The past's past.
Vorwort des Autors:
Wie viele Worte soll man denn schon über ein Drama verlieren? Eines oder doch lieber keines? Kann der Wert eines Nomens, Verbs oder Adjektivs jemals widerspiegeln, was der unsichtbare Federkiel in der Seele auf einem zerfallenden Blatt festhielt?
Mir ist die Antwort hierauf ebenso fremd wie oftmals die Überlegungen meiner Charaktere. Möglicherweise existieren ja Autoren, die die Fähigkeit besitzen die Worte zu steuern. Ich kann es nicht, denn sie steuern mich.
Euch allen, die ihr diese Geschichte lest, eine gute Nacht.
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Alle Rechte an den Charakteren besitzt Rumiko Takahashi.
Eine Vergütung nehme ich hierfür nicht entgegen.
Diese Geschichte ist all denen gewidmet, die solche Gedanken und Träume teilen.
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"Ein Gedanke", von Deepdream.
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"Die Wirklichkeit schmeckt erst nach mehreren Gläsern. Und selbst dann übersteigen die Träume die Süße des Alkohols bei weitem." (Ein Niemand von vielen.)
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Ab welcher Temperatur gefrieren Tränen?
Ist diesen transparenten Kugeln diese Fähigkeit überhaupt zu Eigen?
Wenn nicht, was hindert sie dann daran zu klaren Perlen aus Eis zu werden?
Ihr Salzgehalt oder doch die Körpertemperatur des Menschen, der sie verliert?
Weshalb müssen wir Menschen jedoch so häufig weinen?
Warum röten oftmals eher die Augenränder, als dass die Zeichen der Verbitterung abebben?
Wieso nur pflastern sie meinen beschwerlichen Weg aus Zorn und Traurigkeit?
Stellen sie den Grund meiner innerlichen Leere dar?
Oder bin ich lediglich zu schwach, sie zu bekämpfen?
Kann ich mir diese seelische Zerbrechlichkeit überhaupt leisten?
Ich hoffe es, doch bin ich mir nicht gewiss.
So wenig, wie mir wirklich klar ist, welchen Grund meine Präsenz hier hat.
Seit jeher stand ich für den Inbegriff eines unfreiwilligen Eremiten. Eines Einzelgängers.
Eine unbeachtete Person, um die sich niemand schert und die ebenso wenige Leute kennen.
Ein trauriges Schicksal? Keineswegs, alles steht und fällt irgendwann unter dem erdrückenden Gewicht der Gewohnheit.
Das ist traurig und so wahr wie die salzigen Tränen, die im Moment an meinen Wangen herabfließen und die darunter befindliche Haut beißende Pein verspricht.
Was habe ich eigentlich getan, um so viel Leid zu verdienen?
Es grenzt doch an Agonie, oder etwa nicht?
Oder bin ich längst neurotisch und nahe eines Nervenzusammenbruchs?
Vielleicht bilde ich mir mein ganzes bisheriges Leben ja nur ein.
Es wäre schön, zu schön um wahr zu sein.
Wahrheit, ein Wort mit so vielen versteckten Bedeutungen und Lügen durchsetzt.
Warum benutzen wir es dann aber so häufig? Lassen nicht ab von diesem ausgebleichten Begriff, der eine solche Unsumme an Antworten birgt und dennoch seine einzige angebliche Bedeutung verkennt. Aber das ist dann wohl Destination, Bestimmung. Nie zu wissen, worin die gesuchten Antworten auf ungestellte Fragen versteckt liegen.
Meine Schritte hallen so voll.
Werden zurückgeworfen von den bestrichenen Beton- und Natursteinwänden.
Werden gleichermaßen reflektiert wie Sonnenstrahlen von der Oberfläche eines Teiches.
Werden ebenso wenig beachtet wie ich selbst, ein Fremder in der Fremde.
