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Maddie

Das Leben eines Kindes
von

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Maddie

Maddie – Das Leben eines Kindes
 

Das Tor ist wirklich offen gewesen. Das Tor ganz hinten beim Übungsplatz, wie Garet gesagt hat. Dahinter fängt gleich der Wald an. Höchstens zehn Meter kann man vom Zaun aus hinein sehen, so dicht ist er.

Vor ein paar Jahren wollten sie den Wald einmal roden, weil er so wild und unkontrolliert wuchert. Bisher jedoch hat niemand dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt. Das ist verständlich, denn wir haben hier alle viel zu tun. Besseres zu tun.

Das Tor war offen und dahinter gleich der Wald… Es wäre so einfach gewesen! Wenn ich noch einmal die Chance hätte, würde ich schneller rennen und dann würde ich es auch auf jeden Fall schaffen. Durch das Tor – vollkommen unverschlossen – und dann zum Wald, zehn, vielleicht auch fünfzehn Meter. Niemand hätte mich dann mehr gesehen und ich hätte einfach weiter rennen müssen. Weiter und immer weiter. Niemand hätte vor dem Abendessen bemerkt, dass ich weg wäre.

„Wo hättest du denn hingehen wollen?“

Ich antworte nicht, starre nur noch auf den Boden. Einerseits bin ich wütend auf mich, weil ich es nicht geschafft habe, andererseits schäme ich mich, dass ich erwischt wurde. Gerade ich!

„Miss Maddie, sieh mich an!“ Dr. Kyle klingt gereizt. „Sieh mich an und antworte mir!“

Normalerweise nennt er mich immer Miss Maddie, wenn er gute Laune hat; aber dann klingt er ganz anders, nämlich fröhlich und heiter und seine Stimme singt fast. Jetzt spricht er ganz langsam und ich weiß, dass er sich wahrscheinlich anstrengen muss, um nicht zu schreien.

„Du bist schon in sehr großen Schwierigkeiten, Miss Maddie! Und wenn du nicht willst, dass es noch schlimmer wird als es ohnehin schon ist, dann solltest du mir antworten!“

Plötzlich schnellt seine Hand nach vorn und greift nach meinem Kinn. Sein Griff ist fest und tut beinahe weh; er klemmt meinen Keifer geradezu zwischen seinem Daumen und Zeigefinger ein, während er meinen Kopf nach oben zieht, damit ich ihn endlich ansehe.

„Ich werde meine Frage nicht noch einmal wiederholen! Du hast mich sehr gut verstanden, ich lasse mich von dir nicht zum Narren halten!“, verkündet er laut und deutlich.

„Zu Chana“, murmele ich kleinlaut.

Er zieht seine Hand so schnell zurück, als hätte er sich gerade an meinem Gesicht verbrannt. Und zum ersten Mal erschreckt er mich.

Seine Augen mustern mich ausdruckslos, kein Muskel zuckt dabei in seinem schmalen Gesicht. Stattdessen sieht mich einfach an, als wäre ich eine griechische Marmorstatue, die er auf einen Makel untersucht.

Ich kenne ihn seit ich denken kann; und nicht seine Wut von gerade eben hat mir Angst gemacht, sondern der gefühllose Ausdruck, mit dem er mich jetzt betrachtet. Ohne Wut, ohne Freude. Auch keine Enttäuschung.

Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und öffne den Mund, als wollte ich etwas sagen, bringe dann aber doch keinen Ton heraus – versuche, so hilflos und verzweifelt auszusehen, wie ich mich fühle, in der Hoffnung, dass er irgendwie doch noch Mitleid bekommt und ein Gefühl für mich übrig hat, auch wenn es Wut ist.

Aber eigentlich ist es sinnlos. Es ist alles meine eigene Schuld, dass er mich jetzt so ansieht: als hätte ich keinen Wert mehr. Jetzt, das weiß ich, bin ich nichts mehr.

Noch ein Wort wenigstens, ein Seufzen, auch nur die kleinste Regung von ihm würde mich wieder zum Menschen machen – denn nur jemand, für den man nichts mehr fühlt, ist kein Mensch mehr. Aber das wird er nicht tun. Er wendet sich nur wortlos ab und verlässt den Raum.

„Es tut mir leid.“ Aber das hört niemand. Das kümmert auch niemanden, eigentlich nicht einmal mehr mich selbst.
 

Seit ich ganz klein war, bin ich immer Dr. Kyles Liebling gewesen. Wenn die Leute in den Anzügen kamen und er an der Reihe war, sie herumzuführen, nahm er mich bei seinem Rundgang immer mit.

Am Anfang beobachteten mich dann alle misstrauisch und aus den Augenwinkeln heraus. Mich störte das nie, ich lief stolz an Dr. Kyles Hand voran, während er ihnen unsere Bilder, unsere Aufsätze oder unsere Wissenschaftsprojekte zeigte. Über das, was sie sahen, unterhielten die Fremden sich dann immer staunend miteinander, beteuerten, dass das kaum zu glauben sei und vergaßen mich für eine Weile.

Am Ende dann wagte manchmal jemand, zu fragen, ob ich eines der Bilder gemalt oder etwas anderes gemacht hätte. Wenn niemand direkt danach fragte, nahm Dr. Kyle mich von selbst lachend auf den Arm und hielt mich hoch, dass auch ja all die großen Leute mich sehen konnten.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir uns hier um das Beste kümmern. Und Maddie, glauben Sie mir, ist das Beste vom Besten!“

Und obwohl mir dieser Titel nur inoffiziell von Dr. Kyle verliehen wurde, hatte er doch eine gewisse Bedeutung.

