NEON GENESIS EVANGELION : DIMENSIONEN basiert auf purer Fantasie. Sämtliche
Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind reiner Zufall.
Sämtliche Urheberrechte und Copyrights der originalen NEON GENESIS EVANGELION
liegen bei GAINAX.
Autor: Thomas Ryssel, Radebeul 2002
EMail: ThomasRyssel@web.de oder eastsoft@tripod.de
HP: http://www.eastsoft-online.de
Dimensionen im Netz: http://nge-dimensionen.eastsoft-online.de
Lang, lang ist's her seit dem letzten Kapitel. (Februar, glaube ich...)
Dafür will ich euch jetzt auch nicht lange stören, sondern euch lesen lassen
Mit diesem etwas umfangreicheren Werk haltet ihr im Übrigen das erste Kapitl
des dritten Buches von Dimensionen in den Händen.
Also dann noch viel Spaß.
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Neon Genesis Evangelion
Dimensionen
Buch 3: Schmerz
Kapitel 11: Opfer
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"Satzball für Karin Maishima!" hallte die Stimme des
Stadionsprechers durch die große Halle. Die Menge tobte. Ein
Meer aus bunten Köpfen und T-Shirts wogte um den Rand des
Tennisfeldes. Die riesige Anzeigetafel wies mit rot leuchtenden
Ziffern den Punktestand von 30 zu 30 aus, das sechste Spiel im
dritten Satz. Die nächste Angabe konnte über Sieg und Niederlage
entscheiden. Dementsprechend angespannt war auch die Stimmung im
Stadion. Keiner der Zuschauer wagte es, auch nur einen Laut von
sich zu geben. In der Ferne hörte man ein paar Spatzen, völlig
unbeeindruckt von der Situation hier drinnen, ein fröhliches
Lied zwitschern. Die Grillen zirpten in der Mittagshitze. Das
Spiel ging nun schon seit beinahe zweieinhalb Stunden.
Doch Kensuke hatte weder Augen noch Ohren für das, was um
ihn herum geschah. Seine Blicke konzentrierten sich allein auf
Karin. Das Mädchen war eine begnadete Tennisspielerin, doch im
Moment besaß sie einen entscheidenden Nachteil: Sie spielte mit
Blick in die Sonne. Aus diesem Grund war sie während des letzten
Satzes auch nicht mehr so herausragend. Nachdem der erste Satz
bereits nach einer halben Stunde an ihre Gegnerin gegangen war
und das Publikum sich bereits mit einer langweiligen Vorstellung
abfinden wollte, hatte sie im zweiten eine atemberaubende
Aufholjagd gestartet. Sie und ihre Konkurrentin schenkten sich
nichts und so gewann Karin den zweiten Satz knapp. Doch durch
ihre kämpferische Art hatte sie eine Menge Sympathisanten unter
den Zuschauern gefunden. Kensuke war natürlich von Anfang an auf
ihrer Seite gewesen. Doch das Resultat nach dem mehr als eine
Stunde dauernden Satz war, dass beide Spielerinnen sichtlich
erschöpft in den dritten Satz gingen. Und dieser dauerte nun
auch schon wieder fast eine ganze Stunde. Man hatte das Gefühl,
die beiden würden sich lediglich durch ihren puren Willen auf
den Beinen halten.
Kensuke schrak zusammen, als plötzlich (oder besser:
endlich) der Pfiff des Schiedsrichters erfolgte. Karin warf den
Ball in die Luft, holte mit dem Schläger aus und beförderte die
gelbe Kugel mit einem mächtigen Schlag über das Netz.
Augenblicklich schien sie alle Müdigkeit einfach abgeschüttelt
zu haben. Kensuke hatte nach den letzten Minuten erwartet, die
Vorgänge unten auf dem Feld mehr oder weniger in Zeitlupe
beobachten zu können, doch nun lief alles in rasender
Geschwindigkeit ab. Der Ball schoss von einer Seite zur anderen
und lange Zeit schien es, als hätte keine der beiden
Konkurrentinnen einen Vorteil. Vor allem Karin schien plötzlich
über eine Energie zu verfügen, die sie irgendwie aus dem Nichts
schöpfte. Erneut raste der Ball in atemberaubendem Tempo auf sie
zu, doch sie holte bereits wieder aus, traf den Ball zielsicher.
In diesem Moment schien die Welt um Kensuke herum in
Flammen aufzugehen. Eine gleißende Explosion mit Karin in ihrem
Zentrum breitete sich vom Spielfeld aus und hatte bald auch ihn
in weißes Licht eingehüllt. Merkwürdigerweise fühlte er keine
Schmerzen. Doch er hörte ihren Schrei. Karin in einer Mischung
aus Agonie, Trauer und Enttäuschung. Durch das blendende Licht
konnte er nichts erkennen und es dauerte einige Augenblicke, bis
es wieder nachließ. Zurück blieb ein Meer aus tiefrotem Feuer.
Das Stadion war verschwunden, nur eine schwarze Leere schien
durch die haushohen lodernden Flammen.
Kensukes Augen starrten weit aufgerissen auf das grausige
Bild, welches sich ihm bot. Erst nach und nach konnte er die
zerfetzen Körper sehen, die in den Flammen lagen und mehr und
mehr verkohlten. Und wie eine schwarze Fratze starrte ihn Karins
schwarzes Gesicht mit rot glühenden Augen an. Sie sagte nichts,
doch er wusste genau, was ihr Blick ausdrücken sollte.
"Du hattest versprochen mich zu beschützen. Du hast es
nicht getan. Du hast versagt."
***
Kensuke atmete tief durch und blickte ungläubig in die
schwarze Dunkelheit. Dann erst bemerkte er, dass er aufrecht und
schweißgebadet in seinem Bett saß. Er ließ sich zurück in die
Kissen fallen und versuchte den pochenden Schmerz in seinen
Schläfen weitestgehend zu ignorieren.
"Schon wieder..." murmelte er schließlich. Wieder derselbe
Traum.
