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Alchemy Invasion

von

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Erinnerungen

Ankündigung: Alle mit einem (*) markierten Wörter, werden am Fuß dieser Episode in einer Fußnote erklärt. Schaut bitte da nach x3

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„Schau mal, Liebling! Was für süße Kinder. Wie werden sie heißen? Was wird ihr Bluterbe sein?“

Eine Hand strich über die Gesichter der schlafenden Babys. Emi lächelte ihre neugeborenen Söhne an. Tetsuya trat an die Kinderbetten und sah seiner Frau zu. Hinter ihm erschien sein Vater, Yuudai. Als die Drei so glücklich den beiden Säuglingen zusahen, fühlten sie eine größere Macht. Auf der Stirn des Älteren erschien ein Zeichen und Yuudai sagte:

„Aitoshi Orangener Drache ist sein Bluterbe.“

Die Stirn des Jungen glühte erneut auf, nachdem das Bluterbenzeichen verschwunden war und gab den Namen bekannt. Der Ältere der Zwillinge hieß also Shin. Emi freute sich ungemein. Sie fand es atemberaubend, wie ein Schicksal einem Alchemisten zugeordnet wurde. Anstatt den Eltern die Qual der Namensverleihung zu überlassen, suchte sich das Bluterbe, das das Kind bekam, seinen eigenen Namen aus. Emi nahm Shin aus dem Bett und kuschelte mit ihm. Wie sie sich freute! Sie schloss die Augen, als der Raum erneut in ein helles Licht getaucht wurde. Yuudai war der Erste, der auf die Stirn des Jüngeren sah und er keuchte.

„Aitoshi Roter Drache … Bitte nicht! Nicht das stärkste und unkontrollierbarste Bluterbe!“

Yuudai erbleichte und auch Emi und Tetsuya bekamen Angst. Das Zeichen verlöschte und ein Name erschien auf der Stirn des so friedlich schlafenden Säuglings. Akuma*.
 

Tetsuya fühlte sich in einen anderen Raum versetzt und befand sich auf einmal im Wohnzimmer des Clans-Anwesens. Er bemerkte seine Frau, die mit Shin auf dem Arm, mit Yuudai stritt, der Akuma ängstlich von sich weg hielt, ihn jedoch nicht seiner Mutter übergeben wollte.

„Vater! Wie kannst du nur? Wer sagt denn, dass er nicht für dieses Bluterbe auserwählt wurde?“

„Niemand kann es beherrschen. Das ist Schicksal. Um das zu verhindern, was alle Anderen nicht geschafft haben, werde ich ihn an Energieketten* binden, ihn mit Zaubersprüchen in einen Raum bannen und ihn unschädlich machen.“

„Das kannst du nicht tun! Das wird ihn umbringen!“

„Und wenn schon … Dann macht er keine Probleme. Und nun hör auf dagegen zu rebellieren! Du kannst sowieso nichts gegen meine Entscheidung machen. Das kann niemand! Er wird ab heute nicht mehr existieren! Ich lösche euer Gedächtnis, damit ihr nicht auf falsche Gedanken kommt!“

Tetsuya bemerkte, wie Yuudai ihm über die Stirn strich. Dann fiel Akumas und Shins Vater in Ohnmacht. Das Letzte, was er spürte war, dass etwas aus seinem Gedächtnis verschwand und eine riesige Lücke hinterließ. Er hörte Emis entsetzten Aufschrei und bemerkte wie auch sie in Ohnmacht fiel. Schwarz.
 

Tetsuya schrie auf und starrte die Decke seines Himmelbettes an. Seine Frau wachte auf und griff nach seiner Hand. Er stieß ihre Zuneigung geschockt beiseite und setzte sich auf. Er rieb sich die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wörter wie Akuma, Zwillinge, Aitoshi, Roter Drache, Energieketten und Bluterbe wirbelten unaufhaltsam und immer wieder durch die Leere in seinem Kopf. Tetsuya konnte kaum richtig denken. Warum nur hatte er vergessen, dass er etwas vergessen hatte? Er bereute es und legte seinen Kopf in die Hände. Er spürte, wie Emi sich neben ihn setzte und einen Arm um ihn legte. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und redete beruhigend auf ihn ein. Tetsuya bemerkte, dass sein rasendes Herz sich beruhigte und wieder seinen normalen Rhythmus annahm. Emi sah ihn fragend an und stellte schließlich die Frage, auf die er seit einigen Minuten wartete:

„Liebling, ist alles in Ordnung? War es ein Alptraum? Erzähl es mir.“

Tetsuya stand auf und nahm seine Frau an der Hand. Er schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Was hatte Yuudai gesagt, als er vor drei Tagen das Haus verließ, um eine Segment-Besprechung abzuhalten? Er würde eine Woche brauchen und sie sollten keine Dummheiten anstellen. Suchen würde kein Erfolg haben. Damals hatte Tetsuya sich gewundert, doch auf einmal war es sonnenklar. Akuma! Akuma! Akuma! Er drehte sich zu Emi um und sah sie an. Sie blickte fragend zurück. Tetsuya fragte:

„Erinnerst du dich an Akuma, meine Emi?“

Plötzlich wechselte ihr Gesichtsausdruck von fragend über gequält zu verstört. Sie war total aufgeregt und schüttelte mit dem Kopf. Ihre Gedanken rasten wohl genauso wie seine. Erinnerungen schossen unaufhörlich durch ihren Kopf und bereiteten ihr Kopfschmerzen. Akuma! Akuma! Akuma! Emi keuchte und begann zu verstehen. Sie drückte Tetsuyas Hand und sah ihn an.

„Wir müssen ihn finden! Oh Liebling! Was, wenn er …“

„Das kann nicht sein. Vater erwähnte eine rätselhafte Sache als er ging. >Suchen hat keinen Erfolg!<, sagte er. Jetzt verstehe ich es erst. Akuma muss leben, ganz sicher. Sei unbesorgt, meine Emi.“

„Oh, wie gern würde ich dir glauben und ganz ruhig sein, mein Guter. Lass uns suchen. Wir müssen es versuchen, Liebster. Wie schreckliche Qualen er haben muss! Was für ein schlechtes Gewissen ich nun habe.“

Tetsuya nickte, nahm seine Frau wieder an die Hand und ganz langsam verließen sie ihr Schlafzimmer, das im 1. Stock lag. Sie wandten sich nach rechts, denn dort waren Yuudais Gemächer. Links lagen nämlich nur Shins Zimmer, Badezimmer, Ankleidezimmer, Arbeitszimmer, Spielzimmer, Bibliotheken, Lager, unbenutzte Zimmer und Tresorräume. Als Tetsuya um die Ecke schlich, fiel ihm sofort die Tür zum Raum seines Vaters auf. Sie war am Ende des Ganges und weit und breit die Einzige. Emi sah ihren Mann an und schluckte. Beide gingen auf die Holztür mit den Verzierungen zu. Tetsuya griff nach der Klinke und öffnete. Das Zimmer lag still da und nichts rührte sich. Emi klammerte sich ängstlich an ihren Mann und schien zu beten. Nirgends war etwas Verdächtiges zu sehen. Tetsuya löste sich von seiner Frau und schloss die Tür hinter ihnen. Er schritt auf den Schreibtisch zu und öffnete ein paar Schubladen. Es war absolut nichts zu sehen. Emi untersuchte auf eigene Faust die vier Wände ihres Schwiegervaters und bewunderte die Art, wie er seine Dokumente zu lagern schien. Tetsuya erhob sich vom Schreibtisch und sah sich um. Wo sollte man hier einen ungefähr achtjährigen Jungen unterbringen? Emi stieß einen seltsamen leisen Laut aus, woraufhin ihr Mann näher kam. Sie deutete aufgeregt auf eine Wand, an der ein einfaches Gemälde von dem ersten Clansführer hing. Tetsuya bemerkte erst auf den zweiten Blick, dass zur linken Seite man eindeutige Kratzspuren sah. Emi sprach das aus, was er dachte.

„Als würde es zur Seite weg geschoben werden!“

Tetsuya strich über den Rahmen und sah zu seiner Frau, die inzwischen vor Anspannung an den Nägeln kaute. Das tat sie normal nicht. Sie konnte wohl einfach nicht mit der Situation umgehen. Nachdem er seiner Frau liebevoll auf die Hände geklapst und sie das Nägelkauen aufgegeben hatte, befasste er sich wieder mit dem Bild. Tetsuya atmete einmal tief ein. Dann ein zweites Mal und schließlich auch ein drittes Mal. Er fasste den Rahmen am rechten Rand an und schob ihn nach links beiseite. Ein kleiner Gang tat sich auf. Emi sah ihren Mann erwartungsvoll an, bevor sie ihn an die Hand nahm. Er kletterte in das dunkle Loch und half ihr rein. Dieses Haus war ein absoluter Abenteuerspielplatz. In einer gebückten Haltung, weil man nicht stehen konnte, folgte Emi Tetsuya in die Schwärze, die alles zu verschlingen drohte. Er streckte die freie Hand aus, um nicht gegen irgendwelche Hindernisse zu stoßen, aber anscheinend war der Gang so gebaut worden, dass es keine gab. Tetsuya bemerkte nach einer kurzen Zeit, dass die Luft stickig wurde. Auch Emi fiel das auf. Sie schien das zu stören, ging aber tapfer weiter. Schließlich erfühlte er eine Holzwand vor sich. Emi sah zurück und sah das Licht von Yuudais Zimmer. Sie waren nicht lange gegangen, das sagte zumindest ihr Zeitgefühl. Tetsuya strich vorsichtig über den Holzverschlag und fand eine ganz normale Klinke. Er flüsterte seiner Frau aufgeregt zu:

„Meine Gute … Ist es das Ziel?“

„Oh, Liebster, öffne nur, öffne!“

Langsam drückte Tetsuya die Klinke runter. Die Tür sprang auf und entblößte … Dunkelheit. Emi seufzte und drängte ihren Mann vorwärts zu gehen. Er machte einen Schritt und rutschte aus. Sie wurde mit hinuntergezogen und zusammen rutschten sie eine leichte Schräge hinunter. Emi fühlte die Hand ihres Mannes über ihrem Mund. Sie versuchte nicht zu schreien. Das musste geheim gehalten werden, was hier geschah! Sie klammerte sich an Tetsuya und kniff die Augen zusammen. Es war extrem rutschig, aber total flach. Die beiden schlitterten eine Zeit lang die Bahn entlang bis sie schließlich ein Holzhindernis durchbrachen und in einen Raum kugelten, der nur fahl beleuchtet war.

Tetsuya und Emi richteten sich auf und husteten. Sie klopften ihre Kleidung ab und sahen zurück. Emi drehte sich ihrem Mann zu und öffnete den Mund, um ihn kurz darauf, ohne etwas gesagt zu haben, wieder zu schließen. Er drehte sich um und riss die Augen auf. Seine Kinnlade klappte herunter, als er sah, was seine Frau nur Sekunden zuvor erblickt hatte.

Auf einem Holzgestell, das einem Bett glich, und nur mit einer dünnen Decke versehen, lag ein Junge, der Shin zum Verwechseln ähnlich sah. Er sah sie an. Ganz ruhig und ohne zu blinzeln. Er sah sie einfach nur an und schwieg. Emi stupste ihren Mann an, sodass der endlich seinen Mund wieder schloss. Sie stand auf und kam dem Jungen näher. Mit jedem Schritt, den sie näher rückte, regte er sich ängstlich. Als sie ihre Hand ausstreckte, um ihn zu berühren, zuckte er zurück und presste sich ganz eng an die Wand. Er starrte Emi aus aufgerissenen Augen an. Hektisch fuhr sein Kopf herum und seine Augen suchten einen Fluchtweg. Emi zog ihre Hand zurück und begann ganz sanft, ruhig und leise auf ihn einzureden.

„Akuma, guter Akuma, sei unbesorgt. Ich bin Emi, hörst du? Emi. Einfach nur Emi. Ich bin Emi, deine Mutter.“

Bei dem Namen Akuma hörte der Junge auf sich umzusehen und blickte zu ihr. Während sie ihm erklärte, dass sie Emi hieß, und mit dem Finger auf sich deutete, beobachtete er sie genau. Tetsuya sah den Jungen an und rückte ganz vorsichtig näher, um diesen nicht zu erschrecken. Emi versuchte immer noch, eine Verständnisbasis zu beschwören, weswegen sie immer wieder ihren und seinen Namen wiederholte. Tetsuya sah ihn einfach nur an. Er konnte im Moment nichts anderes tun als das, weil ihn die ganze Situation zu sehr geschockt hatte. Langsam entspannte sich der Junge und setzte sich auf das Holzgestell, das leicht knarrte. Emi fragte erneut:

„Akuma?“

Der kleine Junge nickte und sah seine Eltern fragend an. Natürlich! Er kannte nur seinen Großvater. Als Emi sich auf das Gestell setzte und ihre Hand nach ihm ausstreckte, zuckte er wieder zusammen. Akuma rührte sich unbehaglich. Ihm wurde das zu viel. Wer waren diese Leute? Sie machten ihm Angst. Emi berührte ihn, woraufhin er zurückzuckte und sich wieder in seine Ecke verzog. Sie schaute besorgt aber liebevoll. Als Akuma diesen Ausdruck in ihren Augen sah, zeigte sich sein Unverständnis und sie wusste, dass er dieses Gefühl nicht kannte.

„Akuma … Du bist unser Sohn, Akuma. Ich bin Emi, deine Mutter, und das ist Tetsuya, dein Vater.“

Abwechselnd zeigte sie auf ihn, sich und auf ihren Mann. Langsam verstand Akuma, was die Wörter bedeuteten, die die Frau vor ihm sagte. Es hatte erst keinen Sinn gemacht, denn er war ein Muttersprachler*, doch jetzt bemerkte er, dass wenn er versuchte, zu verstehen, es ziemlich logisch war, was sie sagte. Er war Akuma. Sie war Emi. Der Mann neben ihr war Tetsuya. Doch was der Rest bedeutete, wusste er immer noch nicht. Jedes Mal, wenn sie die drei Namen wiederholte, wurde es klarer, wer die Personen vor ihm waren.

Emi wurde traurig. Akuma schien sie nicht zu verstehen! Ihr Mann klopfte ihr auf die Schulter, woraufhin sie ihn umarmte und bitterlich anfing zu weinen. Akuma zog eine Augenbraue hoch. Das Schulterklopfen war aufmunternd gewesen, aber sie war in Tränen ausgebrochen? Verkehrte Welt?

Emi schluchzte und löste sich von ihrem Mann. Tränen kullerten ihre Wangen herunter. Sie rieb sich über die Augen. Dann zuckte sie zusammen, als sie eine eiskalte Hand über ihr Gesicht streichen fühlte. Sie sah auf und war erstaunt, dass es nicht ihr Mann gewesen war sondern Akuma. Er wischte ihre Tränen weg und versuchte tröstend zu wirken. Schließlich versuchte er irgendetwas zu sagen, doch das einzige, was er wusste, war ihren Namen und den konnte er nicht mal aussprechen. Aber einen Versuch war es wert, also begann er zu lächeln und legte sich den Namen auf die Zunge. Langsam flüsterte er in einem fragenden Ton:

„Ä … ämmü?“

Emi begann zu lächeln. Das hatte so süß geklungen, obwohl es absolut falsch war. Immerhin hatte er sich ihren Namen gemerkt. Sie schüttelte den Kopf und nahm seine Hand, die immer noch auf ihrer Wange lag, in ihre. Sie wiederholte ihren Namen mit extra lauter Betonung.

„Eeeeeemiiiiii.“

„Ääääämüüüü.“

„Eeee!“

„E?“

„Eeeemiiii“

„Emüüüü.“

„Iiiiii!“

„Üüüü?“

„Iiiii.“

„Iiiii!“

„Eeeemiiii.“

„Eeeemiiii.“

„Emi!“

„Emi!“

Tetsuya musste unweigerlich grinsen. Das klang so komisch, wenn Akuma den Namen seiner Frau verstümmelte. Emi strich ihrem Sohn übers Haar. Das hätte sie schon früher tun sollen, damals, kurz nach seiner Geburt. Sie begann wieder zu weinen, umarmte aber diesmal Akuma anstatt Tetsuya. Akuma zuckte zurück, wurde Emi aber nicht los. Was auch immer sie da mit ihm anstellte, es fühlte sich wunderschön an.

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Kleines Lexikon
 

Akuma = jap. für Teufel

Energieketten = Handschellen, die mit der Wand verbunden sind und für Alchemisten geschaffen wurden, um ihre Energie und ihr Bluterbe im Zaum zuhalten. Sie entziehen dem Träger Energie.

Muttersprachler = Personen, die von Geburt an weder Menschensprache noch Alchemistensprache sondern nur Göttersprache sprechen.

Geste der Freundlichkeit

Ankündigung: Alle mit einem (*) markierten Wörter, werden am Fuß dieser Episode in einer Fußnote erklärt. Schaut bitte da nach x3

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Emi und Tetsuya umarmten ihren Sohn. Sein Herz klopfte. Er wollte, dass sie bei ihm blieben. Wie sehr hatte er sich das all die Jahre gewünscht. Anstatt dieses alten Mannes, der ihn schlug, ihn trat, ihn hungern und Durst haben ließ, ihm die Energie entsog und ihn anschrie. Akuma klammerte sich an seinen Eltern fest. Irgendwann ließ Emi ihn los und sagte etwas Unverständliches zu ihrem Mann. Der nickte und sah sich die Ketten an, die Akuma um seine Hand- und Fußgelenke trug. Sie schnitten tief in die Haut und hinterließen Wunden und Abdrücke.

Tetsuya strich über Akumas Handschellen. Man sah wie ein kleiner Strahl aus seinem Zeigefinger auf das Metall der Ketten prallte und diese absprangen. Akuma starrte seine Handgelenke an. Sie bluteten und waren ziemlich wund gescheuert. Rote Formen waren darauf zu sehen. Das mussten wohl die Innenseiten der runden Handschellen gewesen sein. Während Akuma seine Hände ansah, löste Tetsuya auch seine Fußketten. Er wusste, wie gefährlich das war, aber so zu leben, wollte er keinem zumuten. Akuma starrte an seinen Beinen hinab. Sein Leben lang hatte er gelegen, weil er vor Schmerzen nicht hatte stehen können und nun war er frei. Er versuchte aufzustehen und knickte ein. Es war schwer, sicher zu stehen. Tetsuya fing ihn auf und trug ihn in den Armen in Richtung des Ausgangs. Emi stellte fest, dass dort noch die Schräge war. Tetsuya sah auf Akuma, der sich ängstlich an ihn klammerte. Er sagte zu seiner Frau:

„Das mag stimmen, aber es gibt auch einen anderen Weg. Ich könnte springen*.“

„Gut.“

Emi rückte näher und hielt sich an ihrem Mann fest. Akuma zuckte zusammen, als ein großer Sog sie erwischte und er alles nur noch verschwommen wahrnahm. Dann bemerkte er einen Ruck und öffnete die Augen. Sie standen in dem Büro von Yuudai. Tetsuya und seine Frau sahen aus dem Fenster. Die Sonne ging auf.

„Wecke, Shin, Liebling. Es ist alles normal, verstanden! Nichts ist passiert. Ich bringe Akuma zum Kamikaze*.“

„Zum Kamikaze? Braucht man da nicht eine Audienz?“

„Schon, aber so früh ist er normal noch nicht bei der Arbeit. Wenn ich ihn erwische und mich zwischen seine Termine schieben kann …“

„Viel Glück!“

Emi und Tetsuya gingen ins Schlafzimmer. Er legte Akuma aufs Elternbett, wo dieser sofort in einen tiefen Schlaf fiel. Die Anstrengung hatte ihn wohl sehr müde gemacht. Tetsuya zog sich eiligst um, nahm Akuma wieder auf den Arm und ging mit ihm die Treppe, die gegenüber der Schlafzimmertür lag, runter.

Emi wandte sich nach links und ging durch den langen Gang auf Shins Zimmertür zu, klopfte und betrat den Raum. Sie weckte Akumas Zwillingsbruder wie jeden Morgen mit einem Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie den Raum und kam ebenfalls herunter in den Flur, der nach der Treppe kam und Wohnzimmer mit Esszimmer bzw. Küche verband. Sie sah ihren Mann an, der sich seinen Umhang über zog und den schlafenden Akuma in einen anderen einwickelte. Es würde Verwirrung stiften, wenn die Leute den Jungen sehen würden und ihn für den vollkommen ahnungslosen Shin halten würden. Er küsste seine Frau und trat hinaus in den sonnigen Morgen. Dann sprang er in die Hauptstadt, Anduil. Dort war noch gar nichts los, glücklicherweise kam ihm schon der Kamikaze entgegen, der wohl gerade auf dem Weg zur Arbeit war. Der alte Mann blieb stehen und fragte:

„Aitoshi, Tetsuya? Was tragt ihr in euren Armen zu so früher Stunde?“

„Kamikaze ich wäre euch verbunden, wenn ihr mir eine Audienz geben würdet, ohne, dass mein Vater davon erfährt.“

„Nun … schwer! Aitoshi, Yuudai ist sehr schlau, aber das wird sich machen lassen, folgt mir.“

Der Kamikaze ging an Tetsuya vorbei, der sich umdrehte und dem Alten folgte. Irgendwann kamen sie im Haupthaus an, wählten aber nicht den normalen Empfangsraum, sondern die Treppe hoch zu den eigentlichen Büros. Als sie in eine Sackgasse kamen, an deren Ende nur eine kahle Wand war, fragte sich Tetsuya, ob das hier ein Scherz war, denn ihm war nicht zum Lachen zu mute. Der Kamikaze flüsterte unverständliche Wörter und aus der nackten Wand trat ein großes Portal. Es öffnete sich schwungvoll und die beiden Männer gingen hindurch. Erst dann schloss es sich wieder. Der Kamikaze ging einen langen Gang entlang, der mit Steinsäulen gesäumt war. Zwischen diesen Kolossen hingen Bilder, standen Skulpturen aus Marmor oder befanden sich Leuchter, die den Flur in ein fahles Licht legten. Tetsuya lief dem alten Mann hinterher. Irgendwann öffnete der mit einem weitern unverständlichen Satz eine Tür zu einem der zwei Türme. Als sie in das große und runde Turmzimmer traten, erkannte Tetsuya, dass es wohl das eigentliche Büro der Regierung, des Kamikazes, sein musste. Der alte Mann setzte sich hinter den Schreibtisch, der in der Mitte des Raums war, und wirkte augenblicklich sehr gebrechlich, was er ganz sicher nicht war. Hinter ihm standen Bücherregale, die sich bis zur bestimmt 50 Meter hohen Decke ausbreiteten. Natürlich, Alchemisten konnten schweben, also war das nicht abnormal, aber es war schon beachtlich. Der Kamikaze deutete mit einer Handbewegung auf die weiße Couch, die neben dem monströsen Schreibtisch stand. Tetsuya legte Akuma auf das Sofa und setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Kamikaze. Der setzte einen erwartenden Gesichtsausdruck auf, fragte aber schließlich:

„Nun denn, was ist mit Shin?“

„Das ist nicht Shin.“

Der Kamikaze starrte Akuma an, stand auf und ging auf ihn zu. Als er den Umhang zurück schlug, sah er nur Shins Gesicht.

„Ich glaube ihr halluziniert. Das ist doch Shin!“

„Nein, das ist sein Zwillingsbruder Akuma.“

Der Kamikaze drehte sich um. Tetsuya machte sich über ihn lustig! Das war eindeutig Shin. Es gab keinen Zwillingsbruder von Shin. Es gab bei den Aitoshis keinen Akuma. Dann hatte der alte Mann einen Geistesblitz. Es gab keinen Akuma, Zwillingsbruder des Shin, Sohn des Tetsuyas und Enkel des Yuudais, weil er nicht in den Akten stand. Wenn er nicht in den Akten stand, existierte er also theoretisch nicht, aber praktisch gab es ihn. Aber für jeden Menschen musste man in Taen einen Antrag auf eine Existenz-Urkunde* stellen. Der Kamikaze seufzte. Also waren die Gerüchte wahr. Der Aitoshi-Clan hatte wirklich ein dunkles Geheimnis.

„Sprecht! Aitoshi, Tetsuya. Was hat das hier zu bedeuten?“

„Ich … Ich werde euch erzählen, wie sich die Lage so entwickelte, aber ihr sprecht nicht bei der Segment-Besprechung* darüber.“

„Nun gut. Verschafft mir Klarheit in dieser nebligen Angelegenheit.“

„Das ganze Unheil fing mit der Geburt der beiden an. Während Shin das Bluterbe „Aitoshi Oranger Drache“ bekam, wurde Akuma „Aitoshi Roter Drache“ zugeteilt. Das Stärkste und vor allem Unbändigste von allen, die ihn erwischen konnten. Wir hatten alle Angst, aber mein Vater sah die Situation ernster. Ich dachte, wir könnten das anders regeln, aber er war schneller. Er löschte die Gedächtnisse der anwesenden Ärzte, dann meins und das meiner Frau. Wir konnten uns nicht mehr an Akuma erinnern, der seit jeher in einem versteckten und verzauberten Raum lebte, ohne, dass ich es mitbekam. Dann träumte ich heute Nacht von dem schicksalhaften Tag. Als wolle jemand, dass ich ihn finde. Seltsamerweise wusste ich genau, wo wir hingehen mussten. Ich erinnerte mich an rätselhafte Dinge, die Vater in meiner und Emis Anwesenheit aber nie in Shins erwähnte. Dann fanden wir ihn. Ich brachte ihn her, in der Hoffnung noch irgendetwas zu tun.“

„Interessant.“

Der Kamikaze strich über Akumas Wange und ging zurück zu seinem Schreibtisch, um sich dort hinzusetzten.

„Sehr interessant …“

Er stand wieder auf und ging an den Bücherregalen auf eine kleine Tür, die neben einem riesenhaften Kamin war, zu und verschwand für eine Weile in diesem Raum. Dann kam er schwer beladen mit einem sehr großen Buch zurück. Er legte es auf den Tisch und setzte eine Brille auf. Als er Feder und Tinte nahm, hob er den Blick auf Tetsuya. Er wollte wohl etwas fragen, ließ es dann aber sein und schlug stattdessen im Verzeichnis des Buches herum.

„Aitoshi … A … i … t … Aaken, Abold, Achal, … Aim, Aiten, Aito, Aitoshi … Da haben wir euch ja! Seite 1877.“

Er schlug eine sehr lange Weile herum und traf die Doppelseite, auf deren rechten Seite Aitoshi stand und auf deren linker Aito zu sehen war. Er klappte den Stammbaum aus, der unter dem Namen von Tetsuyas Familie stand. Ganz unten erblickte der Kamikaze Shins Namen. Schließlich griff er nach der Feder und tauchte sie in die Tinte. Er begann die Fragerei der Geburtsverzeichnung*:

„Name und Buchstabierung?“

„Aitoshi, A-i-t-o-s-h-i, Akuma, A-k-u-m-a.“

„Geburtsdatum?“

„21. Februar.“

„Bluterbe?“

„Aitoshi Roter Drache.“

„Sprache?“

„Eh … weiß ich nicht.“

Der Kamikaze sah auf und zog eine Augenbraue hoch. So langsam stellte er die Person vor sich in Frage. Er musste doch wissen, welche Sprache sein Sohn sprach! Der alte Mann stand auf, ging rüber zu Akuma und schüttelte ihn sanft. Akuma wachte auf, sah in das Gesicht des Kamikazes und begann zu schreien. Er rollte sich von der Couch, krabbelte über den Boden auf seinen Vater zu und versteckte sich ängstlich hinter ihm. Tetsuya strich beruhigend über seinen Kopf.

„Eins weiß ich, er spricht nicht die Menschensprache.“

Der Kamikaze fragte etwas in der Alchemistensprache, doch Akuma reagierte nicht. Tetsuya zuckte mit den Schultern und streichelte weiter Akumas Kopf. Dann wiederholte der Kamikaze seine Frage in der Göttersprache. Akuma hörte auf zu zittern und gab einen seltsamen Laut von sich. Tetsuya sah auf den Kamikaze, der zufrieden lächelte.

„Göttersprache also. Euer Sohn ist ein Muttersprachler.“

„Akuma ist ein …“

Tetsuya konnte es nicht glauben! Der kleine Junge, der nach Yuudai so gefährlich war, dass man ihn wegsperren musste, sprach eine so wundervolle Sprache? Tetsuya lächelte. Vielleicht war Akuma doch zu etwas Besserem bestimmt und vielleicht war ER der Auserwählte für dieses Erbe. Der Kamikaze hatte sich gesetzt und die Tatsache notiert. Dann erhob er sich und schüttelte Tetsuyas Hand.