Als ich vor vielen Jahren noch die Schule besuchte, ich erinnere mich, als wäre es erst am gestrigen Tage geschehen, hatte unser Lehrer das Thema Aussätzige aufgegriffen.
Für gewöhnlich war er ein lustiger Mann mittleren Alters: leicht grau melierte Schläfen und eine Eulenbrille, wie wir seine optische Hilfe damals amüsiert benannt hatten. Auch hatte er trotz seines Ausbleibens von Schärfe und sturem Ernst eine Aura der Autorität und Zuversicht ausgestrahlt. Wenn ich mich recht entsinne, handelte es sich bei ihm um den Menschen, der noch am ehesten je meinen Respekt genossen hatte.
An diesem schwülen Sommertag, im Halbdunkel herabgelassener Jalousien und dem freudigen Zwitschern der Vögel, hatte er keinen seiner einfachen, dennoch humorvollen Witze gerissen. Man merkte, dass dieses Themengebiet etwas sehr persönliches für ihn symbolisierte. Der Grund dafür ist mir bis heute nicht ganz klar, aber in aller Ehrlichkeit, ich möchte ihn auch nicht wissen. In seinem ruhigen, geduldigen Bariton hatte er angefangen uns darüber zu berichten. Er sprach langsam und betont, wir alle schenkten ihm vollste Aufmerksamkeit. Selbst mein inzwischen langjähriger Rivale um Kampf wie Liebe hatte vor Konzentration die Stirn gerunzelt. Ein unübliches Verhalten für ihn, nichtsdestotrotz ein erfreulicher Umstand.
Durch die weißen Reflexionen spärlichen Sonnenscheins auf den Brillengläsern hatte er uns nach Beendigung seines Vortrags der Reihe nach angesehen. Jeden einzelnen. Und dann begann er uns danach zu befragen, was wir denn unter aussätzig verstünden. Die meisten meiner Klassenkameraden legten ihre Stirn in Falten und kamen dennoch zu keiner zufrieden stellenden Antwort. Ich hingegen ließ Revue passieren, was er uns in seinem mündlichen Bericht mitgeteilt hatte. Die Erwähnungen von Obdachlosen, Kranken und Vertriebenen. Und die Frage, die er stellte, handelte von dem einen Schicksal, das sie trotz ihrer Verschiedenheit alle teilten.
Im Augenblick als ich meinen Finger hob, merkte ich erst, wie sehr er zitterte. Weshalb wohl, so dachte ich beim Anblick meines vibrierenden Zeigefingers. War ich wohlmöglich dermaßen aufgeregt? Oder war es einfach nur diese unbestimmbare Intuition, die einem zusicherte, dass die eigene Antwort definitiv die Richtige war? Früher hatte ich keine Antwort darauf gefunden, heute lasse ich diese Frage ruhen, im Grab meiner Vergangenheit.
Der Lehrer war auf mich aufmerksam geworden und musterte mich ungewöhnlich lange, ehe er mich aufrief. Hinter den offenen, doch undurchsichtigen Fenstern intonierte in eben diesem Moment ein Vogel seinen Vers der Symphonie des Windes.
Ich ließ mich davon hinfort tragen, in eine phantastische Welt aus reinem Licht. Ein Paradies, in dem Zwang keine Existenzberechtigung, und Kummer keinen Platz hatte. Zu einer wie Zinnober schimmernden Oase, in der sich die untergehende Sonne selbst betrachtete. Ein Ort, an dem für alle genug Raum war, sowohl für die Akzeptierten, wie auch die Ausgestoßenen. Für diese Periode von wenigen Wimpernschlägen hatte ich das unverfälschte Bild einer meerblauen Lagune vor mir, in der eine gebrechliche Oma ebenso badete wie auch ein kleiner Junge mit nur einem Arm, während ein Mann ohne Habe ihm liebevoll über das nasse Haar streichelte. Ein Elysium. Ein wunderschöner Traum.
