Der Park liegt verlassen im Mondlicht und nur auf der Bank direkt neben der alten Eiche sitzt ein Mann. Die eisigen Temperaturen scheinen ihn nicht zu stören. Er regt sich nicht. In unregelmäßigen Abständen stößt er Dunstwölkchen aus, die ihm allerdings beinahe sofort durch den peitschenden Wind von dem Lippen gerissen werden. Er schluchzt geräusch- und lautlos.
Vor zwei Tagen ist der junge Soldat in der Stadt aufgetaucht. Ich habe es von meiner Oma gehört, die wiederum hat es von ihrer Arbeitskollegin erfahren. Ich selbst sehe den Mann zum ersten Mal. Er ist vielleicht 20 Jahre alt, nicht viel älter, aber der Krieg hat ihn ungemein schnell altern lassen und tiefe Furchen in seine Züge gegraben. Dieser unglückselige Krieg hat ihn gebrochen.
Ich überquere gerade den Bach als der Soldat müde den Kopf hebt und mich aus trüben Augen heraus ansieht. Sein Blick erfasst mich nicht einmal, er blick einfach nur durch mich hindurch. Erschrocken bleibe ich stehen, doch da ich merke, dass er mich gar nicht wahrzunehmen scheint, setze ich meinen Weg fort.
In der Ferne schlägt die Turmuhr: Dong, Dong, Dong. Welch furchteinflößendes Geräusch in dieser toten Stadt. Dong, Dong, Dong. Ich zähle die Glockenschläge, acht Stück sind es. Ich werde wohl mal wieder zu spät kommen und Mutti wird wieder schimpfen. Aber immerhin war es ihre Idee gewesen, dass ich noch mit Fritzi rausgehen sollte. Fritzi ist unser Hund, einer der Sorte, die meine Mutter immer, alles andere als liebevoll, Straßenköter nennt. Er ist uns vor wenigen Wochen erst zugelaufen und nach einer nicht enden wollenden Diskussion hat meine Mutter dann auch zugestimmt und ich durfte ihn behalten. Glücklich ist sie allerdings nicht darüber, aber das hat bei ihr nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Seit mein Bruder Josef im Krieg gefallen ist, hat sie nicht mehr gelacht, zumindest nicht, dass ich es mitgekriegt hätte und ich kann sie verstehen. Josef ist das Herz unserer Familie gewesen. Meinen Vater habe ich nicht kennengelernt. Gott hat ihn zu sich gerufen, bevor ich geboren wurde und dementsprechend kann ich nicht nachvollziehen wie meine Mutter sich fühlen muss. Josef ist für mich nicht nur mein Bruder, sondern auch eine Art Vater gewesen. Jetzt habe ich nur noch Fritzi, den kleinen grauen Mischling, mit dem struppigen Fell und dem sonnigen Gemüt. Fritzi hat sehr viel Spaß bei diesem abendlichen Spaziergängen, ich wiederum möchte eigentlich nur nach Hause.
Ich bin jetzt auf einer Höhe mit dem Soldaten. Würde ich dem Weg jetzt nach links folgen, was definitiv der kürzere Weg wäre, würde ich direkt an ihm vorbei müssen. Ich denke ich sollte wohl geradeaus laufen, so muss ich nicht an ihm vorbei. Aber gerade als ich diese Entscheidung treffe und loslaufen will, spricht der Soldat mich an. Mein Kopf fliegt herum. Diesmal sieht er nicht mehr durch mich hindurch, sondern er schaut mich durchdringend an.
„Du Junge, komm her!“
Ich zucke zusammen. Ich bin unfähig auch nur einen Schritt zu tun, aber der Mann lässt nicht locker.
„Komm schon, Junge!“
Innerlich schüttle ich den Kopf. Ich will nicht zu ihm hinüber gehen, aber ich tue es trotzdem. Ich verstehe nicht warum ich es tue. Meine Beine bewegen sich wie von selbst, als wäre der Befehl des Soldaten direkt von seinen Lippen in meine Glieder gefahren und hätte dabei mein Gehirn übersprungen. Der junge Soldat lächelt mich an.
