06 Rain [Mello und Near]
Der Regen prasselte leise gegen die Fenster und zog die Streifen an den Scheiben lang. Durch das Glas versank draußen alles in einem nebeligen, konturlosen Farbgemisch aus dem Grau des Himmels und der alten Steine der Gebäude und dem blassen Grün des Gartens, der langsam dem Druck des Frühherbstes nachzugeben begann.
Near saß auf der Marmorfensterbank und sah nach draußen. Er hatte die Beine an den Körper gezogen und seine nackten Füße auf den kalten, ebenso nackten Stein gesetzt. Die Kälte störte ihn nicht. Nachdenklich wickelte er eine seiner weißen Locken, die ihm wirr ins Gesicht fielen, um den Finger, bis es fast schmerzte, ließ sie dann los und begann erneut.
Der Regen wurde stärker und wusch den Schmutz, den die Pollen der Bäume am Glas abgesetzt hatten, von den Fenstern. Mittlerweile war die Scheibe ein Wasserfall – nicht mehr einzelne Tropfen, die sich an das kalte Glas klammerten, sondern ein durchgängiges Wasserbild, verschwommen und ständig in Bewegung. Der Himmel verfinsterte sich immer mehr und die dunklen Wolken am Horizont, die über die Dächer der Stadt zogen, kündigten ein Gewitter an.
Regen entstand in der oberen Troposphäre. Kleine Eiskristalle wirkten als Kondensationskeime, die Feuchtigkeit sammelten und durch Druck schmolzen und schließlich als Tropfen wieder zur Erde fielen. Das war die allgemeine Definition. Sie war fehlerlos und rational. Regen war ein ständiger, simpler Prozess, der sich immer wieder wiederholte.
Near hörte wie jemand die alten Holzstufen zum zweiten Stock hinaufkam und von seiner schnellen, harten Gangart, die Unzufriedenheit in jedem Schritt schrie, konnte er erkennen, dass es Mello sein musste. Es blitzte einmal.
Die Tür flog kraftvoll auf und schlug hart gegen die Wand.
„Verdammter Scheißdreck, dieses Pisswetter.“ Mello fuhr sich durch die nassen, blonden Haare, die ihm im Gesicht klebten und von denen kleine Tropfen auf seine Wimpern fielen, so dass er blinzeln musste. Er trat seine Lederstiefel lautstark in die Ecke und sie polterten gegen die Wand. Er kümmerte sich nicht darum, dass der Parkettboden unter ihm sich langsam dunkel färbte.
Von seiner geschützten Platz auf der Fensterbank betrachtete Near ihn. Dann sah er wieder nach draußen.
„Scheiße, schau dir das an – ich bin klatschnass. Weißt du, was das bei Leder bedeutet? Ich kann das Zeug wegwerfen.“ Barfuss waren seine Schritte leise. Nur der Saum seiner Hose, die nass und ohne die Absätze seiner Stiefel an seinen Fersen haftete und über den Boden schleifte, zeigte, dass er sich überhaupt bewegte. Er stellte sich auch an das Fenster und sah hinaus, als würde er erwarten, dort etwas Außergewöhnliches zu sehen.
Near sah nachdenklich nach draußen. „Behold, he cometh with clouds; and every eye shall see him, and they also which pierced him: and all kindreds of the earth shall wail because of him”, rezitierte er und began wieder damit, eine seiner Strähnen um seinen Finger zu wickeln.
Mello sah ihn langsam an und hob eine Augenbraue. Near schenkte ihm nur einen kurzen Blick und dann sahen beide wieder zum Fenster hinaus.
Sie schwiegen eine Weile, beide verloren im Geräusch des Regens und des leisen Donners in der Ferne. Irgendwann erwiderte Mello: „Offenbarung des Johannes, 1.“ Dann schnaubte er abfällig und fügte noch verächtlich hinzu: „Es ist nur Regen. Es pisst. Ich bin nicht durch dieses Scheißwetter gelaufen, um mir deine melancholischen Auswüchse anzutun.“ Es blitzte wieder.
Near zuckte mit den Schultern und stieg von der Fensterbank hinunter. Mello zog die Augenbrauen wütend zusammen, aber anstatt etwas zu sagen, ballte er nur die Hände zu Fäusten.