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Irgendwie fühlten sich Shinji, Kaworu und Toji beim
Anblick des fünfzehnten Engels an einen überdimensionalen Hula-
Hopp-Reifen erinnert. Ein riesiger Ring aus Licht schwebte über
ihren Köpfen. Doch aus den Gesprächen mit Stefan Maishima
wussten die drei, dass dies nicht seine eigentliche Form war und
diese eher wie ein genetisch manipulierter Regenwurm wirkte. Ein
für EVAs sehr gefährlicher Regenwurm. Natürlich wusste NERV
nichts über die Vorbereitungen, die SEELE für den Kampf gegen
diesen Engel getroffen hatte. Der getarnte Satellit direkt im
Orbit über dem Zentrum des Gegners würde erst im letzten Moment
in Aktion treten. Laut SEELEs Angaben arbeitete dieser ähnlich
den AT-Generatoren in ihrem Hauptquartier, die dafür gesorgt
hatten, dass aus dem Unfall mit Sereamus keine noch größere
Katastrophe wurde als er es so schon war. Kaworu und Toji hatten
auf die Nachricht bestürzt reagiert, da sie wussten, wie
sensibel Kensuke hinter seiner Armee-Fassade war. Shinji gab
sich größte Mühe, ebenfalls betroffen zu wirken, doch es wollte
nicht so recht gelingen. Zum Glück war den anderen bislang noch
nichts aufgefallen. Ein trauriges Lächeln umspielte seine
Lippen. Er war sich sicher, dass Rei ihn für das, was er getan
hatte, hassen würde. Seine kurzzeitige 400%-Synchronisation mit
EVA-01 war NERV natürlich nicht verborgen geblieben und er hatte
zu kämpfen gehabt, sie davon zu überzeugen, dass es sich dabei
lediglich um einen Computerfehler handelte. Schließlich war es
ihm gelungen, vor allem weil sich keines der Symptome von Asukas
Vorfall, der ja durchaus Parallelen zu diesem aufwies,
wiederholt hatte.
Shinji schüttelte seinen Kopf, um diese Gedanken zu
verscheuchen. Im Moment gab es wichtigere Dinge für ihn zu tun.
So leid es ihm auch für Kensuke tat, es gab einfach keine
Möglichkeit, um diese Sache zu einem Ende zu bringen.
***
"Achtung, es geht los!" rief Kaworu über die Kom-
Verbindung. Der Engel hatte sich an einer Stelle geteilt und
glich nun einem mehrere hundert Meter langen Band. Auch die DNS-
ähnliche Doppelhelix hatte sich aufgelöst und war nun nur noch
eine Art weiß leuchtende Schnur. Und eines der beiden Enden
raste direkt auf EVA-00 zu.
"Kaworu!" schrie Toji, doch der Andere hatte es bereits
bemerkt und wich geschickt zur Seite aus. Scheinbar hatte es der
Engel vor allem auf ihn abgesehen, denn er machte keinerlei
Anstalten, sich auch um die restlichen beiden EVAs zu kümmern.
Wahrscheinlich wollte er einen nach dem anderen ausschalten.
Erneut sprang EVA-00 beiseite, so dass der Engel ihn um
Zentimeter verfehlte, was bei den Dimensionen des Kampfes, der
sich hier abspielte, SEHR wenig war. Doch diesmal hatte Kaworu
nicht so viel Glück. Er landete direkt in einem der niedrigeren,
nicht einfahrbaren Hochhäuser der äußeren Regionen der Stadt,
welches dann über ihm zusammenbrach. Vor lauter Staub und Schutt
konnte er nichts mehr sehen. Erst im allerletzten Moment
erblickte er das auf ihn zu rasende Energieband und riss
geistesgegenwärtig sein Gewehr hoch, um den Gegner abzublocken.
Es gelang ihm gerade so noch, wobei die Waffe in tausend Stücke
zersprang.
"Mist", murmelte er, als er versuchte, sich aus den
Trümmern zu befreien, bevor die nächste Attacke erfolgte. Wieder
schoss der Engel auf ihn zu und mit knapper Not gelang es ihm,
auszuweichen. Allerdings striff das Monster seinen Arm und
hinterließ dort eine brennende Wunde. Kaworu bemerkte die
Schmerzen jedoch kaum. In dem Moment der Berührung durchfluteten
Hunderte Bilder und Emotionen seinen Kopf, ohne dass er sich
dagegen wehren konnte. Er keuchte auf.
"Was war das?" Es war fast so, als würde der Andere
versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Kaworu schüttelte den
Kopf. Er hatte keine Zeit für solche Gedanken.
Shinji und Toji nahmen den Engel aus ungefähr einem
Kilometer Entfernung unter Beschuss. Doch ihre Projektile
erzielten keinerlei Wirkung. Sie blickten sich über ihre
Verbindungsfenster an. Toji lächelte verzweifelt.
"Keine Wirkung", sagte er schließlich. "Was sollen wir
tun?"
Shinji dachte nach. Der Gegner schien fast übermächtig zu
sein. Dem Zeitplan zufolge würde es noch eine Weile dauern, bis
auch Rei und Asuka in den Kampf eingreifen konnten. Bis dahin
mussten sie es irgendwie alleine schaffen. Aus den Augenwinkeln
sah er, wie Kaworu erneut zur Seite auswich, so dass der Engel
genau auf Shinji zu raste. Er nahm Misatos Warnung nur nebenbei
wahr und duckte sich automatisch unter dem Gegner hinweg,
wodurch dieser ihn um Haaresbreite verfehlte.
"Keine Chance", murmelte Toji vor sich hin. "Ohne die
anderen wird es uns nicht gelingen. "Shinji?" sagte er dann
laut. "Ich werde Kaworu ablösen."
Ohne auf eine Antwort zu warten stieg der schwarze EVA
hinunter in die Stadt, wo der eigentliche Kampf tobte. Zunächst
machte der Engel keine Anstalten, sich um ihn zu kümmern und
konzentrierte sich weiterhin auf EVA-00. Das Zentrum der Stadt
hatte bereits stark unter den Kämpfen gelitten. Dutzende
Hochhäuser lagen in Schutt und Asche. Erstaunlicherweise hatte
der EVA bislang nicht mehr als ein paar Beulen und Prellungen
davongetragen.
"Dieses verdammte Mistvieh!" brüllte Kaworu, als sein
mittlerweile viertes Gewehr in die Brüche ging.
Nach nur ein paar Sekunden stellte sich Toji mit grimmigem
Gesicht an seine Seite.
"Mal sehen, ob ich dich ein wenig entlasten kann", sagte er
zu dem grauhaarigen Jungen.
"Gute Idee...", antwortete dieser. "Nur... wo ist er
jetzt?"
"Was?"
Die beiden blickten sich um, doch von dem Engel war keine
Spur zu sehen.
Nach ein paar Sekunden explodierten ohne Vorwarnung
sämtliche Gebäude in ihrer unmittelbaren Nähe und ließen eine
gewaltige Staubwolke zurück. Als der Nebel sich lichtete,
erkannten die beiden, dass sie einen möglicherweise
folgeschweren Fehler begangen hatten. Der Engel hatte erneut
eine Ringform gebildet - mit den beiden EVAs im Zentrum.
"Uhmm..." murmelte Kaworu. "Vielleicht sollten wir das
nächste Mal doch lieber Misato die Taktik überlassen..."
***
Im Kommandoraum von NERV herrschte unterdessen helle
Aufregung. Techniker liefen kreuz und quer durch den Raum und
Boten brachten Berichte und Nachrichten von einem Ende zum
anderen. Der durch den Kampf angerichtete Schaden in der Stadt
war bereits jetzt jenseits aller Grenzen von Gut und Böse.
