden.
Fast ein wenig traurig blickte sie Joshua an. Wenigstens diese eine Sache hatten sie gemeinsam. Sie waren beide sehr allein.
Ach nein, Joshua hatte ja noch seine Katze. Hana hätte fast über ihren albernen Anflug von Eifersucht geschmunzelt. Sie streichelte dem Tier mit der flachen Hand über den Kopf, der irgendwie zu klein für den restlichen Körper wirkte. Es war keine besonders schöne Katze, aber liebenswert fand sie Hana trotzdem allemal. Bei diesem Gedanken wunderte sie sich ein wenig über sich selbst, da sie nie wirklich ein Tierfreund gewesen war.
„Wie heißt die Katze?“, fragte Hana und ihre Stimme klang wackliger als gewollt.
„Schnurri.“, antwortete Joshua ohne vom Fernseher aufzublicken. „Aber sie schnurrt nie.“
Etwas verwirrt ließ Hana von dem Tier ab. Es stimmte, die Katze hatte die ganze Zeit über nicht geschnurrt. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht auf die Streicheleinheiten reagiert.
„ Außerdem ist sie immer krank.“, ergänzte der Junge.
„Was hat sie denn?“, erkundigte sich Hana. Das ganze erschien ihr wieder geradezu befremdlich, aber im Grunde hatte sie nichts anderes von Joshuas Katze erwartet.
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Alles mögliche. Meistens Schnupfen. Siehst du die dunklen Tropfen in ihren Augenwinkeln? Die zeigen, dass Schnurri krank ist. Und die Tropfen sind immer da.“
„Aha.“
Eine Weile sagten die beiden nichts. Hana blickte abwechselnd zu Joshua, zu seiner Katze und dann zum Fernseher. Es lief noch immer Werbung. Hin und wieder schaltete Joshua um, wenn das normale Programm weiterging.
„Es ist eigentlich ziemlich unlogisch, dass Schnurri ständig krank ist.“, erklärte Joshua weiter. Seine Stimme klang ein bisschen abwesend. „Sie ist ja nie im Freien. Ich glaube es liegt daran, dass Schnurri das letztgeborene Kätzchen im Wurf war, also ein Nachzügler. Die sind meistens krankheitsanfällig. Meine Mutter hat damals gesagt, dass wir lieber ein anderes Tier nehmen sollten. Aber ich wollte Schnurri. Sie war die kleinste Katze.“
„Ach so.“ Hana angelte nach Worten. Es war ihr wesentlich lieber, sich mit ihm zu unterhalten, anstatt ihm wieder bei einem Selbstgespräch zuhören zu müssen. „Du magst also Katzen.“ Keine sehr einfallsreiche Feststellung. Aber was soll’s.
Joshua zuckte mit den Schultern. „Ich sollte eine bekommen. Hat Dr. Nauser damals meiner Mutter empfohlen. Wegen meiner Krankheit.“
„Was denn für eine Krankheit?“ Hanas Zunge fühlte sich plötzlich schwer an. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei diesem Thema, doch ihre Neugier war stärker.
Joshua schwieg eine Weile. Dann sah er sie direkt an. Hana wich seinem Blick aus, jetzt war sie es, die zum Bildschirm starrte. Eine Werbetante im Fernsehen plapperte munter darüber, wie sie es geschafft hatte, abzunehmen. Dabei war sie nicht einmal besonders schlank. Hana war dünner.
„Schwache Anzeichen von Autismus und die aktuelle Neigung freundschaftliche Beziehungen zu imaginären Personen aufzubauen.“, antwortete Joshua sachlich.
Hana konnte nichts damit anfangen. Sie blickte ganz kurz zu ihm auf, sah dann aber wieder zum Bildschirm. „Was heißt das?“ Ihre Stimme war fester als sie es sich zugetraut hätte.
„Das bedeutet dass ich Freunde habe, die nur ich sehe.“ Joshua flüsterte jetzt und seine Papierstimme ließ alles in den Hintergrund treten, selbst den Lärm des Fernsehers. „Die Ärzte sagen, es wäre eine Krankheit. Außer als ich klein war, da fanden sie es okay. Kinder haben oft solche Freunde, haben alle gesagt. Aber das hat sich geändert. Ich bin kein Kind mehr. Die Ärzte finden es alarmierend, dass meine Freunde nicht weggehen. Bei anderen Kindern verschwinden sie. Nur bei mir nicht. Bei mir werden es mehr.“
Eine Weile sagte niemand etwas.
Hana schluckte. „Warum gehen sie nicht?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.
Joshua lächelte. Dünn. Unberechenbar. Seine grünen Augen funkelten voller Leben. „Weil ich gute Freunde hab. Und gute Freunde verlassen einen nicht. Niemals.“