Die meisten von uns machen nicht sehr viel Verschiedenes – entweder malen sie den ganzen Tag, spielen Violine oder beschäftigen sich mit Naturwissenschaften. Das kann, um ehrlich zu sein, sehr schnell langweilig sein, wenn man immer nur derselben Beschäftigung nachgehen darf.

Obwohl so gut wie alle von uns eigentlich vielseitig begabt sind, werden die meisten Aktivitäten – außer allgemeinem Wissen – auf zwei oder drei Wege der Talentausübung beschränkt.

„Wenn wir allen alles beibringen, dann erreichen sie bei dem, was sie am besten können nicht die Grenzen“, erklärt Dr. Thompson ständig. Und wenn er etwas sagt, widerspricht in der Regel nie jemand. (Das liegt vielleicht daran, dass er der älteste Erwachsene ist und man allgemein annimmt, die Ältesten hätten die meiste Erfahrung.)

Was wir am besten können, wird sehr früh entschieden – die einen werden Künstler, die anderen Wissenschaftler und wieder andere Sportler. Und diese Zuteilung ist elementar. Es macht unsere Identität aus, das, was wir sind – welche Art Mensch wir sind.

Die Zuteilung verläuft langsam. Man stellt fest, dass man an einem Ort langsam immer öfter ist als an den anderen – im Kunstsaal, im Musikzimmer, draußen auf dem Sportplatz oder in einem Labor. Es gibt so viele verschiedene Dinge, bei denen man Talent haben kann!

Die meisten Kinder sind bereits zugeteilt, wenn sie fünf werden, auch wenn niemand es uns je offiziell sagt. Man muss es einfach selbst merken.

Nur mich schien niemand einordnen zu wollen. Mir fiel nicht auf, dass ich irgendwo öfter war als irgendwo anders. Das machte mir schnell Sorgen, ich fühlte mich zurückgeblieben und hatte Angst, minderwertig zu werden. So dachten auch die anderen Kinder und bald hieß es: „Maddie kann ja gar nichts gut!“

Aus den einzelnen Zuordnungen ergeben sich Gruppen, deren Mitglieder sich untereinander näher stehen als den anderen. Das ist ein Prozess, den alle Kinder bei uns durchlaufen. Niemand kann sich dieser Entwicklung auf die Dauer widersetzten – dazu gibt es auch gar keinen Grund, es ist logisch, dass man sich mit den Leuten umgibt, die einem ähnelten.

„Einzelne Menschen sind aufgrund individueller Begabung dazu in der Lage, unsere Gesellschaft schneller voranzubringen – und der Schlüssel zu diesen Talenten liegt in den Genen, wie uns allen wohl bekannt ist. Uns gelingt es mit zunehmendem Erfolg, Gene zu bestimmen, um mindestens ein oder zwei bestimmte Begabungen in überdurchschnittlichem Maß zu erhalten. In der Forschung und Förderung der Begabung beschleunigen wir die Entwicklung der Menschheit so, dass man sich die Veränderungen, die in den nächsten Jahren stattfinden werden, heute kaum vorstellen kann. Wir beschäftigen uns hier mit dem Besten!“ So erklärt es Dr. Thompson seinen Mitarbeitern; so erklärten diese es wiederum den Besuchern in den Anzügen, die dann in das Institut investieren. Weil sie alle das Beste wollen. Daraus besteht unser Leben.

„Und du, meine Miss Maddie, bist das Beste vom Besten!“, hat Dr. Kyle dazu immer gesagt.

Damit wurde mir klar, dass ich wirklich nirgends dazu gehörte. Und nicht nur ich, auch die anderen Kinder verstanden es und bald kümmerte sich niemand von ihnen mehr um mich.

„Mach dir nichts draus, Maddie“, meinte Dr. Kyle nur. „Du musst dir darüber wirklich keine Gedanken machen. Eines Tages wirst du die Welt weiter voranbringen als die anderen. Die sollten dich gar nicht kümmern.“ Ihn kümmerten sie jedenfalls auch sehr wenig, mir galt sein Hauptinteresse. „Wenn man einen großen Erfolg hat, sollte man sich hinterher nicht mehr mit dem mittelmäßigem Erfolg zufrieden geben. Du hast die Maßstäbe beinahe ins Unerreichbare nach oben gesetzt. Oh Maddie, mein Mädchen! Meine Maddie!“
 

Jetzt bin ich nicht mehr seine Maddie. Jetzt bin ich niemand mehr. Langsam sinke ich mit dem Rücken gegen die Wand gepresste nach unten und kaure mich auf den Boden.

Ich wusste, dass das passieren konnte, wenn ich versuchen würde, wegzulaufen. Ich war mir der Konsequenzen bewusst gewesen. Und ich hatte auch gewusst, dass wegzulaufen an sich schon irrational war. Ich habe versucht, von einem Ort wegzulaufen, wo ich nun einmal hingehöre.
 

„Das Wichtigste ist, dass du immer auf deinen Verstand hörst, Maddie. Das ist der größte Schatz, den du hast. Du musst deine Möglichkeiten optimal ausschöpfen, dann wirst du den größten Erfolg haben.“ Das erläuterte Dr. Kyle mir ständig.

„Du bist eine ganz neue Art Mensch, Maddie, verstehst du das? Wir haben drei Weltkriege führen müssen um zu erkennen, wie wir uns wirklich weiterentwickeln können: Durch Menschen wie dich. Durch Genies. Durch solche Menschen haben wir die größten Erfolge, können Krankheiten heilen, die vor fünfzig Jahren, zu Beginn dieses Jahrtausends, noch niemand für vollständig heilbar gehalten hat!“

Wir sind alle etwas Besonderes, wir alle haben eine Aufgabe: Die Welt mit Musik und Kunst bereichern, die Kranken heilen, die Gesellschaft verbessern.