Misato war bereits seit einigen Sekunden sprachlos aufgrund
der Dummheit der beiden Piloten oben in der Stadt, aber auch
aufgrund des taktischen Geschickes, das der Engel plötzlich an
den Tag legte. Das war nicht mehr die Hau-drauf-und-mach-alles-
kaputt-Strategie der bisherigen Angreifer. Er wusste genau, dass
die EVAs mit ihren Waffen so gut wie überhaupt nichts gegen sein
AT-Feld ausrichten konnten. Also ließ er sich Zeit. Sie hatte
auch nicht den Eindruck, als ob es ihm darum ginge, den Gegner
um jeden Preis zu vernichten. Es wirkte eher so, als wollte er
mit den EVAs... spielen? Misato schüttelte sofort den Kopf. Das
war absurd. Kein Engel hatte je zuvor ein solches Verhalten an
den Tag gelegt. Warum sollten sie das ausgerechnet jetzt ändern.
"Shinji, Toji", rief sie schließlich. "Versucht, da
irgendwie auszubrechen!"
"Das sagst du so einfach", kam es über die Kom-Leitung.
Tatsächlich schien der Engel auf jede ihrer Bewegungen zu
reagieren. Sobald sie versuchten unter dem Ring hindurch zu
kriechen, senkte er sich hinab. Darüberspringen war genauso
aussichtslos. Plötzlich kam ihr eine Idee. Es schien so, als
würde der Gegner dieses Manöver nur ausführen, wenn er
mindestens zwei seiner Gegenüber damit ausschalten konnte.
"Ok, ihr beiden, hört zu", sagte sie dann. "Toji versucht,
unter ihm durchzukr..."
"Misato, das funktioniert nicht."
Sie ignorierte seinen Einwand. "Wenn der Engel sich herab
gesenkt hat, springt Kaworu über ihn drüber und rennt was das
Zeug hält. Verstanden? Ok, auf drei. Eins, Zwei..."
Die Gesichter der beiden wirkten nicht sehr überzeugt.
"Und drei!"
Toji warf sich auf den Boden und kroch auf den Spalt unter
dem Engel zu, der sich wie erwartet gerade schnell genug
schloss, um ihn am durchkommen zu hindern. In diesem Moment
sprang EVA-00 elegant über den Feind hinweg und lief, was das
Zeug hielt.
Dem Engel schien das überhaupt nicht zu gefallen. Er löste
seine Ringform wieder auf und stürzte sich wutentbrannt auf EVA-
03, der es gerade noch rechtzeitig schaffte aufzustehen und
auszuweichen.
"Status quo" murmelte er.
Misato nickte. Sie musste ihm rechtgeben. Der Kampf hatte
bislang noch nichts gebracht. Außer dass Toji und Kaworu die
Rollen getauscht hatten und ungefähr zwei Drittel der Stadt
vernichtet waren. Und...
Entsetzen spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder. Der
Engel war bis zum Zentralschacht direkt über dem Hauptquartier
gelangt.
Plötzlich wandte Maya sich zu ihr um
.
"Sir, zwei unidentifizierte Flugobjekte nähern sich dem
Luftraum von Tokyo-3. Sie werden uns in ungefähr zehn Minuten
erreichen."
Entgeistert blickte Misato sie an.
***
An der Oberfläche tobte der Kampf inzwischen weiter und
langsam, aber sicher gewann der Engel die Oberhand. Nicht nur,
dass er im Gegensatz zu den EVAs und ihren Piloten keinerlei
Anzeichen von Erschöpfung zeigte, er steigerte das Tempo seiner
Attacken sogar noch. Wahrscheinlich war er wirklich wütend
darauf, dass ihm zwei potentiell sichere Opfer entkommen waren.
Toji versuchte wieder einmal auszuweichen. Doch diesmal war
er nicht mit allzu viel Glück gesegnet. Der Engel vernichtete
einen weiteren Wolkenkratzer und ein spitzes und scharfkantiges
Trümmerteil der Armierung bohrte sich quer durch die linke
Schulter von EVA-03. Von Schmerzen gepeinigt schrie der
dunkelhaarige Teenager auf.
Das reichte Shinji. Er hatte immer wieder versucht, den
Engel mit dem Gewehr anzugreifen. Als das nichts brachte, war er
zu immer stärkeren Waffen übergegangen und benutzte nun zwei
Raketenwerfer, einen in jedem Arm. Doch auch das war in keiner
Weise von Erfolg gekrönt. Die nächste Stufe wäre wohl eine N2-
Mine gewesen. Doch soweit wollte er nun auch wieder nicht gehen.
Und um das Positronen-Gewehr aufzubauen hatten sie nicht genug
Zeit.
Also blieb ihm nur der direkte Kampf. Mit wildem Geschrei
stürzte auch er sich in das Getümmel im Zentrum der Stadt. Der
Engel nutzte inzwischen beide Enden, um seine Gegner anzugreifen
und das mit einer Geschwindigkeit, die man ihm nie im Leben
zugetraut hätte.
"Shinji", hörte er Misato rufen, doch der Junge beachtete
sie nicht. Dort unten waren seine Freunde mehr oder weniger
hilflos den Attacken des Gegners ausgeliefert. Er musste ihnen
helfen. Außerdem hatte der Engel kein Ende mehr für ihn frei.
Das gab ihm die Chance, den Anderen wenigsten ein bisschen zu
schwächen.
Doch er hatte die Länge des Engels nicht mit beachtet.
Verdutzt betrachtete er das weiße Band, das plötzlich mit
atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu raste. Zu spät
erkannte er, dass sein Gegner ganz einfach mit seinem Körper
eine Schlaufe gebildet, die fast so gezielt wie seine beiden
Enden als Waffe einsetzen konnte. Und er erkannte auch zu spät,
dass es gar nicht dessen Ziel war, ihn direkt anzugreifen.
Das Hochhaus links neben EVA-01 explodierte in tausend
Stücke, und eines der größeren trennte sauber den linken Arm des
Roboters ab. Shinji schrie in Schmerzen und Panik auf. Plötzlich
wurde ihm das Ziel des Gegners klar. Der Engel wollte sie
schwächen und kampfunfähig machen, um sich dann in aller Ruhe
mit seinen Opfern zu beschäftigen.
Seine Gedanken wurden allerdings von einer gewaltigen
Explosion unterbrochen. Gleisendes Licht erfüllte das
Stadtzentrum, oder das, was von ihm übrig war und blendete die
Piloten. Einen irrsinnigen Moment lang glaubten sie tatsächlich,
ihn besiegt zu haben. Doch als sie wieder etwas erkennen
konnten, war der Engel immer noch da. Wie als Symbol seiner
eigenen Unbesiegbarkeit schwebte er ringförmig über ihren
Köpfen. Dann erkannten Shinji, Toji und Kaworu das Ausmaß und
den Zweck der Explosion. Ein riesiger Krater klaffte dort, wo
vor wenigen Augenblicken noch die Ruinen des Zentrums von Tokyo-
3 standen.