Auf dem Sekretär lagen einige Dokumente. Near nahm sie, drehte sich wieder herum und reichte sie Mello, der ihm widerwillig die zwei Schritte entgegenkam und ihm die Papiere förmlich aus der Hand riss. Er überflog sie kurz und sein Mundwinkel begann zu zucken. Near hatte sich abgewandt und auf den Boden gesetzt, in mitten einer strukturierten Bausteinlandschaft. Ein Turm war durch Mellos Stiefel eingestürzt.
Er war gerade dabei, ihn wieder zu errichten, da unterbrach Mellos vor Wut zitternde Stimme die Stille des Raumes und den ausgeschlossenen Regen.
„Vergiss es, ich bin nicht dein verfluchter Handlanger. Du Bastard! Ich arbeite nicht für dich.“ Er knirschte mit den Zähnen und warf Near die Papiere vor die Füße.
Der sah nur langsam auf und zog eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, du seist auch nicht gut auf diese Person zu sprechen. Habe ich mich etwa geirrt?“
„Hast du nicht und das weißt du auch, du Bastard.“
Es klickte, als ein Baustein auf dem anderen einrastete. „Dann wäre es doch auch von Vorteil für dich, wenn er dingfest gemacht würde.“
Die Lederhandschuhe knirschten, als Mello die Hände zu Fäusten ballte. „Aber ich arbeite nicht für dich, Drecksschwein. Ich kann nicht glauben, dass du mich für diesen Scheiß angerufen hast!“
Near antwortete nicht. Es blitzte. Der Donner ließ einige Sekunden auf sich warten.
Irgendwann, nach einigen Minuten, in denen Mello versuchte, seinen Zorn zu kontrollieren und Near das Grundgerüst seines Turmes vollendete, blitzte es wieder.
Mello schnaubte abfällig und setzte sich widerwillig auf den nassen Parkettboden. Er riss die Blätter an sich. „Dass wir uns nicht falsch verstehen, ich mache das nur für mich! Und ich mache das auf meine Weise, also schmier dir das ab mit dem verfluchten Dingfestmachen.“ Er blätterte wütend durch die Dokumente. „Außerdem habe ich keine Lust, durch dieses beschissene Kackwetter zurückzulaufen, klar?“
Er erhielt keine Antwort. Nur das Einrasten eines weiteren Bausteins und Nears abgewandter Rücken.
Sie saßen so eine ganze Weile da. Draußen schlug der Regen gegen die Fensterscheiben, als wolle er Einlass verlangen. Nur das Rascheln der Blätter und das Klicken der Bausteine störte hin und wieder die konstante Geräuschkulisse der Tropfen gegen das Glas.
Plötzlich blitzte es hell auf und der Donner krachte fast gleichzeitig gegen die Häuserdächer. Mello sah von seinen Dokumenten auf und Near von seinem Projekt und beide sahen sich an und beide merkten, dass Mello unruhig mit den Fingern über seinen Rosenkranz fuhr und dass Near sich auf die Lippe biss und seine Hand, die durch seine Haare gefahren war, zum Stillstand gekommen war, aber beide sagten nichts. Ein Blick wurde ausgetauscht und dann wandten sich entschieden wieder ihren Aufgaben zu.
Sie saßen noch lange auf dem Fußboden, die Rücken zueinander. Das Gewitter zog vorbei und danach klarte der Himmel auf und es wurde ein schöner Tag.
36 Snow [L]
Ein kleiner Junge trat zögernd aus dem Türrahmen hinaus in den Schnee. Es knirschte, als zerbrechliche Füße in schwarzen Lackschuhen den Boden berührten.
Die Sonne war grell und die Luft frisch und kühl. Der Tag vertrieb alle Gedanken an staubige Bibliotheken und stickige, alte Zimmer, in denen Stille herrschte, aber man doch nicht alleine war.
Die anderen Kinder tobten wild durch das geschmeidige Weiß, lachten, kicherten, schrieen. Sie schrieen und schmissen Schneebälle. Neben der alten Eiche baute ein Mädchen mit blonden Haaren und Sommersprossen einen Schneemann. Auf dem vereisten See liefen ein paar Jungen Schlittschuh und versuchten einander davonzufahren. Ihre Stimmen drangen bis ins alte Gemäuer aus abgenutzten Backsteinen.
Der Junge betrachtete die Kinder mit großen Augen. Seine Hand hielt immer noch am Türrahmen fest. Er ging nicht weiter. Er stand da und sah den anderen zu, wie sie spielten, wie sie tobten und Spaß hatten.