„Hier lernst du, was du alles tun kannst, meine Maddie! Hier, bei mir und nirgends sonst! Das siehst du doch ein, oder?“

„Ja, Dr. Kyle.“ Und ich dachte auch wirklich, ich würde es verstehen.

„Du bist vernünftig. Mein vernünftiges Mädchen! Das ist sehr gut, Maddie!“

Einmal habe ich heimlich mit angehört, wie Dr. Kyle zu Dr. Thompson meinte, dass es „die Querulanten und die Rebellen sind, die die Gesellschaft in ihrer Entwicklung immer wieder zurückwerfen, diese Monster“.

Die wenigstens von uns, so nimmt man allgemein an, werden ein Rebell oder Querulant werden. Wir haben alles, wir dürften das tun, was wir am besten können.

Aber wenn jemand doch ein Querulant ist, dann bestimmt Garet. Wenn ich heute an ihn denke, sehe ich ihn immer noch vor mir, wie er sich auf dem Sportplatz draußen in den Schlamm warf und aus Leibeskräfte brüllte, bis sein Kopf ganz rot war. Keiner der Betreuer schaffte es damals, ihn zu beruhigen, obwohl sie alle vernünftig auf ihn einsprachen.

Wir werden, egal war wir tun, in das einbezogen, was für uns entschieden wird. Uns wird erklärt, warum wir etwas tun sollen, wie wir etwas besser machen können… Ganz vernünftig.

Da war es unverständlich, dass einer von uns wirklich nie einsehen wollte, was für ihn das Beste war. Ab und zu gab es eine Ausnahme, wenn jemand nicht gleich gehorchte, aber bei Garet war das die Regel.

Wann auch immer ich ihn sah, schrie er gerade, weil er seinen Willen nicht bekam – und er wollte unvernünftige Dinge, wie viel zu viele Süßigkeiten, den ganzen Tag nur spielen und nicht geigen (das konnte er am besten)…

Garet war immer anders gewesen, aber auf eine Art anders, die Dr. Kyle und die anderen Erwachsenen nicht mochten. Er war immer trotzig, wollte selten das tun, was er tun sollte und er beleidigte jeden, den er nicht mochte.

Einmal, als wir sieben oder achten waren, war ich alleine mit ihm im Musikraum; die Betreuerin war gerade nach draußen gegangen um sich zu waschen, weil Garet sie bespuckt hatte.

„Du bist lächerlich!“, erklärte ich ihm, von seinem Verhalten abgestoßen.

„Oh… Dr. Kyles Liebling mag mich nicht“, spottete er und setzte sich mit verschränkten Armen auf den Boden.

„Warum willst du nicht spielen? Du spielst wunderschön!“ Das stimmt wirklich. Weder ich noch irgendjemand sonst kann so geigen wie Garet.

„Na und? Was hab ich davon? Ich kann mich selbst nicht mehr hören!“

„Aber du machst das so gut!“

„Warum muss ich etwas gerne tun, nur weil ich es gut kann?“

„Weil…“ Ich war mir sicher, dass Dr. Kyle mir einmal die Antwort auf diese Frage erklärt hatte, aber im Eifer des Gefechts wollte sie mir nicht einfallen.

Garet schnitt mir mit einem überlegenen Gesichtsausdruck eine Grimasse, aber wir diskutierten nicht weiter.
 

Ich frage mich, wo Garet jetzt ist. Warum er nicht gekommen ist, obwohl er es war, der meinte, wir sollten durch das Tor schlüpfen. Er war es ja, der das offene Tor überhaupt erst entdeckt hat.

Der ganze, riesige Übungsplatz ist von einem Maschendrahtzaun umgeben, der zu hoch ist, als dass man hinüberklettern könnte. Nur durch eines der wenigen Tore um den Platz herum oder durch den Haupteingang kann man das Gelände verlassen. Und von all diesen Möglichkeiten war das Tor beim Wald die einzige Chance, die wir gehabt haben.

Hätte ich nicht so lange gewartet, dass Garet kommt, hätten sie mich vielleicht auch gar nicht erwischt. Wenn Garet mich nicht dazu überredet hätte, hätte ich nie versucht, wegzulaufen. Nicht einmal für Chana. Und jetzt hab ich allein den ganzen Ärger.
 

Sogar Garet mochte Chana von Anfang an. Natürlich hat sich jeder von uns insgeheim gewünscht, von einem der Betreuer bevorzugt zu werden. Ich war Dr. Kyles Liebling, aber das war auch schon die einzige Ausnahme. Das einzige Zugeständnis an jemanden, der sich sowieso durch nichts sonst identifizieren kann. Kein Künstler, kein Sportler, eben das Beste vom Beste. Im Nachhinein ist das eigentlich nicht sehr aussagekräftig.

„Maddie, mein Mädchen“ war der einzige Ersatz für etwas, das die anderen hatten aber mir verwährt blieb: Zugehörigkeit zu etwas, eine Gruppe, Bezugspersonen. Wahrscheinlich hat deshalb niemand gesagt, dass Dr. Kyle mich zu sehr mag, weil ich sonst zu einsam gewesen wäre. Und zu viel Einsamkeit, das ist ja immerhin bewiesen, ist schädlich.

Chana war zu allen nett und wenn sie jemanden bevorzugte, dann tat sie es eher heimlich, nicht so offen wie Dr. Kyle. Um Garet kümmerte sie sich sehr viel und einmal habe ich gehört, wie sie zu einem ihrer Kollegen meinte: „Gerade den Kindern, die es scheinbar am wenigsten verdienen, muss man am meisten Zuwendung zeigen.“ (Später, als ich mehr von Psychologie und mehr von Menschen verstand, fand ich diese Aussage sogar sinnvoll. Garet benahm sich so, wie er sich benahm, weil ihm etwas fehlte und wenn man sich nicht darum kümmerte, sondern es ignorierte, würde es ihm weiterhin fehlen und er würde sich nie ändern.)