"Verdammt", kam Misatos Stimme über die Kom-Verbindung. "Er
hat achtzehn Panzerschichten zur Geofront mit einem Schlag
vernichtet. Noch zwei weitere, und er ist durch!"
Shinji biss sich auf die Lippen. Die Verstärkung musste in
weniger als drei Minuten eintreffen. Es sei denn, SEELE hatte
versagt oder keine Lust mehr.
Plötzlich sah er eine kleine Lichtkugel zu seinen Füßen
entstehen. Ein grauenvoller Verdacht schlich sich in seine
Gedanken und brachte ihn dazu, zu rennen so schnell er konnte.
Er hatte kaum fünfzig Meter zurückgelegt, als hinter ihm erneut
eine gewaltige Explosion erfolgte. Die heftige Druckwelle ließ
die Stadt erbeben und hob seinen EVA von den Füßen, so dass er
hundert Meter durch die Luft segelte und ziemlich unsanft in
einem der wenigen übrig gebliebenen Wolkenkratzern landete. Er
schüttelte den Kopf, als der Schmerz mit voller Macht
zurückkehrte. Seine linke Schulter schien zu brennen und er
spürte seinen Arm nicht mehr.
"Es ist nicht mein Arm," murmelte er zwischen
zusammengepressten Zähnen zu sich selbst. "Es ist nicht mein
Arm..."
Toji versuchte, die Lage für wenigstens eine Sekunde
objektiv zu beurteilen. Unbewusst war er zu denselben Schlüssen
gekommen wie Shinji. Der Gegner wollte sie schwächen. Doch er
hatte keine Ahnung, was dieser dann mit ihnen vorhatte.
Interessanterweise hatte keine der bisherigen Attacken direkt
auf Rücken oder Brust gezielt, so dass die Bereiche der
Entryplugs jedes Mal verschont geblieben waren. Wollte der Engel
sie etwa entführen?
***
Misato starrte auf das riesige Hologramm des Kampfgebietes
in der Mitte des Kommandoraumes. Auf grauenvolle Weise erinnerte
sie die Schlacht an den Kampf gegen den vierzehnten Engel. Auch
dieser war spielend durch die Panzerschichten gedrungen und
konnte die EVAs problemlos ausschalten. Bis Asukas Einheit Amok
gelaufen war. Asuka... sie wusste nur, dass sie wieder in
Deutschland war und es ihr dort gut gehen sollte. Doch irgendwie
fühlte sie sich noch immer dafür verantwortlich, dass es dem
Mädchen hier in Japan so schlecht ging. Sie schüttelte den
Gedanken ab. Jetzt war keine Zeit für solche Sentimentalitäten.
"Sir?" ließ sich Maya vernehmen.
"Was gibt es?" fragte Misato zurück, ganz froh über die
Ablenkung.
"Ich habe die Flugobjekte identifiziert. Zumindest eines
davon."
Der Major biss sich auf die Lippe. Sie hatte die beiden in
der Hektik der letzten Minuten völlig vergessen. Eigentlich
hätte ihr das nicht passieren dürfen.
"Und?" fragte sie dann.
"Nun, bei dem einen handelt es sich um einen der beiden
Roboter, die sich auch im letzten Kampf zu uns gesellt hatten.
Was den anderen anbelangt..." sie schüttelte leicht den Kopf.
"... von den Energie- und Strukturwerten her sehr ähnlich, aber
unbekannt. Ihr Blutmuster entspricht dem eines Engels, aber die
Magi weigern sich nach wie vor vehement, sie als solche zu
bezeichnen." Sie lächelte hilflos. "Man wird nicht schlau aus
ihnen."
Misato nickte. "Nun. Das letzte Mal haben sie uns geholfen.
Auch wenn sie EVA-02 entführt haben." Sie atmete tief durch.
"Mal sehen, was sie dieses Mal vorhaben."
"Sir?" meldete sich diesmal Shigeru. "Ich bekomme eine
Transmission. Nur Audio."
"Stellen Sie sie durch" sagte die Dunkelhaarige.
"Vielleicht können wir ihnen helfen."
Sie wandte sich nach vorne zum Bildschirm, auf dem jetzt
ein mittelgroßes Fenster mit dem Schriftzug "Sound only"
erschien.
"Hier spricht..."
"Major Katsuragi", wurde Misato von einer weiblichen,
ruhigen und beherrschten Stimme unterbrochen. "Befehlen sie
ihren EVA-Einheiten, sich hinter unsere Seraphim-Einheiten
zurückzuziehen, sobald wir eingetroffen sind. Anseamus, Ende."
Einige Sekunden blickte die junge Frau fassungslos auf das
mittlerweile geschlossene Fenster. Es war nicht die Frechheit
gewesen, ihr einfach Befehle zu erteilen, sondern die Stimme
selbst, die ihr die Sprache verschlug. Sie war sicher, dass es
Asuka war, mit der sie sich gerade "unterhalten" hatte. Doch man
konnte so viel Schmerz daraus hören. Als ob sie irgendetwas
verloren hatte, dass ihr sehr viel bedeutete. Ob das etwas mit
diesen Gerüchten über die Explosion in Deutschland zu tun hatte?
Misato blickte erneut auf die Karte und sah, wie sich die
EVAs bereits in Richtung der beiden Neuankömmlinge bewegten. Sie
schüttelte (zum wievielten Male eigentlich) schon wieder den
Kopf. Sie hatte bereits vor einer Weile die Kontrolle über den
Kampf verloren. Was konnte sie schon groß ausrichten. Im
Nachhinein kam es ihr sogar so vor, als ob die drei Piloten nur
auf die Ankunft der anderen gewartet hatten. Inzwischen hatten
sie die beiden anderen Roboter erreicht.
Plötzlich tönte ein neuer Alarm durch den Kommandoraum.
"Was ist los?" fragte Misato erschrocken.
Ritsuko, die bislang still geblieben war, ebenso wie die
beiden Kommandanten auf ihrer erhöhten Plattform, meldete sich
nun zu Wort.
"Die beiden, also Anseamus und dieser andere, entfalten
gemeinsam ein AT-Feld, das alle bisherig gemessenen Werte bei
weitem übersteigt!"
Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie der Engel sich wütend
gegen das Feld warf, ohne es auch nur anzukratzen.
"Aber sie scheinen ihn in diesem Status nicht angreifen zu
können", sagte Maya. "Eine Patt-Situation also." Plötzlich
machte sich ein entsetzter Ausdruck auf ihrem Gesicht breit.
"Sir! Da ist irgendetwas im Orbit, direkt über dem Engel!"
Sie starrten auf das Bild der orbitalen
Überwachungssatelliten, zu denen sich zunächst schemenhaft, dann
immer deutlicher, ein weiterer gesellte.