Irgendwann begann es wieder zu schneien. Kleine, weiße Flocken fielen aus dem grauen Winterhimmel, der mit seiner Wolkendecke den gesamten Himmel überzog, so weit der Junge schauen konnte. Von der Spitze des alten Klosters bis zu den Hügeln am Horizont. Der Junge hob seine blasse, kleine Hand und hielt sie dem Schnee hin.
Eine weiße Flocke segelte in seine Handfläche und schmolz direkt gegen seine warme Haut. Als sie sich zu klarem Wasser auflöste, rieb er vorsichtig und langsam die Hände gegeneinander. Dann betrachtete er seine Handflächen.
Ein Kind schrie lachend auf. Der Junge sah auf, seine großen, schwarzen Augen ausdruckslos, aber aufmerksam.
„L, wo bist du nur? Komm rein, es ist viel zu kalt für dich!“ Eine ältere Schwester fasste ihn an der Schulter und schnalzte mit der Zunge. „Sieh dich an, dein schöner Anzug ist voller Schnee. Und deine Haare erst!“
Sie fuhr ihm entschieden, aber liebevoll durch die wirren, schwarzen Strähnen und er sah zu ihr auf. Die Schwester sah ihn an und lächelte. Dann fasste sie ihn an der Hand und zog ihn sanft wieder in das warme Kloster hinein, weg von der Kälte und dem Schnee.
Bevor die schwere Tür ins Schloss fiel, sah der Junge noch, wie die Kinder auf dem Eis begannen, Pirouetten zu drehen.
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Der Schnee war kalt unter seinen nackten Füßen. Er grub sich zwischen seine Zehen und schmolz zu Eiswasser unter seiner Haut. Er sah kurz hinab, sah, wie der Saum seiner Hose sich dunkelblau färbte.
Die Autos, die über die glatten Straßen fuhren, spritzten das Wasser an den Bordsteinkanten hoch und die wenigen Fußgänger trugen Schale und Mützen und versuchten sich so tief in ihrer Kleidung zu verstecken, wie sie nur konnten. Einige Grundschüler liefen aufgeregt über den Bürgersteig und warfen sich gegenseitig Schnee entgegen. Die Erwachsen sahen sie missbilligend an.
Der junge Mann sah durch seine wirren, schwarzen Haare hindurch auf in den Himmel, der grau und verraucht war. Die Luft roch nach Abgasen und es war laut. Irgendwo ein paar Blocks weiter wurde gebaut.
Die großen, schwarzen Augen des Mannes richteten sich auf die Kinder, die stehen geblieben waren und lachten. Ein Auto fuhr scharf an einem jungen Mädchen vorbei, das zu nah an der Fahrbahn stand. Sie wurde nass.
Es begann zu schneien.
Die Kinder riefen dem Auto wütende Dinge hinterher. Das Mädchen, die geflochtenen, dunklen Haare nass und dreckig, weinte. Die Kinder gingen.
Die weißen Flocken nestelten sich in die dichten Haare des Mannes. Fast zögerlich hob er eine Hand und hielt sie dem Schnee hin. Die Flocken schmolzen auf seiner warmen Haut und er blinzelte einmal. Er rieb die Finger gegeneinander, als sich eine Flocke auf seinen Zeigefinger setzte. Das Wasser war kalt.
„Ryuuzaki! Was machst du hier draußen?“ Lights Stimme war irritiert, aber auch ein wenig besorgt. Es schneite heftiger. „Komm rein! Es ist viel zu kalt. Du hast noch nicht einmal Schuhe an!“
Der junge Mann sah kurz auf den Schnee, der weiß und still die Einfahrt bedeckte. Seine Augen richteten sich gen Himmel und er musste blinzeln, als das helle Licht in seinen Augen schmerzte.
„Komm jetzt.“ Lights Hand auf seiner Schulter war warm. Sie bildete einen Kontrast zu dem kalten Schnee unter seinen Füßen.
Der junge Mann mit den schwarzen Haaren und den dunklen Augen sah Light kurz und unbewegt an, dann führte ihn die Hand auf seiner Schulter zurück in das Gebäude.
Durch die Glastür konnte er sehen, wie ein Mann begann, seinen Hauseingang freizuräumen. Dann schlossen sich die Aufzugtüren.