„Wie heißt du, Junge?“, fragt er mich.
„Hermann!“, antworte ich spontan. Ich schlage mir mit der Hand vor den Mund. Ich bin es gewohnt, wie aus der Pistole geschossen zu antworten.
„Hermann?“, der Soldat grübelt, als würde er in seiner Erinnerung graben. Dann schüttelt er den Kopf. „Ein starker Name!“
Ich will ihn nicht drängen, aber langsam werde ich nervös. Er scheint zu bemerken, dass ich wenig Zeit habe. Er legt den Kopf schräg und lächelt mich sanft an. Dann blickt er Fritzi an und plötzlich wendet sich sein Blick, er sieht nun wieder traurig aus und sein Blick ist verklärt.
„Ein schöner Hund! Wie heißt er?“, er schaut mich nicht an. Er blickt nur die ganze Zeit zu dem Hund hin.
Diesmal zögere ich bevor ich antworte, dann flüstere ich: „Fritzi!“
Als der Soldat nicht direkt antwortet mutmaße ich, dass er mich nicht verstanden hat und will schon erneut ansetzen, aber er unterbricht mich.
„Fritzi? Das ist ein richtig guter Name für ein solches Tier. Ich hatte auch einmal einen Hund, er ist diesem nicht unähnlich. Er war mein treuester Freund. Das ganze Regiment hat ihn geliebt. Sag mal, Hermann, wenn du es dir aussuchen könntest, würdest du dienen?“
Ich schaue ihn fragend an. Ich kann seinen Gedankengängen kaum folgen, noch dazu habe ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht. Ich bin doch gerade mal 12 Jahre alt. Der Mann scheint meine Verwirrung zu begreifen.
„Wenn ich es im Nachhinein betrachte, hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich es nie getan. Aber so bin ich Freude strahlend in mein Unglück gerannt!“
Ich schweige. Der junge Soldat tut mir leid, aber was soll ich ihm sagen. Ich habe keine Ahnung von den Dingen, von denen er da redet.
„Jahrelang war ich von Zuhause fort und einzig die Hoffnung, meine Familie wieder zu sehen hielt mich am Leben.“
Er schluchzt, wischt sich kurz über die Augen und fährt dann fort: „Aber ich habe keine Familie mehr, mein Haus steht nicht mehr. Ich habe alles verloren und auf dem Weg in diese Stadt verreckt mir auch noch mein Hund.“
Er lacht hart und humorlos. „Und weißt du was das Lustigste ist?“
Ich schüttle den Kopf, woher soll ich das wissen. Außerdem sieht er nicht aus als wäre ihm nach scherzen zumute.
„Der Verlust des Hundes hat am meisten geschmerzt!“
Wieder lacht er kurz, dann sieht er mich fragend an, aber mir ist nicht nach lachen zumute. Es stimmt mich immer trauriger. Ich will murmeln, dass es mir leid tut, aber ich kann es nicht. Ich starre ihn nur weiter an.
„Diese Arbeit macht einsam. Es entfremdet. Du sag mal, kann ich dir ein paar Fragen stellen?“
Wieder kommt diese Frage so plötzlich, dass ich fast bejaht hätte, aber im letzten Moment beherrsche ich mich. Stattdessen erwidere ich: „Ich muss nach Hause, meine Mutter wird bestimmt wütend.“
Mittlerweile ist es merklich kühler geworden und ich schließe die Knöpfe meiner Jacke, einfach um meine Hände in Bewegung zu haben und sie nicht nutzlos herunter hängen zu lassen.
Wieder sieht er mich traurig an: „Es dauert auch nicht lange!“
Ich nicke, mittlerweile ist es sowieso zu spät, also ist es auch egal, ob ich mir noch eine Viertelstunde Zeit lasse.