"Er enttarnt sich!" rief jemand.
"Was um alles in der Welt..." stammelte Ritsuko, als sie
die Energiewerte auf ihrem Display las. "Wenn die das dort
wirklich abf..."
Weiter kam sie nicht, als das Hauptquartier auf brutalste
Weise durchgerüttelt wurde und alle Bildschirme nur noch Kriseln
zeigten. Die Schockwellen eines gewaltigen Energieaufpralls an
der Oberfläche ließen gewaltige Orkane durch Tokyo-3 fegen.
"Nur noch 18% der Kameras aktiv. Schalte Bild auf die
äußeren Regionen!" rief Maya.
Entsetzt nahmen alle ihre Hände vor den Mund, als sie das
Übersichtbild von Tokyo-3 sahen. Dort, wo früher einmal eine
stolze und moderne Stadt gestanden hatte, klaffte nun ein
riesiges Loch mit mehreren Kilometern Durchmesser.
"Oh mein Gott", sagte Ritsuko. "Sie haben die Geofront
freigelegt."
In der Tat hatte man einen wunderschönen Blick auf die
gewaltige Höhle.
"Was ist mit dem Satelliten?" wollte Misato wissen.
"Zerstört, vermutlich aufgrund einer Energieüberlastung."
"Und die EVAs?"
"Unbeschädigt. Die AT-Felder der anderen beiden Roboter
haben standgehalten."
"Und... der Engel?"
Doch eine Antwort war nicht mehr nötig. Misato sah das
leuchtende Band ihres Feindes, das über dem Loch schwebte,
selbst.
"Alles umsonst..."
"Nicht ganz", sagte Maya. "Der Engel wurde auf weniger als
die Hälfte seiner Originallänge reduziert."
Misato sah noch einmal genau hin. Es stimmte. Fehlten also
nur noch ungefähr 45%.
***
Asuka warf Rei einen kurzen Blick zu. Die versuchte zwar
ein Lächeln, doch es misslang vollständig. Beide hatten in den
letzten Wochen mit Karins Tod zu kämpfen gehabt. Doch irgendwie
hatte es sie auch einander näher gebracht. Das rothaarige
Mädchen kannte nun Reis Geheimnis und wusste, warum sie sich wie
eine Puppe verhielt. Jetzt waren sie beide Freundinnen, oder
zumindest so etwas Ähnliches. Asuka sah darin immerhin einen
Fortschritt. Doch dazu hätte es nicht den Tod eines Anderen
bedürfen sollen. Bis heute waren die eigentlichen Umstände der
Explosion ungeklärt geblieben. Irgendwie wollte sie der
offiziellen Version, dass Sereamus von einem Engel übernommen
wurde, nicht glauben. Es war nur so ein Gefühl... aber sie war
sich sicher, dass sie die Wahrheit herausfinden würde. Gemeinsam
mit Rei. Sie hatte Frank bereits vor einer Weile darauf
angesetzt, weitere Informationen über Karin zu sammeln. Ihre
Herkunft schien ebenso schleierhaft zu sein wie Reis noch bis
vor kurzem. Der Einzige, der noch etwas über sie wissen konnte,
war Kensuke. Doch der hatte bislang mit so gut wie niemandem
gesprochen. Asuka glaubte zu wissen, wie er sich fühlt. Als
Versager...
Sie schüttelte den Kopf. Jetzt war keine Zeit für solche
Gedanken. Der Satellit war vernichtet. Also würden sie den Rest
allein erledigen müssen.
Erneut blickte sie zu Rei und nickte dann. Rei antwortete
ebenfalls mit einem Nicken. Wie auf ein geheimes Kommando und in
perfekter Synchronisation schossen aus den Schultern ihrer
Einheiten Flügel und sie hoben ab, um zu dem Engel über der
Mitte des neu geschaffenen Loches zu fliegen.
Die beiden wussten, dass sie in einem Luftkampf keine
Chance haben würden. Also mussten sie ihren Feind zunächst auf
festen Boden locken. Und sie würden die Hilfe der EVAs
benötigen. Selbst mit den SERAPHIM wäre es ein Ding der
Unmöglichkeit, den Engel im Alleingang zu besiegen.
Asuka öffnete eine Kom-Verbindung zu den EVAs und wurde von
dem Anblick von drei sehr erstaunten Gesichtern begrüßt.
"Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich mich amüsiert fühlen"
bemerkte sie trocken. "Ihr werdet den Engel ablenken, sobald er
hier ist, und wir kümmern uns um den Rest."
"Ähmm... Ok!" antworteten die anderen.
Doch das war leichter gesagt als getan. Der Engel war
äußerst schnell und wendig. Selbst die augenscheinliche Überzahl
von fünf Gegnern machte ihm herzlich wenig aus.
"Verdammt", murmelte Rei, als sie erneut um Haaresbreite
dem Engel auswich. Sie hatte den Zustand von Shinjis EVA bereits
gesehen, und er machte ihr mehr als nur Sorgen. Mit Karin hätten
sie den Kampf mit Hilfe der Lanze leicht beenden können, aber
Asuka und sie besaßen noch nicht das Können, eine solch präzise
Waffe zu führen. Plötzlich gab es eine neue Explosion und EVA-00
wurde durch die Luft gewirbelt. Er landete direkt auf SERA-03,
Asukas Einheit.
"Langsam hasse ich diese Kurzstreckenflüge" murmelte Kaworu
leicht benommen.
"Da bist du nicht der Einzige", ließ Shinji sich vernehmen.
Reis Augen weiteten sich plötzlich. Hinter EVA-01 hatte
sich eine weitere dieser Lichtkugeln gebildet. Sie wusste, dass
sie nicht mehr genug Zeit haben würde, um ihr AT-Feld aufzubauen
und damit Shinji zu schützen.
"SHINJI!" schrie sie und stürzte auf ihn zu. wobei sie EVA-
01 beiseite riss. Bei der Detonation wurde ihr linker Flügel
zerfetzt. Sie griff mit ihrem Arm an ihre Schulter und biss die
Zähne vor Schmerzen zusammen.
Shinji wurde erst jetzt bewusst, wer sich eigentlich in
diesem anderen Roboter befand.
"Rei..." sagte er, als er entsetzt mit ansehen musste, wie
sich ihre Einheit in Schmerzen wandte, ohne Kämpfen zu können.
Dann wurde sie ohnmächtig und der Roboter kam zum Stillstand.
Wut begann in ihm aufzubrodeln. Dieser Engel. Sie hätten ihn
schon vor Stunden besiegt haben müssen. Jetzt gab es keine Gnade
mehr. Die Augen von EVA-01 glühten in strahlendem Weiß.