Mit einem leichten Räuspern brachte mich mein Lehrer wieder zurück in die Gegenwart, in die schmutzige Realität. Trotz dessen breitete sich ein lebendiges Lächeln über meine sonst so abwesenden Züge aus, und ich sprach ohne jede Bedrückung, die sonst lastend auf meinem Herzen lag. Ich gab nur ein einziges Wort von mir. Für eine Sekunde schien alles zu verharren. Die Sekundenzeiger der rot umrahmten Plastikuhr, die aufgeregten Versuche meiner Mitschüler, sich zu melden und mein Lehrer in seinen Bewegungen.
Für manch einen bedeutet es nur eine Ansammlung von Konsonanten und Vokalen. Für manch anderen hält sich darin die Erklärung für Jahre der Verdammnis versteckt.
Bedächtig pflegte er an diesem unnatürlich warmen Tag zu nicken und fasste sich in Gedanken versunken an sein rasiertes Kinn.
Ja, so äußerte er sich versonnen, dies ist wohl der beste Ausdruck für all deren Schicksal. Einsamkeit, meinte er und dehnte die Silben auffällig lange, bete, dass du sie nie wirst erdulden müssen.
Und ich betete inbrünstig seit diesem Tage. Daher bin ich mir darüber im Klaren, dass es keinen Buddha, Jehova oder Zeus gibt. Im Grunde unseres Herzens sind wir alle einsam und nur eines kann uns vor diesem Karma erretten. Kein übermenschliches Wesen, das kaltherzig und ungeachtet unserer Interessen uns einst auf diesen Planeten warf. In einer Facon, als würde er, sie oder es, lediglich Samen auf einem gepflügten Acker säen, um die Ernte irgendwann einmal, wenn die Dämmerung graut, wieder einzufahren. In vielen, vielen Millionen von Jahren. Nur ein Mittel existiert de facto, das uns aus dem zerfallenen Kerker der Isolation führt und uns eröffnet, was Freiheit tatsächlich bedeutet. Wir selbst und die Nähe zu uns liebenden Menschen.
Die berühmten metaphorischen Schwingen aus Daunen- und Schwungfedern, die Dichter und Philosophen nur allzu gerne in ihren Werken verwenden - wenn es diese majestätischen Flügel denn je gab, zieren in der Moderne nicht mehr unsere Rücken. Wir selbst lösten uns von ihnen, nicht sie sich von uns. Wir gaben das Leben als Engel auf, um auf Erden Glück zu erstreben. Und wir finden es, indem wir mit einem anderen gefallenen Engel die Geheimnisse unserer Seele entdecken. Somit steht am Schluss meiner Überlegungen nur eine Erkenntnis fest. Nur eine, nicht mehr und auch nicht weniger. Wir sind keine Engel, aber Menschen. Nur mit und durch uns selbst können wir erleben, was es bedeutet, einst Flügel besessen zu haben. Schwingen voll Reinheit und Sünde teilen wir untereinander, lernen wir unsere Seelen auszubreiten, und das schlichte Extrakt daraus nennt sich der Schlüssel zum Geheimnis unserer Herkunft. Die Liebe. Der Bezwinger der Einsamkeit.
Und mit diesen Überlegungen mache ich mich nunmehr auf den Rückweg. Auf zu meiner Liebe und meinem Schlüssel. Mache mich bereit, mein Herz zu geben und im Gegenzug das Paradies zu erhalten. Ob mein Flehen am Ende unerfüllt bleibt oder Früchte trägt, ist ein anderer Gedanke. Und solange die Wärme der Hoffnung in mir und der Schatten der Wahrheit mir fern bleibt, werde ich noch viel Zeit haben, diesen zu pflegen und zu hegen. Auf dass er blüht und gedeiht und mir eine Antwort auf das Schicksal verleiht.
Ich bin mir sicher, mein Lehrer wäre stolz auf mich gewesen. Wäre er noch am Leben, dann wäre er mit Sicherheit stolz gewesen.