„Leider ist es mir nicht möglich, Aitoshi, Yuudai nichts davon zu erzählen.“

„Aber … er wird nicht begeistert sein.“

„Mag sein, aber ich habe einen Plan, wie ich euren Sohn von seinen Energieketten erlösen kann.“

„Und welchen?“

„Nun … Könnt ihr ihn hier lassen?“

„Ich denke nicht. Ich weiß nicht wie er rea-.“

„Na ja, ich glaube, ihm gefällt es hier.“

Der Kamikaze zeigte auf Akuma, der auf der Couch auf und ab hüpfte und selig lächelte. Dann huschte er auf die großen Regale zu und stellte sich auf die Zehenspitzen. Mit einer Hand tastete er nach einem Buch und zog es raus. Leider erwischte er es schlecht und mit dem einen Buch fielen fünf weitere aus dem Schrank. Akuma wich so schnell aus, dass Tetsuya nur der Mund aufklappte. Nicht nur das, er hatte auch alle aufgefangen und legte sie jetzt auf den Boden, um in einem rumzublättern. Irgendwann blieb er bei einem Bild stehen, dass den heiligen Schrein, in dem die Kamikazes zum Vertreter Gottes auf Erden ernannt wurden. Es war ein hübsches, helles und freundliches Aquarell-Bild. Akuma strich über das Gesicht eines dort dargestellten Hilfsgottes. Dann begann er zu lachen und stieß immer wieder ein Wort aus, dass so klang wie: gyälläth*. Tetsuya zog eine Augenbraue hoch und sah zum Kamikaze, der leise flüsterte:

„Giellêth (Aussprache s.o.) ist das Wort für Hilfsgott.“

„Woher weiß er, dass das einer ist?“

„Weiß ich nicht.“

Akuma blätterte weiter und schaute die Buchstabenverzierungen am Anfang jedes Kapitels an. Er fuhr sie mit dem Finger nach, bevor er versuchte zu erraten, was da stand. Als er das nicht herausbekam, schaute er sich wieder die Bilder an, sprach aber nicht mehr. Der Kamikaze begann zu sprechen:

„Nata maisur dessur, Akuma?“

Akumas Ohren zuckten und der kleine Junge sah zum Kamikaze auf. Er blickte hektisch zwischen seinem Vater und dem alten Kauz hin und her. Dann sprach er leise, sodass man kaum etwas verstehen konnte:

„Kata … kata … Dom kata iyasur.“

„Tom nata dessur, tsisur kata.“

„Ainai … nai … ai … ainai! Ai!”

„Nayi nat safi?“

„Ai sassa!“

Der Kamikaze lachte, als Tetsuya ein fragendes Gesicht machte, dann übersetzte er:

„Ich habe ihn gefragt, ob er bleiben wolle. Er antwortete, wenn er es dürfe. Dann sagte ich, falls er bleibe, solle er es mir sagen. Er konnte sich nicht entscheiden, also fragte ich, was er denn nun wolle und er meinte, ja bitte.“

Tetsuya schluckte. Das würde bedeuten, dass sein Sohn von nun an nicht mehr bei ihm sein würde. Wie verlor er ihn, wie damals, als Yuudai Tetsuyas Gedächtnis löschte, nur, dass es dieses Mal mehr schmerzte.
 

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Kleines Lexikon
 

springen = In diesem Fall ist nicht das Wort für "hüpfen" gemeint, sondern eine bestimmte Alchemy-Technik, bei der man während einer Zeit, z.B. einmal zwinkern oder einmal husten, von einem Ort zu einem anderen, ohne sich zu bewegen, gelangt.

Existenz-Urkunde = Ist sowas Ähnliches wie eine Geburtsurkunde, zeigt ebenfalls die Existenz einer Person an.

Segment-Besprechung = Deutschland hat Bundesländer, Taen hat Segmente. Die Obersten dieser Segmente treffen sich, um Neuigkeiten oder Informationen zu tauschen.

Geburtsverzeichnung = Daten über eine Person, die in das Stammbaum-Buch des Kamikazes geschrieben werden. Sie werden später auch auf die Existenz-Urkunde (s.o.) geschrieben.

Kamikaze = der Oberste aller Obersten der Segmente und Vertreter Gottes in einem Land. Der Kamikaze besitzt jeweils zwei Personen, die ihm zur Hand gehen (oft auch seine rechte Hand und linke Hand genannt!)

Giellêth = Göttersprachlich das Wort für Hilfsgott. Aussprache: gjälläth (th wird wie das englische TH ausgesprochen!)

Der Anfang eines neues Lebens

Akuma saß an einem kleinen Tisch und starrte aus dem Fenster. In der letzten Woche waren Dinge geschehen, die er sich niemals erträumt hatte. Nachdem er sich endgültig entschieden hatte, beim Kamikaze zu bleiben, hatte dieser ihn als seinen siebten und letzten Lehrling aufgenommen. Also würde Akuma nicht mehr nach Hause kommen. Er würde im Haupthaus leben und lernen, bis seine Ausbildung abgeschlossen sein würde. Danach wäre er ein Mitglied in irgendeiner Alchemistentruppe und würde sein ganzes Leben lang gegen Gefahren kämpfen.

Akuma sah vom Fenster auf das Buch vor sich, dessen Seiten sich im stetigen Wind ruhig hin und her wogen. Es war ein Buch über die Geschichte Taens. Akumas Blick huschte über die Zeilen, die das Bild und den Steckbrief des 39. Kamikazes in Worte fassten. Eine Woche hatte er gebraucht, um soweit zu kommen und irgendwie war er stolz auf sich. Er erinnerte sich an die ersten Tage, an denen der alte Mann ihm das Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Er war ein strenger, aber gutmütiger Lehrer und wirkte auf Akuma wie jemand mit einem großen Herzen.

Irgendwie mochte der Aitoshi Nachkömmling den Kiwama Opa. Wie ein fürsorglicher Vater sorgte dieser für den kleinen Jungen. Auch wenn Akuma wieder in einem Raum war, den er nicht verlassen sollte, weil die Leute sich wundern würden.

Vorsichtig sah er sich um. Ihm war dieses Zimmer sehr ans Herz gewachsen. Es war schlicht gehalten und nur mit dem Wichtigsten eingerichtet. Ein kleines Bett, das eine harte Matratze, ein Kissen und eine dünne Bettdecke beinhaltete, ein Bücherregal, in dem der Kamikaze alle Lehrbücher für Akuma bereitgestellt hatte, falls dieser aus Langeweile ein Buch lesen wollte, ein Tisch und den dazugehörigen Stuhl, auf dem der kleine Junge jetzt saß und die Kamikazeregistrationen lernte, und nicht zu vergessen ein kleiner Schrank, in dem ein paar Kleider hingen. Akuma schaute umher und nickte zufrieden. Mehr brauchte er nicht und mehr wollte er nicht. Als er sich wieder dem Buch vor sich zuwandte, fiel sein Blick auf die Haupthausmauer, die er durch sein Fenster gut beobachten konnte. Sein Herz flatterte, als er den Enkel des Kamikazes erkannte, der ihn entgeistert anstarrte. Akuma sprang auf und duckte sich unter die Tischplatte. Nicht gut!

Etwas klatschte an sein Fenster. Es klang weich und hatte wohl nicht viel Widerstand gegeben. Erneut traf etwas die Fensterscheibe, nur dass es diesmal wohl steinhart gewesen war. Ängstlich verkroch Akuma sich unterm Tisch und zog sich eng zusammen. Was sollte er jetzt tun? Der Kamikaze hatte ausdrücklich verboten, dass er Kontakt mit der Außenwelt pflegte, zumal er es nicht mal konnte, weil er die Menschen- und die Alchemistensprache nicht verstand.

Er versuchte zu erkennen, ob Obito, Akuma hatte nämlich den Namen des Enkels herausgefunden, immer noch versuchte, mit ihm zu sprechen, doch er hörte nichts mehr. Vorsichtig lugte er über den Rand der Tischplatte hinweg und schaute zur Mauer. Da stand niemand. Zum Glück! Langsam stand Akuma auf, immer noch hastig schauend, und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er sah aus dem Fenster und vergewisserte sich wieder, dass der neugierige Enkel endlich verschwunden war. Erleichtert atmete er aus und blickte auf sein Buch, das ihn trotz des langweiligen Themas irgendwie in seinen Bann zog. Ihm kam das Bild des Kamikazes so bekannt vor, aber wie konnte das sein? Er hatte diesen Mann noch nie gesehen oder doch? Akuma schüttelte die Gedanken weg und sah wieder auf den Fuß der Seite und begann das Geschriebene zu lesen. Es war doch irgendwie interessant zu erfahren, was die Alchemisten alles so leisten konnten. Unentwegt huschten seine Augen über die Zeilen, die der Kamikaze extra für ihn mit einem Schnipsen seiner Hand und somit unter Anwendung von Alchemie in die Göttersprache übersetzt hatte.

Akumas Finger strich über das zarte Pergament und entlang der Zeilen, die nur so gefüllt mit Informationen waren. Irgendwie fand er es spannend, aus den Texten diese wichtigen Angaben herauszufiltern. Er hatte ein gutes Gedächtnis, weswegen er sich diesen Abschnitt nur einmal durchlesen musste und ihn bereits auswendig konnte. Vorsichtig blätterte er die dünne Seite um und erblickte das Gesicht des 40. Kamikazes. Wieder kam ihm dieser Mann so bekannt vor. Was sollte das? Seit er in diesem Buch über diese Leute las, konnte er sich kaum vor irgendwelchen Erkennungen seinerseits retten. Warum dachte er immer, er wüsste, wer diese Person war? Langsam begann Akuma die Fußnote zu lesen und brachte in Erfahrung, dass der 40. Kamikaze ein sehr starker und ehrenhafter Mann gewesen sein musste. Das Erstaunlichste an ihm war jedoch, dass er als einziger Mensch die Führung von Taen in der gesamten Geschichte dieses Landes übernommen hatte. Als Mensch? Akuma wunderte sich und war irgendwie trotzdem nicht überrascht. Vielleicht lag das daran, dass ihm dieser Mann so bekannt vorkam.

Als der kleine Junge den Text durchgelesen hatte, sah er auf die nächste Seite und erblickte schon wieder ein bekanntes Gesicht. Auch dieser Mann, der ihm eigentlich fremd vorkommen müsste, lächelte von seinem magisch geschossenen Foto zu Akuma auf und brachte diesen zum Grübeln. Warum musste so etwas immer ihm passieren? Er wurde müde von diesen Gesichtern, die in ihm nie gemachte Erinnerungen wachriefen. Vorsichtig las er, wieder vom Finger geleitet, den Abschnitt und blätterte zum nächsten Kamikaze, dem 42., um. Das Gesicht war blass und wirkte verzweifelt, auch wenn die Gestalt lächelte. Akuma schaute das Bild an und wusste auf Anhieb, wie dieser Mann hieß, ohne überhaupt den Steckbrief gelesen zu haben. Jetzt wurde ihm das echt zu bunt und er klappte das Buch seufzend zu. Schließlich kam es ja nicht alle Tage vor, dass ein gerade mal acht jähriger Junge die Kamikazes von vor 700 Jahren kannte.

Akuma lehnte sich zurück und streckte sich genüsslich, um seinen verspannten Rücken zu entlasten. Manchmal hatte er tagelang durchgelesen. Seit einer Woche … Wieder wanderten seine Gedanken zu den Männern aus dem Buch und er zerbrach sich den Kopf darüber. Würde der Kamikaze ihm weiterhelfen können? Sein Blick strich über die Sonne, die am Horizont versank. Und wieder endete ein Tag in seinem neuen Leben, das er vor einer Woche begonnen hatte.

Er schob den Stuhl zurück und stand auf. Als Akuma den Stuhl an den Tisch schob, stach ein rotes Buch in seine Augen. Es stand im Regal und lehnte neben schlichten braunen Büchern, die es dadurch nur zum Auffallen zwangen. Das war doch vor wenigen Minuten noch nicht da gewesen! Akuma könnte schwören, dass es kein rot eingeschlagenes Buch in seinem Bücherregal gegeben hat. Langsam ging er auf das Bord zu und streckte die Hand nach dem dicken Pergamentpaket aus. Als er den Einband berührte, fühlte er Seide. Ein unheimlich kostbares Buch. Vorsichtig holte er es heraus und schlug das Titelblatt auf. Seine Augen huschten immer wieder über den Titel und vermochten nicht zu glauben, was dort stand. Das war doch nicht einfach nur so da aufgetaucht, aber wer wollte ihm schon so etwas zukommen lassen? Das war doch absurd einem Muttersprachler das einzige Tagebuch des allerersten Kamikazes zu geben! Doch der Titel log nicht und die magische Aura, die die Seiten in ein sanftes Leuchten hüllten, bestätigte die Echtheit dieses Werkes nur.

Akuma blätterte um und erkannte das Bild des ersten Kamikazes. Wieder kam es ihm so bekannt vor, doch er wusste nicht warum. Die Daten des Mannes schossen durch den Kopf von dem kleinen Jungen und ließen ihn merken, wie gut sein Gedächtnis wirklich war. Tatsächlich wusste er die Seite in und auswendig und er sah sie vor seinem inneren Geiste direkt vor sich. Das Bild des heilig gesprochenen Mannes oben rechts in der Ecke, daneben Stichdaten bis zum Fuß des Bildes und dann begann der Text, der bis zum Fuß der Seite reichte und den Kamikaze beschrieb. Akumas Blick wanderte auf das erste Datum und er machte einen erstaunten Gesichtsausdruck. Tatsächlich war das die im Haupthaus ausgestellte Originalhandschrift und sie datierte einen Tag vor über 1000 Jahren! Das war kompletter Wahnsinn!

Akuma drehte sich um und setzte sich an seinen Tisch, um das schwere Buch vorsichtig auf die Platte zu legen. Als er näher rückte, strahlten die alten und schon etwas vergilbten Seiten ein wenig heller, als hätten sie auf eine Person gewartet, die versuchte, die verschlungene Handschrift des ersten Kamikazes zu entziffern. Auch wenn es schwer war, die Buchstaben zu erkennen, Akuma wusste, dass es die Göttersprache war. Allein die Akzente, die auf einigen Lettern lagen, verrieten es sofort. Sein Blick huschte über die erste Seite. Unglaublich! Das war eine genaue Schilderung der Geschehnisse bei einer Wahl zum Kamikaze! Akuma blätterte vorsichtig aber eilends um und schluckte die nächste Seite in Hochgeschwindigkeit. Er vergaß in all der Hektik, dass er normal immer seinen Finger zum Lesen benutzt hatte, um nicht in der Zeile zu verrutschen, doch jetzt sprang sein Blick automatisch in die nächste Zeile und erfasste den Text, der in ihr stand. Nach einiger Zeit endete der Eintrag so abrupt mitten im Tag, wie er begonnen hatte. Akuma hatte sicherlich 20 Seiten am Stück gelesen und er wollte auch die nächsten Einträge nicht verpassen, also atmete er einmal tief durch und heftete seinen Blick auf den zweiten Eintrag. Als er fünf Zeilen gelesen hatte, fuhren seine Augen wie von selbst immer schneller über das Pergamentpapier und überwältigten die Distanz von der ersten bis zur letzten Seite des auf die Kamikazewahl folgenden Tages. Vorsichtig aber immer recht schnell blätterte Akuma nach Wissen durstend um. Das wurde von Zeile zu Zeile immer spannender. Sein Wunsch, alles durchzulesen, wuchs in ihm und erfüllte sein eifrig arbeitendes Gehirn voll und ganz. Er fraß sich durch die Seiten und war umgeben von einer 1000 Jahre alten Geschichte, die der Kamikaze ihm erzählte. Akuma tauchte fast vollständig in diese Welt ein und vergaß alles um ihn herum. Der vierte und danach der fünfte Eintrag enthüllten den harten Alltag des Mannes und erzählten die Schwierigkeiten der Aufträge, die er jeden Tag zu bewältigen hatte. Doch der Kamikaze schien sich nicht unterkriegen lassen zu wollen, weswegen er, wie er schrieb, hartnäckig an einem System arbeitete, das Leben eines jeden zu vereinfachen. Akumas Augen rutschten in die nächste Zeile und strichen über die Sätze. Die Seiten flogen nur so und immer weiter drang die wahre Erzählung an sein Herz. Diese Geschichte ging ihm wirklich nahe, was teils an der Erzählweise lag, teils aber auch einfach eine Person beschrieb, die anfänglich ein ebenso schweres Leben führte wie der kleine Junge, der eifrig die Wörter in sich reinfraß. Auf das zehnte folgten das elfte und schließlich auch das zwölfte Kapitel. Wegen dem Zeitdruck und der Massen von Arbeit lagen alle drei Einträge weit auseinander. Was Akuma aber gar nicht wunderte. Ihm gefiel, was er über diese Welt, die er heute um sich herum hatte, erfuhr, denn eigentlich basierte alles, was es heute gab, auf den alten Gesetzen. Er starrte einen Abschnitt an, in dem der Kamikaze ausführlich erklärte, wie das neue Grundgesetz aufgebaut sein würde und was für positive Veränderungen erreicht wurden. Doch in einer Klammer, ganz klein geschrieben, stand daneben, dass er sich wünschte, eine gewisse Gleichberechtigung der Geschlechter herbeizuführen. Er wusste, dass es ein schweres Unterfangen und auch keine gute Idee war, aber er wollte es für eine neue Welt tun. Eine Welt, in der jedes Individuum seinen Platz fand.

Als er die Gründe der Gleichberechtigung einer Frau gegenüber dem Mann lange beschrieb, wechselte er auch zu den Rechten von Kindern, die vor der Ehe geboren wurden, so genannten ‚Bastarden’. Akumas Gesicht verfinsterte sich bei dem Ausdruck und er schluckte bevor er dem Bericht folgte. Der erste Kamikaze dachte genauso wie dieser kleine Junge und verlangte ebenfalls dort eine bessere Behandlung. Ihm gefiel nicht, wie sehr die Kinder unter der Sache litten, obwohl sie eigentlich keine Schuld traf. Nach seiner Meinung konnte man erst in der Zeit der Kamikazes nach ihm, über eine Verwerfung dieser Vorurteile nachdenken, weil die meisten noch zu geprägt davon waren.

Akuma schloss für einen Moment die Augen, um die Probleme vor seinem inneren Auge abzuspielen. Er sah aus dem Fenster und fragte sich erstaunt, wie er hatte lesen können, weil es dunkel war. Als er sich umsah, erblickte er den Kamikaze der lächelnd auf seinem Bett saß und mit ein wenig Feueralchemie spielte. Akuma sah auf das Buch und bemerkte erst jetzt, wie hungrig er wirklich war. Langsam drehte er sich zum alten Mann um und sah ihn fragend an. Der wiederum zu ihm schaute und zwinkerte. Der Kamikaze begann in der Göttersprache:

„Nun, Akuma? Magst du das Tagebuch? Ich dachte es könnte dir einen guten Einblick in den oberen Bereich liefern und natürlich auch in die Unmengen von Arbeit, die jemand so hohes zu bewältigen hat.“

„Kamikaze-sama? Ihr habt das in mein Regal gezaubert? Es ist spannend!“

„Dachte ich es mir doch! Mich wundert, dass du so ganz ohne Probleme diese Bücher lesen kannst, die ich dir ja gegeben habe. In deinem Alter?“

„Ich hab bis zum 41. Kamikaze die Steckbriefe gelesen und beim 42. aufgehört, weil … weil mir die Gesichter auf den Bildern alle so bekannt vorkamen.“

„Bekannt? Die kamen dir bekannt vor? Seltsam … Wahrlich seltsam, weil sie alle vor über 700 Jahren lebten.“

„Das habe ich mich auch schon gefragt, aber warum weiß ich denn immer, wie die Männer heißen, ohne überhaupt den Steckbrief gelesen zu haben. Und auch das, was in den Texten darunter steht, kenne ich schon.“

„Echt?“

Der Kamikaze stand auf und kam zu Akuma an den Tisch. Als er das Buch an einer Stelle aufschlug und seinen Lehrling prüfend ansah, wollte er wohl wissen, welche Person das war. Der kleine Junge lächelte und sagte:

„Ikemoto, Masakazu. 79. Kamikaze Taens, Nachfolger von Yamano, Shima.“

Der alte Mann zog eine Augenbraue hoch und nahm die Hand vom Blatt. Tatsächlich stand da >Ikemoto, Masakazu. 79. Kamikaze<. Ein Lächeln huschte über das faltige Gesicht und die Hand, die eben noch über das Buch strich, streichelte nun lobend den schwarzen Haarschopf Akumas. Als er zurückblätterte, um den Namen des 78. Kamikazes zu lesen, musste er noch breiter grinsen. Da stand >Yamano, Shima< wie der kleine Junge es gesagt hatte. Irgendwie war das unheimlich, doch auch richtig interessant. Vorsichtig beugte der alte Mann sich vor und sagte wieder in der Göttersprache:

„Nun, Akuma. Da du ja das ganze Buch auswendig kannst, bevor du es gelesen hast, kannst du ja jetzt mit mir in den Speisesaal gehen und nachher weiter am Tagebuch des ersten Kamikazes lesen. Natürlich nur, wenn du willst!“

„Na klar!“

Akuma durfte sein Zimmer verlassen. Das war wirklich eine große Belohnung und freudig hüpfte er dem alten Mann hinterher. Als sie an einigen Bediensteten, die sich lächelnd zu ihnen umdrehten, vorbei kamen, fühlte er sich zwar noch unwohl, ging aber nur auf kleinen Abstand. Langsam gewöhnte er sich an die Leute, die ihm immer das Essen brachten, wenn der alte Kamikaze keine Zeit dazu hatte. Lächelnd wuselte Akuma der Gestalt des Kamikazes hinterher und blieb nur einmal wie angegossen am Boden kleben, als er ein Bild sah, das ihn an irgendetwas erinnerte. Als der alte Mann sah, wie der kleine Junge dieses Bild anstarrte, wunderte er sich. Was war mit Akuma los? Kannte er auch diese Person, die eigentlich nicht unbekannt war? Der Blick von dem Kleinen war seltsam. Als würde er irgendwelche Erinnerungen haben, die er eigentlich nicht gemacht hatte! Vorsichtig drehte sich der Kamikaze vollständig zu ihm um und fragte:

„Kennst du ihn?“

„Das ist Astarte. Der Erzgott und vom Hauptgott die rechte Hand. Es wird gemunkelt, dass er für einen einfachen Engel sein Leben gab, um mit diesem zusammen auf die Erde zu kommen. Die beiden, er ein hoher Gott und sie ein niederer Engel, liebten sich so sehr, dass sie selbst gegen Gottes Gesetze verstießen und sich schließlich umbrachten. Shiraima war der Name des Engels, nicht wahr?“

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß nicht. Ich frage mich auch, was das gerade war. Als wüsste ich, wer … wie er gelebt hat.“

„Ist das auch bei den Kamikazes so?“

„Ja. Als wäre ich dabei gewesen … als hätte ich sie beobachtet. Auch das Tagebuch erzählt mir nichts Neues, aber irgendwie stimmt es mich melancholisch. Irgendwie macht es mich glücklich, lässt mich an das Damals zurück denken, das ich eigentlich nie kennen gelernt habe.“

„Das ist unglaublich! Das muss ich mit einem unserer Schutzgötter besprechen!“

„Wieso? Wegen mir? Nein, bloß nicht, ich meine … doch schon, aber …“

„Keine falsche Bescheidenheit! Das muss überprüft werden! Und nun komm, du hast sicher Hunger.“

„Ja …“

Einen letzten Blick auf das Bild werfend ging Akuma weiter den Gang entlang. Gedanken schossen ihn durch den Kopf und wurden von Erinnerungen vertrieben, die er eigentlich nie hätte machen können. Sein Bewusstsein schweifte durch ewig vergangene Zeiten und an einen Ort, den es in Taen sicher nicht gab. Große Wälder, die ihr eigenes Licht ausstrahlten und von den Blättern deren Bäume Tautropfen herabfielen, weiße Häuser und Strände, die vor Reinheit nur so glänzten … Das alles kam ihm so unheimlich bekannt vor und irgendwie fühlte er sich zu ihnen hingezogen. Eine Sehnsucht erfüllte sein Herz und wieder wurde er so unheimlich traurig wie damals, als er noch alleine in dem abgeschotteten Zimmer am Boden lag.

Der Kamikaze rüttelte an ihm und schaute ihn besorgt an. Akuma starrte in das Gesicht des alten Mannes und kehrte in die Realität zurück. Was war das schon wieder gewesen? Seit einer Woche plagten ihn diese nicht gemachten und doch existierenden Erinnerungen. Er schüttelte den Kopf und folgte dem Kamikaze weiterhin den langen, langen Hauptgang zum Speisesaal entlang.

Als sie eintraten, schauten einige Männer zu ihnen herüber, die bereits an der gedeckten Tafel standen. Akuma sah unsicher zum Kamikaze auf und versteckte sich ängstlich hinter seinem Rücken. Er mochte die Aufmerksamkeit nicht, die sie ihm schenkten. Als der alte Mann ihn lachend wieder hinter sich hervor schob, wollte er sich erst wehren, aber ließ es dann doch bleiben. Langsam schaute er in die Gesichter der Männer, die ihn ruhig ansahen. Er kannte keinen von diesen. Warum nur nicht, wenn er selbst 700 Jahre alte Personen kannte? Seltsam …

Der Kamikaze redete kurz in einer fremden Sprache mit den Männern, die danach ihre Blicke wieder auf Akuma ruhen ließen. Der wusste jedoch gar nicht, was sie von ihm wollten und schaute Hilfe suchend zum alten Mann auf, der sich etwas vorbeugte und dann in Göttersprache erklärte:

„Sag einfach deinen Namen und dann werden wir weiter sehen. Ich habe ihnen bis jetzt nur gesagt, dass du mein siebter und letzter Lehrling bist.“

Akuma atmete ruhig ein und sah dann wieder zur gedeckten Tafel. Die Männer würden ihm nichts tun, aber er hatte trotzdem Angst etwas falsch zu machen. Sein eben noch großes Selbstvertrauen hatte sich verflüchtigt. Vorsichtig und ganz leise begann er seine Schuhe ansehend zu sprechen:

„Akuma …“

Mehr wusste er nicht, weil er die fremde Sprache nicht verstand. Sie klang sehr hart und manchmal auch abgehackt, gar nicht so flüssig und sanft wie die Göttersprache. Schnell bemerkte Akuma auch, dass die Männer in eine andere Gebrauchssprache, wohl die Alchemistensprache, überliefen und ihn ansprachen, doch auch diesmal verstand er nichts. Ihm war klar, dass er große Probleme hatte, überhaupt Namen herauszuhören, aber er strengte sich sehr an. Wieder blickte er flehend zum Kamikaze auf, um sich von diesem Hilfe zu erbetteln, doch der zerwuschelte nur seine Haare und ging langsam auf den freien Platz am Kopf des Tisches zu.

Akuma gab einen erschrockenen Laut von sich und lief so schnell er konnte wieder in den Schatten des alten Mannes, um ja nicht ohne Schutz herum zu stehen. Er bemerkte, dass die Männer belustigt über sein Verhalten lachten und das störte ihn sehr. Würden sie da nämlich nicht sitzen, wäre er nicht so seltsam.

Als der Kamikaze sich hinsetzte, stand Akuma da schon wieder ohne Schutz da und ließ sich deshalb hinter den Stuhl des alten Mannes auf den Boden nieder. Er wollte nicht essen, wenn alle ihn anstarrten und sich über ihn lustig machten. Da verging ihm der Hunger. Das war auch der Grund, warum er so schrecklich dünn war. So zerbrechlich und mager, dass man alle Rippen zählen und sie vielleicht mit einer kleinen Berührung zum Brechen bringen konnte. Er würde nichts essen, so wie er damals nichts gegessen hatte, wenn der alte Mann ihm etwas gebracht hatte. Er wäre manchmal beinahe verhungert, aber Yuudai hatte schon noch dafür gesorgt, dass er am Leben blieb. Warum sollte er am leben bleiben? Das wunderte Akuma immer noch. Der Alte hatte anscheinend etwas gegen seine Existenz, wollte ihn aber auch nicht tot sehen. Irgendwie schwirrten seine Gedanken hin und her und er schaffte es nicht, seinen Kopf frei davon zu bekommen. Das war lästig und er wollte sich beruhigen, aber solange die Leute hier waren, musste er auf der Hut bleiben.

Jemand stieß ihm sanft in die Seite und sprach ihn an. Akuma zuckte zusammen und sah seinem Gegenüber ins Gesicht. Ein Mann im mittleren Alter, der ihn lächelnd und gutmütig ansah. Das Herz des kleinen Jungen schlug schneller und vorsichtig rutschte er etwas zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. Er verstand kein Wort von dem, was der Mann vor ihm sagte, aber seltsamerweise konnte er irgendwie erraten, was dieser von ihm wollte. Immer noch misstrauisch schaute er zum Kamikaze, der zu ihm hinab sah und sanft lächelte.