„Du bist lieb“, meinte er einmal zu Chana, als nur er und ich mit ihr draußen im Hof waren, um Ball zu spielen.

„Du auch“, meinte Chana dann zu ihm und strich ihm über den Kopf. Ich glaube, nicht einmal Dr. Kyle hätte an Chanas Stelle so reagiert.

„Warum sagst du das?“, wollte ich trotzig wissen.

„Weil es stimmt.“

„Es stimmt eben nicht!“, widersprach ich ihr. „Er hat Nancy neulich in den Bauch getreten!“

„Aber nicht absichtlich“, verteidigte sie Garet ruhig.

„Na und? Man tritt auch niemanden unabsichtlich!“

„Wenn du dich nicht gerade so benimmst, bist du auch lieb“, meinte Chana dann zwinkernd und wandte sich von mir ab.

Liebe Kinder sind nicht wie Garet; sie sind nicht trotzig, sondern vernünftig und machen das, was man ihnen sagt. Ich war lieb, aber zu mir oder auch den anderen sagte das nie jemand einfach so. Ich fand das nicht gerecht.

Bald begann ich Chana doch zu mögen. Jedes Mal, wenn sie als Betreuerin da war, lobte sie mich – auch, wenn ich gar nichts Besonderes tat.

Das Bild sei so schön, da hätte ich aber schnell gerechnet… Oh, wie ich das nur wieder so schnell begreifen konnte!

„Das war nur ein einfacher Algorithmus!“, fuhr Dr. Kyle sie dann manchmal an. Oder: „Sie begreift die Endosymbiontentheorie schon seit sie sieben ist! Hören Sie auf mit dem Getue!“ Ihn schien Chana mit ihrem Verhalten am meisten zu stören, aber sie ließ sich davon nicht beeinflussen.

„Kinder brauchen Ermutigung!“

„Ja, aber doch nicht bei jeder einfachen Kleinigkeit. Wenn man solche Dinge lobt, dann ruhen sie sich auf diesen Erfolgen aus und schöpfen ihr Potential nie voll aus!“, argumentierte Dr. Kyle.

Uns Kinder störte so viel Lob allerdings keineswegs. Wir waren alle in dem Bewusstsein aufgewachsen, irgendetwas besonders gut zu können. Wir maßen uns ständig aneinander und so viel Anerkennung dafür zu bekomme, auch für Dinge, die eigentlich gar nicht überdurchschnittlich besonders waren, ermutigte die meisten von uns eher, als dass es sie faul machte. Aber keiner hätte es gewagt, Dr. Kyle das zu sagen, nicht einmal ich.

„Wenn sich jemand auf Erfolgen ausruht, dann ja wohl andere Menschen als diese Kinder“, behauptete Chana tollkühn. „Sie lassen andere für sich begabt sein, andere für sich ihr Leben noch bequemer machen.“

„Halten Sie gefälligst den Mund!“

Uns wurde eingeschärft, dass wir die Zukunft waren. Wir würden die Gesellschaft prägen, verändern und verbessern wie niemand sonst es tun konnte.

Das war unsere Aufgabe und niemand machte je ein Geheimnis daraus. Warum auch? Von Anfang an hat man uns beigebracht, stolz auf das zu sein, was wir sind. Gleichzeitig war mir aber klar, dass Chana deshalb auch nicht Unrecht haben musste mit dem, was sie sagte.

Garet war bald der einzige der anderen Kinder, der noch mit mir sprach. Ihn mieden sie, weil er unkontrollierte Gefühlsausbrüche hatte und mich, weil ich nirgends dazu gehörte. Das schweißte uns unweigerlich zumindest ein bisschen zusammen.

„Wie sind andere Menschen so?“, fragte ich ihn schließlich. „Ich meine die, von denen Chana neulich gesprochen hat.“ Seit ich sie und Dr. Kyle hatte streiten hören, war mir dieser Gedanke an „die Anderen“ nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

„Das sind… Ähm… Das sind sehr dumme Menschen. Die leben in Höhlen und jagen und sammeln und haben gerade erst das Feuer entdeckt und das Rad erfunden“, erklärte Garet mit überlegener Miene.

„Du bist dumm! Das stimmt doch gar nicht, das denkst du dir aus. So haben die Steinzeitmenschen vor Tausenden von Jahren gelebt, du Hirni!“ Inzwischen hatte es Menschen wie Leonardo da Vinci, das Universalgenie gegeben; Mozart und Stephen Hawkins! Die waren bestimmt nicht so unfähig gewesen wie die, von denen Chana gesprochen hatte. Wen hatte sie also gemeint?

Garet und ich wagten es schließlich zusammen, sie zu fragen und die Antwort erstaunte uns:

„Na, damit meine ich alle anderen außer euch Kindern! Die Menschen ruhen sich auf der Erkenntnis aus, dass es für alle Begabungen ein Gen gibt und mit den Genen zu tricksen haben sie gelernt – alles andere lassen sie nun von anderen machen: Forschen und Erobern, für alles gibt es die richtige Mischung an Genen, die sie nur bestellen müssen!“ Das zu sagen lag ihr wohl schon lange auf dem Herzen, weshalb sie sich zuerst nicht genierte, es schließlich vor Garet und mir auszusprechen. Dann aber schien sie sich doch zu schämen und fuhr sehr sanft fort: „Aber darüber müsst ihr euch keine Gedanken machen. Ich meine, es darf keine Rolle für euch spielen. Ihr seid wunderbar.“

Doch schon damals hatte ich meine Zweifel, dass sie es wirklich so meinte.
 