In between the cover of another perfect wonder
Where it's so white as snow
Running through the field where all my tracks will
Be concealed and there is nowhere to go
35 Bonds [Mello, Matt, Near]
Während die ersten der kleinen Kinder schon wieder ins Bett mussten, nachdem sie ihr Abendgebet gesprochen, die Zähne geputzt und sich umgezogen hatten, roch es draußen nach Sommer und Lavendel. Der Boden war warm und die dunkle Abendsonne, die sich in die Kronen der alten Eichen nestelte, tauchte die Gärten und den Wald in ihr gemütliches Licht. Eine Wildtaube gurrte träge in den Wipfeln.
Es war ein außergewöhnlich warmer Tag gewesen. Die Schwestern hatten die Wäsche auf die Leinen gehängt und die Gelegenheit genutzt, die Kinder anzuweisen, die Schuhe zu säubern, die nun wie kleine Zinnsoldaten vor der Hauswand gereiht standen, ein Paar neben dem anderen.
Einige Kinder spielten auf der Wiese unter den Wäscheleinen Fußball. Ihr Gelächter war mit dem Abend leiser geworden, um die schlafenden Kinder nicht zu stören. Es war schon recht ungerecht, um sechs Uhr schon leise sein zu müssen, aber Regeln waren Regeln und eben diese Regeln sicherten ein friedliches Zusammensein. Und das war das Wichtigste.
Es knallte, als der alte Fußball gegen die Rinde eines Baumes schlug und abprallte. „Mello, pass doch auf!“
Meist zumindest war es das Wichtigste.
Desinteressierte dunkle Augen sahen von dem verstaubten Physikbuch auf und beobachteten den Ball, der an seinen Füßen vorbeirollte und im hohen Sommergras zum Stehen kam.
„Was machst du denn hier?“ Mellos Stimme klang wütend – Mellos Stimme klang immer wütend. Die meisten Menschen verstanden diesen Zorn nicht, der nicht gegen sie gerichtet war. Aber Near war nicht die meisten Menschen – er verstand es, aber es interessierte ihn nicht. Ihn interessierte ohnehin nicht sonderlich viel, also war das gar nicht erstaunlich – und Mello verstand sein Desinteresse, aber es machte ihn dennoch wütend.
Der Junge wickelte eine seiner weißen Strähnen um den Finger. Mello sah, dass seine Haut fast so blass war wie seine Haare. Er schnaubte verächtlich. Wer hatte schon weiße Haare? Sonderlinge.
„Ich habe dich etwas gefragt!“, fuhr er auf und verschränkte die Arme.
Near sah den Ball weiterhin an, dann meinte er leise: „Schwester Emily meinte, ich solle rausgehen.“ Seine Stimme verriet, was er davon hielt.
Mello zog eine Augenbraue hoch, so dass sie unter seinem blonden Pony verschwand. Der Sommer hatte ihm eine leichte Bräune gegeben – ein Überbleibsel der letzten Tage, die er mit Matt, dem mexikanischen Jungen, draußen auf dem Bolzplatz verbracht hatte. Die beiden hatten sich in den paar Tagen anscheinend angefreundet. Mello hatte nie Probleme gehabt, Freunde zu finden.
Near war da anders. Er wollte gar keine Freundschaften schließen – er war lieber für sich, zurückgezogen in der Bibliothek oder auf dem Dachboden, auf den sich nur selten eines der Kinder verirrte. Er mied den Hof und die Wiese unter den Wäscheleinen.
Und meistens ließen die Schwestern des Wammy’s House ihn. Sie verstanden ihn nicht, wussten nicht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Sie widersprachen ihm nicht.
Dabei war es eigentlich absurd, wie Mello fand. Near war leicht zu durchschauen. Er machte sich immer die kleinsten Schwierigkeiten. Wenn er nicht hinaus musste, dann tat er es nicht. Forderte man ihn auf, dann tat er es. Er stritt ungern. Es war Arbeit. Es war sinnlos.
Nur forderte ihn selten jemand auf – was ungerecht war, dachte Mello. Was war an Near so besonders, dass die Schwestern ihn nie irgendetwas tun ließen? Nicht einmal seine Schuhe musste er putzen, weil er keine Schuhe besaß. Das war eine weitere Dreistigkeit – nicht einmal zum Gottesdienst musste er sie anziehen.