Das Eis war gebrochen und Akuma lächelte breit. Als die Männer sahen, wie fröhlich der Kleine sein konnte, mussten sie gleich mit lächeln. Akuma fand die Gesichter der Anwesenden so schon viel angenehmer und fragte sich, warum nicht alle gleich so reagiert hätten. Vorsichtig lugte er immer noch über die Tischplatte hinweg und beobachtete die Personen reihum einen langen Augenblick, bevor er sich endgültig und langsam erhob. Er sah fragend zum Kamikaze, der einladend auf den Stuhl neben sich deutete, der frei war. Akuma gefiel nicht, dass er jetzt neben einem Mann sitzen musste, der ihm immer noch fremd vorkam. Aber er setzte sich und beobachtete den mittel alten Mann, der ihn gerade angelächelt hatte, beim Hinsetzen.

Als ein paar Dienstboten daraufhin das Essen brachten, knurrte sein Magen, aber er versuchte das irgendwie zu verstecken. Der Kamikaze lachte und zerwuschelte schon wieder sein Haar, was Akuma inzwischen nicht mehr störte, weil er sich daran gewöhnt hatte. Aufmerksam beobachtete er die Speisen und kam zum Entschluss, dass keine davon ihn anspringen konnte … So viele verschiedene Dinge hatte er noch nie gesehen. Das Einzige, was ihm bekannt vorkam, war das Brot und das Wasser. Er schaute zum Kamikaze, der wie die anderen eine Handbewegung machte und auf dessen Teller sofort einige Speisen erschienen. Akumas Zunge schob sich in den Mundwinkel, als er die Bewegung nachmachte. Nichts passierte. Er sah zu dem alten Mann, der ihm belustigt zuschaute und machte die gleiche Bewegung noch mal. Wieder passierte nichts. Auch bei den nächsten Versuchen blieb der Erfolg aus und langsam machte ihn das echt frustriert. Knurrend wiederholte er zum 15. Mal die gleiche Bewegung, diesmal mit Erfolg, wenn man das Erfolg nennen konnte: Die Schale mit den Äpfeln drehte sich so lange im Kreis, bis die runden Versuchungen aus ihr heraus geschleudert wurden und in der Luft schwebten, natürlich in der drehenden Richtung der Schale, die inzwischen wieder ruhig an ihrem Platz stand. Akuma sah skeptisch zu diesen gefährlichen Geschossen auf, die um einen der Kronleuchter kreisten, ganz zur Belustigung der Anwesenden. Die Äpfel verloren wohl die Lust, oder ihnen war schlecht, auf jeden Fall fielen sie einfach nach unten, auch wenn sie sich seltsamerweise in einer Schlange anstellten und direkt auf Akuma zusausten, der in dem Moment nur aufschreien konnte. Er griff an die Stuhllehne zog sich mit Schwung in einer Rolle über sie herüber und rannte vor den aggressiven Äpfeln weg, die ihm jetzt folgten. Schreiend floh er im Kreis um die Tafel rennend und unterhielt die Männer nur noch mehr. Der Kamikaze schüttelte sich vor Lachen und musste sich richtig anstrengen, gerade auf dem Stuhl sitzen zu bleiben. Immer noch lief Akuma schreiend und immer wieder zurückblickend vor den Geschossen weg, die immer schneller wurden und das Opfer zwangen einen Sprint einzulegen. Jedoch war der kleine Junge ganz sicher nicht so gut im Laufen, weil er vor einer Woche noch nicht einmal gehen konnte. Er sah den Kamikaze, der sich inzwischen schon beruhigt hatte und versuchte, die Äpfel irgendwie zu stoppen, doch das wollte nicht so recht klappen. Akuma stieß einen Schrei aus und landete mit einem Hechtsprung hinter dem Steinthron des alten Mannes, der in letzter Sekunde bemerkte, dass Ducken ein angemessenes Ausweichmanöver war. Er verschwand unter dem Tisch und sah zu, wie die Nahrung, die er eigentlich ganz gerne aß, gegen seinen Stuhl klatschte und zurückprallte. Immer noch schwebend versuchten die Äpfel erneut durch die Lehne des Stuhls zu kommen und nahmen Schwung, um gleich darauf wieder gegen den kalten Stein des Stuhls zu schlagen. Der Kamikaze versprach sich in dem Moment, nie wieder diese roten und grünen Versuchungen zu essen. Er bemerkte, wie die Anwesenden im Raum ebenfalls lachend Schutz unter der Tischplatte gesucht hatten. Dann sah er Akumas entschuldigenden Blick, der hinter der Steinlehne hervor kam und prustete los. So einen Lehrling hatte er noch nie gehabt. Der kleine Junge sah hoch und bemerkte, wie die Äpfel wieder eine Reihe annahmen und an dem Stuhl vorbei zischten. Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle und er sprang auf, um weiter um den Tisch zu rennen. Die Männer schauten unter dem Tisch hervor und setzten sich schließlich wieder hin. Nur der Kamikaze versuchte angestrengt den schreienden Akuma vor den Äpfeln zu retten, die anscheinend aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich dem Drehwurm, Rache geschworen hatten und unaufhaltsam hinter ihm herrasten.

Außer Atem und total erschöpft blieb Akuma an der Eingangstür des Speisesaals stehen und keuchte. Er sah im Augenwinkel, dass die Äpfel über den Tisch auf ihn zu preschten. Jetzt war er eingekreist, denn die durchaus schlauen Versuchungen breiteten sich über die Flanken hin aus. Stöhnend wich er an die Wand zurück und machte sich so flach wie möglich, was ihn vor möglichen Treffern nicht verschonen würde, weil die Angriffsfläche zu groß war und mindestens acht wild gewordene Geschosse gleichzeitig angriffen. Er sah den Banner von Taen über sich hängen und kam auf eine Idee, die ihm vielleicht das Leben retten würde. Er griff nach dem Tuch und zog sich daran hoch, um auf den Türrahmen zu gelangen. Er bemerkte die Ringe, die die Fahne mit der Stange verband und untersuchte kurz sein Vorhaben, bevor er mit einem schnellen Ruck das Tuch vom Metall riss. Jetzt hatte er wenigstens etwas, um sein Gegner aufzuspießen und zu Schaschlik zu machen. Er ließ sich wieder auf den Boden runter und sofort änderten die inzwischen näher gekommenen Äpfel ihre Laufbahn. Akuma hörte den Kamikaze stöhnen und auch die anderen hatten inzwischen aufgehört zu lachen, um interessiert dem Geschehen zu zusehen. Nein, sie versuchten nicht, ihm zu helfen. Warum auch? Grinsend hob der kleine Junge die Stange und machte sich für die Auseinandersetzung bereit, die unaufhaltsam auf ihn zukam. Nun rannte er nicht mehr weg, jetzt stellte er sich entschlossen und mutig seinem Untergang, oder zumindest fast.

Der erste Apfel erreichte ihn und wurde in Bahn brechender Geschwindigkeit in kleine Würfel zerstückelt. Auch der Zweite fand kein anderes Ende. Der Dritte wurde aufgespießt und der Vierte zerteilt. Die nächsten Zwei wurden aus der Luft gefangen und auf den Boden geklatscht. Der Siebte fand kein besseres Ende als der Vierte, nur der Achte, der langsamer geworden war, weil er ihm das Ganze wohl nicht so geheuer war, der fand das beste Ende. Akuma war nämlich hochgesprungen und fing ihn mit dem Mund aus der Luft. Glücklich ließ er die Apfelmordwaffe auf den Boden fallen und bearbeitete die einzig ergatterte Versuchung: Einen roten, knackigen und runden Apfel. Als er gerade den dritten Biss im weichen Fruchtfleisch versenkte, sah er zum Kamikaze und bemerkte dessen erstauntes Gesicht. Erst dann blickte er zu seinen Füßen auf das Schlachtfeld und hielt inne. Das war vielleicht mal eine Sauerei. Der ganze Fruchtsaft hatte sich über den schönen Marmorboden verteilt und auch das Fruchtfleisch klebte überall. Akuma hob die Fahnenstange auf und sah den aufgespießten Kamerad des inzwischen verspeisten Apfel mitleidig an.

Der Kamikaze sah zu den Männern im Raum, die eine ähnliche Entgleisung ihres Gesichtes nicht verstecken konnten. Hatten sie das auch gerade gesehen, oder wohl eher nicht gesehen? Das Einzige, was man beim Zuschauen bemerkt hatte, war ein Blitzen der Stange im Licht der Kronleuchter und das Fruchtfleisch, das in allen Richtungen davon stob. Akuma und der Rest der Äpfel war in den Hochgeschwindigkeitsmodus übergewechselt.

Der kleine Junge entfernte inzwischen den Bemitleideten und sah entschuldigend zu den Männern rüber, die sich immer noch nicht fassen konnten. Unglaublich! So schnell hatten sie noch nie jemand mit einem ‚Schwert’ kämpfen sehen. Was für ein Talent. Auch der Kamikaze bemerkte erst jetzt, was Akuma wirklich drauf hatte und sprach ihn in der Göttersprache an.

„Akuma … Was war das denn?“

„Weiß nicht … was sollte es denn gewesen sein?“

„Das frag ich dich ja gerade …“

„Weiß nicht, was das war …“

„Aber …“

„Die Äpfel schmecken lecker, probiert mal davon!“

Lächelnd hielt er den zerteilten Apfel in Richtung des Kamikazes und wedelte ein bisschen damit herum, bevor er bemerkte, dass der vor Erstaunen wohl gar nichts mehr essen wollte. Akuma zuckte mit den Schultern, biss in die erste Hälfte der Versuchung und lächelte zufrieden. Das Essen hatte er sich jetzt richtig verdient. Glücklich und bis über beide Ohren grinsend stieg er aus dem Schlachtfeld und ging zurück zum Tisch, um da den alten Mann zu fragen:

„Könnt ihr das wegmachen?“

„Es würde dir gut tun, das selbst zu machen …“

„Na dann ….“

Akuma machte eine Handbewegung zu den Apfelresten hin und alle Männer gingen in Deckung. Als nach wenigen Minuten einer den Kopf mutig unter der Tischplatte hervor zog, stand der kleine Junge immer noch lächelnd und Apfelreste essend mitten im Raum und das Schlachtfeld hinter ihm räumte sich auf. Was war hier überhaupt los?

Vorsichtig kamen nach einem Zeichen die anderen unter dem Tisch hervor und setzten sich wachsam auf ihre Stühle. Selbst der Kamikaze, der eigentlich der Stärkste in der Alchemie war, sah sich ängstlich um. Er wollte nicht als Zielscheibe eines tollwütigen Apfels dienen, der mit dem Bauch durch die Wand wollte.

Als er sich sicher war, dass nichts Derartiges mit ihm geschehen konnte, wandte er sich zu Akuma um und fragte:

„Sag mal, warum hast du nicht gesagt, dass du schon so gut mit Alchemie umgehen kannst? Und auch die Sache mit der Fahnenstange …“

„Weiß nicht … Hätte ich es denn sagen müssen? Außerdem wusste ich es bis vor ein paar Tagen auch nicht so wirklich.“

„Nicht? Ach so … Na egal, ab morgen beginnt das praktische Training, einverstanden?“

„Einverstanden! Und was ist mit dem Lernen von Theorie, Historie und Informationen?“

„Das machst du abends und morgens vor dem Training und dem Essen! Also … auf ins Bett, meinetwegen kannst du ja noch ein wenig lesen, aber nicht zu lange. Ich brauche morgen einen ausgeschlafenen und konzentrierten Akuma. Ich werde mir einen sinnvollen Tagesplan ausdenken, der dich nicht langweilt. Wenn du dann noch irgendwann Zeit hast, kann ich dich ja in die Bibliothek schicken. Die ist beinahe komplett in Alchemistensprache, aber der Rest ist in Göttersprache … Also muss ich dir dringend die Alchemistensprache beibringen, das darf ich nicht vergessen. Nun gut …“

„Eh … Am besten ist, ich geh jetzt schlafen.“

„Ja! Geh nur, gute Idee!“

„Die habt ihr doch gerade vorgeschlagen …“

„Oh, stimmt! Ich bin etwas verwirrt …“

„Ja. Also ich geh dann mal. Gute Nacht, Kamikaze-sama. Und gute Nacht zu den Herren …“

Akuma winkte lächelnd und drehte sich dann auf dem Absatz um, um schnell aus dem großen Eichenportal, der Eingangstür zum Speisesaal, auf den langen Flur zu gelangen. Er hatte sich den Weg gut merken können und begann augenblicklich ohne Hektik auf sein Zimmer zu gehen. Wieder kam er an einigen Portraits vorbei und schaute manchmal in ein bekanntes, manchmal in ein unbekanntes Gesicht. Auch das Bild von Astarte stach erneut in seine Augen. Fasziniert blickte er auf dessen Gesicht und strich mit den Augen über die feine Kleidung, mit der der Gott großzügig bestückt worden war. Trotz all der Fröhlichkeit, die die Farben ausstrahlten und das Lächeln Astartes ausstrahlte, wirkte der junge Gott irgendwie traurig. Langsam streckte Akuma die Hand nach dem Bild und berührte die Farben, die Astartes Kleider zum Strahlen brachten. Seine Finger wanderten über diese hoch zum Gesicht und als sie die Stirn erreichten, zuckte der kleine Junge zusammen. Wieder quälten ihn Erinnerungen, die ihm so fremd waren, wie der seltsame Hintergrund des Bildes. Akuma hielt seinen Kopf und stöhnte, als Tonnen von Gedanken sein Gehirn überrannten und es beinahe zum Platzen brachten.

„Astarte, Astarte! Schau wie schön die Blume aussieht. Wie wundervoll der Götterwald doch ist. So wundervoll wie du, Astarte.“

„Nicht doch, Shiraima, Liebes. Du bist viel wundervoller als alles andere hier.“

Was war das? Nun hörte er auch noch Stimmen? Was sollte das? Er schüttelte den Kopf und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Da war eine Frau gewesen, doch sie war nicht wirklich eine Frau. Weiße, strahlende Flügel waren an ihrem Rücken gewesen und hatten das blonde Haar und die blauen Augen in ein sanftes Strahlen gehüllt. Diese Frau, Shiraima war ihr Name. Akuma erinnerte sich an das, was er über den Gott im Bild gesagt hatte. Er hatte für sie sein Leben gegeben und sie ihrs für seins. Shiraima war ein wirklich wunderschöner Engel, aber irgendwie störte etwas an ihr. Und plötzlich wurde Akuma gewahr, was es war. Sie hatte mit ihm gesprochen! Er war in Astartes Körper gewesen und hatte diese Worte gesagt. Was war hier los? Shiraima hatte ihn angesprochen und er war in dem Körper ihrer großen Liebe gewesen? Verwirrt schüttelte Akuma den Kopf und sah sich um. Zum Glück war kein Dienstbote in der Nähe gewesen, sodass er erleichtert einatmete. Was hätte so ein Angestellter denn von ihm gehalten, wenn er da auf einmal einen Anfall bekam und seltsame Sachen murmelte? Vielleicht hätte man ihn für geisteskrank gehalten …

„Na wunderbar …“

Vorsichtig wich Akuma von dem Portrait zurück, um es ja nicht noch einmal zu berühren. Er wollte nicht wieder so etwas erleben. Es war ihm zu unheimlich. Langsam wandte er sich von dem Bild ab und ging weiter, immer noch leicht am ganzen Körper zitternd.

Als er endlich sein Zimmer erreichte, schmiss er sich seufzend aufs Bett. Er wollte jetzt nichts lesen. Er wollte nicht in diese Welt eintauchen, die ihn vor gut zwei Stunden noch so fasziniert hatte. Er wollte nicht die Historie Taens lernen. Er wollte nur noch schlafen. Also schloss er die Augen und seufzte noch einmal. Blöde Erinnerung … Blöder Astarte, blöde Shiraima. Sollten die doch alle zur Hölle fahren und ihn aus ihren Liebesturteleien heraushalten! Langsam wurde ihm dieses blöde Göttergeschwafel echt zu viel und kam ihm bereits aus den Ohren wieder heraus. Wieder seufzte Akuma und versenkte seinen Kopf im Kopfkissen. Was sollte das denn überhaupt werden, wenn es fertig ist? Über diese Frage zerbrach er sich noch eine Weile den Kopf, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel, in dem er zur Abwechslung von einem schwarzen Loch träumte.

Jemand rüttelte ihn. Müde und genervt von der plötzlichen Ruhestörung im Weltall schlug Akuma mit einer Hand nach der Ursache des Radaus, verfehlte das Ziel aber um ein paar Zentimeter. Er murrte in sich rein und wälzte sich auf den Bauch. Seufzend gab er sich wieder dem dunklen Schwarz hin, woraufhin die Ruhestörung ihn wieder rüttelte und diesmal auch gleich die Bettdecke entfernte. Akuma tat seine Missbilligung laut kund:

„Hee~, was soll das?“

„Training!“

Mit einem Male war der kleine Junge hellwach und starrte in das Gesicht des Kamikazes, der eine Augenbraue hochgezogen hatte und über ihn gebeugt war. Akuma lächelte und kratzte sich am Kopf. Das Training hatte er vollkommen vergessen! Er war mehr als verlegen, aber das half ihm jetzt auch nicht weiter, denn der alte Mann würde ganz sicher keine Gnade walten lassen, und tatsächlich! Der Kamikaze zog ihn an den Armen aus dem Bett und zerrte ihn hinter sich die Gänge entlang, doch davon merkte Akuma kaum etwas. Nach dem Hellwachsein war er plötzlich wieder schläfrig geworden, weswegen er jetzt auch nur hinterher trottete, geführt von dem Frühaufsteher vom Dienst. Irgendwie arbeitete das kleine Gehirn fleißig und registrierte mögliche Ausreden, die die Situationen und den langen Schlaf retten würden. Leider bekam Akuma kein einziges Wort aus dem Mund, weswegen er dann einfach nachgab.

Irgendwann erreichten sie einen Raum, der bestimmt 50 Meter hoch war. Er sah magisch vergrößert aus, was er sicherlich auch war, dennoch war er eindrucksvoll. Eine leichte Brise erfüllte das Zimmer und prallte an den Wänden ab. Dadurch entstand eine stetige Kreisbewegung des Windes, der wahrscheinlich auch magisch erstellt worden war. Der Holzboden sah recht normal aus, doch irgendwie war die Schwerkraft erhöht worden und Akuma konnte sich kaum richtig bewegen. Die Wände waren aus normalem Stein, doch auch sie schienen geheimnisvolle Kräfte zu besitzen. Nichts an diesem Raum war normal. Hier sollte das Training stattfinden? Unglaublich! Jetzt verstand der kleine Junge, der in diesem Zimmer wirklich winzig war, wieso alle Lehrlinge von Kamikazes selbst Kamikaze wurden oder eine hohe Position im Land eingenommen hatten. Wer hier trainierte, für den war das Schicksal vorbestimmt, der Beste zu sein. Der Beste unter all den Besten, die es bereits gab.

Akuma entfuhr ein lautes >Wow<, was die derzeitige Position wohl aus seiner Sicht am besten beschrieb, oder er war einfach nur sprachlos. Immer wieder drehte er sich im Kreis und starrte an die so unerreichbare Decke. Aufgeregt wandte er sich dem Kamikaze zu und fragte:

„Werde ich viel lernen?“

„Wenn du viel lernen willst, dann lernst du auch viel. Denn nur aus dem Willen, entsteht der Ehrgeiz, kleiner Mann.“

„Wie werde ich lernen?“

„Du meinst deinen Tagesplan?“

„Ja!“

„Also ich denke, dass dir der härteste Plan, den ich jemals entworfen habe, am besten weiterhelfen wird.“

„Sagt mir den Plan. Wenn ihr sagt, dass es der Härteste ist, möchte ich ihn einhalten, um viel zu lernen! Ich freue mich …“

„Noch, noch freust du dich, aber bald wirst du es als Plage empfinden, mein Lehrling zu sein.“

„Niemals … Nicht nachdem ihr mich befreit habt. Das Leben ist meine Chance und Chancen sollte man ausbauen und auch nutzen.“

„Weise für dein Alter, aber nun zurück zum Plan.“

„Ja, den wollte ich immer noch wissen!“

„Du wirst um 4 Uhr aufstehen und sofort in diesen Trainingsraum kommen, um ein Morgentraining abzuhalten. Ungefähr um 7 Uhr frühstückst du dann, um danach mit der Theorie zu beginnen. Bis ungefähr 12 Uhr beschäftigen wir uns jeden Tag damit, bis du alles weißt, dann werden wir diese Zeit einschränken. Am besten du bekommst dann bis 13 Uhr Zeit, zu essen und dich zu erholen, weil du ab da an bis 20 Uhr mit mir praktische Übungen machst. Ich gebe dir danach eine Stunde, um dich zu reinigen, danach wirst du mit mir bis 22 Uhr Historie üben. Die Informationen Taens kannst du dir gerne im Bett durchlesen. Natürlich nur, wenn du willst. Sonst schieben wir die in die Theoriezeit mit rein, wenn diese eingeschränkt wird. Das erleichtert uns einiges.“

„Also bekomme ich nur 6 Stunden Schlaf?“

„Nicht mehr und nicht weniger. Es wird hart, aber wenn du dich daran gewöhnt hast, wirst du mir danken. Später irgendwann einmal, wenn dein normaler Arbeitstag dich fordert. Nicht jetzt.“

„Ich werde also 3 Stunden Morgentraining, 5 Stunden Theorie, 1 Stunde Pause, 7 Stunden praktisches Training, 1 Stunde Pause und 1 Stunde Historie haben?“

„Zusammengefasst, ja …“

„Umgerechnet sind das 18 Stunden, die ich am Tag trainiere bzw. lerne.“

„Ich weiß. Hast du etwas dagegen einzuwenden?“

„Nein, Kamikaze-sama! Auf geht’s! Ist es jetzt 4 Uhr?“

„Natürlich und jetzt beginnt dein Training!“

Freudestrahlend begann der Kamikaze dem aufgeschlossenen und neugierigen Jungen Kampfposen und vieles mehr beizubringen. Irgendwie mochte er Akuma, der irgendwie etwas Besonderes war, genauso wie sein Enkel Obito, der besonders … nervig war. Doch etwas an dem Aitoshi-Sprössling faszinierte den Kamikaze schon seit Längerem. Vielleicht war es sein Bluterbe oder wie der Kleine es geschafft hatte, all die Zeit zu überleben, oder es war einfach nur diese Lebensmentalität, die das verwelkte und alte Herz des Mannes höher schlagen ließ. Er wusste es nicht genau, aber er gewann Akuma mit jedem Lächeln, das dieser ihm schenkte, lieber und irgendwie wuchs dieser auch an sein Herz. Es war, als wäre der Kamikaze wieder Jung. So jung wie dieser Junge. So jung wie sein Lehrling.

Alchemy Academy

Akuma trat seitwärts in die Luft und pustete langsam seinen Atem aus. Das tat er jetzt schon seit ein paar Stunden. Immer wieder treten, dann ausatmen.

Wieder stieß er seine Fußkante seitlich in die Luft und gleichzeitig ließ er die Luft aus seiner Lunge. Immer schneller werdend wiederholte er seine Übung. Vielleicht kam der Kamikaze ja heute zur Beobachtung des Trainings vorbei, aber den Gedanken schlug er sich aus dem Kopf. Der alte Mann hatte zu viel zu tun, um weiterhin die Beaufsichtigung zu leiten. Niemand kam und sah Akuma zu, seit der Kamikaze sich wieder intensiv seiner Arbeit widmete.

Langsam hob er den Kopf und trat ein letztes Mal die Luft weg. Das Morgentraining war nach der Uhr jetzt vorbei und seinen Beschluss, pünktlich Schluss zu machen, hielt er jetzt ein. Langsam ging er über die Holzdielen des Raums auf die Tür zu.

Vier Jahre waren vergangen, seit er mit 8 dieses Zimmer das erste Mal betreten hatte, und in dieser Zeit war er zum stärksten Lehrling geworden. Keiner vor ihm war so mächtig gewesen, doch Akuma war ganz und gar nicht stolz auf sich. Er fürchtete sich sogar etwas vor seiner Kraft, die laut des Kamikazes, größer als die des Obersten der Jis war.

Ein Ji war er jetzt auch, er war ein ausgebildeter Alchemist, ein Elite-Kämpfer. Insgeheim fragte er sich, wie weit die anderen Jungen in seinem Alter wohl waren. Gehörten sie immer noch zur Alchemy Academy, der Schule der Alchemisten? Oder hatten sie inzwischen schon den Aufstieg in Einheiten geschafft? Erfüllten sie Aufträge oder andere Sachen?

Manchmal wunderte Akuma sich. Das System der Elite-Kämpfer, der Alchemisten, war extrem kompliziert. Alle kleinen Kinder mit magischem Potenzial, das irgendwie zu Tage kam, schickte man in die Alchemy Academy, um dort die Kontrolle über die Kraft zu erlangen, die in ihnen schlummerte. In dieser Schule gab es 3 Stufen. Da die meisten Jungen und Mädchen schnell Zaubern lernten, wurden die Klassen in Können unterschieden. So kann zum Beispiel auch ein 8 jähriges Mädchen in der Letzten der drei Stufen sein.

In der Stufe #1 wurden elementare Dinge gelehrt. Dazu gehörten Kontrolle der Kraft, Alltagszauberei, Rechnen, Schreiben, Lesen und das Erlernen der Sprache der Alchemisten. Kam man dann nach ungefähr drei Jahren in die Stufe #2, musste man sich mit Historie, Biologie, Anatomie des Körpers, Kräuterkunde, Chemie, weiterhin auch mit der Alchemistensprache und dem Hauptstudium der Alchemie beschäftigen. Es war ein langer, schwieriger Prozess, die zweite Phase zu durchlaufen und es verlangte große Konzentration, übermenschliche Leistung, herausragende Kondition und extremes Geschick. Wer eine dieser Eigenschaften nicht besaß, nahm sich eine Nachhilfe, die sich nach dem abendlichen Schulschluss noch einmal dem Studium des Tages widmete und ausführlich alles wiederholte. Natürlich konnte man auch versuchen, ohne auszukommen und die Eigenschaft anzulernen, jedoch klappte das oft nicht und letztendlich musste man doch einen Haufen Geld für einen Abendlehrer ausgeben, der oft auch nicht mehr weiterhelfen konnte, weil die Hoffnung bereits erloschen war.

Wer trotz all dem bewiesen hat, dass er würdig ist, würde als Belohnung in die dritte und letzte Stufe aufsteigen. Alchemy Academy #3. Dort wurde letztendlich nicht mehr viel gelehrt. Die einzigen Fächer, die den Tagesplan eines Schülers der dritten Stufe abdeckten, waren Wirtschaft & Politik, die Verfeinerung der Alchemistensprache, die Verfeinerung der Alchemiekünste, Biologie, Berufsberatung & Berufsprobe und eine Stunde, die sich Kemrin nannte. In Kemrin besprach man Alltägliches wie zum Beispiel Feste, Ereignisse (wie die Kamikazewahl, usw.) oder altes zum Teil noch historisches Zeugs, das einem irgendwie weiterhelfen sollte. Auf jede Stufe folgte eine Abschlussprüfung, die testen sollte, ob die Alchemistenanwärter würdig waren. Besaß man das Zertifikat des Abschlusses der Schule, so wurde man automatisch in die niedrigste Jobeinheit, Epsilon, eingeordnet. Dann ging alles nach einer Hierarchie vor.

Zuerst war man ein Mirai-Ji, ein Elite-Alchemist der Einheiten Epsilon und Delta. Sobald man Delta überwand und in Gamma aufstieg, besaß man den ehrenvollen Titel Yume-Ji und war somit erneut Elite-Alchemist von einem Einheitenbereich, der sich von Gamma, über Beta zu Alpha erstreckte. Erreichte man die Einheiten Omega oder Phi, so war man ein Owari-Ji.