Mit Furcht erregendem Brüllen und lediglich einem Messer
bewaffnet stürzte sich die Einheit auf den Engel. Dieser wurde
einen Moment lang aus der Fassung gebracht und schien sich
beinahe zu amüsieren. Doch dieser Augenblick der Unachtsamkeit
reichte Asuka. Mit ihrem AT-Feld zerteilte sie den Engel sauber
in der Mitte, so dass die Kreatur begann, sich schmerzvoll zu
winden. Sie ließ ihm gar keine Zeit, sondern bearbeitete eine
der beiden Hälften mit allem, was ihr an Waffen und Energie zur
Verfügung stand. Das Band wurde immer heller und heller und
detonierte in einer Explosion, deren Kraft beinahe an die der
durch den Satelliten verursachten erreichte.
"Hab ich dich", sagte Asuka, als nur noch ein Viertel des
Engels übrig war.
Shinji schüttelte den Kopf als er das sah. "Wie ein
riesiger Regenwurm."
Asuka nickte. Dann wurde sie ernst. "Kümmere dich bitte um
Rei. Ich werde den Rest hier erle..."
"ASUKA!" brüllte plötzlich Kaworu durch die Leitung.
Blitzschnell drehte sie sich um, nur um zu sehen, wie das letzte
Stückchen Engel direkt auf sie zu raste. Es war zu spät um
irgendwie auszuweichen. Sie riss die Arme schützend vor den Kopf
und erwartete den Aufprall.
Doch er kam nie. Als die Deutsche wieder aufblickte, sah
sie, warum. EVA-00 hatte sich zwischen sie und den Engel
geschoben und ihn so abgefangen. Und dieser begann mit der
Einheit zu verschmelzen.
Plötzlich wurde es unheimlich still. Der Körper des Engels
leuchtete in strahlendem Weiß und wurde wieder länger.
Auf allen Bildschirmen, sowohl in der Kommandozentrale als
auch in den am Kampf beteiligten Einheiten erschien Kaworus
Gesicht. Ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen.
"Mein wahrer Name ist Tabris", sagte er. "Ich bin der
siebzehnte Engel. Ich hatte gehofft, meinem Schicksal entgehen
zu können und mich Aristoh auf eurem Planeten anzuschließen.
Doch diese Hoffnung war vergebens. Die Verbindung zweier Engel
hat die Entstehung eines einzigen unbesiegbaren zur Folge."
Tatsächlich ließ sich auf den Bildschirmen erkennen, wie
sich auf der Oberfläche des weißen Bandes Tausende Köpfe
bildeten, die eindeutig Kaworus Gesichtszüge trugen.
"Dieses Ereignis bezeichnet ihr Menschen als den Third
Impact. Ich habe nicht vor, zuzulassen, dass dies geschieht. Ich
bin der Engel des freien Willens. Mein Tod wird euer Leben
bedeuten. Vielleicht sehen wir uns im Paradies, wenn es
tatsächlich existiert. Bis dahin sage ich euch Lebewohl."
Noch Stunden nach der Explosion von EVA-00 war keiner in
der Lage zu verstehen, was heute eigentlich geschehen war.
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130
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Kensuke lag auf seinem Bett. Obwohl er die letzten
zwei Wochen nichts anderes getan hatte, als zu arbeiten, und so
gut wie keinen Schlaf gefunden hatte, war er nicht müde. Seine
Gedanken wanderten immer wieder zu Karin, so sehr er auch das
Gegenteil erzwingen wollte. Wie er ihr Lächeln vermisste. Er
konnte das Gefühl, das sich seitdem seiner bemächtigt hatte,
einfach nicht beschreiben. Es war, als wäre ein Teil von ihm
einfach herausgerissen worden, als wäre er nicht mehr
vollständig.
Ein ironisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Sein
Leben war bislang eigentlich halbwegs normal verlaufen, wenn man
einmal von seinem Militärtick absah. Seine Mutter war bereits
früh gestorben und sein Vater arbeitete beim Militär, wodurch er
ihn vielleicht einmal im Monat zu Gesicht bekam, wenn er Glück
hatte. Er lebte meistens bei seinen Großeltern und war so gut
wie immer allein gewesen. Diese Einsamkeit hatte sich erst
geändert, als er nach Neo-Tokyo-3 umzog. Sein Vater war ins
Hauptquartier von NERV versetzt worden und so war er mit hierher
gekommen. Doch leider war seine neue Arbeit so streng geheim,
dass Kensuke den Großteil seiner Phantasie überlassen musste.
Zunächst hatte er mit seinen Mitschülern einige Probleme, die
vor allem darin bestanden, dass er überhaupt keinen Kontakt zu
ihnen finden konnte. Deswegen verbrachte er seine Freizeit auch
größtenteils allein draußen auf den Feldern vor der Stadt, wo er
sich in aller Ausgiebigkeit seinen Militärspielen widmen konnte.
Kensuke war für den Rest der Welt eigentlich immer nebensächlich
und unwichtig gewesen. Deswegen hatte er auch unbedingt EVA
steuern wollen. Um endlich eine Bedeutung zu haben und bewundert
zu werden. Eines Tages, es musste vor ungefähr drei Jahren
gewesen sein, wurde er von einem der neuen Mitschüler bei einer
seiner Trainingsstunden überrascht. Sein Name war Toji Suzuhara.
Irgendwie hatten sich die beiden vom ersten Moment an verstanden
und wurden sofort unzertrennliche Freunde. Toji hatte ihn öfters
auf seinen Streifzügen begleitet, wenn es auch mit der Zeit
immer seltener wurde. Dann war Shinji zu ihnen gestoßen. Kensuke
musste unwillkürlich lächeln, als er daran dachte, wie der
dunkelhaarige den Neuen zusammenschlug. Und noch mehr musste er
lächeln, als er daran dachte, wie Toji daraufhin von seiner
kleinen Schwester zur Schnecke gemacht wurde. Daraufhin wurden
die drei zu einem festen Gespann, dem "Idioten-Trio", wie Asuka
sie später bezeichnete.
Er seufzte, als er an diese glücklichen Tage zurückdachte.
Damals hatte er noch nicht gewusst, wie viel Leid noch auf ihn
zukommen würde. Wieder kehrten seine Gedanken zu Karin zurück.
Zu dem friedlichen Lächeln, das sich über ihre Züge gelegt
hatte, als sie in seinen Armen eingeschlafen war. Er hatte
versagt. Er hatte nichts tun können. Überhaupt nichts.
In diesem Moment klopfte es an seiner Tür. Müde wandte er
den Blick in die entsprechende Richtung und sah, wie Gregor
eintrat. Er lächelte Kensuke aufmunternd zu. Dann setzte er sich
zu ihm und sein Gesichtsausdruck wurde ernst.
"Der Kampf ist beendet", sagte er dann.
"Also haben wir gewonnen."
Gregor schüttelte den Kopf.
"Nein, nicht wirklich. Kaworu ist tot."
Ungläubig blickte Kensuke ihn an. Er nickte.