Ich kannte einmal einen Jungen, der hieß Tommy. Der war stärker als alle anderen – sogar als die meisten Erwachsenen. Allerdings versagte einmal sein Herz und er starb als er neun war. Dr. Kyle nannte es eine genetische Fehlentwicklung.

Sie sagen, dass alles in den Genen liegt. Bestimmt auch mein Ungehorsam und Garets Wutausbrüche. Tommys Fehler hat direkt zu seinem Tod geführt, aber wohin führen Garet und mich unsere Fehler?

Mein Rücken tut inzwischen weh; es kommt mir vor, als würde ich hier schon ewig an der Wand sitzen und den grauen Fußboden anstarren.

Ob es wohl schon Nacht ist? Ob die anderen sich wundern, warum ich nicht im Schlafsaal bin? Hat Garet wohl erzählt, dass ich weggelaufen bin? Weiß er, dass sie mich geschnappt haben?

Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun, weil ich nicht weiß, was passieren wird. Alles gäbe ich inzwischen darum, wenn Dr. Kyle hereinkommen und mich einfach wieder „Maddie, mein Mädchen!“ nennen würde.

Auf keinen Fall werde ich jetzt weinen! Ich weine nie! Als ich noch klein war, ich glaube, noch bevor sie anfingen, die anderen Kinder in meinem Alter einzuordnen, hat Dr. Kyle schon immer stolz erklärt: „Diese Mädchen weint nie!“

Und jetzt werde ich garantiert nicht damit anfingen! Ich bin zu alt für Tränen, mit Tränen kann man nichts erreichen. Es ist Energieverschwendung und Verschwendung ist unökonomisch und irrational.
 

Als ich etwa neun oder zehn war, fing ich an zu bemerken, dass die meisten Erwachsenen sich in meiner Gegenwart zurückhaltend und vorsichtig benahmen, so als hätten sie Angst vor mir.

„Du wirst von Tag zu Tag erstaunlicher, meine Maddie“, erklärte Dr. Kyle. „Sie haben Respekt, keine Angst!“ Er war unverkennbar stolz auf mich – ich war bald ganz und gar sein Verdienst.

Je mehr Leistung ich erbrachte, desto mehr schien Garet alle zu verärgern. Bald konnte niemand ihn mehr zum Violine spielen überreden, wenn Chana nicht dabei war. Nur bei ihr benahm er sich brav und ich erfuhr auch bald, warum:

„Sie ist immer nett zu mir und sagt, ich muss nichts tun, was ich nicht will. Aber für sie spiel ich gerne, weil ich sehe, dass es ihr wirklich Freude macht, wenn sie mich hört. Das ist nicht wie bei den anderen Betreuern, die das als selbstverständlich ansehen“, berichtete Garet mir stolz.

Eines der letzten Talente, das ich mir aneignete, war das Lauschen. In meiner Gegenwart waren die Betreuer vorsichtig, worüber sie sprachen, aber sobald sie glaubten, keines der Kinder höre ihnen zu, änderten sich ihre Gesprächsthemen schlagartig.

Einmal hörte ich Nancy, die Betreuerin, die Garet am wenigstens mochte, wie sie sich mit einem von Dr. Kyles Assistenten auf dem Gang unterhielt, während ich hinter einer Tür stand.

„Stimmt es? Sie sind schon auf der Säuglingsstation? Zwei Babys gleich? Schon nach kaum zehn Jahren?“ Ihre Stimme überschlug sich vor Neugier regelrecht.

„Dr. Kyle ist selbst immer wieder von dem Mädchen erstaunt und meinte, wir würden nur Zeit verschwenden, wenn wir warten. Er ist sich sicher, dass das Erbgut das Beste vom Besten ist“, erklärte der Assistent.

„Ja, aber gleich zwei neue Babys? Da wäre doch eine Unsumme verschwendet, wenn sich herausstellt, dass doch noch ein Fehler bei dem Mädchen auftritt.“

Ich hatte es im Gefühl, dass sie von mir sprachen.

Die Säuglingsstation hat mich nie besonders interessiert. Wir können zu den meisten Zeiten ungestört hineingehen und uns die Babys anschauen – aber eines sieht aus wie das andere und sie schreien und schlafen ja doch nur den Großteil der Zeit.

Aber eines Tages – kurze Zeit, nachdem ich Nancy belauscht hatte – ging Dr. Kyle mit mir dorthin und zeigte mir zwei Neugeborene, auf die er besonders stolz zu sein schien. Ich bemerkte nichts Auffälliges an ihnen, sie sahen aus wie alle anderen Babys. Still lagen sie in ihren Bettchen, eines mit einer blauen, das andere mit einer rosafarbenen Mütze.

„Das sind Matthew und Madison! Findest du nicht, dass die beiden dir ähnlich sehen, Maddie?“

Nein, das fand ich eigentlich nicht. Teilnahmslos zuckte ich mit den Schultern.

„Du bist sozusagen ihre große Schwester, sie werden einmal so werden wie du. Das Beste vom Besten!“ Dr. Kyle lachte herzhaft und legte mir seine Hand auf die Schulter. Allerdings schien es ihm nichts auszumachen, dass mir die beiden Säuglinge egal waren.

Große Schwester? Wieso?

Mit Chana und Gareth ging ich Matthew und Madison noch einmal besuchen, als sie fast ein Jahr alt waren. Da konnten sie schon plappern, saßen aufrecht da und spielten mit Bausteinen.

Jetzt, da man die ersten, rotbraunen Haare auf ihren Schädeln erkennen konnte, sahen sie zumindest ein bisschen wie ich aus.