„Nenn mir eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Geschichte?“
Die Frage war leicht, beinahe ohne mein Zutun antworte ich: „Darwin!“
Wir haben die darwinistische Lehre gerade erst in Biologie durch genommen. Ich finde das nicht wirklich interessant, aber unser Lehrer hat uns eingetrichtert, wie wichtig sie ist. Dabei hat er immer wieder den Begriff der "natürlichen Auslese" betont.
Der Soldat mustert mich mit einem schwer zu definierenden Blick, dann fragt er erneut: „Und wessen Bücher sollten wir nicht lesen sondern lieber verbrennen, weil sie nur die Unwahrheit erzählen?“
Er hat jetzt diesen Ton in der Stimme, denn auch mein Lehrer vollends beherrschte.
Wie aus der Pistole geschossen antworte ich: „Kästner!“
Nun misst er mich mit einem traurigen Blick, das macht mich wütend.
„Ich muss jetzt wirklich gehen!“, antworte ich lauter als es nötig gewesen wäre.
Er scheint meine Wut verstehen zu können, denn er lächelt sanft: „Eine Frage noch, Hermann! Glaubst du das, was du da erzählst?“
Diese Frage verwirrt mich, ich kenne die Antwort nicht. Es gibt keine Antwort, die wie aus der Pistole geschossen aus meinem Mund hervorspringen kann. Ich schweige.
Der Soldat lächelt zufrieden: „Mach dir keine Sorgen, Junge. Viele Menschen kennen die Antwort nicht. Auch ich habe diese Antwort erst gefunden, als ich vor den Scherben meines Lebens stand. Kennst du eine Geschichte von Erich Kästner?"
Ich schüttle den Kopf.
„Und trotzdem meinst du zu wissen, dass das was er erzählt Unsinn ist?“
Ich schweige, er hat ja Recht!
„Wenn du dich selbst damit beschäftigt hättest und es für Unsinn halten würdest, dann ist das Meinung. Wenn du aber nur wiedergibst was dir gesagt wird, dann ist das Gehirnwäsche.“
Ich grüble über seinen Worten. Sollte denn alles was ich je gelernt habe falsch sein?
„Hörst du Musik?“
„Ja!“, ich lächle; das ist mein Thema.
„Wenn irgendwer sagen würde, deine Lieblingstruppe ist ab morgen verboten, weil ihre Texte nicht der öffentlichen Meinung entsprechen. Würdest du sagen, die Leute hätten recht?“
Ich schüttle mit dem Kopf: „Natürlich nicht!“
Sein Blick klärt sich auf: „Das ist Meinung!“
Ich bin nun verwirrter, als ich es jemals zuvor in meinem Leben war.
Vollkommen durcheinander schaue ich ihn fragend an, aber er schüttelt den Kopf: „Nein! Ich weiß du bist verwirrt, aber ich kann dir deine Frage jetzt nicht beantworten. Das musst du selbst tun. Außerdem solltest du nach Hause gehen. Ich habe dich lange genug in Beschlag genommen, deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen!“
Ich rühre mich nicht von der Stelle.
Der Soldat lächelt zwar, aber ganz plötzlich schlägt seine Freude in Wut um. Er schreit mich an: „Nun verschwinde schon!“
Ich erschrecke und laufe davon. Fritzi rennt mir hinterher.
Am nächsten Morgen gehe ich wieder in den Park. Natürlich ist meine Mutter sehr sauer gewesen und natürlich habe ich eine Tracht Prügel bekommen, aber es ist mir egal. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt und ich habe nicht eine Antwort auf meine Fragen bekommen, mir sind im Gegenteil dazu noch viel mehr Fragen gekommen. Ich muss noch einmal mit dem jungen Soldaten reden.
Als ich zu der Parkbank komme liegt diese verlassen, der Soldat ist verschwunden und die Eiche nickt still im Herbstwind.
Wohin er wohl gegangen ist?