Nach den Einheiten konnte man als Alchemist nicht mehr viel höher aufsteigen. Es folgten bloß nur noch Sonderpositionen. Zuerst gab es den Bürgermeister einer Stadt eines Segmentes. Darauf folgte die Position des Obersten des Segmentes, der gleichzeitig auch Mitglied des heiligen Rates des betreffenden Reiches war und dort wichtige Entscheidungen beeinflussen bzw. besprechen oder fällen konnte. Dann gab es nur noch drei Personen, die aus den Reihen des Rates besonders hervorstachen. Die Cui und der Kamikaze. Als Oberster des Landes pflegte der Kamikaze regen Umgang mit Göttern jeglicher Art und war so auch der Vertreter des heiligen Himmelsreichs auf Erden. An seiner Seite standen die Cui. Die rechte Hand des Kamikazes nannte man „Oberster der Jis round the corner of …“. Er war theoretisch Vize-Kamikaze und in Notzeiten, falls der Kamikaze an einem plötzlichen Ableben interessiert war, übernahm er diese Position vollkommen und verrichtete die anstehenden Arbeiten. Zudem steht er an der Spitze aller Jis und ist Anführer des heiligen Rates. Ihm gleichgestellt ist der zweite Cui, die linke Hand des Kamikazes. Dieser Cui ist sehr oft ein Mensch, vertritt die Meinung der Nichtalchemisten, die die deutliche Mehrheit des Landes waren, und hatte meist das Amt des höchsten Arztes inne. Er diente als Vertretung des ersten Cuis, wird aber selbst im Notfall von diesem ersetzt.

Akumas Kopf schwirrte von diesen seltsamen hierarchieartigen Systemen und er versuchte irgendwie Klarheit in seinen Kopf zu bringen. Wenn er groß war, würde er ganz sicher hoch oben sein! Das schwor er sich gerade aus Jux, aber irgendwie hoffte er insgeheim, es würde wahr werden.

Akuma drückte die Klinke der Tür herunter und trat in den Flur. Die Stille, die im Trainingsraum herrschte, war wie weggeblasen und das eilige Getrappel der Füße von Mägden und Dienern drang an seine Ohren.

Vorsichtig lugte er um die Ecken und schlich sich nahe der Wand immer näher an seinen Raum heran. Seit der Kamikaze seinem Enkel und dessen guter Freundin Myssia den Zutritt zu diesem Gebäude wieder freigegeben hatte, war Akuma sich um seiner nicht mehr sicher.

Ein Gähnen entrang sich ihm und er streckte sich müde. Es war nicht gut, lange zu studieren und dadurch sehr wenig Schlaf zu bekommen. Sein Plan hatte sich inzwischen sowieso verändert, schließlich hatte er es geschafft, dem harten Tagesplan des Kamikazes zu trotzen und als Bester seiner Lehrlinge in die Untergeschichtenrubrik des Kamikazes geschrieben zu werden!

Langsam schlich er die Gänge weiter entlang und achtete stets auf die ihm entgegen kommenden Personen. Manchmal fragte er sich, was diese gerade dachten, weil ihr Gesichtsausdruck so unbewegt wirkte. Andere konnte er lesen wie ein offenes Buch. Nichts machte ihm so viel Spaß, wie das erraten fremder Gedanken. Diese Art von Rätselei fand er irgendwie spannend und außerdem meinte er von sich, dadurch auch logische Zusammenhänge besser zu entdecken. In jeder Situation, in der Logik eine Hauptrolle spielte, war Akuma der Detektiv, der sie besaß.

Als er den langen Flur entlang ging, blieb sein Blick wie gewöhnlich an Astarte hängen. Er hatte nach der ersten seltsamen Vision, die er damals gehabt hatte, dieses Bild nicht wieder angefasst und war zukünftig davon verschont geblieben.

Es juckte ihn in den Fingern und vorsichtig näherte er sich dem großen Portrait. Erneut fiel ihm Astartes unergründliche Traurigkeit auf und wieder fühlte er ein seltsames Gefühl in sich. Akuma streckte langsam die Hand aus und berührte wie damals das hübsche Portrait. Als seine Fingerspitzen erneut über die kunstvollen Kleidungsstücke strichen, klopfte sein Herz. Je näher er Astartes Gesicht kam, desto schneller raste sein Herzschlag. Wie damals fuhr Akuma mit der Hand zur Stirn, sah sich vorher noch mal um und schloss die Augen. Etwas Unerklärliches breitete sich in seinem Herzen aus, als diese schönen Stimmen und die vielen Orte durch seine Gedanken zuckten.

„Shiraima~!! Nein! Shiraima~! Geh nicht! Bitte hört doch auf! Gott, warum tust du das? Lass sie gehen!“

„Ihr beide habt gesündigt. Dir, mein Sohn, werde ich vergeben, weil du nicht unterwiesen wurdest, doch diesem törichten Engel werde ich keine Gnade zukommen lassen.“

„Gott, bitte!!“

„Tut mir Leid, Astarte, mein Sohn. Stoßt sie in den Weltennebel.“

„Nein!!! Bitte, Gott, mein Vater, verzeih ihr, bitte! Ich kann nicht –“

„Du wirst ohne sie leben, dafür werde ich sorgen. Sie hat dich nur verzaubert. Sobald ihre Seele in die sterbliche Welt übergelaufen ist, werdet ihr nicht mehr miteinander reden können. Ich verbiete dir zudem den Zugang zur Welt der Menschen und Alchemisten, sodass du ihr Schicksal nicht verändern kannst, mein Sohn. Werde vernünftig, Astarte, es war eine Intrige.“

„Du lügst!“

„Werde nicht frech, mein –“

„Unter diesen Umständen will ich auch nicht dein Sohn sein!“

„Was redest du da für einen Quatsch?“

„Ich meine es ernst!“

Astarte lief an den Rand der Plattform auf die Wachen zu und erreichte den Steg, der in den Nebel führte. Dort wurden Ungehorsame hineingeworfen. Wenn das geschehen war, lösten sich die Seelen vom Körper und gingen über in die Menschenwelt, um dort in einem Körper wiedergeboren zu werden. Normal würde eine Seele in der Götterwelt Jahrhunderte überstehen, bevor sie sich zum Sterben legte und in einen sterblichen Körper schlüpfte. Diese Phase konnte jedoch unterbrochen werden, indem man das Seelenleben vor eigentlichem Sterbedatum beendete und die Götterweltenform in den Nebel warf, der zum Weltenrichter führte.

Astarte sah wie Shiraima von den Wachen genau in dem Moment, in dem er sie beinahe zu fassen bekam, vom Steg gestoßen wurde. Entsetzt blieb er am Rand der Plattform stehen und sah, wie seine große Liebe dem alles verschlingenden Nebel immer näher kam. Eine enorme Hilflosigkeit breitete sich in ihm aus und er drehte sich zu seinem Vater, dem Hauptgott, um.

„Was hast du getan?!“

„Das, was für dich am besten war … Lass uns neu beginnen, mein Sohn.“

„Nein.“

„Wie soll ich deinen Schmerz gutmachen? Soll ich dir deine Erinnerungen löschen?“

„Du kannst nichts mehr gutmachen … Nun ist es zu spät.“

„Wie meinst du das?“

Astarte stand auf und sah wieder in den Abgrund, nur um zu sehen, wie Shiraima sich ohne Erfolg zu retten versuchte. Ihre Engelsflügel waren gegen den Sog, der vom Nebel ausging, zu schwach. Langsam ging Astarte auf den Steg und sah kurz zurück, um in das entsetzte Gesicht seines Vaters zu sehen, bevor er sich ohne Vorwarnung in die Tiefen stürzte. Er hörte die Stimmen der Götter, Engel, die der Zeremonie beiwohnten, und seinen Vater.

„Astarte, komm zurück!“

Als Astarte Shiraima näher kam, schien diese erstaunt, aber keineswegs böse. Er erreichte sie kurz bevor beide in den flauschigen Nebel fielen. Etwas strich um seine Ohren. Es waren Worte, Worte, die er zurückgab. Leise und zärtlich sagte sie:

„Ich liebe dich, Astarte. Für immer.“

„Ich dich auch, Shiraima, für immer.“

Dann berührten beide den Nebel und es wurde schwarz.

Akuma stöhnte entsetzt auf und hob den Kopf. Als er blinzelnd die Augen öffnete, befand er sich wieder in dem langen Korridor, in dem Astartes Portrait hing. Diesmal war er nicht in Astarte gewesen, aber er schien wie eine Energie um ihn herum geflogen zu sein. Er sah sich um und stellte erleichtert fest, dass er immer noch alleine war.

Akuma nahm die Hand vom Bild und schaute eine Weile schweigend in das traurige Gesicht des jungen Gottes. Darum wirkte er so mitgenommen, so furchtbar allein und schwach. Also war auch diese Legende wahr. Irgendwie fühlte Akuma sich wie ein neugieriger Beobachter, der in fremden Gedanken schmökerte.

Er wagte noch einen Blick auf das traurige Gesicht und drehte sich dann eilends um, um den Korridor entlang zu laufen. Er hatte besseres zu tun, als hier irgendwelche seltsamen Erfahrungen zu machen! Diesmal schwor er sich, dass er das Bild nicht wieder berühren würde. Wie lange würde das Versprechen wohl halten? So wie er sich kannte auch nicht viel länger als das Erste. Langsam wunderte er sich, warum er überhaupt nicht in der Lage war, das Portrait zu meiden.

Akuma lief auf sein Zimmer und schmiss sich aufs Bett. Er hatte keine Theoriestunden mehr, was bedeutete, dass er nun relativ viel Freizeit hatte, weil auch die anderen Unterrichtseinheiten gekürzt worden waren. Der Kamikaze ließ den kleinen Jungen nun alleine trainieren und lernen, fragte jedoch öfter mit erstellten Fragebögen dessen Können ab. In letzter Zeit war der alte Mann so beschäftigt gewesen, dass Akuma ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Tage vielleicht. Höchstens Wochen. Manchmal schlichen sich Zweifel in seine Gedanken. Hatte der Kamikaze ihn vergessen? Oder hatte er nur zu tun? Das Zweite war die logischere Antwort, daher hatte Akuma sich nicht beschwert. Neulich erst hatte der ‚Oberste der Jis round the corner of Taen’ Akuma eröffnet, dass bald etwas Grundlegendes in sein Leben treten würde. Aber nur kurzzeitig. Was? Die Frage stellte sich der kleine Junge schon seit zwei geschlagenen Wochen. Was würde sein Leben verändern? Wieder und wieder rollte er diese Frage in seinem Kopf hin und her. Es gab nichts, was ihn ändern könnte, oder? Was hatte er bis jetzt noch nicht erlebt? Nachdenklich tippte Akuma sich ans Kinn und schaute die Decke an. Es gab nicht viel, was er noch nicht kannte. Die Schule … andere Kinder … Wettbewerbe. Soweit war er schon vor einer Woche gewesen. Würde der Kamikaze ihn anderen Kindern vorstellen? Würde er ihn an Wettbewerben teilnehmen lassen? Oder schickte er Akuma nun zur Schule? Keiner der Gedanken ergab wirklich Sinn, weil sie zu abwegig waren. Wenn der Kamikaze ihn tatsächlich anderen Kindern vorstellte, dann würde er somit die Existenz eines eigentlich nicht existierenden Aitoshi-Nachkömmlings bestätigen. Würde der alte Mann ihn jedoch zu Wettbewerben melden, dann gäbe es das gleiche Problem. Was war mit der Schule? Ähnliches Problem …

Akuma dachte angestrengt nach. Nichts war wirklich logisch! Wie also sollte eine Veränderung eintreten, wenn der Kamikaze somit die Existenz eines Lebewesens erklärte, dass es nach Gerüchten gar nicht gab? Manchmal beschlichen Akuma Zweifel und ein gewisses Selbstmitleid machte sich in ihm breit. Er besaß keine Existenz, zumindest nicht in der Gesellschaft, vor Gott jedoch schon. Niemand kannte ihn, auch wenn er lebte. Niemand wusste von ihm, auch wenn er dort war. Nichts, gar nichts, wollte den anderen zeigen, dass es eine Person wie Akuma tatsächlich gab.

Seufzend vergrub er sein Gesicht im Kissen und versuchte somit auch seine Gedanken zu ersticken. Was sollte er auch anderes tun? Ihm blieb nichts übrig, als abzuwarten, weil der Kamikaze einen Plan verfolgte, den er nicht kannte.

Akuma horchte auf. Es raschelte vor der Tür. Ein Rascheln, das nur von weiten Gewändern stammen konnte. Ein Klopfen durchschnitt die Stille des Raumes. Es wiederholte sich ein paar Mal, bis der kleine Junge auf die Idee kam, dem Besucher die Tür zu öffnen.

Langsam erhob er sich vom Bett und ging durch das Zimmer auf das schwungvoll verzierte ‚Portal’ zu. Leise quietschend drückte Akuma die Klinke herunter und sah in das Gesicht des Kamikazes. Tiefe Falten durchfurchten sein Antlitz und Schatten lagen um seine Augen. Er sah müde und erschöpft aus.

Wieder ertönte das Rascheln und der kleine Junge erwachte aus seinen Gedanken. Lächelnd schob er sich beiseite und ließ den Kamikaze herein, der den einzigen Stuhl in diesem Raum für sich beanspruchte. Das machte Akuma nichts aus. Er setzte sich einfach auf das Bett, das mindestens genauso gemütlich war.

Eine Weile schauten sich die beiden schweigend an. Es hätte eine Menge zu besprechen gegeben, aber niemand wollte die Stille durchbrechen. Lange Zeit hatten sich die beiden nicht gesehen und Akuma spürte, dass er den alten Mann, der ihm nun gegenüber saß, schmerzlich vermisst hatte. Das Gefühl war beängstigend aber irgendwie auch schön.

Vorsichtig lugte der kleine Junge zwischen seinen inzwischen schon schulterlangen schwarzen Haaren zu der Gestalt des Kamikazes. Sorgen hatten den Körper des alten Mannes in Mitleidenschaft gezogen, das stach wieder als erstes in die forschenden Augen des Lehrlings. Er machte sich Sorgen. Wie alt war der Kamikaze eigentlich wirklich? Merkte man ihm sein Alter nur nicht an, weswegen er immer noch als stark galt? Schweigend dachte Akuma nun auch über das nach.

Ein Räuspern unterbrach ihn in seinem Gedankenschwall und riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Als er den Kopf hob, sprach der alte Mann ihn in der Göttersprache an:

„Nun, Akuma. Wie geht’s voran?“

„Gut …“

„Ah … das ist schön! Ich habe mir gedacht, dass du keine Probleme haben wirst, allein fortzufahren. Manchmal habe ich mich um dich gesorgt, doch das ist wohl nicht nötig.“

„Nein, Kamikaze-sama.“

„Fein. Und nun zum eigentlichen Grund meines Besuches. Darf ich?“

„Nur zu.“

„Ich denke nun schon einige Zeit über deine Zukunft nach. Du bist der fähigste und stärkste Lehrling, den ich je hatte. Du beherrschst so viel, wie niemand sonst, jetzt mal von mir abgesehen.“

„Ich danke euch, Kamikaze-sama.“

„Nun … Kein Tag vergeht, ohne dass ich einmal über dich nachgedacht habe. Gestern kam mir eine Lösung des Problems in den Sinn. Du weißt sicher nicht, was für ein Problem, nicht wahr?“

„Nein, Kamikaze-sama.“

„Nun es geht darum, dass du schon so stark bist, dass du eine der Einheiten anführen könntest. Haben Master Ishisaka und ich uns nicht verrechnet, dürftest du nun zur Omega Sondertruppe gehören.“

„Master Ishisaka? Wer … Omega Sondertruppe?!“

„Ja. Als Owari-Ji würdest du dich gut machen, weil du für die Mirai-Jis und die Yume-Jis zu stark bist. Ein Omega kommt deiner Stärke gleich, genauso ein Phi. Daher passt du erstmal in die Mitte der beiden besser herein. Omega Sondertruppe.“

„Ah ja … Das freut mich, Kamikaze-sama! Aber wer ist Master Ishisaka?“

„Wusstest du das nicht? Ishisaka, Masaru ist der derzeitige ‚Oberste der Jis round the corner of Taen’.“

„Oh … Ich denke, ihr erwähntet seinen Namen. Verzeiht.“

„Schon in Ordnung. Du kannst dir wie jeder Mensch halt nicht alles merken, aber zurück zum Thema. Wenn du nun Mitglied in einer Einheit sein willst, brauchst du das Abschluss Zertifikat der Alchemy Academy und selbstverständlich musst du alle Halb- und Ganzjahreskontrollen nachholen.“

„Was bedeutet das, Kamikaze-sama?“

„Nun ja. Das bedeutet wohl, dass du für einige Zeit in die Schule gehen musst, um deine Prüfungen nachzuholen.“

„Nachholen? Kann ich die Prüfungen nicht schreiben und wenn ich bestanden habe, in die Klassenstufe gehen, wo Gleichaltrige sind?“

„Kannst du auch und das erscheint mir ebenfalls logischer. Deshalb wirst du ab Montag innerhalb von insgesamt zwei Wochen die Alchemy Academy #1 Prüfungen und dann noch mal in zwei Wochen die der Alchemy Academy #2 schreiben.“

„Das ist jede Menge, wenn ich erwähnen darf. Wann werde ich welche Prüfungen haben?“

„Zuerst einmal kommen die Halbjahrprüfungen in der ersten Woche dann die Ganzjahrprüfungen in der zweiten Woche.“

„Logisch.“

„Nun ja, merke dir den folgenden Stundenplan gut. Vergisst du ihn, schau in der Schule vorbei, die Termine werden dir von der Frau an der Information noch einmal gesagt. Sie sind für Zwischeneinsteiger immer offen.“

„Jawohl, Kamikaze-sama.“

„Montag wirst du ab 13.00 Uhr in Kontrolle der Alchemie geprüft. Das geht bis 15.00 Uhr. Am Dienstag testen dich die Prüfer von 9.00 Uhr bis 10.00 Uhr in Schreiben und von 15.00 Uhr bis 16.00 Uhr in Lesen. Mittwoch hast du von 7.00 Uhr bis 18.00 Uhr Alltagszauberei und Donnerstag von 10.00 Uhr bis 13.00 Uhr Alchemistensprache. Freitag wirst du von 17.00 Uhr bis 18.00 Uhr in Rechnen getestet. Die darauf folgende Woche läuft genauso ab.“

„Jawohl, Kamikaze-sama. Das waren dann die Prüfungen zur Alchemy Academy #1 und die zu #2?“

„Montag: 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr Biologie, 14.00 Uhr bis 17.00 Uhr Kräuterkunde. Dienstag: 11.00 Uhr bis 18.00 Uhr Historie. Mittwoch: 7.00 Uhr bis 10.00 Uhr Chemie, 11.00 Uhr bis 15.00 Uhr Anatomie des Körpers. Donnerstag: 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr Hauptstudium der Alchemie. Freitag: 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr Alchemistensprache.“

„Danke, Kamikaze-sama. Ich habe mir alles gemerkt. Übermorgen werde ich dann also meine erste Prüfung schreiben!“

„Ja … Wenn du mit den Prüfungen durch bist, wirst du mit meinem Enkel die Halbjahresprüfungen schreiben. Dann gliederst du dich in Alchemy Academy #3 ein.“

„Warum schreibe ich nicht die Ganzjahresprüfungen in der Woche danach?“

„Weil ich jemanden brauche, der die Schüler einschätzt. Ich schaffe es immer, einen Nachkömmling irgendeiner Familie dazu durchzuringen, die Mitschüler zu beobachten. Und dein Einschätzungsvermögen ist um einiges geschulter, als das eines anderen Jungen in deinem Alter.“

„Das heißt, ich bin so etwas wie ein Spion, nur im guten Sinne?“

„So könnte man es nennen.“

„Was für ein Einschätzungsvermögen?“

„Sag mir Namen der viel versprechenden Schüler deines Jahrgangs und ihre besondere Begabung. Nenne mir lediglich Bereiche, wo sie ihre Stärken ausleben können, wenn sie ihr Zertifikat haben und erstatte mir Bericht, welche Schwächen sie ausbauen müssen.“

„Jawohl, Kamikaze-sama.“

„Mir liegt am Herzen, was aus dem Land wird, was wir mit ihm anstellen. So lange wir können, werde ich dafür sorgen, dass alle Bewohner unter friedlichen Umständen in ihrer Weise gefördert werden. Das ist mein Traum.“

„Dann werde ich euch helfen, Kamikaze-sama.“

„Vielen Dank, Akuma. Achte aber dennoch darauf, dass niemand deinen Nachnamen erfährt. Es könnte Verwirrung stiften, wenn …“

„Wenn was?“

„Wenn Shin plötzlich einen Bruder hat.“

„Shin? Ich habe einen Bruder?“

„Ja …“

„Warum weiß ich nichts von ihm?“

„Weil ich einen Augenblick brauchte, indem ich dir erklären konnte, was mit euch ist.“

„Was ist denn mit uns?“

„Ihr seid Zwillinge und er ist der ältere von euch.“

„Zwillinge?!“

„Eineiige …“

„Warum …“

„Tut mir leid. Ich wollte es dir irgendwann sagen, ganz bestimmt. Verzeih die Fehler eines alten Mannes.“

„Ich habe einen Bruder, einen älteren Bruder? Ah …“

Akuma schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Das hatte ihn jetzt vollkommen aus der Bahn geworfen. Selten hatte er etwas über seine Familie gehört und plötzlich war er Zwilling? Irgendwie machte ihn das fröhlich, aber auch unglücklich und unsicher. Was würde Shin von ihm halten?

Langsam begannen wieder seine Gedanken schneller zu werden, bis sie schließlich blitzartig auftauchten und dann verschwanden. Verwirrt schüttelte Akuma sie beiseite. Er hatte einen Bruder, der gleichzeitig auch noch sein Zwilling war?

Der Kamikaze seufzte und klopfte dem Jungen auf die Schultern. Als er sich erhob, raschelten seine weitläufigen Kleider und übertönten das Knacken der Gelenke. Er war tatsächlich alt geworden, zu alt. Bald würde er sich zur Ruhe setzen. Was war bald? In ferner Zukunft, niemals bald.

Der Kamikaze seufzte ergriffen von seinem Schicksal und ging grimmig auf die Tür zu, die ihn von einem weiteren Arbeitstag trennte. Was half es? Er musste arbeiten, koste es, was es wolle.

„Nun Akuma … In fünf Wochen werden wir dann weitersehen.“

„Wie ist der Stundenplan für die fünfte Woche?“

„Mach dir keine Sorgen, den sage ich dir am Wochenende davor.“

„Gut. Danke, Kamikaze-sama.“

„Bedanke dich nicht. Dazu ist später noch Zeit.“

Als der alte Mann den Raum verließ, war Akuma wieder allein. Allein mit sich und seinen Gedanken, die ihn quälten, nicht loslassen wollten. Schnell huschte er zu seinem Schreibtisch und schlug alle Bücher auf, um den letzten Unterrichtsstoff auswendig zu lernen und gleichzeitig seine Gedanken zu vertreiben. Vorsichtig blätterte er um und wiederholte alle Informationen. Er musste alles auswendig wissen, für den Fall, dass es dran genommen wurde.

Am Montag war es dann soweit. Akuma stand in der Eingangshalle der Schule und schaute sich um. Viele Schüler eilten an ihm vorbei, alle mit der gleichen Uniform. Er selbst stach aber nicht hervor, weil der Kamikaze ihm eine verpasst hatte. Zur Abwechslung hatte er seine Haare gekämmt und zum Zopf gebunden. Jetzt war das einzige Problem nur noch, dass sein Gesicht dem von Shin ähnelte. Zum Glück war dem alten Mann noch eingefallen, dass man einen Umhang tragen konnte, wenn man sich nicht in der Lage fühlte, Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten.

Akuma seufzte und ging langsam auf den Informationstresen zu, an dem eine Frau arbeitete. Sie hob den Kopf, als er näher trat und lächelte gekünstelt. Bevor sie eine Frage stellen konnte, die er möglicherweise nicht verstanden hätte, fragte er in der Alchemistensprache:

„Wo wird die Kontrolle der Alchemie geprüft?“

„Draußen in den Kampffeldern. Gleich nachdem du hinausgetreten bist, wendest du dich nach links und folgst dem Pfad so lange, bis er in ein großes Feld übergeht.“

„Vielen Dank.“

Akuma wandte sich ab und sah zu, dass er sich beeilte. Nun würde er sich 4 Wochen lang zwischen den jüngeren Prüflingen aufhalten müssen. Das behagte ihm gar nicht und er fand es selbst auch schon etwas peinlich, doch der Kamikaze hatte ihm versichert, dass die Prüfer um die Tatsache wussten, dass Akuma der Lehrling eines Alchemisten war und lediglich die Prüfungen nachholte, die er verpasst hatte.

Als er in die Nähe des Felds kam, fiel er fast vom Glauben ab. Da waren lauter Kleinkinder! Diese Tatsache fand er tatsächlich nicht mehr witzig. Er trat auf den Platz, woraufhin einige zurückwichen. Natürlich, sie dachten er wäre bereits in der Alchemy Academy #3 oder schon höher, doch da irrten sie sich. Zielstrebig ging er auf den Anmeldungstisch zu und versuchte das Getuschel, das sich inzwischen ausgebreitet hatte, zu überhören. Akuma erkannte zum Glück den ‚Obersten der Jis round the corner of Taen’, sonst wäre er sich ziemlich dumm vorgekommen. Der Mann bemerkte ihn und verabschiedete sich von seinem Gesprächspartner. Schnell näherte er sich dem Jungen und fing ihn ab. Hastig sprach er auf der Alchemistensprache:

„Dann ist es also jetzt soweit?“

„Ja, Ishisaka-sama.“

„Nun gut. Anmelden brauchst du dich nicht mehr. Das haben der Kamikaze und ich schon erledigt. Komm mit, ich nehme mir die Freiheit, dich zu testen.“

„Ist das auch in Ordnung? Ich meine …“

„Keine Sorge, ich werde dich behandeln wie jeden anderen hier, aber in den folgenden Wochen werde ich dich auch durch die Prüfungen begleiten, damit dir das ganze Getuschel und die Häme erspart bleiben.“

„Ah, danke, Ishisaka-sama.“

Ishisaka führte ihn zwischen all den Alchemisten hindurch auf ein anliegendes Feld, das von einigen Bäumen verdeckt wurde, sodass niemand auf die Idee kommen konnte und sich über ihn lustig machte.

„Nun denn, Akuma. Zeige mir, dass du Kontrolle hast. Der Kamikaze hat mir nämlich nicht so viel über dich erzählt.“

„Gut.“

Akuma begann jede Art von Aufgabe, die Ishisaka ihm stellte, mit Leichtigkeit zu vollenden. Er brauchte sich nicht mal anstrengen und irgendwie war er nun auch nicht mehr so aufgeregt. Inzwischen fragte er sich eher, warum er das gewesen war. Es kostete keine große Menge an Energie oder Konzentration die Aufgaben zu lösen, daher musste er auch nicht die größeren Alchemistenkräfte in sich rufen. Er hätte diese mit einem einfachen Klatschen freigesetzt, genauso wie er Mittlere wohl mit einem Schnipsen ans Tageslicht befördert hätte. Aber nun, da er Schwache benutzen sollte, bewegte er nur lässig seine Hand oder machte nicht mal eine Deutung. Es passierte, wie er es sich vorstellte, wie er es gedanklich haben wollte.

Freudig und mit einem Eifer, den Ishisaka noch nie zuvor gesehen hatte, tat Akuma wie geheißen und beendete die eigentlich zweistündige Prüfung innerhalb einer halben. Ishisaka, der nun schwer beeindruckt war, meinte:

„Nun gut, das war’s dann für heute. Wenn du weiter so machst, bist du schnell mit jeder Kontrolle fertig.“

„Danke, Ishisaka-sama.“

Akuma folgte dem Mann wieder zurück auf den Platz, der inzwischen leer war. Die Kleinkinder hatten wohl alle ihre Prüfungen und befanden sich zwischen Prüfern auf anderen magiegeschützten Plätzen.

„Nun denn, auf bald, Akuma.“

„Ebenfalls, Ishisaka-sama.“

Jetzt machte Akuma nur, dass er weg kam. Ihm war das immer noch unangenehm und in den nächsten Tagen würde es auch nicht besser werden. Vielleicht konnte er den Kamikaze überreden, ihn die Prüfungen alleine, ohne andere Kinder, machen zu lassen. Er wollte nur noch zu dem alten Mann und ihm erzählen, was er wollte und wie es gelaufen war.
 

Seufzend stand Akuma auf. Inzwischen hatte er vier Wochen lang alle Prüfungen nachgeholt und befand sich kurz vor der ersten Halbjahresprüfung der Alchemy Academy #3. Morgen würde der Tag für ihn mit der Prüfung der Alchemie beginnen, die genau vier Stunden dauern sollte. Gelangweilt streckte er sich und setzte sich verschlafen in Richtung Kleiderschrank in Bewegung. Gähnend öffnete er die Schranktüren und schaute wie jeden Tag auf eine Auswahl feinster, schwarzer, Klamotten, die ihn besonders ansprachen. Mit einem Blick erfasste er die Kleidungsstücke und entschied sich nach einiger Zeit für ein schwarzes T-Shirt, ein schwarzes Hemd zum Überziehen und eine knielange schwarze Hose, die er mit einem Gürtel, natürlich schwarz, enger stellen musste, weil sie ihm selbst auf der kleinsten Größe zu groß war. Vorsichtig stellte er die Gürtelschnalle auf das Loch ein, das er sich extra in das schwarze Leder hineingezaubert hatte, weil der Gürtel ebenfalls zu weit gewesen war. Als er das T-Shirt überzog, fragte er sich, wie es am nächsten Tag wohl ablaufen würde.