Mello runzelte verärgert die Stirn. „Dann stör uns nicht beim Spiel!“ Er griff sich den Ball und rannte mit einem letzten verächtlichen Blick zurück zu den anderen.
Near sah ihm kurz nach, dann wandte er sich wieder seinem Buch zu.
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Es war mittlerweile spät. Das Dämmerlicht berührte das Waisenhaus und die spielenden Kinder waren in die alte, ausgediente Kapelle gegangen. Es war immer noch warm. Der Ball lag vergessen im Gras.
Das Rascheln von nackten Füßen im Gras vermischte sich mit dem Zirpen der Grillen und dem Gurren der Tauben. Irgendwo schlug jemand einen Fensterladen zu.
„Wo gehst du hin?“
Der Junge blieb stehen und das Rascheln hörte auf. Blonde Haare strichen über schmale Schultern, als er sich herumdrehte und den Blick hob. „Zum See. Brauchst nicht mitzukommen.“
Der Junge mit den zerzausten dunkelroten Haaren zuckte mit den Schultern. „Was willst du da? Es ist dunkel.“
Mello verschränkte die Arme. „Ist doch egal.“ Dann drehte er sich wieder um und ging weiter.
Matt – der Junge mit der Fliegerbrille, wie er bei den anderen Kindern hieß, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um sich den Namen von Neuankömmlingen zu merken – hob eine Augenbraue, zuckte dann mit den Schultern und folgte ihm. Die Sachen, die Mello machte, waren meist interessanter als zu schlafen.
Der See lag weiter im Wald. Er war ein Ort, an den die Schwestern oft mit den Kindern gingen, besonders an Tagen, an denen es warm war. Die Kleinen hatten ihren Spaß und die Neuen vergaßen ihren Kummer, wenn sie mit den anderen im Wasser planschten.
Mello ging nie zum See. Nicht mit den anderen. Er blieb bei den älteren Kindern und spielte Fußball mit ihnen – es half ihm, seine Aggressionen abzubauen. Matt spielte meist mit. Fußballspielen, das kannte er aus seiner Heimat. Da hatten sie oft Fußball gespielt.
Der See lag ganz ruhig da, spiegelglatt. Das Dämmerlicht ließ die Situation etwas surreal erscheinen. Ein Moskitoschwarm tanzte über dem Wasser.
Matt setzte sich neben Mello, der einen kleinen Stein nahm und ihn aufs Wasser schnipste, so dass er Kreise in den See zog. Er sah wütend aus – nicht so hart, ständig wütend wie sonst, sondern frustriert wütend. Besonders wütend eben. Matt war nie gut mit Worten gewesen, er wusste es eben und das reichte.
Er sagte nichts. Wenn Mello nichts sagen wollte, dann hakte er nicht nach. So einfach war das. Sein Großvater hatte gesagt, sprechenden Menschen konnte geholfen werden. Matt redete selber nicht viel.
„Hast du den Jungen gesehen?“, fragte Mello nach einiger Zeit mit zittriger Stimme und zusammengezogenen Augenbrauen. Er sah seinen Freund an.
Matt überlegte kurz, dann erwiderte er: „Den mit den weißen Haaren? Hab schon gemerkt, dass du wütend warst.“ Er warf auch einen kleinen Kiesel aufs Wasser. Er versank sofort. „Was ist denn mit dem?“
Der Blonde schwieg kurz und grub seine Ferse in die weiche Erde. „Er heißt Near. Er ist ein Dreckskerl.“
Matt sah kurz auf mit seinen dunklen Augen und blinzelte dann. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er schwieg.
Mello fuhr fort und seine Hand krallte sich in den Stoff seiner schwarzen Hose, dass die Knöchel hervortraten. „Ich habe es so satt. Ich habe ihn so satt. Ich hasse wie er redet, wie er sitzt, wie er isst, verdammt noch mal. Immer heißt es Near hier, Near da, Near ist ja so ein Genie!“ Er imitierte die Stimme von Schwester Erika. Dann schnaubte er und fuhr sich zornig durch die Haare. „Mello, Mello ist ja immer nur die Nummer zwei, der ist ja auch schlau, aber nie gut genug, nie!“
Matt hörte ihm ruhig zu und versuchte weiter, die Kiesel dazu zu bringen, mehr als einmal aufzuspringen. Nach einiger Zeit gelang es ihm. „Ist der so klug?“
„Natürlich. Der Scheißkerl ist verdammt klug. Das bin ich aber auch. Aber das sieht keiner. Ich bin immer nur Zweiter und als Zweiter bist du nur ein Dreck, sonst nichts.“ Seine Stimme klang bitter und hasserfüllt und Matt fragte sich, ob es in Ordnung für einen Zwölfjährigen war, so bitter zu klingen. War aber auch egal. Er rieb sich wieder über die Augen und nieste einmal.