„Hier nennen sie alle Baby Matt und Baby Maddie“, erklärte Chana und nahm Baby Maddie auf den Arm. Matt hingegen schien nicht getragen werden zu wollen, denn er tapste mit ersten, unsicheren Schritten selbst auf mich zu und streckte seine Arme aus.

„Jetzt gibt es dich schon dreimal – zweimal als Mädchen, einmal als Jungen“, erkannte Garet. „Die scheinen dich ja wirklich toll zu finden, wenn sie von dir nicht genug haben können.“

Was kümmerten mich diese angeblichen Miniaturausgaben von mir? Ich ließ Chana und Garet bei ihnen stehen und ging einfach wieder nach draußen.
 

Inzwischen bin ich nicht mehr ganz so alleine. Draußen vor der Tür unterhalten sich Dr. Kyle und Dr. Thompson. Ich kann sie hören, wenn ich mein Ohr fest gegen die Tür presse. Sie reden laut, anscheinend kümmert es sie nicht, wenn sie jemand hört. Und warum sollten sie auch noch auf mich Rücksicht nehmen? Dr. Kyle hatte mich ja vorhin schon entmenschlicht.

„Zwölf Jahre, Dr. Kyle! Sie hatten zwölf Jahre Zeit, das Mädchen kennen zu lernen und haben es nicht gewusst! Wir haben auf Ihr Anraten gleich zwei Kinder nach Maddies Vorbild synthetisiert, das hat uns ein kleines Vermögen gekostet! So viel Geld wie zu Beginn steht unserem Institut bei weitem nicht mehr zur Verfügung, das wussten Sie genau!“

„Ich hatte keine Ahnung, dass das in dem Mädchen noch ausbrechen würde!“ Das Mädchen. Nicht mehr „sein Mädchen“.

„Nun, wir können natürlich nicht zulassen, dass sie weiter…“ Das ist Dr. Thompsons Stimme. „Nun ja, sie verstehen mich. Wenn wir ein solches Potential nicht hundertprozentig kontrollieren können, ist das ein zu großes Risiko, das können wir nicht verantworten. Es ist schade, ich weiß. Maddie war ein Glücksfall, zu gut um wahr zu sein… Und wie sich jetzt herausgestellt hat, ist es wohl auch nicht war.“

„Sie war das Beste vom Besten“, erwidert Dr. Kyle, aber dieses Mal nicht stolz, sondern eher niedergeschlagen.
 

Eines Tages reizte Garet Nancy so, dass sie ihm schließlich drohte, sie würde dafür sorgen, dass er „entlassen“ wurde. Damit brachte sie ihn in einem seiner schlimmsten Wutanfälle tatsächlich zum Schweigen – und jagte ihm und den anderen umstehenden Kindern einen gewaltigen Schrecken ein.

Entlassen zu werden gehört wie das eingeordnet werden irgendwie dazu. Nur ist keinem von uns die Bedeutung von „entlassen werden“ klar; lange Zeit wussten wir wirklich absolut gar nichts darüber. Nur, dass es die schlimmste Art der Bestrafung war.

Erstaunlicherweise war es Garet, der schließlich mehr herausfand: „Sie haben Keisha entlassen. Das Mädchen, das sich immer alles merken konnte und nie etwas vergessen hat.“

„Woher weißt du das?“

„Ein paar der älteren Jungs haben’s mir erzählt. Sie ist eines Tages einfach verschwunden. Und der einzige Weg, wie man einfach verschwinden kann, ist, wenn man entlassen wird.“

„Tommy ist einfach so gestorben“, erinnerte ich ihn.

„Ja, schon. Aber sie haben uns gesagt, dass er tot ist. Bei Keisha haben sie gar nichts gesagt. Die aus ihrer Gedächtnis-Gruppe haben aber erzählt, dass sie vor ihrem Verschwinden nachgelassen hat. Sie hat Sachen vergessen und wahrscheinlich sogar absichtlich, weil sie sich mehr für Jungs interessiert hat.“

Unter normalen Umständen hatte ich deshalb vielleicht gekichert – ich war zehn und Jungs kamen mir furchtbar uninteressant vor. Aber die Vorstellung, dass jemand wirklich entlassen wurde, faszinierte mich. Ich musste einfach wissen, was passiert war! „Haben sie Keisha einfach weggeschickt? Woanders hin?“

„Chana hat mich gewarnt“, flüsterte Garet dann und klang auf einmal furchtbar geheimnistuerisch und gleichzeitig aufgeregt. „Vor dem Entlassen. Ich soll brav sein. Denn wenn sie dich entlassen, dann gehst du da hin.“ Langsam deutete er mit dem Finger nach oben.

„Zum Nordpol?“

„Nein. Dann gehst du wohin, wo du nicht mehr zurückkommst.“

Ich verstand es und gleichzeitig wollte ich es nicht verstehen – ich wollte es nicht glauben, ich redete mir ein, dass es Unsinn war. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

Wir alle kommen einmal an einen Punkt, an dem wir nicht weiter wollen. Dann geht es uns wie Garet und wie Keisha. Aber nur, wenn es sehr schlimm wird, entlassen sie einen. Meistens ist es nur eine Phase, sie tolerieren es, bringen einen zur Vernunft und alles geht danach wieder seinen gewohnten Gang.

Irgendwann begann auch diese Phase bei mir, ich hatte zu nichts mehr Lust; ein Teil von mir jedoch redete mir selbst ständig ein, dass ich doch das Beste vom Besten sei und solche Gefühle wie Lustlosigkeit keinen Einfluss auf mich haben konnten. Dazu war ich einfach zu schlau.

Aber ich war auch zu schlau um bei allem weiterhin mitzumachen. Wenn ich doch keine Lust dazu hatte, dann hatte das doch vielleicht auch seine Gründe. Warum durften andere dann entscheiden, dass ich es doch zu tun hatte?