Welchen Leuten würde er begegnen? Wen würde er kennen lernen? Er nahm das Hemd und zog es an, knöpfte es aber nicht zu. Das würde sonst recht unbequem werden.

Sein Blick rutschte auf die Socken, die keinen Kontrast zu dem ganzen Schwarz bildeten und ebenfalls in dieser Farbe waren. Er zog sie hastig an und schloss die Schranktüren. Nichts war so langweilig, wie diese morgendliche Prozedur, die Minuten verschwendete. Als Akuma schließlich zurück zum Bett ging, bemerkte er das Buch, das wohl gestern Abend, als er endlich eingeschlafen war, vom Nachttisch gerutscht war. Er hob es hoch und schlug die letzte Seite auf, an die er sich noch erinnern konnte, und legte es schließlich aufgeklappt auf den kleinen Tisch zurück.

Sein Blick fiel auf den Gegenstand, der vor dem Fuß der Nachttischlampe lag. Es war eines dieser Clansabzeichen. Jeder, der einem der vielen Clans angehörte, hatte das Emblem in einer kleinen Münze meist in der Geldbörse dabei. Es war reine Angeberei, denn zu etwas Anderem waren diese Schmuckstücke nicht geschaffen worden. Zu etwas Anderem war auch dieses Emblem, das Emblem der Aitoshi, nicht geschaffen.

Akuma nahm das runde Ding in die Hand und sah es eine Weile an. Vier Jahre lang hatte er nicht viel in Erfahrung gebracht was seine Familie anbelangte und die acht Jahre davor war er nicht in der Lage gewesen. Er erinnerte sich an den alten Mann, der ihn getreten und geschlagen hatte, der ihn hungern und dursten ließ, aber niemals tot sehen wollte.

In einem plötzlichen Wutanfall schmiss er das Clansemblem quer durchs Zimmer gegen die Fensterscheibe, an der es abprallte und schließlich herunterfiel. Es landete auf einem Buch, das aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag. Desinteressiert wandte Akuma sich ab und machte sein Bett. Sorgfältig strich er die Falten aus der Decke und schlug auch das Kissen auf. Dann langte er unters Bett und zog seine Schuhe hervor, die, wie sollte es auch anders sein, ebenfalls schwarz waren. Als er hinein geschlüpft war, seufzte er erneut und sah auf die Uhr. 6 Uhr. Beste Zeit um aufzustehen. Das Morgentraining hatte er verschlafen, wollte aber trotzdem nicht später zum Frühstück erscheinen, weil es eben seine Gewohnheit war.

Akuma ging zur Tür hinüber und hinaus auf den Flur. Leise klickte das Schloss und verkündete, dass die Holztür nun verschlossen war.

Ein kühler Windhauch strich durch den endlos langen Korridor und brachte Akuma zum Frösteln. Es war Winter und doch Frühling. Eine Mischung aus beidem, schätzte der kleine Junge und wandte sich mit dieser Feststellung dem Gang zu, dem er wieder zum Speisesaal folgte.

Als er eine Weile gegangen war, führte der Korridor am Kopf einer Treppe vorbei, die den Weg zur Eingangstür des großen Hauptsitzes der Regierung Taens freigab. Unten war ein großer Empfangssaal von dem aus man zu einem kleinen Raum gelangte, in dem der Kamikaze seine meisten Termine abarbeitete. Zudem führte der Saal zu Taens Ratskammer, in der der Heilige Rat Stunden für die Regierung verbrachte. Es gab noch acht andere Zimmer, die sich abzweigten, doch dort war Akuma noch nie gewesen.

Gerade ging er am Geländer, das die zweite Etage sicherte, damit keiner von dem Treppenauslauf stürzte, vorbei, als unten Stimmen laut wurden. Interessiert schaute er von seiner erhobenen Stelle in die Halle hinab und erstarrte. Ängstlich zog er sich zusammen und versteckte sich hinter einem Geländerstück. Da unten war sein Großvater und der schien sich mit dem Kamikaze zu streiten. Akuma horchte auf und bemerkte, dass die beiden auf Basis der Alchemistensprache diskutierten. Er konzentrierte sich und wartete ab. Wieder schimpfte sein Großvater los.

„Was fällt euch ein? Ich will dieses Miststück nicht im Jahrgang meines Enkels sehen!“

„Master Aitoshi. Bleibt bitte auf der gehobenen Ebene. Akuma ist ebenfalls euer Enkel. Dagegen könnt ihr nichts tun und solange er das Emblem eures Clans nicht zurückgibt, wird er immer mit euch zu tun haben.“

„Dann werde ich mir das Emblem holen!“

„Nun, dann geht das Zimmer eures Enkels suchen … Es gibt hunderte von Räumen hier. Die Suche würde Tage dauern, aber ich denke, die Zeit habt ihr nicht.“

„Beim besten Willen verliere ich meine kostbare Zeit nicht auf diesem Drecksstück!“

„Nun gut. Dann sind wir ja jetzt fertig.“

„Nein, ich will ihn immer noch nicht bei Shin haben. Dieser Rotzlöffel macht nur einen schlechten Eindruck auf ihn!“

„So lange Akuma unter meinem Schutz steht, sage ich, was er tut und was nicht. Er wird diese Schule abschließen, so schnell er nur kann, damit ihr zufrieden seid. Danach werde ich ihn in eine Einheit stecken, in der er gut aufgehoben ist und ihr werdet ihn niemals wieder zu Gesicht bekommen!“

„Noch gehört er meinem Clan an, was bedeutet, dass ich euch befehlen kann, was ihr mit ihm macht oder nicht!“

„Ich bin der Kamikaze, ich entscheide, ob er unter eure Gerichtsbarkeit fällt oder nicht und hiermit sage ich, dass er es nicht tut und nun geht, bevor ich meinen Geduldsfaden verliere, Master Aitoshi.“

„Mir ist es ernst damit, wenn ich sage, dass dieses Kind schlecht auf Shin wirkt!“

„Und mir ist es ernst mit meiner Warnung, Yuudai.“

Verdutzt über die plötzliche Vertrautheit des alten Mannes, war Akumas Großvater aus der Bahn geworfen und verschwand ohne weiteres Rumgenörgel und ohne eine Verabschiedung aus dem Eingangsportal.

Ein Seufzen entrang sich der Kehle des Kamikazes und er drehte sich um. Als er einen Fuß auf die Treppe stellte, fiel sein Blick auf den zusammengekauerten Akuma. Entsetzt über die Auseinandersetzung saß dieser wie vom Blitz getroffen am oberen Ende der vielen Stufen. Der Kamikaze war erstaunt und bekam augenblicklich einen seltsamen Blick, der irgendwie traurig und entschuldigend aussah.

Akuma sah zu dem alten Mann und sprang auf. Verwirrt wie er war, war das Einzige, was er tun konnte, rennen und das tat er. Er drehte sich auf dem Absatz um und lief zurück in die Richtung, aus der er zuvor gekommen war. Den langen Korridor entlang auf seine Zimmertür zu, bis er sich hinter sie in seinem sicheren Raum wieder fand. Er hörte schnelle Schritte und dann ein Klopfen, woraufhin der Kamikaze eintrat. Akuma wich von dem alten Mann zurück und sah betreten auf den Boden. Sein Herz raste und er war immer noch total verwirrt. Er wollte nicht, dass jemand ihn so sah.

Der Kamikaze kam näher und streckte hilflos die Hand nach Akuma aus. Als er ihn berührte, zuckte der kleine Junge zusammen. Der alte Mann flüsterte:

„Es tut mir leid, Akuma …“

„Ist … ist schon in … Ordnung.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass er so von dir denkt. Vielleicht, dass er Angst hat, aber nicht so.“

„Bitte, Kamikaze-sama. Lasst mich nicht wieder zu ihm!“

„Mach dir keine Sorgen. Das entspricht nicht meinen Plänen.“

Der Kamikaze zog Akuma zu sich und umarmte den Jungen eine Weile. Tatsächlich war ihm so viel wohler, wenn er die Kontrolle über seinen Lehrling haben konnte. Er wollte das Lächeln wieder sehen.

„Lass uns frühstücken und den Schock begraben, Akuma.“

„Jawohl, Kamikaze-sama.“

Eine lange Zeit gingen beide wieder schweigend den Flur entlang und wieder blieb Akumas Blick an Astarte hängen. Doch dieses Mal hielt er sich nicht lange in Gedanken auf und folgte schnell der Gestalt des alten Mannes. Heute würde Akuma noch etwas lernen bevor er am nächsten Tag in die Alchemieprüfung ging. Fest entschlossen ballte er die Fäuste und trug den Kopf hoch. Er würde es schaffen und sich nicht beirren lassen. Er wollte nicht noch einmal zu seinem Großvater zurück, er wollte es nicht.
 

Akuma stand in wie in den Wochen zuvor in der Eingangshalle der Schule. Heute würde er also die Alchemieprüfung schreiben. Er war nicht im Geringsten nervös. Vielmehr freute er sich endlich auf gleichaltrige Mitmenschen zu treffen. Ein letztes Mal strich er über die Tasche, in die er Tintenfass, Feder und Pergament verstaut hatte. Inzwischen trug er sogar einen Stundenplan mit sich. Er atmete ein einziges Mal tief ein, bevor er wieder die Frau am Informationstresen nach dem Weg fragte. Die musste auch Sachen von ihm denken …

Sie erklärte mit ihrem gekünstelten Lächeln schnell den Weg in die große Prüfungshalle der Alchemy Academy #3 und schaute ihn dann erwartungsvoll an. Vielleicht wollte sie endlich wissen, warum er seit geschlagenen vier Wochen täglich nach Prüfungsräumen fragte.

Akuma ließ sie weiterhin im Unklaren, bedankte sich und machte sich auf den Weg. Er folgte der Halle auf die große Treppe zu, die am Ende mittig angebracht war und zu zwei Seiten in Korridoren auslief. Nach links ging es zur Alchemy Academy #1, die schon immer die meisten Schüler besessen hatte. Dazu gehörten Sitzenbleiber, Neulinge, Prüfungsnachholer und noch viele, viele mehr. Nach rechts ging es zu den beiden höchsten Klassenstufen. Alchemy Academy #2 und #3. In der zweiten Phase befanden sich nur noch gut drei Viertel der Schüler, die dem Ruf der Akademie der Alchemisten gefolgt waren. In der dritten Stufe gab es nur noch ein Viertel von den drei Vierteln. Kaum einer schaffte es durch die Prüfungen. So konnte man schon im Voraus sichergehen, dass am Ende nur die Besten bestanden und ihre Alchemie praktizieren konnten.

Akuma folgte dem rechten Korridor eine Zeit lang und wurde zwischendrin von hektischen Schülern überholt. Ihm fiel auf, dass die Meisten, die ihn überholten, zur zweiten Phase gehörten und versuchten noch eiligst den früh anfangenden Unterricht zu erreichen. Es gab nur Wenige, die das Abzeichen der dritten Stufe trugen und diese wurden von allen Schülern unheimlich respektvoll behandelt.

Akuma gefiel es hier sehr gut, denn er hatte festgestellt, dass in den Fluren der höheren Klassen nur Alchemistensprache gebraucht wurde. War es unbedingt nötig, wich man selbstverständlich in die Menschliche ab, doch das passierte oft nur in der Alchemy Academy #2. Die dritte Stufe war dafür zu fortgeschritten. Selbst die Prüfungen schrieb man in der Alchemistensprache, was Akumas Handicap nicht so herausstechen ließ. Er konnte bis jetzt noch kein einziges Wort der gemeinen Sprache sprechen, geschweige denn überhaupt verstehen.

Langsam zählte Akuma die Türen auf der rechten und linken Seite. Es war eine Angewohnheit, die er sich in dem großen Haupthaus der Regierung angeeignet hatte. Im Moment war das jedoch überflüssig. Nach der Informationstante musste er den rechten Gang gehen und immer weiter geradeaus, bis er vor einem großen, verzierten Portal stand, das man bereits von weitem sehen konnte.

Inzwischen war es leerer geworden. Die Schüler der zweiten Stufe hatten Unterrichtsbeginn um 9.00 Uhr, während die Prüfungen der dritten Stufe erst um 10.30 Uhr anfingen. Lieber zu früh, als zu spät, dachte Akuma und beeilte sich.

Schon bald sah er die große Tür und ging langsamer. Er wollte nicht so aussehen, als freue er sich, eine Kontrolle über Alchemietheorie zu schreiben.

Er erreichte das große Portal und blieb wie angewurzelt stehen, als ihm ein Junge auffiel, der sein absolutes Ebenbild darstellte. Shin. Mühsam wandte er sich von ihm ab und schaute sich um.

Als er so auffällig umherblickte, sprach ihn jemand an. Akuma wusste sofort, wer das war. Das war Obito, der nervend neugierige Enkel des Kamikazes.

„Hey! Dich habe ich ja noch nie hier gesehen! Wer bist du denn?“

Akuma schaute überrascht auf den kleinen Jungen vor sich und hüstelte. Sonst redete keiner so frei mit ihm, also war es eine relativ beherrschte Reaktion. Er zwang sich zu einem Lächeln und antwortete mit ziemlich gefasster Stimme:

„Akuma.“

„Akuma? Kenn ich nicht. Bist du neu hier?“

„Eh … ja.“

„Wo kommst du her?“

„Vom Mond …“

Ein Mädchen hatte sich eingemischt. Das musste die ebenso grauenvolle Myssia Tikato sein. Der Ruf des Doppels eilte weit voraus. Akuma fragte sich insgeheim, ob das Schicksal war, dass gerade die beiden ihn angesprochen hatten.

Als sich eine Hand auf je eine Schulter des Duos legte, zuckten die nervenden Bazillen zusammen und drehten sich um. Master Ishisaka stand gütig lächelnd hinter ihnen und sagte:

„Schön, dass ihr unseren Neuankömmling so freundlich begrüßt, aber das wäre nicht notwendig gewesen. Ich hätte mich schon darum gekümmert.“

„Verzeihung, Master Ishisaka.“

Die beiden wichen von ihm in die Menge zurück und lenkten die Aufmerksamkeit aller auf Ishisaka und Akuma.

„Guten Morgen, Akuma.“

„Guten Morgen, Ishisaka-sama.“

„Ab heute also?“

„Ja …“

„Soll ich dir etwas verraten?“

„Wenn ihr darauf besteht.“

„Oh ja, das tue ich.“

Der freundliche alte Mann lächelte und zog Akuma etwas von den anderen weg. Bevor er zu sprechen begann, fuhr er sich nachdenklich durch den Bart. Wahrscheinlich legte er sich den Satz zurecht, den Akuma kurz darauf zu hören bekommen sollte.

„Nun, es geht um die nachgeholten Prüfungen deiner Wenigkeit. Die von der Alchemy Academy #1 und #2.“

„Was ist mit denen? Waren sie schlecht?“

Akumas Herz rutschte in die Hose und pochte ziemlich schnell. Dann dürfte er doch auch eigentlich nicht an dieser Prüfung teilnehmen! Entsetzt wartete er auf den entscheidenden Satz, der ihn aus der Bahn werfen sollte, doch der kam nicht. Stattdessen sagte Ishisaka:

„Du hast alle mit voller Punktzahl bestanden.“

„Gott sei Dank.“

„Das hat noch nie jemand in der Geschichte dieser Schule geschafft. Du bist dir bewusst, dass du nun in die Schulakten eingetragen werden musst, nicht wahr?“

„Ja, Ishisaka-sama. Das bin ich, aber solange niemand von diesem Rekord erfährt, kann auch keiner wissen, wer ich bin.“

„Du hast Recht. Dann werden wir diese Tatsache wohl noch etwas geheim halten müssen.“

Eine Weile dachte der ‚Oberste der Jis round the corner of Taen’ nach. Ihm schien das nicht zu gefallen, doch er wollte wohl mitmachen. Erneut strich er sich durch den Bart und wirkte dadurch sehr streng.

„Nun gut. Am besten ist, du schreibst jetzt erst einmal deine Kontrolle und dann werden wir weitersehen. Ich sage dem Kamikaze Bescheid und werde dann dafür sorgen, dass nur ich von dem neuen Rekord Wind bekommen habe. Der Kamikaze und du, ihr seid natürlich eingeschlossen.“

„Danke, Ishisaka-sama.“

Akuma nickte einmal mit dem Kopf und lächelte. Auch Ishisaka lächelte, wandte sich dann ab und ging zurück zum Anmeldetisch, wo er Akumas Anwesenheit mit einem Häkchen bestätigte.

Akuma ging zurück zu seinen neuen Mitschülern und beobachtete sie unter seinem Umhang genau. Sie strahlten eine Lebensfreude aus, die ihn mitriss, doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wollte sich auch nicht aus der Ruhe bringen lassen, weswegen er sich wieder auf sein Wissen konzentrierte und es noch einmal vor seinem inneren Auge reflektierte.

Dann hörte er ein Quietschen, das ihn jäh aus seinen Gedanken riss. Das große Portal öffnete sich. Endlich war es 10.00 Uhr und der Eintritt hatte begonnen. Wie jeder andere Schüler stellte Akuma sich in einer Schlange an und bekam eine Sitzplatznummer zugeteilt. Nummer 27. Er folgte den schwatzenden Jungen und Mädchen in den riesengroßen Raum, der für die Prüfungen der dritten Phase gedacht war. Es waren nicht viele Stühle und Tisch im Raum, die, wie Akuma feststellte, tatsächlich abgezählt waren.

Langsam ging er, wie jeder andere auch, die Reihen ab und suchte seinen Sitzplatz. Als er diesen fand, seufzte er erleichtert und ließ sich auf den Stuhl fallen. Ungemütlichkeit herrschte in diesen Hallen wohl vor.

Stöhnend rieb er sich den Rücken, der mit der Stuhllehne nicht zu Recht kam, und holte seine Utensilien hervor. Danach lauschte er den Ankündigungen und Erklärungen, die Ishisaka von sich gab. Es waren die Gleichen, wie in den Prüfungen der ersten und zweiten Phase. Nichts Besonderes. Sie hatten vier Stunden Zeit und, und, und …

Akuma bemerkte die Aufgabenzettel, die vor ihm in der Luft schwebten und sich raschelnd auf seinen Tisch niederließen. Das Gleiche passierte bei allen anderen auch.

Langsam und mehr aus Routine blätterte er die Papiere durch, um sich die Fragen durchzulesen. Das hatte ihm der Kamikaze so beigebracht, weil Akuma sich oft viel zu lange mit einer Aufgabe beschäftigt und in ihr etwas erklärt hatte, was kurz danach in einer anderen gefragt wurde. Unnötiges Schreiben kostete Zeit und war reine Verschwendung.

Er öffnete genau in dem Moment sein Tintenfass, in dem auch sein Nachbar seines öffnete. Akumas Blick huschte nach rechts und erfasste … Shin, der ihn ebenfalls ansah. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, bevor er sich wieder den Aufgaben zuwandte und mit seinem Zwillingsbruder einen unvereinbarten Wettstreit begann. Akuma wusste, dass auch Shin bereit war, diese Aufgabe zu erledigen und er nahm sich fest vor, diesen nicht zu enttäuschen.

Er tunkte die Feder in die Tinte und setzte sie auf das Pergamentpapier. Genau in dem Moment hörten sie den Startbefehl von Ishisaka.

Wie von allein begann Akumas Feder sich des Schreibens anzunehmen und sie füllte in Nullkommanichts ein Blatt, dann noch ein zweites, dann ein drittes …

Die Aufgaben waren nicht schwer, aber es dauerte, sie ausführlich zu erklären und den Weg bis zur endgültigen Lösung zu umschreiben.

Lange saß Akuma da, schrieb beherzt lange Aufsätze über diese Sachen und behandelte jede Tatsache bis ins Detail. Er gab Zitate aus den Schulbüchern und anderen, ihm bekannten, Werken wieder und bewies so Aufgabe um Aufgabe mit Leichtigkeit.

Gerade grübelte er über den Verlauf der letzten Aufgabe, als jemand hinter ihn trat. Es war einer der Prüfer, der Akuma schon die ganze Zeit über beobachtet hatte. Er las mit, was den kleinen Jungen störte, aber nicht verunsicherte. Sollte er doch, wenn es ihm Spaß machte.

Er dachte eine Weile nach und lieferte dem Prüfer dadurch nur noch eine Möglichkeit, sein Geschriebenes zu lesen.

Langsam setzte er die Feder wieder auf und begann die 15. und letzte Aufgabe zu erläutern. Er hörte ein Geräusch des Erstaunens hinter sich, ließ sich aber nicht ablenken. Es war ihm egal, was der Mann da tat und was ihn nun wirklich erstaunt hatte, er wollte nur diese Aufgabe lösen, die seine volle Konzentration verlangte.

Und wieder tunkte er die Feder in sein Tintenfass, stieß aber auf eine Leere, die ihm einen Seufzer entlockte. Jetzt hatte er keine Tinte mehr und den Kern der Aufgabe nicht einmal beschrieben. Langsam sah er auf, als er bemerkte, dass alle ihn anstarrten. Keiner schrieb mehr und einige gaben bereits ab. Er fühlte sich unbehaglich, weil er wie immer derjenige war, der am meisten Zeit brauchte. Die Blicke, die er einfing, waren häufig seltsam verstört, weswegen er sich bald von diesen Personen abwandte.

Ängstlich sah er auf seine Aufgabe und schaute sich um. Was sollte er jetzt tun? Er brauchte Tinte! Sein Blick streifte Shin, der ebenfalls gerade das Glas zuschraubte und die Blätter ordnete. Dann kam ihm eine Idee. Hoffentlich würde er es erlauben. Langsam wandte er sich zu seinem Prüfer um und fragte leise:

„Darf ich um ein Tintenfass bitten?“

„Ich habe keines, kleiner Mann. Frage ruhig deine Sitznachbarn.“

„Danke.“

Glücklich drehte er sich wieder Shin zu und fragte leise:

„Verzeihung?“

Erstaunt schaute dieser auf und sah Akuma fragend an, bevor er antwortete:

„Ja?“

„Kann ich … Kann ich dein Tintefass benutzen? Meines ist leer.“

„Natürlich!“

Shin lächelte und reichte seinem Bruder unwissend das Glas. Bald darauf war die freundliche Miene wieder verschwunden und der kleine Aitoshi-Nachkömmling wurde gleichgültig. Er wechselte niemals ein Wort mit seinen Kameraden und schenkte nie jemandem ein Lächeln, wenn es nicht sein musste. So war er. Aber Akuma entlockte ihm eine Gefühlsregung, die er selbst nicht richtig verstand. Was sollte das bloß werden?

Langsam begann der kleine Lehrling wieder zu schreiben. Er benutzte tatsächlich die Tinte seines Bruders. Fröhlich machte er mit sich selber ab, dass er dafür Shin nicht enttäuschen würde und die letzte Aufgabe vollkommen ausführte.

Er hörte die Schritte seiner Tischnachbarn, die nun alle nach vorne gingen und ihre Kontrollen abgaben. Gerade waren sie auf dem Weg zum großen Portal, als sie interessiert stehen blieben, um noch einmal Ishisakas Stimme zu lauschen.

„Akuma, du solltest einen Zahn zu legen. Es bleiben 20 Minuten. Das schaffst du aber, oder?“

Seine Frage wurde von einem leisen Kichern beantwortet, das alle Prüfer zum Lachen brachte. Ishisaka meinte erheitert:

„Lach nicht, ist so!“

Und wieder lachte Akuma leise, bevor er die Schreibgeschwindigkeit etwas erhöhte. Es dauerte nicht mehr lange und es war Schluss. Er musste sich beeilen. Schneller und schneller schrieb er Buchstabe um Buchstabe und Wort um Wort auf seinen Zettel.

Angestrengt biss er auf seiner Unterlippe umher und kaute sie blutig, doch am Zeitdruck konnte das nichts ändern. Er brauchte nur noch diesen einen Satz. Nur noch einen. Seine Hand bekam einen Krampf, aber das störte Akuma wenig. Er schrieb Wort für Wort, wenn auch etwas zittrig. Ishisaka rückte immer näher und verschlimmerte die Situation nur noch. Ein Wort. Ein Wort! Akuma setzte den Punkt und seufzte erleichtert.

„Glück gehabt.“

„Und wie …“

„Willst du deinen Namen nicht auf die Blätter schreiben?“

„Oh ja …!“

Akuma schrieb in aller Ruhe seinen Namen auf die Blätter und gab sie Ishisaka so in die Hand, dass kein anderer Alchemist sie sehen konnte. Das hätte eine ziemliche Diskussion ausgelöst, also vermied er es von Anfang an und überreichte die Kontrollen lieber vertraulich.

Schnell verstaute der kleine Junge Feder, restliche Papiere und sein leeres Tintenfass in der Tasche, bevor er aufstand und Shins Glas in die Hand nahm.

Ishisaka überflog gerade Akumas Test und meinte entsetzt:

„Hast du schon wieder so einen Roman verfasst?“

„Verzeihung …“

Die Prüfer horchten auf und begannen zu lachen. Sie schüttelten den Kopf und klopften Ishisaka aufmunternd auf die Schulter, weil er ja schließlich kontrollieren musste.

Akuma grinste und kratzte sich am Kopf. Dann verabschiedete er sich und ging durch den langen Raum auf das große Portal zu, das er kurz darauf durchschritt. Sein Blick huschte in die Runde, als die schwere Tür hinter ihm zufiel. Alle Mitschüler starrten ihn an und er fühlte sich wieder unbehaglich. Vorsichtig schaute er sich um und entdeckte Shin.

„Ah! Da, dein Tintenfass.“

„Danke …“

„Nein, ich habe zu danken!“

Shin musste schon wieder lächeln. Angestrengt versuchte er seinen Gesichtsausdruck wieder unter einer Maske verschwinden zu lassen, aber er konnte es nicht. Ihm fielen die misstrauischen Gesichter seiner Klassenkameraden auf, die ihn niemals so gesehen hatten. Schnell verstaute er sein Tintenfass und warf seinen Entschluss, allein zu bleiben, um der Karriere Vorrang zu lassen, beiseite, als er Akuma neugierig fragte:

„Akuma, nicht wahr? Ich meine, ich habe schon einmal was in Verbindung mit deinem Namen gehört … Du scheinst gut in der Schule zu sein, nicht wahr?“

„Kann sein, ich lerne ziemlich viel, glaube ich.“

„Ich auch … Aber sag mal, warum hast du heute mitgeschrieben? Ich habe dich hier noch nie gesehen!“

„Na ja. Eigentlich hole ich seit über vier Wochen die Prüfungen aller Phasen nach, um das Abschlusszertifikat der Alchemy Academy zu bekommen.“

„Du hast ALLE Prüfungen mitgeschrieben, die es in letzter Zeit gab. Ich meine, alle Halbjahrsprüfungen und schließlich auch Ganzjahresprüfungen für Nachholer?“

„Eh … Ja, so könnte man das nennen.“

„Oh … Warum hast du die denn verpasst? Warst du nicht in der Schule? Gab es keine Schule bei dir?“

„Ich komme von hier, also gab es eine. Trotzdem habe ich sie nicht besucht, weil ich … Lehrling bin und so mehr Zeit auf das Lernen unter meinem Meister verwendet habe.“

„Lehrling? Da muss man aber schon viel Talent haben!“

„Na ja …“

„Hey, Aitoshi-kun. Seit wann sind wir denn so aufdringlich?“

Shin sah an Akuma vorbei auf eine Gruppe von Mitschülern. Seine Stirn legte sich kurz in Falten, bevor er sich wieder seinem neuen Gesprächspartner zuwandte. Gerade als er Akuma weiter ausquetschen wollte, schnitt ihm der Junge, anscheinend ein Anführer irgendeiner Clique, das Wort ab:

„Alle Mädchen verzehren sich nach dir. Du lächelst sie nicht an, du redest nicht mit ihnen, geschweige denn beachtest sie überhaupt. Dann kommt ein streunender Straßenköter an und du läufst ihm hinterher? Schande über die Aitoshis …“

„Nur wer HOCH ist, kann tief fallen, Kawasaka-kun.“

„Was soll das heißen?!“

„Deine Familie lebte ja von Anfang an in Schande … Man kann ja nicht HOCH fallen, aber ihr könnt nicht mal TIEF fallen!“

„Von wegen! Ich zeig dir gleich, was ein Kawasaka tun kann!“

Akuma sah, dass alle anderen Klassenkameraden von Shin ängstlich zu Kawasaka schauten. Er schien sie zu unterdrücken, damit sie sich hinter ihn stellten. Doch Akuma hatte nicht vor, seinen Bruder ihm Stich zu lassen. Das fand er unehrenhaft, also spannte er merklich seine Muskeln an und machte sich bereit. Er lauschte auf jedes kleinste Geräusch und wartete. Tatsächlich schien Kawasaka aufgefallen zu sein, dass die beiden Jungs nicht vorhatten, ihn in Gnade gehen zu lassen. Langsam hob er den Arm und streckte den Zeigefinger aus.