"Er hat die Selbstzerstörung von EVA-00 ausgelöst. Sich
selbst geopfert, um alle anderen zu retten."
Er blickte Kensuke direkt in die Augen.
"Halt' dich bereit. In fünf Stunden geht es los."
Doch Kensuke hörte ihm gar nicht mehr richtig zu. Jetzt
wusste er, was er falsch gemacht hatte. Er hätte sich auch für
Karin opfern sollen. Er wusste, dass er ihr hätte helfen können.
Dennoch hatte er es nicht getan. Er hatte versagt. Dieser eine
Gedanke wiederholte und wiederholte sich in seinem Kopf, ohne
dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Seine Hände begannen
zu zittern. Die Lösung hatte die gesamte Zeit über so nahe
gelegen. Und dennoch war er nicht darauf gekommen. Er konnte
sich selbst dafür ohrfeigen. Doch dazu kam er nicht.
Gregor konnte scheinbar seine Gedanken lesen. "Wir alle
trauern im Karin", sagte er bedächtig. "Doch im Moment macht es
keinen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, was hätte sein
können. Du..."
In genau diesem Moment schlug Kensuke ihm mit seiner ganzen
Kraft ins Gesicht.
"Du hast keine Ahnung!" brüllte er. "Du kannst gar nicht
wissen, wie es ist, einen Menschen, den man... den man ge..." er
konnte nicht weiter sprechen, weil er in Tränen ausbrach. Er
stützte seinen Kopf in die Hände und schluchzte vor sich hin.
Gregor betrachtete ihn mit einer Mischung aus Verärgerung
und Mitleid. Doch nach einer Weile wich der Zorn und machte der
Anteilnahme platz. Er legte seine Hand auf Kensukes Schulter und
rechnete bereits halb damit, roh beiseite gestoßen zu werden.
Allerdings geschah nichts dergleichen. Er schluchzte einfach nur
weiter vor sich hin und schien sich nicht mehr um den Rest der
Welt zu kümmern.
"Es gab da einmal ein Mädchen", sagte Gregor schließlich.
"Sie war so ungefähr in meinem Alter."
Kensuke blickte ihn fragend an.
"Das bezauberndste Wesen, das das Universum jemals gesehen
hatte." Er versuchte zu lächeln, doch es wurde mehr zu einer
verzerrten Fratze.
"Wie hieß sie?" fragte der andere vorsichtig.
Gregor musste lächeln. "Es ist bereits so lange her..."
Kensukes angeborene Neugier übernahm langsam die Überhand.
Er wusste, dass irgendetwas mit diesem Jungen nicht stimmte.
"Du bist nicht wirklich fünfzehn Jahre alt oder?"
"Wie?" Gregor blinzelte, als er plötzlich aus seinen
eigenen Gedanken gerissen wurde. "Achso", er grinste
verschmitzt. "Aber ich habe mich gut gehalten, oder?"
Kensuke nickte. Er hatte schon vor längerem Gerüchte
gehört, nach denen vor ungefähr siebzig Jahren Außerirdische auf
der Erde gelandet sind. Er hatte keine Ahnung, warum er gerade
jetzt daran denken musste. Ob es irgendetwas mit Gregors
scheinbar ewigen Jugend zu tun hatte. Ein normaler
fünfzehnjähriger Teenager wäre mit Sicherheit nicht in der Lage,
Kommandant einer derartigen Organisation zu werden. Allerdings
hatte er ja Hilfe in Form von Lorenz Kiel und Stefan Maishima...
Maishima... er biss sich auf die Lippen. Gregor hatte
gesagt, jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber
Gedanken zu machen. Sicher hatte er damit Recht, doch das
hinderte nicht dieses zerrende Gefühl der Leere, sich immer
wieder seiner zu bemächtigen. Die Schmerzen, die er empfand,
wurden von Mal zu Mal immer unerträglicher. Er konnte nichts
dagegen unternehmen...
"Gregor?" Schließlich gab er sich einen Ruck.
"Hmm?" fragte der andere, der sich in der Zwischenzeit
vermutlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt hatte. "Was gibt
es?"
Kensuke grinste wehmütig. "Eine Frage, bevor wir weiter
über verlorene Lieben reden. Kann ich nach Japan zurückkehren,
wenn das alles hier vorbei ist?"
"Du meinst, es könnte dir helfen zu... vergessen?"
Der andere schüttelte den Kopf. "Nein. Ich werde Karin
niemals vergessen können." Er atmete tief durch und blickte zur
Decke. "Sie wird immer meine Gedanken beherrschen, Tag und
Nacht. Jeden verdammten einzelnen Augenblick meines restlichen
Lebens."
Gregor nickte. "Kehre ruhig zurück. Vielleicht findest du
eine Lösung für dich. Ich habe keine gefunden."
Kensuke schielte zu ihm hinüber. In den Augen seines
Gegenübers konnte er die verschiedensten Emotionen erkennen, vor
allem jedoch Schmerz. Tiefen, dunklen Schmerz. Wunden, die
wahrscheinlich niemand mehr heilen konnte. In diesem Moment
wurde ihm bewusst, dass er alles in allem vielleicht sogar noch
ganz gut davon gekommen war. Doch im nächsten Moment schüttelte
er den Gedanken ab. Es gab keine Möglichkeit, sein Schicksal mit
Gregors zu vergleichen. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen
Kampf zu führen. Und Kensukes bestand darin, seinen Teil zur
Schlacht gegen die Engel beizutragen. Er würde SEELE
ermöglichen, auch die restlichen EVA-Piloten nach Deutschland zu
bringen. So würde das letzte Gefecht zu einem Kinderspiel für
die Menschheit werden. Er selbst würde an dieser Schlacht nicht
teilnehmen. Zu diesem Zeitpunkt würde er bereits wieder in Japan
sein und sich irgendeine Beschäftigung suchen. Er lächelte.
Vielleicht würde er Karin den größten Gefallen machen, wenn er
selbst nicht auch noch unterging. Sie hätte das mit Sicherheit
nicht gewollt...
"Achja, noch etwas..." sagte Gregor schließlich. "Frank
wollte unbedingt irgendetwas mit dir besprechen." Er blickte in
Kensukes Augen. "Wenn du dich besser fühlst,
selbstverständlich..."
Kensuke richtete sich auf. Dann schüttelte er energisch den
Kopf. "Ich wollte sowieso noch ein paar Dinge mit ihm klären."
"Gut. Aber vergiss nicht. Noch-" Gregor blickte auf die
Uhr. "-viereinhalb Stunden, bis wir dich brauchen."
"Geht klar." Damit verließ er den Raum.
Gregor blickte ihm nach. Was stand in seinem
psychologischen Gutachten? Ständige Stimmungsschwankungen oder
so etwas...
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131
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Als Rei erwachte, starrte sie direkt auf die weiße
Decke. Ihre Hände verkrallten sich in die Bettlaken. Sie war
wieder zurück. Das Krankenhaus von NERV. Hier hatte sie
vermutlich mehr Zeit ihres Lebens verbracht als irgendwo anders.