Sie versuchten mich, seit ich denken konnte, mit Vernunft zu erziehen. Aber ich erkannte, dass ich nicht gleichberechtigt war. Ich durfte zwar verstehen, was mit mir geschah, aber keinen Einfluss darauf haben.

Wann konnte ich das selbst bestimmen? Wenn ich so schlau war, warum ließen sie nicht zu, dass ich für mich selbst Verantwortung übernahm, sondern planten alles – was ich tat, was ich aß, was ich sah oder hörte.

Ich beobachtete die Älteren, die man bald selbst als Erwachsene bezeichnen konnte und erkannte nicht, dass sie im Laufe der Jahre wesentlich mehr Verantwortung für sich selbst hatten übernehmen dürfen.

Zu bestimmten Zeiten standen wir auf und gingen wieder ins Bett; was wir aßen konnten wir uns nicht aussuchen; auf das, was wir tagsüber tun durften, hatten wir nur indirekt Einfluss – indem wir nämlich mit Talent dazu geboren wurden oder nicht.

Wenn ich doch so verdammt schlau war und alles konnte, warum war ich dann nicht zu den einfachsten Dingen in der Lage? Nämlich eigene Entscheidungen zu treffen?

All die Menschen da draußen lernen jeden Tag, für sich Verantwortung zu übernehmen, obwohl sie gerade mal einen Bruchteil unserer Intelligenz haben. Das ist unlogisch.

Ich wollte selbst bestimmen, wann ich schlafen, essen, Sport machen oder lesen sollte. Selbstentscheidung in den einfachsten Dingen fehlte mir. Fehlte uns allen, aber die anderen schienen das nicht weiter zu Kenntnis zu nehmen. Und wenn doch, dann war es ihnen egal.

Ich jedoch begann, mich wie ein Tier im Käfig zu fühlen.
 

Eine Zeit lang war mir sogar einmal Dr. Kyles Anerkennung nicht mehr so wichtig. Ich hätte seine Zuwendung darum gegeben, frei zu sein. Aber jetzt, wo ich hier sitze und weiß, dass ich einen Fehler begangen habe, denn ich nie wieder gutmachen kann, wünschte ich, ich hätte mich anders verhalten. Hätte nur wieder die Dinge getan, die ihn stolz auf mich machten.
 

Als ich elf wurde, dachte ich oft daran, dass ich freier sein könnte. Ich wusste, ich wäre dazu in der Lage; das Potential meines Verstandes, von dem alle immer so begeistert waren, sprach doch schon dafür, dass ich für mich selbst entscheiden konnte. Das ich wusste, was ich tat!

Aber einen konkreten Weg, aus dieser Enge auszubrechen, fand ich nicht. Es war nicht so, dass mir keiner einfiel, aber ich wusste, dass es recht unrealistisch war. Allein zu wagen, daran zu denken, war nicht tollkühn, sondern naiv.

Zumindest schien das so, bis Garet eine Ankündigung machte: „Chana hat gesagt, sie hätte so gerne, dass ich ihr Sohn sei!“

Das war etwas, was nie ein Betreuer zu einem von uns hätte sagen dürfen und wir beide wussten es auch. Trotzdem hielt Garet an dieser Vorstellung fest, dass Chana und er wirklich eine Familie sein könnten.

Ich sah darin noch etwas anderes: Frei sein. Als Mitglied einer Familie, das hatte ich gelernt, trug man mehr Verantwortung als ein Kind, das in einem Forschungshort lebt. Deshalb reifte die Idee, bei Chana zu wohnen, in mir heran wie in Garet. Dieser Wunsch, den ich Nacht für Nacht ausbaute, verlieh mir ganz neue Kräfte. Eröffnete neue, wunderbare Perspektiven.

Als sie Chana wegschickten, verzweifelten wir beide. Unsere wunderschönen Vorstellungen zerplatzten wie Seifenblasen. Es waren eben nur Sehnsüchte gewesen – und Sehnsüchte waren dazu bestimmt, unerfüllt zu bleiben.

Garets Verhalten verschlimmerte sich, während ich versuchte, so normal zu werden wie möglich. Wenn man kooperiert, das habe ich von klein auf gelernt, dann hat man es leichter. Und durch Chana hatte ich noch eines gelernt: Wenn man wünscht, dann verletzt man sich dabei nur selbst. Denn früher oder später muss man seine Traumwelt ja doch wieder verlassen, denn die Realität hat allmächtige Wege, dich zu finden, damit sie dich ins Gesicht schlagen kann.

„Sie werden mich wirklich entlassen, hat Nancy gesagt“, eröffnete mir Garet eines Tages düster.

Ich ignorierte ihn und seine Ankündigung, nichts ahnend, dass er nicht vorhatte, sich seinem Schicksal zu ergeben.
 

Es scheint Dr. Kyle und Dr. Thompson wirklich nichts mehr auszumachen, ob ich sie hören kann oder nicht. Sie kommen ins Zimmer, schauen mich an und reden wieder, ganz offen.

„Was ist, wenn man den Drang nach Freiheit in keinem der Kinder – in keinem Menschen unterdrücken kann?“ Dr. Thompson schüttelte den Kopf. „Früher oder später wird uns das vielleicht mit allen Kindern passieren.“

„Das ist Unfug. Jahrelang ist nichts passiert – noch nie hat jemand versucht, wegzulaufen. Garet hätten wir früher entlassen sollen, Chana hätte nie hier arbeiten dürfen… Wer weiß…“

„Es liegt in den Genen, Kyle, das wissen sie genauso wie ich. Keinen Grund, das zu leugnen. Der kleine Geiger wäre keine Gefahr gewesen, denn mit unkontrollierter Musik alleine, so bezaubernd sie auch ist, können wir umgehen.“

„Wenn es wirklich in seine Genen liegt, hätte dich ohnehin keine Hoffnung auf Besserung bestanden.“ Dr. Kyle versuchte, Thompson mit seinen eigenen Argumenten auszustechen.