„Ich fordere dich zum Duell, Aitoshi, Shin!“

Ein entsetztes Flüstern ging durch die Reihen. Lange Zeit war so etwas nicht mehr passiert. Duelle wurden nur in den schlimmsten Fällen ausgetragen und dann auch nur, wenn die beiden Personen es wirklich wollten. Es war ein Kampf bis in die Ohnmacht.

Akuma richtete sich etwas auf, drehte sich zu Shin um und umfasste sein rechtes Handgelenk. Der junge Aitoshi-Nachkömmling schien den Kampf irgendwie nicht zu wollen, aber die Regeln seines Clans verbaten ihm die Gunst der Absage. Er musste annehmen, um der Schande zu entgehen, die der Clan über ihn schütten würde.

„Gut, ich nehme an.“

Das war zwar mutig, aber Shin wusste, dass er nur verlieren konnte. Sein Wissen war groß und weitaus fülliger als das von Kawasaka, der aber in Praxis und Kampftechniken durchaus besser war. Einen Nahkampf konnte Shin nicht gewinnen, er war kein Angreifertyp.

Akuma schluckte. Nachdem er jeden in der Klasse beobachtet hatte, war ihm klar geworden, dass vor allem Shins Stärken nicht im Kampfbereich lagen. Seine Energieaura war zu ‚zart’. Sie strahlte nichts Feindseliges aus. Er war nicht in der Lage, zu kämpfen. Er würde nicht kämpfen wollen, aber allein diese Clansregeln hielten ihn an dem Duell fest.

Irgendwie wollte Akuma keine gescheite Lösung einfallen, aber er musste diese unangenehme Situation dringend unterbrechen. Vorsichtig fragte er, sodass kein anderer außer Shin es hören konnte:

„Hast du … eine Weile Zeit?“

Shin sah auf und lächelte ein wenig, bevor er nickte. Akuma war froh, denn jetzt fiel ihm doch tatsächlich etwas sehr Verrücktes ein. Wenn sein Plan klappen würde, würde Shin nicht verlieren. Dazu brauchte er aber das Einverständnis des Kamikazes. Ihm war klar, dass die Antwort womöglich auch ‚nein’ lauten konnte, doch würde es vielleicht ein ‚ja’ sein, wenn Akuma die richtigen Argumente vorstellte.

Er wandte sich von den Klassenkameraden ab und zog Shin am Handgelenk hinter sich den Gang entlang. Seinem Bruder schien das ziemlich egal zu sein, aber er folgte ihm.

„Weißt du was, Shin? Ich habe eine Idee …“

„Aha?“

„Warte bis wir bei mir zu Hause sind.“

„Na gut.“

Akuma lief durch die Straßen auf das Hauptgebäude zu und betrat das riesige Haus. Als Shin die Assoziation von ‚zu Hause’ und dem Hauptsitz der Regierung erkannte, entfuhr ihm ein Keuchen. Es gab nur wenige, die dieses Haus von innen gesehen hatten, denn niemand betrat es, solange es nicht eine Einladung gab oder unheimlich wichtig war.

Shin sah sich um. Allein die Eingangshalle dieses einzelnen Gebäudes war so groß wie das Haus, indem er im Moment wohnte. Es war nur eine Residenz, die der Aitoshi-Clan bezog, wenn wichtige Angelegenheiten den ganzen Clan beanspruchten. Gerade jetzt war eigentlich nicht viel los, aber seit Shins neunter Geburtstag vorüber gestrichen war, lebten sie nun hier. Seine Eltern, sein Großvater und er. Er wusste nicht einmal wieso.

Endlich wurde sein Handgelenk freigegeben und er rieb es ein wenig, während er weiterhin die große Halle anstarrte. Seine Blicke blieben an unendlich schönen Stoffen und Verzierungen hängen, bewunderten die Konstruktion des Hauptsitzes der Regierung und erkundeten Anzahl von Türen oder Treppenstufen. Irgendwie schüchterte dieser Anblick den älteren der beiden Aitoshi-Nachkömmlinge ein. Er sah zu Akuma und fragte:

„Hier wohnst du?“

„Ja. Vorübergehend halt. Solange ich noch Prüfungen habe, bin ich hier. Oh! Schau da, der Kamikaze!“

Tatsächlich erschien genau in dem Moment der alte Mann am Treppenende. Gut gelaunt blieb er stehen und bemerkte Akuma und Shin.

„Na sieh mal einer an. Was ist das denn für ein seltsamer Zufall?“

Akuma lächelte und lief auf die Treppe zu. Fröhlich erklomm er die ersten Stufen und erreichte schon bald die Mitte der Treppe. Schneller und schneller hechtete er hinauf und umarmte den Kamikaze, als er diesen erreichte.

„Na, na. Da ist aber jemand gut gelaunt.“

Der Kamikaze trug Akuma auf den Armen die Treppe herunter und setzte ihn lachend ab. Als der alte Mann Shin die Hand hinstreckte und dieser zugriff, schlich sich wieder ein Lächeln über das Gesicht, das es sofort in Falten legte.

„Du bist Aitoshi, Shin. Du siehst deinem Vater sehr ähnlich und doch hast du kaum Eigenschaften von ihm.“

„Kamikaze-sama …“

Shin verneigte sich tief, bevor er sich wieder aufrichtete und sagte:

„Vom Gesicht her sehe ich ihm ähnlich. Das sagen alle und es ist auch mir bereits aufgefallen. Aber ihr habt Recht. Unsere Eigenschaften sind sehr verschieden. Auch die von Großvater und mir.“

„Ja. Ich hörte, dass Kawasaka dich zu einem Duell herausgefordert hat. Ist das wahr?“

„Jawohl, Kamikaze-sama.“

„Nun, du klingst nicht gerade euphorisch.“

„Eh …“

Tatsächlich wusste Shin nicht, was er sagen sollte. Es war doch eine Schande vor dem Kamikaze zuzugeben, dass ihm das Kämpfen nicht lag. Langsam dachte der Junge ernsthaft über sich nach. Was sollte er jetzt nur tun?

Akuma ergriff das Wort.

„Kamikaze-sama! Das Problem ist, Shin will nicht kämpfen, tut das aber allein wegen der Schande und Ehre innerhalb des Clans. Es muss doch eine Lösung geben!“

„Tatsächlich? Nun … Es würde einen Weg geben, aber ich bevorzuge ihn nicht. Er hat nämlich große Nachteile. Ich empfehle etwas Anderes. Vielleicht solltest du es einfach sagen?“

Shin schwieg. Ihm war klar, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Ihm dämmerte, dass er dieses Duell irgendwie verhindern musste. Irgendwie? Irgendwie war gut! Nur wie? Das Hin und Her, das durch diese ewige Fragerei entstand, verwirrte den Aitoshi-Nachkömmling. Was sollte er tun? Ängstlich sah er zum Kamikaze und fragte:

„Was ist der Weg?“

Der Kamikaze sah Shin an und begann zu lächeln. Aitoshis wurde von Beginn ihres Lebens an gepredigt, wie sie zu funktionieren hatten. Kein Zurückziehen, keine Furcht, keinen Schmerz. Das war das Motto, das einen stolzen Nachkömmling dieses Clan sein Leben lang begleitete. Wer diesem Ideal nicht folgte, wurde verstoßen und auch wenn es im Clan keine Furcht geben sollte, hatten genau davor alle Angst.

Yuudai war ein strenger, grausamer Anführer und verbat sich alle Vorzüge des Lebens. Seine Nachkommen handelten nach seinem Willen, er war der Herrscher. Er war der mächtigste Clanführer, den die Welt jemals gesehen hatte. Er war Anführer der stärksten, größten und einflussreichsten Familien von Taen. Sein Machtbereich kam dem des Kamikazes gleich, wenn er diesen nicht sogar noch übertraf. Inoffiziell war er das Oberhaupt des Landes, offiziell blieb es der Kamikaze, doch Arata besaß nicht den Respekt der Aitoshi-Angehörigen, ganz im Gegensatz zu Yuudai, dem es an nichts fehlte.

Trauer mischte sich in die Miene des Kamikazes. Vor über 30 Jahren war er mit dem Heiligen Rat zusammen an den so genannten Weiheort gegangen. Dieser Ort beherbergte das Tor zum Reich Gottes. Es war in einem großen Schrein und bildete den geographisch korrekten Mittelpunkt Taens. Um diesen Schrein herum war das Haupthaus mit einem großen Abstand zur Grenze des heiligen Ortes erbaut worden.

Der Weiheort war eine weite Fläche. Grünes Gras wuchs auf den Wiesen, die wunderschönsten Blumen blühten dort, ein gerader Pfad aus den schillerndsten Edelsteinen wand sich bis zum Fuß des verzierten Steines, eine sanfte Brise frischte die Luft auf, hinter dem Schrein wuchs ein prächtiger Wald. Das alles wurde von einem mächtigen, unzerstörbaren, magischen Schild beschützt. Lediglich die Mitglieder des Heiligen Rates konnten diese Zone betreten und das auch nur, wenn eine Kamikazewahl anstand.

Arata erinnerte sich an diesen schicksalhaften Tag, als er mit seinem besten Freund, Yuudai, und den anderen Ratsmitgliedern die wunderschöne Landschaft betreten hatte. Zuerst war er erstaunt gewesen, dann war er dahin geschmolzen. Genauso war es allen anderen auch gegangen und niemand hatte sich wirklich in der Lage gefühlt, weiterzugehen. Nur Yuudai hatte sich langsam bewegt und die anderen so aus ihrer Starre erlöst.

Zusammen waren sie dann zum Stein gegangen und hatten die Zeremonie über sich ergehen lassen. Es war von Anfang an klar gewesen, dass Yuudai der Kamikaze werden würde, doch als nun Arata die heilige Kraft des Paktes zwischen sich und der Götterenergie bekam, war eine große Unruhe im Land ausgebrochen. Zunächst hatte der neue Kamikaze versucht, das Amt an seinen besten Freund abzutreten, doch der hatte seit dem nie wieder mit ihm geredet.

Die Aufstände und Streitereien waren nach kurzer Zeit schließlich im Untergrund verschwunden und hatten die neue Regierung akzeptiert. Nur Arata fühlte sich immer noch schuldig, für die Ablehnung seines besten Freundes. Inzwischen war aus diesem Streit ein tiefer unüberwindbarer Graben geworden und verlangte vielen Menschen große Kräfte ab.

Der Yonobawa Clan war der erste gewesen, der die Regierung unterstützt hatte, weswegen er die Abneigung des Aitoshi-Clans auf sich zog und so einen großen Streit heraufbeschwor. Seit dem Tag vor 30 Jahren herrschte eine Blutsfede zwischen den beiden Machtbereichen der Clane und die Familien führten einen privaten Kampf aus. Immer noch auf die Regierung hoffend, hatte der Yonobawa-Clan dafür gesorgt, dass alle anderen Clane auf seine Seite wechselten und gemeinsam die Herrschaft des neuen Kamikazes sicherten.

Seit diesem Tag waren die Lehren des Aitoshi-Clans härter, unnachahmbarer geworden. Jeder männliche Nachkomme wurde zu Höchstleistungen gedrängt und musste als bester die Akademie verlassen. Wenn nicht, lebte er mit Schande befleckt. Die Ausbildung eines Jungen hörte erst mit dem Erreichen der Führung in der Sondertruppenschicht einer Phi-Einheit auf. Solange wurde mit Druck nachgeholfen.

Jungen mussten den Clan im Kampf- oder Handwerksbereich unterstützen, wer sich einen anderen alchemistischen Beruf suchte, wurde verbannt. Zu diesen ‚schlechten’ Berufen gehörten zwar einige Handwerkslehren wie die, die eine Frau erledigen konnte, aber normalerweise meinte man mit ‚anderen alchemistischen Berufen’ schlicht und ergreifend die, die anderen Clanen außer dem der Aitoshis und deren Unterfamilien helfen konnten.

Der Kamikaze blickte in Shins Gesicht. Was dem Kleinen wohl alles schon passiert war? Eigentlich fragte Arata sich, wieso sein Freund so verbittert war. Warum ließ Yuudai seine Wut an den anderen Clansmitgliedern aus und ließ sie Unmenschliches tun? War er wirklich so schlimm oder verbarg er einen Teil seiner Persönlichkeit?

Seltsamerweise verstand der Kamikaze seinen alten Freund nur zu gut und doch bereute er inzwischen nichts mehr, zumal er ja gar nichts bereuen konnte, weil es nicht seine Entscheidung gewesen war, Kamikaze zu werden.

Erwartungsvoll hob Shin eine Augenbraue und brachte den Kamikaze fast zum Lachen. Tatsächlich hatten alle Nachkömmlinge Aratas Familie diese seltsame Eigenschaft übernommen. Tetsuya, Shin, Akuma, Yumako … Alle furchten die Stirn oder hoben eine Augenbraue, wenn sie über etwas nachdachten oder etwas missbilligen bzw. erwarteten.

Langsam wandte der Kamikaze seinen Kopf zu Akuma um und bemerkte dessen Blick. Sein Lehrling hatte also den gleichen Plan gehabt. Wie sollte der Kiwama-Opa das bloß Shin vorschlagen? Es würde Verwirrung stiften, jedoch auch eine schöne Nachricht sein, die der ältere Sprössling sicherlich angenehm fände.

„Kommt mit. Wir werden erst mal eine Tasse Tee benötigen, also zumindest ich.“

„Ich will auch~“, jammerte Akuma dazwischen und hopste fröhlich hinter seinem Meister her. Er freute sich schon auf eine gemütliche Runde.

Shin folgte den beiden mit etwas Abstand, wurde aber immer sicherer und holte schließlich auf. Mit großen Augen bestaunte er die Kunstwerke, die meist irgendwelche Götter oder Engel darstellten. Irgendwie faszinierte dieser Anblick ihn sehr und ab und zu wurde er sogar langsamer, um die guten Stücke genauer anzusehen.

Sie kamen in einen langen Korridor und bogen dort in einen Seitengang auf der rechten Seite ab. Dann öffnete der Kamikaze irgendwann eine Tür und trat ein. Als er sich etwas von der Tür wegbewegte, gab er die Sicht auf einen gemütlich eingerichteten Raum frei.

Shin bestaunte wieder die Möbel, die absolut nicht bescheiden waren. Viele der guten Stücke waren mit rotem Samt bezogen und besaßen eine Schicht Gold auf dem kostbaren Holz, wenn sie nicht sogar vollständig aus Gold waren. Dazu gab es wunderschöne Glastische, die eine gewagte Form hatten. An den Wänden ringsum den Kreis, den die Möbel um den Kamin in der Wand bildeten, waren Bücherregale voll mit teuren und alten Büchern. Durch sie würde man uraltes Wissen zu Tage befördern. Allein ihr Anblick verzauberte einen.

Der Raum war in ein warmes Licht gehüllt, dass von dem Kronleuchter kam, der unter der Decke hing. Kristalle und andere Edelsteine verzierten ihn reichlich. Sie warfen bunte und sanfte Lichtflecken auf die Gegenstände. In gläsernen Kerzenständern brannten schneeweiße Kerzen nieder und machten das Glitzern und Blinken nur noch perfekter.

Shin staunte Bauklötze. Noch nie hatte er so einen Reichtum gesehen und jetzt verschlug es ihm vor Anmut die Sprache. Wie wunderschön dieses Farbenspiel mit dem warmen Licht des Kaminfeuers harmonierte. Aber warum brannte bereits am Morgen ein Feuer in der Stelle? All das fragte Shin sich, ließ es aber bleiben, weil er einfach nicht weiter darüber nachdenken wollte.

„Komm, Shin, setz dich!“

Akuma winkte seinen Bruder zu sich herüber und deutete auf den Ohrensessel neben sich. Vorsichtig bewegte der ältere Sprössling sich auf den Stuhl zu und setzte sich behutsam darauf, um den feinen Stoff ja nicht zu beschädigen.

Erst jetzt fiel Shin auf, dass bereits eine Teekanne und drei Becher vor ihnen auf dem Glastisch standen und die Flüssigkeit daraus dampfte. Er wusste nicht so recht, was er nun sagen sollte. Das war alles so unglaublich hier. Niemals hätte er sich erträumt solche Kostbarkeiten zu erblicken.

Der Kamikaze räusperte sich und begann zu sprechen:

„Nun, du fragtest nach dem Weg.“

„Ja, ich muss ihn wissen, bitte Kamikaze-sama.“

„Ja, das dachte ich mir. Akuma, ich denke, es wird Zeit.“

Akuma nickte und stand vorsichtig auf, bevor er seinen Umhang, den er immer noch trug, zu Recht zupfte. Langsam hob er die Arme zum Kopf und ergriff die Kapuze, die tief in sein Gesicht hing. Vorsichtig schob er sie zurück und gab die Sicht auf seinen Kopf frei.

Ein Keuchen war zu hören und als der Kamikaze und sein Lehrling sich Shin zuwandten, sahen sie dessen entsetztes Gesicht.

„Nun ja, das wäre der Weg, Shin.“

Der ältere der beiden Zwillingsbrüder war zurück gewichen und schüttelte immer wieder den Kopf, während er versuchte irgendwie seine Gedanken zu ordnen. Mit einem Schlucken befeuchtete er seine plötzlich staubtrocken gewordene Kehle und beruhigte sich etwas. Dennoch konnte er immer noch nicht fassen, was er da sah.

Sein Blick huschte hastig zwischen Akuma und Arata hin und her, bevor er versuchte etwas zu sagen.

„Warum …?“

Der Kamikaze machte eine Handbewegung zu seinem Lehrling, der sich setzte und zu lächeln begann. Akuma atmete einmal tief durch und bereitete sich auf das vor, was er seinem älteren Bruder gleich erzählen musste.

„Also …“

„Warum?“, unterbrach Shin total schockiert die zögerliche Einleitung einer Geschichte seines Bruders. Warum sah der bloß so aus wie er?

Akuma seufzte und begann erneut:

„Hör mir zu, Shin! Es ist gar nicht so unlogisch, weil wir –“

„Warum siehst du so aus wie ich?“

Der Kamikaze erklärte es für hoffnungslos, dem verwirrten Jungen irgendetwas zu erzählen, trotzdem versuchte er ihn zu beruhigen.

Als nach wiederholtem Male Akuma von vorne begann, langte es dem alten Mann und er sagte:

„Dann werde ich es dir erzählen, junger Aitoshi. Es geschah vor über 14 Jahren. Deine Mutter, damals noch Mitglied meines Machtbereiches und dem Clan der Tsukahara, verliebte sich in deinen Vater, Alleinerbe des Aitoshi-Clans. Ich glaube, die beiden waren damals zwei Jahre älter als du jetzt bist, also 14. Emi hat mit einem großen Eifer versucht, deinem Vater aufzufallen. Sie arbeitete hart an der Kunst ihres Handwerks. Du weißt ja, dass sie eine unheimlich beliebte Stickerin war. Außerdem half sie noch auf den Feldern der Bauern aus und dennoch bemerkte Tetsuya sie nicht. Egal, was sie tat, sie war viel zu schüchtern, um ihn anzusprechen.

Ich erinnere mich an die Trauben von Mädchen, die deinen Vater umschwärmten, immer wenn er auf der Straße erschien, doch er zeigte so wenig Interesse an ihnen, dass die Hoffnungen vieler Mütter, dass er ihre Töchter zur Frau nehmen würde, schon sehr früh zerplatzten. Dennoch schmeichelten sich die Damen weiter bei ihm ein. Ich glaube, dass ihn das ziemlich genervt hat, weil er ja eigentlich nur seine Ruhe gewollt hatte.

Und dann kam dieser schicksalhafte Tag, an dem Yuudai deinen Vater dazu drängte, eine dieser Frauen zur Ehefrau zu nehmen. Doch Tetsuya wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Ich meine, dass es das erste Mal gewesen war, dass dein Vater sich gegen seinen Vater auflehnte, aber das tut hier nichts zur Sache. Wütend und enttäuscht nahm Tetsuya reiß aus und versuchte seine Ruhe irgendwo anders zu finden.

Als er schließlich aus der Traube der gackernden Hühner, wie er sie immer nannte, geflohen war, versteckte er sich bis spät in die Nacht im Park, der an das Clanshaupthaus der Aitoshis anlag. Gerade als er sich sicher fühlte und sich aus dem Schatten löste, um nach Hause zurückzukehren, fiel ihm Emi auf, die alleine auf einer der vielen Bänke saß und vor sich hin träumte. Ich meine, dass er mir erzählte, dass sie den Boden vor ihren Füßen anstarrte, auf jeden Fall wirkte sie auf ihn wie jemand, der Hilfe brauchte.

Vorsichtig näherte dein Vater sich ihr und blieb schließlich so lange vor ihr stehen, bis sie ihn bemerkte. Als er sich neben sie setzte, wurde sie nervös, was ihn anscheinend störte, aber er ließ es sich nicht anmerken. Er versuchte sie angestrengt in ein Gespräch zu verwickeln und erreichte sein Ziel auch.

Tetsuya schob die Wahl einer Ehefrau weiter hinaus, sodass er jeden neuen Tag mit Emi verbringen konnte. Er war von ihr fasziniert. Ihre Eigenart verwirrten ihn, machten ihn zugleich aber auch verrückt. Je öfter er mit ihr zusammen war, desto mehr fühlte er sich frei. Frei von den Pflichten seines Clans.

Es dauert dann nicht mehr lange, da sagte Yuudai, Tetsuya solle sich entscheiden. Nun, da es keinen Ausweg mehr gab, veranstaltete der Clan ein Fest, auf dem 10 Töchter gegeneinander antreten sollten, um Tetsuya zu beeindrucken. Es waren nicht irgendwelche Spiele, es waren Schönheits- oder Charakterwettbewerbe. Benehmensbegutachtungen gab es auch. Ich glaube, man achtete sogar auf das Talent der Mädchen. Emi stach zwar durch gute Leistungen hervor, jedoch war sie zurückhaltend, introvertiert und hielt sich im Hintergrund.

Die Zeit der Entscheidung kam und Tetsuya nahm Emi, auch wenn sein Vater andere Vorstellungen hatte. Wenn sein Sohn diese Frau und keine andere wollte, dann musste Yuudai nachgeben.

So kamen die beiden zusammen. Nachdem zuerst Yumako geboren wurde, lastete ein ungemeiner Druck auf Emi. Sie wurde depressiv, bis sich schließlich ein weiteres Mal eine Niederkunft ankündigte.

Nach einer schlimmen Vorahnung Yuudais wurde das Geschlecht dieses Kindes untersucht und es war … ein Mädchen. Emi verfiel erneut in tiefe Depression, doch als die Zeit reif war, kam kein Mädchen, sondern zwei kerngesunde Jungen. Shin und Akuma waren ihre Namen.“

Shin keuchte und sein Blick huschte zu Akuma. Bruder? Das war ja nun wirklich eine logische Entwicklung, aber warum hatte er von seinem Zwillingsbruder noch nie etwas gehört? Irgendwie wollte er glaube, was die beiden ihm erzählt hatten. Es klang wahr und nicht verrückt. Zwillingsbruder …

Shin gab sich einen Ruck und hüstelte leise, um sich wieder zu fassen. Er wollte wissen, was danach passiert war! Vorsichtig lugte er wieder zu Akuma hinüber und schaute dann schnell zum Kamikaze. Es war die beste Gelegenheit nachzufragen, also überlegte sich Shin seine Worte gut.

„Warum habe ich ihn dann bis jetzt nicht sehen dürfen? Wieso hat man mir verschwiegen, dass es Akuma gab?“

Als Akumas Kopf ein wenig herabsank, fragte Shin sich, ob er etwas Falsches gesagt hatte. Warum schwiegen der Kamikaze und sein Lehrling plötzlich?

Shin hob eine Augenbraue an und sah erwartungsvoll zu dem alten Mann hinüber. Sofort räusperte der sich und begann vorsichtig:

„Es mag etwas seltsam klingen, wenn ich es dir jetzt erzähle.“

„Beginnt einfach, ich bin sehr interessiert.“

„Dein Großvater hatte wegen Akumas großem Bluterbe Angst und sperrte ihn in einen geheimen Raum ein. Er wollte nicht, dass eine Legende sich wiederholte. ‚Aitoshi Roter Drache’ ist ein gefährliches und vor allem unbändiges Erbe. Bis jetzt hat es noch niemand geschafft, es unter Kontrolle zu bringen. Daher war es für Yuudai unmöglich eine solche potentielle Friedensstörung frei herumlaufen zu lassen. Tja, jetzt weißt du, warum.“

Erneut sah Shin zu seinem Bruder hinüber und rückte prüfend etwas näher. Langsam streckte er die Hand aus. Als er Akumas Wange striff, spürte er eine starke Aura, mehr aber auch nicht. Skeptisch hob er die linke Augenbraue an und sah zum Kamikaze, bevor er weiter sprach:

„Davor hatte Opa Angst? Nicht wirklich, oder?“

„Nun, es ist so, dass Akuma und ich ein Siegel um das Erbe gelegt haben, sodass nichts Ungewolltes passieren kann!“

„Ach so. Aber mich schockt es schon. Das ist also eure Lösung?“

„Ja, es ist eine Lösung, aber sie wird nicht gerade zu deinem Vorteil sein. Sie kann auch nachteilig sein.“

„Warum?“

„Wenn dein Großvater nun zuschaut, bei dem Duell, und plötzlich sieht, was für Kampftechniken du auf einmal kannst, wird ihn das schon verwirren. Vielleicht wird ihn das auch erfreuen, aber das würde bedeuten, dass er dich dann als Kampf-Ji einstuft. Das wäre auch nicht dein Wunsch.“

„Nein! Natürlich nicht! Aber wie lässt sich das verhindern?“

Der Kamikaze tippte sich ans Kinn und schaute an die Decke. Eine Lösung für eine Lösung? Irgendwie belustigte ihn der Gedanke. Sein Kopf barst fast vor Nachdenken, aber gab es denn wirklich eine Lösung?

Akuma mischte sich wieder ein und sagte:

„Also, ich könnte ja einfach so tun, als wäre ich Shin. Ich eigne mir seine Eigenschaften und Verhaltensweisen an, informiere mich einfach über seinen jetzigen Kampftechnikstand und kämpfe für ihn!“

Shin war begeistert und fragte aufgeregt:

„Und wer spielt dann dich?“

„Na du natürlich!“

„Aber ich bin doch nicht so wie du. Ich meine, ich könnte es schaffen dein Verhalten zu kopieren und auch deine Eigenschaften zu übernehmen, aber deinen Wissenstatus erreiche ich doch nie!“

„Dann müssen wir einfach zu Kawasaka sagen, dass du das Duell erst nach den Prüfungen während der Schulzeit machst. So sorgen wir dafür, dass niemand anderes als Schüler zusehen, wir unsere Prüfungen selber schreiben und noch genügend Zeit haben, um zu erlernen, was der andere kann!“

„Das wäre eine Lösung!“

Der Kamikaze lachte leise und nahm die inzwischen abgekühlte Porzellantasse. Der Tee war immer noch warm, aber nicht mehr so heiß wie zuvor. Langsam führte er sie zum Mund und trank daraus, bevor er sich dem Feuer zuwandte. Vielleicht sollte er die beiden Brüder warnen, dass der ganze Plan auch schief gehen konnte, doch irgendwie wollte er einfach mal beobachten, was passierte. Seine Augen huschten wieder zu den Aitoshi-Nachkömmlingen. Ihm fiel ein, dass sie ja morgen noch eine Prüfung schreiben mussten, also sprach er mehr zum Tee und zum Feuer gewandt:

„Wolltet ihr nicht lernen?“

Akumas Kopf zuckte in die Höhe und begann aufgeregt zu nicken, bevor er sich zu Shin umdrehte und freudestrahlend meinte:

„Lass uns zusammen lernen!“

„Gut, aber was erzähle ich meinen Eltern?“

Der Kamikaze mischte sich wieder ein und flüsterte:

„Sag deinen Eltern nichts von eurer Begegnung, dann müssen sie sich keine Sorgen machen. Dein Großvater darf unter keinen Umständen erfahren, dass du Akuma kennen gelernt hast. Das würde nur unnötigen Stress geben. Am besten tust du einfach so, als hättest du in der Schulbibliothek gelernt.“

„Und was ist, wenn mein Großvater auf die Idee kommt, nachzufragen? Dann kommt doch heraus, dass ich gelogen habe. Das würde auch Stress geben.“

„Mag sein, aber weißt du, daran habe ich bereits gedacht. Also mach dir keine Sorgen.“

„Danke!“

Shin reagierte auf Akumas Drängen und schubste ihn freundlich vor sich her, bis sie schließlich vor der Zimmertür standen. Der Ältere der beiden fragte:

„Und jetzt?“

Akuma nahm wieder Shins Hand und zog ihn die vielen Korridore hinter sich entlang. Astartes Bild glänzte von weitem, doch diesmal würden sie den Weg nicht nehmen. Schließlich lag Akumas Zimmer ja noch vor dem Portrait des Gottes.