Mello sah ihn merkwürdig an. Dann biss er sich auf die Lippe. „Weißt du, Near ist in deren Augen ja was Besonderes, das kleine Genie, weiße Haare und alles und ach nein, so erwachsen für sein Alter. Dabei ist er ein arroganter Idiot. Aber die sind zu blöd, das zu sehen.“
Sie schwiegen eine Weile. Es war keine unangenehme Pause. Es war eine vertraute Pause und das war schon erstaunlich, nach nur ein paar Tagen des Kennens. Aber das machte nichts. Manche Dinge passierten halt.
Nach einer Weile meinte Matt: „Ist mir gar nicht aufgefallen, der Kerl.“ Er sah Mello an.
Der Blonde sah fast überrascht aus, mit seinen leicht geweiteten Augen. Und jünger, ohne die Wut. Vielleicht wie elf Jahre. Fast. Dann fing er sich und grinste. „Richtig so, gibt’s ja auch nichts zu sehen bei dem Kerl.“
Sie saßen wieder da und wieder entstand eine Pause, aber diese war zufrieden. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Eine Weile warfen sie noch Kiesel ins Wasser.
„Scheiße“, bemerkte Matt plötzlich und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Seine Stimme klang nasal.
Mello sah auf, hob eine Augenbraue und zog seine Hand unwirsch weg. „Was ist?“ Blut tropfte auf das gestreifte Hemd, hinterließ kleine, dunkle Flecken im Dunkeln der eingebrochenen Nacht. Mello runzelte die Stirn. „Du hast Nasenbluten!“
Matt sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Bin allergisch gegen Pollen“, meinte er und nieste und spritzte dabei Blut auf Mello, der ihn angewidert ansah. „Scheiße“, murmelte der Mexikaner und rieb sich die Nase.
„Warum bist du Idiot dann mitgekommen? Verdammt, du saust uns beide voll!“, erwiderte Mello nur halb verärgert und griff in die dunkelroten Haare. Er drückte ihn unwirsch hinunter. „Kopf nach unten oder willst du in deinen Mund bluten? Bleib so!“
Selbst wenn Matt hätte antworten wollen, er war damit beschäftigt, den Mund offen zu halten. Er blinzelte nach oben, als er eine nasse Hand im Nacken spürte. Mello sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Geht’s schneller vorbei, okay?“, sagte er und drückte ihn weiter hinunter.
Die Blutung schien nicht stoppen zu wollen. Der Boden war schon rot. Matt betrachtete ihn halbwegs interessiert. Seine Augen juckten und waren geschwollen. „Ist interessanter hier“, meinte er fast beiläufig.
„Was?“ Mello zog eine Augenbraue hoch und wechselte die Hand. Das Blut tropfte langsamer.
Matt drehte den Kopf ein wenig und sah zu ihm auf. Sein Gesicht war blutverschmiert – die Schwestern würden in Ohnmacht fallen. „Ist interessanter hier als im Heim. Gibt’s nur Langweiler. Deshalb bin ich mitgekommen.“
Es dauerte einen Moment, bis Mello reagierte. Er senkte den Blick kurz, dann sah es aus, als wollte er etwas erwidern.
Er kam nie dazu, weil Matt sich in diesem Moment tatsächlich an seinem eigenen Blut verschluckte und anfing zu husten. Es half nicht, dass er dabei Mellos Arme vollspritzte – der auffuhr und ihn harsch nach unten drückte.
„Kopf nach unten, habe ich gesagt! Du Idiot!“
„Das ist widerlich“, murmelte Matt leise und fuhr sich über die Lippen.
Mello rollte nur die Augen, sagte aber nichts. Nach einer Weile des Schweigens meinte er: „Nichts ohne Risiko, was? Gefährliche Einstellung.“ Dann grinste er. „Gefällt mir.“
Matt schnaubte nur und hielt sich die Hand vor das Gesicht, als er dabei den Boden sprenkelte.