„Sehen wir es einfach als gescheitert. Den Jungen haben wir entlassen, jetzt erledigen wir das mit dem Mädchen.“
 

Es war Garets Idee gewesen, wegzulaufen. Das offene Tor hatte er entdeckt, er wollte wahrscheinlich noch dringender zu Chana als ich. Für ihn ging es schon vorher um Leben und Tod.

Ich habe auf ihn gewartet und er kam nicht; alleine habe ich es nicht einmal bis zum Wald geschafft, sie haben mich entdeckt und zurückgebracht

Garet, wo war er bloß?

Ich war das Beste vom Besten. Dr. Kyle hat mir von all den Jahren Forschung erzählt, die betrieben wurde, bevor man in der Lage war, Kinder wie uns zu erschaffen. Und ein Kind wie mich… So etwas hätten sie frühestens in zehn Jahren erwartet. Wenn ich diesen einen Fehler nicht gehabt hätte, hätte ich ihre Forschung wesentlich beschleunigt. Durch mich selbst hätte ich die Welt verändern können, ich hätte nur weiter lernen müssen. Alles lernen und dann selbst ganz neue Dinge entdecken und lehren…

Mein Verstand ist keineswegs so großartig, denn er hat den Wunsch nach Freiheit höher bewertet als den, die Pflicht zu erfüllen, die ich habe, weil ich bin was ich bin.
 

Dr. Kyle selbst ist es, der eine Spritze aus der Schublade holt. Der Mann, der so stolz verkündet hat, dass ich das Mädchen sei, das nie weinte! Deshalb werde ich auch jetzt nicht weinen. Nicht, damit er vielleicht doch noch stolz auf mich ist oder Mitleid hat – denn solche Gefühle hat man nur für Menschen und ich bin ja jetzt durch mein Versagen kein Mensch mehr.

Nein, ich werde einfach nicht weinen, weil ich nicht weinen will.

Während Dr. Thompson den Raum wieder verlässt, fallen mir Matthew und Madison ein. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Die beiden werden jetzt wohl auch nutzlos sein, wo man weiß, dass unsere Gene verdorben sind.

Ob Garet wohl noch versucht hat, zu unserem Treffpunkt zu kommen? Oder haben sie ihn vorher schon gefunden? Hatten sie die ganze Zeit vorgehabt, ihn heute zu entlassen?

Ich weine nicht, ich werde nicht weinen. Dr. Kyle hat sich immer noch ein Stück von mir weggedreht, er sieht mich nicht an, sondern starrt nur auf die Spritze. Er muss es tun; ich bin gefährlich, wenn man mich nicht kontrollieren kann.

Was ist mit all den anderen Kindern? Denen, die ich jeden Tag beim Turnen, Lesen, Rechnen, Malen, Musik machen und all dem anderen gesehen habe? Werden sie es denn vielleicht auch einmal spüren, den Wunsch, für sich selbst zu entscheiden? Werden sie andere Wünsche haben, die ebenso unerfüllbar sind? Oder bin ich denn wirklich so aus der Art geschlagen?

Dr. Kyle sieht mich schließlich doch an, aber sein Blick ist glasig, als er ruhig sagt: „Es wird nicht wehtun, Maddie.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  akaspirin
2007-12-08T22:02:33+00:00 08.12.2007 23:02
Oh mein Gott. Das ist mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen. Immer mehr kleine Dinge sind während der Geschichte herausgekommen, das war faszinierend.
Ich denke mal es sollte so sein, aber am Anfang dachte ich nocht: "Häh?" XD Der erste Abschnitt sagt einem gar nichts, wenn man den Rest nicht kennt.

Die Geschichte ist toll :3 Erinnert mich am Ende ein wenig an "The Giver" von Lois Lowry, aber nur das Ende.

Ich gucke mal gleich, ob du andere Geschichten hochgeladen ist xD Ich habe noch gar nicht geschaut...

Lalala, das aka
Von:  Paradiesvogel
2007-10-05T18:47:00+00:00 05.10.2007 20:47
Schade, dass Geschichten wie deine hier so wenig Anerkennung finden...

Ich bin dank besagten Zirkels über deine FF gestolpert und froh darüber.
Zuerst einmal hat mir deine Art, die Geschehnisse zu beschreiben sehr gut gefallen. Es wirkt nicht, als würdest du dir da etwas aus den Fingern saugen, sondern Fakten gut verpackt erzählen.

Der Wechsel zwischen Maddies aktueller Situation und der Hintergrundgeschichte ist auch schön gestaltet. Beide Erzählstränge laufen am Ende plausibel zusammen.

Mich hätte noch interessiert, was mit Chana passiert ist. Eine kleine Andeutung hätte schon gereicht (oder habe ich die übersehen? ^^ )

Außerdem wundert mich, dass Garet erst so spät 'entlassen' wurde, während auf Maddies Ausbruchsversuch sofort reagiert wird.
Garets Eigenheiten waren schließlich nichts weiter als die Entwicklung eines eigenen Chakters. Ein Zeichen von dem Verlangen nach Freiheit, vor dem die Forscher so viel Angst zu haben scheinen.



So, alles in allem ist die Geschichte jedenfalls ein literarischer Leckerbissen unter all den anderen Geschichten auf Mexx *g*


Erhälst du überhaupt Bescheid, wenn du ein Kommentar bekommst? Nicht, dass ich hier ganz umsonst rumgetippert habe XD



Tyki


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