Endlich kamen sie vor die schmächtige Statur einer Holztür irgendwo im hintersten Teil des Hauptgebäudes und blieben stehen. Akuma lächelte und drückte die Klinke zu seinem Reich herunter, bevor er froh hineinhopste.

„Das ist mein Zimmer.“

„Man ist das klein und ungemütlich.“

„Ja, im Gegensatz zu dem Rest des Gebäudes … Aber ich wollte es so. Es gibt keine Ablenkungen, die einen beim Lernen nerven oder, oder, oder! Also ist es ganz gut so.“

Akuma strahlte und schloss die Tür hinter Shin, dann ging er zu seinem Schreibtisch und wühlte ein wenig in den Unterlagen herum. Gemeinsam konnten sie alles schaffen! Akuma wusste es einfach.
 

Ein Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die zugezogenen Gardinen des schlichten Raums. Das Licht fiel auf das Gesicht des schlafenden Jungen und weckte ihn auf. Müde strich er sich über die Augen und drehte sich auf die Seite, um besser auf die kleine Nachttischuhr sehen zu können. Der Sekundenzeiger hüpfte auf die 12 zu, während der Stundenzeiger auf die 7 zusteuerte. Es waren nur noch 4 ½ Stunden vor dem Beginn der Prüfung an diesem Dienstag.

Akuma schloss noch einmal die Augen. Er hatte noch genug Zeit, bevor er aufstehen musste. Irgendwie wollte es ihm aber nicht gelingen, wieder einzuschlafen, also setzte er sich auf und sah an die Wand gegenüber seinem Bett.

Ein paar Erinnerungen an den gestrigen Tag schossen durch seinen Kopf und hinterließen eine tiefe Freude. Endlich hatte er die Möglichkeit gehabt, seinen Bruder kennen zu lernen!

Auf einmal hellwach durch all die Erinnerungen sprang Akuma aus dem Bett und zupfte es zu Recht, bevor er eiligst zum Schrank lief und die Türen aufriss. Schwarze Klamotten fielen ihm entgegen und landeten auf dem Boden. Das passierte halt, wenn man überfröhlich einen uralten, sehr kaputten, Kleiderschrank übereilig öffnete.

Seufzend hob Akuma die Sachen auf und verstaute sie gefaltet wieder an dem Ort, wo sie auch hergekommen waren. Stattdessen wühlte er nach seiner Uniform, die er gestern, nachdem Shin gegangen war, irgendwo hier hinterlassen hatte. Er fand sie schließlich auf einem Stapel Gürtel. Seit wann hatte er denn Gürtel? Akuma untersuchte diese schwarzen Lederriemen und bemerkte, dass sie eindeutig als Waffenträger fungierten.

Er zuckte die Achseln und zog sich an. Was sollte er auch anderes tun? Der Kamikaze hatte ihm zwar den Schwertkampf beigebracht, aber eigene Waffen hatte Akuma noch nicht.

Nachdem er gefrühstückt hatte und seine Schulsachen gepackt hatte, hatte er noch ein wenig Zeit. Dennoch wollte er nicht lange warten und ging deshalb gleich zur Schule. Er wollte nicht wie letztes Mal der Letzte sein, der dort ankam.

Als er die Hauptstraße Anduils hinunterwanderte, schaute er sich aufmerksam um. Kaum ein Kind, das noch hier spielte, war über sieben Jahre alt. Menschen wurden oft von den Eltern in die Arbeit eingespannt, während Alchemisten die Schule besuchten. Also waren hier wirklich nur kleine Kinder, die mit Springseilen, Bällen oder Kreiseln spielten.

Akuma ging mit über den Kopf gezogener Kapuze an den Leuten vorbei und versuchte geradewegs auf die Schule zu zu steuern. Niemand hinderte ihn daran, weswegen er schon bald den Pausenhof betrat und gemütlich darüber hinweg schlenderte.

Ehrfürchtig trat er durch das große Portal und schaute sich um. Wie jeden Morgen war es besonders hier ausgestorben. Nur die Frau am Informationsstand saß wie immer da. Sie zog ihr Kaugummi lang und stopfte es zurück in ihren Mund, bevor sie es zu einer Blase aufpustete und platzen ließ. Ihr war eindeutig langweilig.

Akuma fragte sie schnell, ob die Alchemy Academy #3 Prüfung wieder in der großen Prüfungshalle stattfände, und sie bejahte. Er wollte nichts mit ihr zu tun haben. Sie war so künstlich und wenn sie nicht musste, weil gerade eine Person anwesend war, die Respekt forderte, tat sie, als gäbe es niemand Heiligeren als sie selbst.

Sie widerte Akuma zutiefst an. Allein mit ihrer blöden näselnden Aussprache nervte sie ihn schon, hinzu kam die Brille, die immer vorne auf der Nasenspitze lag und die kreischenden Kleider, die niemals wirklich zusammenpassten. Sie sah einfach aus wie eine Hexe.

Eilig lief er die Stufen hinauf und bog in den Korridor zur Alchemy Academy #3 ab. Freudig stieß er die Luft aus, bevor er ein steifes Tempo einlegte und schnell durch den langen Gang schritt. Als er einige Mädchen vor der großen Tür stehen sah, bremste er ein wenig ab und ging zum Anmeldetisch. Ishisaka sah auf und notierte seine Anwesenheit, bevor er aufmunternd lächelte und ihm viel Glück wünschte.

Akuma nickte nur und entfernte sich drei Schritte, um sich an eine Wand zu lehnen und wie jeden Tag vor einer Prüfung das Erlernte zu reflektieren. Schnell schossen ihm Vokabeln durch den Kopf, die ihm vielleicht helfen konnten, wenn er einen Text übersetzten müsste. Zum Glück hatte der Kamikaze dafür gesorgt, dass alle Anweisungen, Texte und Vokabeln, die man übersetzen sollte, in der Göttersprache standen, damit Akuma auch ja wusste, was er tun sollte. Das würde auch heute wieder so sein wie bei jeder anderen Alchemistensprachprüfung.

Er hörte Schritte und die Person lehnte sich neben ihn. Als Akuma aufsah bemerkte er Shin und lächelte. Die beiden waren seit gestern ein gutes Team und irgendwie spürten sie eine tiefe Verbundenheit. Sie hatten sich geschworen, unzertrennlich zu bleiben, zwar nicht für immer, aber für die nahe Zukunft.

Akuma klopfte Shin auf die Schultern und deutete auf das Portal, das sich gerade geöffnet hatte und den baldigen Beginn der Prüfung ankündigte. Sie gingen, zogen sich eine Nummer und traten ein. Akuma sah auf sein Blatt und sah die Nummer 27. So wie gestern. Vorsichtig lugte er auf den Zettel seines Bruders und sah die Nummer 28. Genau die Gleiche, die dieser auch gehabt hatte. Glücklich suchten sich die beiden ihre Plätze, packten ihre Tintenfässer, Federn und Pergamentblätter aus, bevor sie nach vorne sahen und Ishisaka zuhörten, der wie immer die Formalitäten klärte.

Wieder erschienen die Prüfungsblätter vor ihnen in der Luft und der Startruf ertönte. Eiligst machte Akuma sich an die Arbeit. Nummer 1 war lediglich Wörterübersetzen. Nichts Besonderes und auch nicht gerade schwer wie Akuma belustigt feststellte. Sein Blick huschte zur zweiten Aufgabe. Einen seitenlangen Text übersetzen. Das würde wohl etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen. Dann blickte er zur letzten Aufgabe. Man sollte einer imaginären Person eine wichtige politische Situation erläutern und ihr zudem noch versichern, dass alles gut gehen würde.

Akumas Augenbraue hob sich und er schaute wieder zur ersten Aufgabe. Sofort schrieb er die Vokabeln neben die zu übersetzenden Wörter und war auch ziemlich schnell fertig damit. Dann begann er den Text von Nummer 2 gedanklich in die Alchemistensprache umzuwandeln. Das war nicht schwer. Es wurde nur ernst, wenn man einen möglichst sehr guten und gewählten Ausdruck erreichen wollte.

Dennoch gab Akuma nicht auf und schrieb den Aufsatz auf 8 Pergamentblätter, bevor er sich schließlich Aufgabe 3 widmete. Insgesamt hatte er nur 4 Stunden für diese Prüfung und er schätzte, dass 2 oder 3 schon vorbei waren. Also musste er sich jetzt beeilen, denn die Befürchtung, dass die letzte Aufgabe die schwer Wiegenste war, wuchs.

Eilig dachte er nach, wie er dieser imaginären Person denn bitte erklären sollte, was in einem Kriegsnotfall schief laufen könnte. Mit der Zunge im Mundwinkel begann er noch einmal einen endlos langen Aufsatz zu schreiben. Es waren zwar nur drei Seiten, aber seiner Hand kam es so vor, als wäre es um einiges länger.

Als Akuma sein Tintenfass zuschraubte, blickte er auf und sah sich um. Es schrieben nur noch die Wenigsten. Viele saßen schon da und sahen nach vorne. Shin setzte eben noch einen Punkt, bevor auch er seinen Namen auf jedes Blatt schrieb und seine Sachen zusammenpackte.

Akuma sah an den Kopf seiner Seiten und kratzte seinen Vor- und Zunamen in die rechte obere Ecke, dann machte auch er noch einmal sein Tintenfass zu und verstaute sie im Ranzen.

Endlich war die Prüfung vorbei. Ishisaka wurde mit den Prüfungsblättern belagert und zugestellt, dann gingen alle hinaus.

Shin lachte und sagte:

„Man war das eine blöde Prüfung. Ich glaube, ich habe noch nie so viel geschrieben.“

„Ich auch nicht“, stöhnte Akuma und rieb seine Hand, bevor er weiter sprach:

„Morgen 11 Stunden lang Wirtschaft & Politik. Wie geht’s einem wohl danach?“

„Will ich gar nicht wissen. Ich meine, die wollen von 8 Uhr morgens bis 7 Uhr abends eine Prüfung abhalten, während der doch sowieso jeder aufs Klo muss, hungrig oder durstig wird und sicherlich auch unruhig.“

„Blöde Idee.“

„Das kannst du laut sagen, aber na ja … Immerhin verlief die heutige Prüfung wie geschmiert. Gut, dass wir gestern noch zusammen gelernt haben. Ich bin nämlich nicht so gut im sprachlichen Bereich. Na ja, vielleicht sollten wir heute wieder lernen? Was meinst du, Akuma?“

„Geht klar!“

Die beiden lachten und unterhielten sich noch eine Weile, während sie den Gang entlang gingen und über die Treppen in die Eingangshalle traten. Ein paar Schüler wichen respektvoll zurück und machten den Weg für die Alchemy Academy #3 Prüflinge frei. Es waren zwar nur 30, die an den jüngeren Mitschülern vorbei gingen, aber da nur Wenige in diese Stufe kamen, war man natürlich besonders ‚berühmt’.

Manche nannten diese Genies auch ‚Masterkids’ (Einzahl: Masterkid). Sie waren zu jung, um Master genannt zu werden, waren aber außerdem noch nicht gut genug, um ein richtiger Master zu werden. In der Phase nach der Alchemy Academy hießen die Meisten dann ‚Masterteens’ (Einzahl: Masterteen), weil sie ihre Kräfte außerhalb der Schule weiterentwickelten.

Akuma und Shin kicherten über die geflüsterten Begrüßungen, die dem Älteren der beiden zukamen. Das ständige ‚Masterkid Aitoshi’ nervte zwar nach ein paar Minuten, aber irgendwie drückte es die tiefe Erfurcht aus, die die Jüngeren vor Shin hatten.

Akuma lachte immer noch, als sie schon lange wieder in seinem Zimmer im Haupthaus saßen und bereits wieder die Unterlagen zu Wirtschaft & Politik durchblätterten. Er stieß auf eine Seite, die Außenpolitik beschrieb. Gelangweilt drehte er sich zu Shin um, der bäuchlings auf seinem Bett lag und in seinem Buch las.

„Shin?“

„Hm?“

„Fertig?“

„Du etwa?“

„Hm.“

„Fertig.“

„Du?“

„Ja.“

„Was jetzt?“

„Keine Ahnung. Lass uns irgendetwas Verrücktes machen.“

„Was?“

„Wie wäre es mit Rollentausch?“

„Bist du wahnsinnig? Wir können das doch noch gar nicht!“

„Dann kannst du aber immerhin Mutter und Vater besuchen. Großvater wohnt bereits wieder im Haupthaus des Clans. Also keinerlei Einschränkungen.“

„Warum gehen wir dann nicht zu zweit hin?“

„Äh … Lass es uns einfach ausprobieren, ja? Ich will sehen, ob die beiden etwas merken.“

„Du bist ja nett …“

„Ha ha ha ha. Du hast mich doch erst darauf gebracht.“

„Aber ich habe nicht damit angefangen!“

„Sei ruhig, Akuma. Du machst, was ich dir sage. Ich bin der Ältere von uns beiden.“

„Hm. Na gut. Aber was, wenn es auffliegt?“

„Nichts. Erkläre ihnen einfach, wieso die ganze Maskerade und dann werden sie es verstehen.“

„Aha. Ich glaube dir nicht so wirklich.“

„Egal. Lass uns Rollentausch spielen.“

„Gut.“

Überredet, bei dieser Idee mitzumachen, seufzte Akuma und sah seinen Bruder erwartungsvoll an. Die Uniformen mussten sie nicht tauschen, sondern nur die Schultaschen. Beide hatten die gleiche Stimme und eine ähnliche Handschrift. Das größte Problem war aber die Orientierung in der Aitoshi-Residenz und dem Verhalten.

„Shin. Du musst mir erklären, wie euer Haus aussieht. Damit ich weiß, wo ich hingehen muss und so. Also erklär mir alles ganz genau.“

„Hm. Also wo fange ich an?“

Eine Weile schwieg Shin und suchte sich seine Worte zu Recht, bevor er zu sprechen begann:

„Wenn du in unser Haus kommst, dann rufst du schnell »Ich bin’s!«, damit Mutter Bescheid weiß. Sie ist immer da, falls du Probleme haben solltest.“

„Das wollte ich eigentlich erst später wissen. Sag mir, wie es bei euch aussieht. Wo ist das Badezimmer, dein Zimmer und-“

„Na gut, dann erklär ich dir mein Verhalten später. Hm. Also. Du kommst rein und findest dich in einem ungefähr sieben Meter langen Flur wieder. Nach etwas drei Metern ist auf der linken Seite die Schiebetür zum Wohnzimmer, gleichzeitig auch das Esszimmer. Auf der rechten Seite ist nach zwei Metern eine Tür zum Badezimmer. Im anliegenden Zimmer ist ein Arbeitszimmer. Das solltest du nicht betreten, achte darauf.

Wenn du gerade also ins Wohnzimmer gekommen bist, ist auf der linken Seite, durch einen Raumtrenner abgeschottet, die Küche. Gehst du geradeaus durch die zweite Schiebetür kommst du auf einen kleinen Gang, der am Haus entlang führt, aber nicht mit Wänden eingefasst ist. Dem kannst du nur so lange folgen, bis du den nächsten Teil des Hauses erreichst. Also macht der Gang einen Knick nach rechts nach ungefähr acht Metern nach der Wohnzimmerschiebetür. Einen Meter später ist links von dir die Schiebetür zum Trainingsraum. Den benutzt du heute am besten nicht. Im Trainingsraum drin ist ein kleiner Altar, aber das ist nur nebensächlich. Wenn du dem Gang weiterfolgst, findest du am Ende auf der linken Seite die Tür zum Badehaus. Da drinnen ist gleich hinter der Tür ein Handtuchschrank. Geradeaus durch ist traditionell die Waschecke. Du weißt schon. Du sitzt auf dem Hocker und hast einige Duschschläuche und dazugehörige Duschköpfe in der Wand. Auf der linken Seite im Badehaus ist der Whirlpool. Da kommst du durch die eingelassene Steintreppe rein. Aber diese große Badewanne wird im Moment sowieso nicht benutzt. Wenn du aus dem Badehaus herausgehst, siehst du weiter hinten eine Tür. Das ist die zweite Tür im Arbeitszimmer.

Wenn du wieder am Eingang bist ist geradeaus durch nach ungefähr fünf Metern die Treppe. Folge der ins Obergeschoss.

Sofort auf der rechten Seite ist das Elternschlafzimmer. Da solltest du auch nicht unbedingt herein gehen. Auf de linken Seite sind wieder zwei Räume. Das eine ist ein Badezimmer, das wir als Gästebadezimmer benutzen. Daneben liegt das Gästeschlafzimmer. Ein kleiner Gang führt an diesem vorbei ins Obergeschoss des zweiten Hausteils. Da sind vier aufeinander folgende Schlafzimmer, die letzten beiden stehen leer. Das Erste ist meins, das Zweite gehört meinem … unserem Großvater.“

„Ah … danke.“

„Alles gemerkt?“

„Ja, so ziemlich.“

„Gut. Dann das Verhalten.“

„Ja.“

Und wieder hielt Shin Akuma ellenlange Vorträge, wie er sich zu benehmen hatte, im Beisein seiner Eltern natürlich. Es durfte auch ja nichts Auffälliges daraufhin weisen, dass Akuma nicht Shin war.

Irgendwie gefüllt mit sämtlichen Daten über Shin, schwirrte Akuma der Kopf. Aber nachdem er sich geschüttelt und wieder gefasst hatte, war er an der Reihe, seinem älteren Bruder alles zu erklären. Es dauerte ewig Shin beizubringen, was er tun und lassen sollte. Außerdem den Tagesplan auswendig zu können, den Akuma jeden Tag aufs Neue auszuführen hatte, war schon eine Last. Hinzu kam noch die Wegbeschreibung, die in diesem riesigen Gebäude lebenswichtig war.

„Hm. Gut. Danke, Akuma. Ich denke, ich werde das schaffen. Vergiss nicht deine Hausaufgaben, das Lernen und das Abendessen.“

„Selber.“

„Und denk daran, dich mit Vater über die Schule zu unterhalten. Er wird dir alles aus der Nase ziehen müssen, ja?“

„Das hast du mir schon einmal gesagt, Shin. Ich weiß es, ehrlich!“

„Gut. Jetzt geht’s rund. Bis morgen vor der Prüfung, bin ich du und du bist ich.“

„Einverstanden.“

Akuma schluckte und stand auf. Schnell rückte er, wie Shin es ihm beigebracht hatte, seine Uniform zu Recht und nahm die Schultasche seines Bruders in die Hand. Ein Seufzen entfuhr ihm und er sah noch einmal über die Schulter. Jetzt musste er gehen. Er musste sich verabschieden, deswegen atmete er tief durch und begann dann zu lächeln. Dann sagte er:

„Bis morgen … Akuma.“

Bevor sein älterer Bruder ihm auf die gleiche Weise antwortete:

„Bis morgen, Shin.“

Akuma schwieg. Er musste sich angewöhnen auf den Namen zu hören. Besonders jetzt.

Akuma drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Als er die Tür hinter sich zumachte, nahm er allen Mut zusammen und veränderte seine Gangart. Nicht zu lässig, sondern konzentriert. Das waren Shins Worte und Akuma musste sie jetzt umsetzen.

Gerade ging er die großen Treppen in der Halle hinunter, als er auf den Kamikaze traf. Der sah ihn an und lächelte.

„Wohin des Wegs, Akuma?“

Wie angegossen blieb Akuma stehen und starrte den alten Mann an.

„Woher …?“

„Ah, ihr spielt Rollentausch?“

„Ja, anscheinend mit weniger gutem Erfolg.“

„Ach, nein. Du weißt, dass ich diese Fähigkeit besitze, die niemand sonst hat. Auraidentifizierung.“

„Ach so! Dann habt ihr also meine Energie mit der Energie meines Bluterbes abgeglichen?“

„Ja, und die Übereinstimmung war bei 100%. Dementsprechend konntest du nur Akuma sein.“

„Ich dachte schon.“

„Sei auf der Hut, aber mach dir auch nicht allzu große Sorgen. Das ist zu auffällig. Man kann euch zwei nicht auseinander halten!“

Akuma nickte und ging konzentriert die Treppe hinunter. Er öffnete das Portal des Regierungshauses und trat hinaus. Ein weiterer tiefer Atemzug und ein Lächeln, dann ging er, wie beschrieben, den Weg zur Residenz. Zu seinem richtigen Zuhause.

Langsam öffnete er die Gartentür, die zwischen einer ungefähr ein Meter großen Steinmauer eingelassen war. Die Holztür quietschte und lud herzlich in den blühenden Garten ein. Es war eindeutig Frühling!

Langsam ging er die Kiesstraße entlang auf die im traditionellen (japanischen) Stil erbauten Villa zu und nahm allen Mut zusammen. Als er klimpernd den Schlüssel hervorzog und diesen ins Schloss steckte, wankte sein Selbstbewusstsein. Sollte er das wirklich tun?

„Shin! Wie schön, dass du da bist, Liebling.“

Steif drehte Akuma sich um und erblickte seine Mutter. Ein Lächeln schlich sich über sein Gesicht und lockerte die Atmosphäre auf.

„Guten Tag, Mutter.“

„Nanu? Was bist du denn so förmlich? Ein einfaches Hallo hätte auch gereicht!“

Akumas Lächeln erstarb. Er hatte schon seinen ersten Fehler begangen. Wie rettete er sich da jetzt heraus?

„Ach, Liebling. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du dir nicht alles zu Herzen nehmen sollst, was dir als Kritik dargeboten wird!“

„Tut mir Leid, Mutter.“

„Ach was. Das macht doch nichts.“

Sie kam näher und stieg die Stufen zur Veranda hinauf, bevor sie den Schlüssel, den Akuma hatte steckengelassen, im Schloss umdrehte und ins Haus trat. Fröhlich summte sie und ging ins Wohnzimmer.

„Dein Vater kommt früher von der Arbeit. Ich mache etwas zu essen, komm also nicht zu spät. Vergiss die Hausaufgaben und dein Bad nicht. Ich habe es in die Wanne im Badehaus eingelassen, nicht, dass du aus Versehen woanders hingehst.“

„Danke, Mutter. Ich werde es beanspruchen.“

„Diese Förmlichkeit ist nicht von Nöten! Dein Großvater ist nicht hier.“

Akuma schluckte und schloss die Haustür hinter sich, bevor er sich im Eingang die Schuhe auszog und erschrocken in seiner Bewegung innehielt. Das waren nicht Shins Schuhe. Das waren seine. Entsetzt über diesen unterlaufenen Fehler, gefror Akuma das Blut in den Adern. Was sollte er jetzt tun?

„Ah, Shin, du bist schon da? Wolltest du nicht noch in die Bibliothek?“

Akuma drehte sich zur gerade wieder geöffneten Tür um und lächelte.

„Hallo, Vater! Die Bibliothekarin sagte, dass ich auch Bücher nach Hause nehmen könnte.“

Das Wort ‚Hause’ klang seltsam fremd und doch war es wohltuend. Das hier war ja wirklich sein Zuhause und endlich hatte er es von Innen sehen können.

„Und? Hast du dir welche mitgebracht?“

Tetsuya zog seine Schuhe aus und stieg die Stufe auf den Paketboden hinauf. Akuma schüttelte vorsichtig, als er angesehen wurde.

„Nein, es war nichts Interessantes dabei.“

„Wirtschaft & Politik ist doch ziemlich oft vertreten da, oder?“

„Doch schon, aber nicht das, was ich brauche.“

Akuma geriet ins Schwitzen. Wenn seine Antworten sich jetzt verstrickten, wurde es gefährlich. Aber was sollte Akuma tun?

„Ach so. Dann nicht. Emi, Liebling, ich bin zu Hause!“

„Tetsuya!“

Emi kam aus der Küche und begrüßte ihren Mann mit einem Kuss auf den Mund. Akuma starrte die beiden an und hatte das Gefühl endlich einer Familie anzugehören. Tetsuya lachte und ging ins Wohnzimmer. Emi drehte sich zu Akuma um und fragte:

„Sag mal, seit wann bist du so interessiert ins Küssen?“

Akuma lief tomatenrot an und verlor vollkommen die Fassung. Das hätte Shin sicher nicht gemacht, aber was sollte sein jüngerer Bruder nun tun?

„Eh …“

Akuma wischte mit dem Uniformärmel über sein Gesicht, um die Röte zu vertreiben, und bemerkte, dass auch diese Bewegung nicht Shin gehörte.

Auch Emi und der inzwischen wieder in den Flur gekommene Tetsuya hatten das bemerkt. Sie tauschten Blicke aus und sahen dann fragend zu ihrem Sohn. Tetsuya ergriff das Wort zuerst:

„Shin, ist alles in Ordnung?“

„Vielleicht hat sich mein kleiner Liebling ja verliebt!“, frohlockte Emi und wartete auf die Reaktion. Shin hätte jetzt ein ziemlich finsteres Gesicht gemacht und alles abgestritten, aber Akumas Reaktion war anders: Zuerst begann er zu stottern, dann lief er wieder tomatenrot an und gab das Reden schließlich auf.

Tetsuya zog eine Augenbraue hoch und blickte zu Emi, bevor beide sich hinhockten und fragten:

„Akuma?“

Akuma schaute auf und rieb wieder mit dem Ärmel über sein Gesicht. Dann begann er hilflos zu lächeln und sagte leise, es war mehr ein Flüstern:

„Eigentlich solltet ihr das nicht erfahren. Es war Shins Idee …“

Tetsuya und Emi begannen augenblicklich zu quietschen und umarmten freudig ihren verlorenen Sohn. Akuma fühlte sich verhätschelt und erdrückt, während seine Eltern ihn stürmisch durchknuddelten. Irgendwann bekam er aber keine Luft mehr und stöhnte:

„Ah … aua, hört auf! Das tut doch weh! … Ah, aua autsch!“

Endlich ließen die beiden von ihm ab, waren aber immer noch in ihrer aufgeregten Phase. Emi sprang auf und rief:

„Ich mache ein Festessen!“

Tetsuya nickte und sagte:

„Du gehst am besten erst einmal baden, dann werden wir sehen, was wir mit dem Lernen und deinen Hausaufgaben arrangieren.“

„Woher …?“

„Jeder geht zur Schule. Und außerdem hat Shin uns von einem neuen Schüler erzählt, der im Haupthaus der Regierung lebt.“

„Ach so.“

Akuma schaute verwundert seinem Vater hinterher, der die Schultasche einfach mitgenommen hatte. Was sollte der kleine Junge denn jetzt bitte tun? Der Plan war schon nach zehn Minuten gescheitert. Langsam schlich sich das übliche Akuma-Lächeln über sein Gesicht und seine Augen strahlten vor Freude. Er war zu Hause.

Lebensfreude

Ein Schmetterling flog über die Parkbank hinweg auf den großen Springbrunnen in der Mitte des ummauerten Parks zu. Es war ein Zitronenfalter, der im Licht der Sonne immer öfter verschwand und irgendwo wieder auftauchte. Die Wasserfontäne des Brunnens, die ungefähr einen Meter in den Himmel schoss, plätscherte fröhlich in die verschiedenen Becken. Tropfen um Tropfen verursachte eine wunderschöne Melodie zusammen mit dem Gesang der Vögel, die ihre Runden über den Wipfeln der vier Bäume, die hinter der Bank wuchsen, drehten. Einige Bienen sammelten fleißig den Honig und flogen von Blume zu Blume. Die schönen Pflanzen streckten ihre Blüten von den am Wegrand liegenden Blumenbeeten der Sonne entgegen.

Das kleine Mädchen fiel zwischen den schönen Dingen gar nicht auf, weil es sich ohne Probleme in die Umgebung einfügte. Es war sehr dünn, hatte schulterlange blonde Locken und die wunderschönsten blauen Augen, die es weit und breit gab. Sie glänzten wie Sternensaphire und waren voller Freude. Es lächelte und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Erst jetzt konnte man das kindliche aber schön geformte Gesicht wirklich betrachten. Es war die Tochter eines Mitglieds des Heiligen Rates. Es war die Tochter von Yonobawa, Kichiro und Yonobawa, Kaori. Hoshiko En.

Insgeheim liebte sie es, wenn die gleichaltrigen oder sogar älteren Jungen ihr nachspionierten, um von der Mauer verborgen einen kurzen Blick auf sie erhaschen zu können. Doch im Moment war es ziemlich ruhig, für eine Großstadt sogar relativ still. Feok-Akhami war sonst voller geschäftiger Leute, Händler oder Gauklern, die ihr Glück auf dem Markt versuchten.

Hoshiko summte leise ein Lied vor sich hin und wackelte mit dem Kopf. Bald würde erneut eine Versammlung des Heiligen Rates stattfinden. Diesmal aber in Anduil. Sie war noch nie in Taens Hauptstadt gewesen und freute sich daher doppelt auf den anstehenden Besuch dort. Ihre ganze Familie würde beispielhaft zusammen anreisen und für eine Weile in einem gemieteten Haus unterkommen, nur damit ihr Vater mit neun anderen Männern und den drei Obersten des Landes über die derzeitige Wirtschaft und Politik diskutieren konnte. Aber warum nicht? Es würde ihr sicherlich Spaß machen, durch die endlosen Parkanlagen und Wiesen zu streifen. Vielleicht gäbe es da ja auch Jungen, denen sie den Kopf verdrehen konnte? Obwohl … eigentlich hoffte sie, dass nicht allzu viele auf ihr Aussehen reagieren würden, denn irgendwie besaß man keine Privatsphäre mehr, wenn man einmal als Schönheitswunder entlarvt wurde.

Ein Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Nur noch eine Wochen und sie könnte die Classic Star Academy Anduil besuchen. Das war die berühmteste Menschenschule, die es gab. Es war eine weiterführende Schule. Nach der Elementar Schule kam eine Classic Star Academy – zumindest bei den Menschen. Bei den Alchemisten war es etwas anders, so lautete ein Gerücht. Sie besuchten zuerst die Alchemy Academy und verließen sie mit zwölf Jahren, also in Hoshikos Alter. Nach der Alchemy Academy gab es nur noch eine Hochschule. Man nannte sie liebevoll Al-Acad-Uni, was so viel bedeutete wie: Alchemy Academy University. Die Alchemisten besuchten diese Schule nur noch zwei Jahre, bevor sie endgültig bereit für ihre Laufbahn waren, doch nicht alle nahmen diese Chance wahr. Viele gingen auch bei Mastern in die Lehre, um ihre Stärken in ihren Beruf umzuwandeln. So war es für einen alchemistisch handwerklich begabten Schüler schlauer, wenn er eine Lehre bei einem handwerklichen Alchemisten begann, als weiterhin in einer Hochschule zu studieren. Sowieso war das Studium an dieser Schule nur für Hochbegabte, zumindest sagten das die Gerüchte. Hoshiko fragte sich, warum es in Feok-Akhami keine Alchemisten gab. Sie hatte den alchemistischen Gauklern immer gerne zugesehen. Feuerspucker, Wasserspeier …

Ein lauter Gong weckte sie aus ihren Tagträumereien. Das war die Glocke der Kapelle und der Laut bedeutete nur eins: Zeit das Studium fortzuführen. Aber was erbrachte ihr ein Studium? Sie war eine Frau und besaß keine Rechte. Schließlich sollte sie am Ende ja sowieso vor dem Herd landen. Unglücklich verheiratet mit einem reichen Mann, der ihrem Vater politische Vorteile sicherte. Wenn sie so nachdachte, fand sie den Gedanken zu schwänzen, eigentlich sehr plausibel. Nickend machte sie sich auf den Weg zum Haupthaus von Feok-Akhami. Ihrem Zuhause. Und dem großen Schloss am Ende der Hauptstraße, die geradewegs vom Eingangstor zur Haustür führte.

Müde schritt sie durch die Gänge des dunklen und einsamen Schlosses. Nichts war ihr lieber als ein paar Freunde an ihrer Seite. Doch auch hier konnte Hoshiko nur passen. Freunde hatte sie keine. Das lag zum größten Teil daran, dass die meisten nur mit ihr zusammen sein wollen, weil sie die Tochter des Segmentführers Yonobawa war.
 

Hoshiko zählte die Tage wie im Countdown. Zwei. Es waren nur noch zwei Stück. Sie hibbelte auf ihrem Bett herum und sah zwei Hofdamen dabei zu, wie sie Kleid um Kleid in großen Koffern verschwinden ließen. Hoshiko hatte mitgezählt. Es waren inzwischen schon 24 ihrer liebsten Rüschenkleider. Mal waren sie weiß, ein andern mal blau-weiß, dann wieder schwarz-weiß, ab und zu auch gelb und rot, oder vielleicht ein samtenes Grün? Eigentlich waren alle Farben dabei. Es waren aber alles Rüschenkleider. Meist ging der Kleidersaum Hoshiko bis zu den Knien. Dort endeten alle in einer feinen Spitze. Dazu trug Hoshiko dann Strumpfhosen und die gerade neu erfundenen Lackschuhe – natürlich in passender Farbe. Ein paar Hüte oder Haarbänder, Haarreifen, Zopfgummis und Kämme verschwanden ebenfalls im Koffer.

Ihr Blick wanderte aus dem Fenster. Was würde wohl geschehen? Aufgeregt biss sie sich auf die Lippe, obwohl ihre Mutter gesagt hatte, sie solle das lassen. Damen tun so etwas nicht, hatte sie Hoshiko ausgeschimpft. Eigentlich hatte ihre Mutter ja Recht, doch die Aufregung und Anspannung wollte dennoch nicht verschwinden. Wenn sie heute Abend schlafen gehen würde, dann wäre es beinahe so weit. Morgen würden sie aufbrechen und übermorgen ankommen. Heute und morgen. Hoshikos Gesicht leuchtete freudig und als sie bemerkte, dass die Hofdamen immer wieder fragende Blicke zu ihr warfen, wischte sie mit einer Handbewegung die Neugierde der beiden beiseite und stolzierte in den Vorraum.

Ihr Gemach bestand aus drei Zimmern und einem Baderaum. Im ersten Zimmer befand sich der Vorraum. Ein Kamin und Empfangsmöbel waren dort, falls es mal dazu kommen sollte, dass Prinzessin Yonobawa, wie sie von jedem genannt wurde, Besuch empfangen wollte. Im zweiten Zimmer war ein Ankleideschrank. Eigentlich war es kein richtiger Schrank. Vielmehr waren es Regale und Schränke, die an jeder der vier Wände standen und massig Kleidungsstücke beherbergten. Im anschließenden Zimmer befand sich das Schlafgemach. Ein riesiges weiches Bett stand dort als Blickfang. Auf der linken Seite war noch ein Kamin, auf der rechten ein Balkon und ein Schreibtisch, der unbenutzt verstaubte. Das Badezimmer war vom Vorraum aus begehbar, besaß aber auch eine Tür zum Ankleidezimmer.

Das alles für ein halbes Jahr aufzugeben, schmerzte schon, aber es ließ sich nicht anders einrichten und außerdem verschmähte Hoshiko gerne ihr Gemach für einen Besuch außerhalb Feok-Akhamis und des Segmentes. Anduil war sicherlich ein ganz anderes Kaliber.

Sie hüpfte durch die dunklen Gänge und lief einmal mit einem Küchenhelfer zusammen, der sich daraufhin überstürzt oft entschuldigte und total verlegen war. Keiner war so respektlos und rannte eine Dame über den Haufen, besonders nicht die Prinzessin eines Segmentes. Hoshiko machte, dass sie weg kam und suchte Unterschlupf im Gemach ihrer Mutter. Auch dort herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung. Fünf Hofdamen schleppten schwer schnaufend viele Koffer durch die Räume in den Flur, um die großen Ungetüme schließlich in Kutschen zu verladen. Das war eine schweißtreibende Arbeit, was Hoshiko sofort bemerkte, als sie an einer der etwas dickeren Mägde vorbeiging. Der schwache Schweißgeruch wehte ihr nur ganz kurz ins Gesicht, bevor er zwischen all den anderen Düften verklang.

Hoshiko liebte ihre Mutter und freute sich daher jedes Mal, wenn diese ihr wieder Tipps fürs Schminken oder Ankleiden gab. Oft saßen sie bis abends spät zusammen auf dem Bett oder im Empfangsraum von Kaoris Gemächern und blätterten in Skizzenbüchern vom ortsansässigen Schneider. Manchmal gaben sie ihm und seiner Frau sogar Verbesserungsvorschläge, aber die meiste Zeit waren sie sehr zufrieden mit der Arbeit.

Kaori saß auf einem rot gepolsterten Sofa und lehnte an einigen Kissen, die seidig gold glänzten. Hoshiko setzte sich neben ihre Mutter und schaute in das Buch, das diese gerade las. Ein Stadtplan war zu sehen. Er zeigte sämtliche Läden und andere Aktivitätspunkte Anduils.

„Sieh her, meine Tochter. Das hier ist die Parfümerie. Da müssen wir ganz dringend hin. In Anduil soll es den fabelhaftesten Duftmischer von ganz Taen geben. Wäre das nicht wunderbar? Einmal möchte ich den Laden besuchen. Und hier ist eine der vielen Schneidereien. Sehr bekannt für gute und detaillierte Arbeit – vor allem mit Rüschen, Spitzen und Seide.“

„Wie wunderbar! Und seht nur dort, Mutter! Der Buchladen. Da möchte ich auch hinein. Es muss doch wunderbar sein, einige weitere Gedichtssammlungen zu durchstöbern.“

„Oh ja …“

Die beiden schwärmten noch eine Weile von den schönen Dingen, die sie in zwei Tagen sehen würden, bevor sie endgültig dem Kauffieber verfielen. Sie schrieben einzelne Stücke auf ein Blatt Pergament und dahinter den Preis. Es waren alles Sachen, die sie später ganz sicher wieder mit nach Feok-Akhami bringen wollten. Parfüms, Kleider, Schmuck, Bücher, Talismane und viele mehr.

Irgendwann drehte sich Kaori zu ihrer Tochter um und meinte:

„Du bist eine wunderschöne Frau geworden, Hoshiko En.“

„Danke sehr.“

„Diese Reise nach Anduil birgt auch noch andere Pläne als die Segmentbesprechung.“

„Ich weiß, ich habe es bereits erfahren. Also stimmt es, dass ihr einen Ehemann für mich finden wollt, Mutter?“

„Ich wünschte mir nichts lieber, als dich an der Seite eines ehrenvollen Mannes zu sehen.“

„Ich …“, Hoshiko schluckte und sah auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß gefaltet hatte. „Ich wünschte mir auch nichts anderes. Ganz zu eurer Freude. Aber nun sollte ich zu Bett gehen.“

„Morgen wird ein langer Tag, meine Tochter. Und übermorgen werden wir sehen. Du brauchst deinen Schlaf, denn wenn du erstmal verheiratet bist, wirst du nachts nicht mehr oft schlafen können.“

Hoshiko verbarg ihr Entsetzen, indem sie eine Hand zu ihrem Mund führte. Nachdem sie sich abgemüht hatte, um sich wieder zu fassen, stand sie mit erhobenem Kopf auf und stolzierte ohne ein weiteres Wort davon. Vor der Gemachtür ihrer Mutter stieß sie die angehaltene Luft wieder aus und versuchte angestrengt ein Schluchzen zu unterdrücken. Es klang so fremd und so grausam, wenn ihr Vater und ihre Mutter über ihre Zukunft redeten. Die Zukunft an der Seite eines ewigen Fremden. Das war nicht das, was Hoshiko sich vorstellte.

Langsam, Schritt für Schritt, lief sie die Gänge entlang zu ihren Zimmern. Was waren ihre Wünsche und Pläne? Ganz zur Freude anderer zu Leben? Manchmal wollte sie auch für sich leben, ganz allein und ganz in Ruhe.

In ihrem Vorraum angekommen, schmiss sie eiligst die wartenden Hofdamen hinaus und warf ihnen noch einen letzten wütenden Blick zu, bevor sie die Tür ins Schloss fallen ließ. Sie raffte ihr rotes Seidenkleid und rannte ins Ankleidezimmer. Als sie sich die teuren Stoffe vom Körper riss, fiel eine kleine goldene Kette klöternd zu Boden. Es war die Clanskette. Ein Medallion, klein und unscheinbar. Es war leicht oval und in der Mitte war ein großer Rubin eingelassen. Wenn man es aufklappte, konnte man ein kleines Bild hineinstecken. Gleichzeitig würde eine Musik wie aus einer Spieluhr ertönen. Ja, dieses kleine Schmuckstück war mehr Wert als das Leben eines einzelnen Menschen, Zumindest hatte ihr Vater das immer gesagt.

„Ich möchte diese Kette dem schenken, den ich wirklich liebe. Nicht meinem zwanghaften Ehemann, dem nicht. Vielleicht wird der Mann ein Bild von mir darin tragen, ganz nah an seinem Herzen.“

Hoshiko seufzte und drehte das Medallion um. Auf der Rückseite war das Clansemblem eingraviert und signalisierte kurz den Herkunftsort der Kette. Feok-Akhami, Yonobawa.

Hoshiko zog müde ein Nachtgewand an und ging in ihr Schlafgemach. Die Kette legte sie auf ihren Nachttisch, damit sie immer wieder danach sehen konnte. Schließlich kuschelte sie sich unter die vielen Decken und schloss die Augen. Die Vorfreude auf Anduil war gesunken, aber dennoch konnte sie es nicht lassen, weiterhin daran zu denken.

Ein kleiner Junge stand in einem von Flammen gefüllten Zimmer und rief nach ihr. Lauter und leiser wurde seine Stimme. Sie schwoll an und verebbte wieder, weil das Feuer immer wieder wütend dazwischen fauchte oder ihn unterbrach. Er rief ihren Namen, oder doch nicht? Nein, nicht ihren Namen, aber er meinte sie, ganz sicher. Shiken? Wer war Shiken?

Hoshiko wachte auf, als eine der Hofdamen, die ihr zugeteilt waren, den Vorhang öffnete und das Licht hineinließ.

„Es ist Aufstehenszeit, eure Majestät.“

„Maika, geh bitte hinaus.“

„Aber, Prinzessin!“

„Maika!“

„Wie ihr wünscht, eure Hoheit.“

Hoshiko schaute an die Decke und fuhr mit dem Handrücken zu ihrer Stirn. Shiken. Noch einmal schloss sie die Augen und dachte nach. Feuer. Ein kleiner Junge. Shiken. Wer war Shiken? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Hoshiko En! HoSHIKo EN! Es war ihr Name, nur abgekürzt. Ein Kosename, es war ganz sicher ein Kosename. Wieder und wieder flüsterte sie wie gebannt diesen Namen, der ihr mehr und mehr gefiel. Allein die Art und Weise, wie der Junge sie gerufen hatte, ihren Namen benutzt hatte, ließ einen warmen Schauer über ihren Rücken laufen. Er war hübsch, aber klein, dennoch dünn und sehr stolz. Schwarzhaarig, grünäugig und er trug schwarze Sachen. Doch er war so unglaublich schön, dass es ihr den Atem raubte. Er hatte nur ihren Namen gerufen und in seinen Augen hatte sich nur ihr Gesicht gespiegelt. Besorgnis, Zuneigung, Angst, Hilflosigkeit, Entsetzen. Vielerlei Gefühle waren neben ihrem Gesicht in seinen Augen gewesen. Wie auf einer Welle waren sie ihr entgegen geschwappt. Doch es war ein wohliges Gefühl, zu wissen, dass dieser Junge nur sie gesehen hatte. Ihr wurde warm ums Herz, doch das verbesserte ihre Lage nicht. Sie erinnerte sich an das Gespräch mit ihrer Mutter. Heirat mit einem fremden Mann? Vielleicht hatte sie in diesem Traum verarbeitet, was sie sich so sehr wünschte. Zudem war der Junge ihr absoluter Traummann, das Maß aller Wünsche gewesen. So etwas konnte es nicht geben. Nein, das war viel zu absurd.

Traurig schlug sie die Bettdecke beiseite und streckte ihre Füße hinaus. Sie wackelte mit den Zehen und schaute trübsinnig zu ihnen hinunter, bevor sie endgültig aufstand. Wenn sie verheiratet werden sollte, dann musste sie es so geschickt einfädeln, dass sie den Mann (oder den Jungen) bekam, den sie auch wollte. Und da hatte sie schon jemanden ganz bestimmtes im Sinn, auch wenn es ihn nicht gab, da war sie sich sicher.

Als sie ins Ankleidezimmer kam, warteten dort fünf Hofdamen. Mehr als sonst. Wahrscheinlich auch deswegen, weil es heute etwas Besonderes war. Eine kam ihr sofort entgegengewuselt. Maika war schon immer ihre erste Hofdame gewesen. Heute würde sie ihr helfen, zu baden und sich hübsch zu machen, bevor die anderen vier unter großem Protest Hoshikos das Kleid ihrem Körper anpassten. Das würde wieder ein paar Schmerzen kosten.

Zunächst schlüpfte Hoshiko noch schnell ins Badezimmer. In diesen Raum folgte ihr wie erwartet nur Maika. Ihre Hofdame hatte bereits die Badewanne mit Wasser gefüllt und wartete darauf, dass die Herrin sich bequemte, hinein zu steigen. Hoshiko tat wie erwartet und ließ ihr Nachtgewand fallen, bevor sie sich in die Wanne setzte. Augenblicklich fing sie den Duft ihrer Lieblingskräutermischung auf. Das Wasser war parfümiert und auf der Oberfläche schwammen ein paar Rosen. Das sollte den Duft noch verstärken, erzielte bei Hoshiko aber nur Kopfschmerzen.

Maika schrubbte den Rücken ihrer Herrin mit viel Elan. Als würde solch eine Arbeit wirklich Spaß machen, dachte sich Hoshiko und seufzte, während sie eine vorbei schwimmende Rosenblüte anstupste. Einige Wellen verursachend trieb die Blume davon und hinterließ nur einen Schwachen Hauch ihres Duftes.

„Eure Majestät, wenn ich erwähnen dürfte?“, fragte Maika an. Sie sprach erst weiter, als Hoshiko ihr ein Zeichen gegeben hatte.

„Ich hörte in der Früh, dass man gedenkt, euch zu verheiraten.“

„So ist es.“

„Wenn ich mir einen Kommentar erlauben dürfte?“

„Nur zu.“

„Ihr seht unglücklich aus. Tut ihr es denn entgegen eures Willens?“

„Schweig, Maika. Das war undankbar.“

„Verzeiht, ich bin zu weit gegangen.“

„Wohl wahr“, bestätigte Hoshiko die Aussage ihrer Dienerin und seufzte noch einmal. Was sollte sie bloß tun, um diesem schrecklichen Schicksal zu entgehen?

Als Maika fertig war, konnte Hoshiko endlich diese unbehagliche Situation entkommen. Sie lief ins Ankleidezimmer und ließ sich dort in Handtücher hüllen. Nur noch heute, dann würde sie in Anduil sein. Dort fing das wahre Grauen erst wirklich an. Hoshiko wünschte sich, der morgige Tag würde niemals kommen, doch ihr wurde schon bald klar, dass die Zeit wie im Flug verging und sie schon sehr bald zusammen mit ihren Eltern in der Kutsche saß, die unweigerlich Hoshikos Untergang entgegen steuerte.
 

Hoshiko hatte die Beine angezogen und sah aus dem kleinen Kutschenfenster auf ihrer Seite. Neben ihr saß ihr Vater und unterhielt sich mit Katsuo, Hoshikos drei Jahre älterem Bruder. Worüber, wusste sie nicht und um ehrlich zu sein, wollte sie es auch nicht wissen. Wahrscheinlich redeten sie über irgendwelche clansinternen Streitigkeiten, die es zu beseitigen galt. Sie verstand das eh nicht, sie war zu jung, sie war eine Frau. Das waren einige der Begründungen gewesen, mit der man sie beim letzten Mal abgespeist hatte. Ja, sie war jung und ja, sie würde es sicherlich nicht verstehen, aber das bedeutete ja nicht, dass man es ihr nicht erklären konnte! Und warum war es bitte so schlimm eine Frau zu sein?

In Gedanken gab sie ihren männlichen Familienmitgliedern eine Ohrfeige. Doch was konnte Hoshiko anderes tun? Würde sie ihre Belange vortragen, würde man sie auslachen oder noch schlimmer, man würde sie als eine Schande ansehen. Frauen waren nichts weiter als hirnlose Gebärmaschinen und bildeten eine reine Zierde für den Mann, der natürlich das Wichtigste war, was die Welt zu bieten hatte. Die Bitterkeit ihrer Worte erschreckte sie. Wann hatte sie angefangen gegen die Vorschriften zu rebellieren? Man hatte ihr von morgens bis abends eingebläut, dass sie weniger wert war, als der Dreck der Straße. Selbst mit dem Rang einer erstgeborenen Prinzessin eines Clans war ihr Wert wahrscheinlich nur von Dreck auf Ungeziefer gestiegen. Dem hatte man immerhin das Leben anerkannt und darüber sollte man als Frau froh sein.

„Hoshiko En!“

Hoshiko zuckte zusammen und drehte sich um. Rechtzeitig, um das wütende Gesicht ihres Vaters zu sehen. Sie sah ihm ungehindert in die Augen, was ihn zur Weißglut trieb.

„Junges Fräulein, wäre es nicht angebracht, sich langsam wie eine Dame zu benehmen? Was soll das denn hier schon wieder sein? So zu sitzen schickt sich nicht! Und sie dir doch nur dein Verhalten an. Du beschmutzt schon wieder meine Ehre. Was denkst du eigentlich, wer du bist?“, meckerte ihr Vater so laut, dass sie sich die Ohren zu hielt. Das wiederum war keine gute Idee, denn ihr Vater dachte wohl, dass sie seine Strafpredigt nicht hören wollte, weswegen er umso lauter brüllte.

„Du hast nicht das Recht, dich so zu verhalten!“, schrie er und hob drohend den Zeigefinger seiner rechten Hand, mit dem er sogleich herumfuchtelte, als wäre er ein Dolch.

„Aber Vater, nicht so laut!“

„Sei still! Bist du dir im Klaren, dass du mich unterbrochen hast und dich mir widersetzt?“

„Das wollte ich doch gar nicht!“

„Ruhe!“

Hoshiko zuckte zurück und sah hilfesuchend zu ihrer Mutter hinüber, doch die wandte nur schnell den Blick ab. Kaori liebte ihren Mann Kichiro, weswegen sie ihm niemals widersprach. Bei ihr kam ihr Mann an allererster Stelle und wenn er etwas behauptete, so stimmte sie ihm immer zu. Auch wenn er einmal gegen sie wetterte, so nahm sie es hin und entschuldigte sich. Das war Kaori und wahrscheinlich niemand auf der Welt konnte ihr das verübeln, nachdem ihr Clan sie verbannt hatte, weil sie Kichiro erwählte. Er war ihre einzige Lebenschance.

Verzweifelt wanderte ihr Blick zu Katsuo, der lediglich grinste und aus dem Fenster auf seiner Seite der Kutsche sah. Ja, von ihm durfte sie keine Hilfe erwarten. Er war immer froh darüber, wenn er mal keinen Ärger bekam, obwohl er eh nie viel bekam.

Hoshiko machte ein finsteres Gesicht und sah aus ihrem Fenster. Sollte ihr Vater doch meckern. Wenn sie erst einmal in Anduil war, konnte sie nichts mehr aufhalten. Sie würde dafür sorgen, dass sie einen Mann fand, bei dem sie leben konnte und dann würde sie fliehen. Das war zumindest ihr Plan, doch sie war sich gar nicht mal so sicher, ob er auch funktionieren würde. Die meisten Männer, oder eher Jungs, in ihrem Alter lebten noch bei ihrer Familie und hatten keine Ahnung von der großen weiten Welt und ihrer Funktion.

Hoshiko wusste instinktiv, dass ihr niemand, außer einem hohen Bürgerlichen, gefallen würde, da sie dort noch einen Großteil der Annehmlichkeiten besitzen würde, die sie nun auch hatte. Einem Bauer konnte sie unmöglich die Hand reichen, denn er könnte sie kaum ernähren, geschweige denn ihr überhaupt annähernd ein gutes Leben finanzieren. Sie hoffte auf einen guten Mann, oder Jungen, der ihr womöglich aus dieser misslichen Situation helfen könnte.

Langsam bemitleidete sie sich in den Schlaf und wartete dort, von Alpträumen geplagt, auf die Unheil verkündende Stunde ihrer Ankunft in Anduil.



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Kommentare zu dieser Fanfic (12)
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Von: abgemeldet
2008-08-10T21:31:01+00:00 10.08.2008 23:31
Huhu^^
Das war hammer geiles Kapi und schön ausgefüllt.
Das Mädchen tut mir leid.
Verlobt zu werden und dann noch mit einem Fremden,
ist ja eine Zwangsverlobung.
Hoffe sie schafft es ihren Plan in die Tat umzusetzen^^

Der Junge aus dem Traum,
war doch Akuma oder Shin,
denn sie sind ja Zwillinge :)
So, bin schon mal gespannt,
wie es weiter geht.
Bis zum nächsten mal und gute Nacht^^
Lg Kelly

Von: abgemeldet
2008-08-10T21:04:08+00:00 10.08.2008 23:04
Wow, also wenn das vorhige Kapitel nicht schon lang war,
was ist dann dies?!
Ich glaube ich habs:
Mega voll lang, aber echt jetzt!
Wobei ich das super so finde^^
Dein Kapi fand ich richtig gut
und es ist dir auch super gelungen :)
Einfach Hammer^^
Werd dann mal weiter lesen *freu*
bye bye

PS: Weiter so^^

Von:  kariyami
2008-08-09T20:04:08+00:00 09.08.2008 22:04
Hallöle,

zunähst einmal freue ich mich das es weiter geht.

Der Junge in ihrem Traum ist doch bestimmt Akuma.

Zwangverheiratung und Sehnsucht nach dem Traumprinzen. Ich hoffe nur du machst aus deiner Fanfic nicht so ne Kitschstory.



kariyami
Von: abgemeldet
2008-08-07T19:17:35+00:00 07.08.2008 21:17
Wow, war richtig schön lang das Kapi
und es ist die wahrlich gut gelungen^^
Gut gemacht.
Ich finde es klasse,
wie schnell der Junge lernt
oder eher gesagt, was er alles drauf hat.
Wie zum Beispiel die Kamikaze vor 700 Jahren zu kennen^^
LG I-netCat
Von: abgemeldet
2008-08-07T19:15:47+00:00 07.08.2008 21:15
Hi
Klasse Kapitel,
hat mir sehr gut gefallen.
Ich finde es gut,
dass du die Wörter am Ende des KApitel erklärst,
was manches vereinfacht^^
bye bye
Von: abgemeldet
2008-08-07T19:14:11+00:00 07.08.2008 21:14
Hey :)
Super Kapitel und eine gut Einleitung in eine Geschichte^^
Hab mich gerade durch drei deiner Kapitels gelesen
um einen Eindruck von deine ff zu kriegen
und ich muss sagen sie gefällt mir :)
Besser gesagt sie hat mich neugierig gemacht.
Lg I-netCat
Von:  FluseWischmop
2007-03-25T16:38:22+00:00 25.03.2007 18:38
Wow cool, du ziehst gut durch die Handlung! An einigen Stellen finde ich den Ausdruck etwas ungünstig, aber alles in allem ist es wirklich toll! Wenn du genaueres wissen willst, schreib mir!
Es ist sehr spannend und ich will dringend wissen, wie es weitergeht! Könnte ich dir Noten geben, wie bei den Fanarts, hättest du jetzt ne 1
Von: abgemeldet
2007-03-24T15:51:44+00:00 24.03.2007 16:51
ui...die ist aba schön geworden!
Am anfang bissl verwirrend für mich dauer-aufm-schlauch-stehende, aber dann gings doch, höhö ^o^
Von: abgemeldet
2007-03-18T13:01:06+00:00 18.03.2007 14:01
wow...die geschichte ist schön...aba auch irgentwie traurig....aba was ich nicht versteh...das kursiv geschriebene am anfang ne, das is ja wirklich passiert und der typ hat ja dann die erinnerung der beiden gelöscht ne, hat der das dann nomma geträumt und is dann aufgewacht und hat sich wieda erinnert?...oda hab ich da wat falsch verstanden....sorry steh da wohl etwas aufm schlauch xD
aba die geschichte gefällt mia^^
Von: abgemeldet
2007-03-12T19:24:34+00:00 12.03.2007 20:24
wieder ne echt geile story! war zwar am anfang etwas verwirrend fand ich, das legte sich aba schnell ^^
finds toll wie du dir immer sowas ausdenkst!


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