Unbewusst wanderte ihre rechte Hand zu ihrer linken
Schulter. Sie glaubte, noch immer die Schmerzen durch die
Vernichtung ihres Flügels wahrnehmen zu können. Doch ihr eigener
Arm war noch dran. Wie nach jedem Kampf. Sie verzog das Gesicht,
als sie daran dachte, wie oft sie schon nur zu knapp mit dem
Leben davonkam. Noch bevor die Engel überhaupt angegriffen
hatte, wurde sie beim Aktivierungstest des Prototypen schwer
verletzt. Wäre Shinji damals nicht für sie "eingesprungen",
hätte sie Kämpfen müssen. Sie hätte es getan, doch der Tod wäre
ihr sicher gewesen. Das nächste Mal war der Kampf gegen Ramiel
gewesen. Sie hatte dessen Energiestrahl von EVA-01 abgeschirmt
und dabei aufs Neue ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Damals war sie
der Überzeugung, dass sie es getan hatte, weil sie wusste, dass
sie ersetzt werden konnte, der Pilot der anderen Einheit aber
nicht.
Heute wusste sie es besser. Sie hatte Shinji beschützen
wollen. Nicht, weil er für den Plan seines Vaters unerlässlich
war oder weil es ihr befohlen wurde. Sie hatte es getan, weil
sie die Chance haben wollte, ihn kennen zu lernen, weil der
Gedanke an seinen Tod für sie unerträglich war. Lange hatte sie
benötigt, um herauszufinden, wieso solche Gedanken durch ihren
Kopf spuken. Erst nachdem sie vor dem Kampf gegen Bardiel
versagt hatte, danach orientierungslos durch die Gegend irrte
und schließlich an Gregor geriet, begann sie zu verstehen.
"Ob Klon oder nicht, du bist ein Mensch wie jeder andere."
Das hatte er damals zu ihr gesagt, als sie in ihrer
Verzweiflung fast keinen Ausweg mehr gewusst hatte. Sie wusste,
dass sie ein Klon war, hatte aber nie geglaubt, dennoch auch als
Mensch zu zählen. Doch wenn dem so war, konnte auch sie
Emotionen empfinden und Gefühle besitzen. Mit diesen Worten
hatte sie begonnen, gegenüber sich selbst einen Sinn zu machen.
Sie war bereits früh mit dem Konzept der Liebe vertraut
gewesen, hauptsächlich durch unauffällige Beobachtungen des
Verhaltens des Kommandanten und Doktor Akagi. Doch verstehen
konnte sie die Dinge, die sie sah, nicht. Erst viel später, als
sie Shinji das erste Mal sah, begann ihr zu dämmern, was
dahinter stecken konnte.
Als sie vor dem Kampf gegen Sachiel in den EVA-Hangar
gerollt wurde und von der Bare fiel, war er zu ihr hinüber
gestürzt und hatte sie in seine Arme genommen. In diesem einen
Moment hatte sie etwas empfunden, dass sie noch nie zuvor
gespürt hatte. Einerseits Wärme. Keine thermische, sondern eher
in ihrem inneren. Und das andere war... ein Gefühl der
Sicherheit. Als würden seine Arme alles von ihr abhalten. Als
müsste sie sich nicht selbst verteidigen, sondern beschützt
werden. Trotz all der Schmerzen hatte sie sich in diesem Moment
zum ersten Mal richtig wohl gefühlt. Oder zumindest
ansatzweise...
Dafür war sie ihm dankbar gewesen. Sie konnte es sich
zunächst nicht erklären, doch heute wusste sie, dass DAS Liebe
war.
Bevor sich ihre Gedanken allerdings weiter bewegen konnten,
wurde ihr ein leichtes Gewicht bewusst, dass auf ihrem linken
Unterarm lastete. Einen Augenblick lang wunderte sie sich, warum
sie es nicht schon früher bemerkt hatte, dann drehte sie den
Kopf leicht, um zu sehen, was es war.
Zunächst sah sie nur ein Objekt, dass merkwürdige
Ähnlichkeit mit einer zerzausten Wollkugel hatte. Dann wurde ihr
bewusst, dass es sich um Haare und, vermutlich, den
dazugehörigen Kopf handelte.
In der selben Sekunde kam ein herzhaftes Gähnen aus dieser
Richtung, wie um zu bestätigen, dass sie mit ihrer Vermutung
richtig lag. Dann drehte der Kopf sich und enthüllte Shinjis
verschlafenes Gesicht.
Er lächelt leicht, als er bemerkte, dass sie ebenfalls wach
war. Dann richtete er sich langsam auf und kam auf sie zu, bis
ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter von einander entfernt
waren. Er blickte direkt in ihre fragenden, rot leuchtenden
Augen.
"Ich habe dich vermisst" flüsterte er dann zärtlich und
beugte sich noch etwas weiter vor, bis sich ihre Lippen
berührten. Erst nach ein paar Minuten trennten sie sich wieder.
"Ich dich auch", sagte Rei, indem sie ihre Arme um seinen
Nacken legte und ihn in einen weiteren Kuss nach unten zog.
Als sie ihre Augen schließlich wieder öffneten, erblickte
Rei etwas am Rand ihres Sichtfeldes. Sie drehte den Kopf leicht
nach rechts. Und blickt in zwei kristallblaue Augen, umrahmt von
langen, rotbraunen Haaren.
Asuka.
"Lasst euch nur nicht stören", sagte diese. "Ich will nur
etwas für mich selbst dazulernen." Ein schelmisches Grinsen
umspielte dabei ihre Lippen.
Shinji allerdings war kein bisschen erfreut. "Asu-"
Doch Rei unterbrach ihn. "Dann schau gut zu."
Damit zog sie den leicht überraschten Shinji wieder zu sich
nach unten in einen Kuss, der an Tiefe alles übertraf, das sie
bislang miteinander geteilt hatten. Shinjis Gesicht konkurrierte
unterdessen mit Asukas Haaren um den Titel des tiefsten je
gesehen Rot. Shinji gewann, wenn auch nur mit knappem Vorsprung.
"Ähmm...", kam es aus dem Hintergrund. "Ich will eure
kleine Unterrichtsstunde ja nicht stören, aber im Moment gibt es
doch wichtigere Dinge..."
Alle drehten sich auf einmal in Richtung des Störenfriedes,
Toji. Doch der wies nur leicht nervös auf die beiden
schwarzgekleideten Gestalten links und rechts der Tür des
Krankenzimmers. Auf diese Weise darauf aufmerksam geworden, dass
sie doch nicht ganz so allein waren, wie sie erst glaubten,
rückten sie sich wieder in halbwegs gerade Positionen zurecht.
Vor allem, da zwischen den beiden dunklen Anzügen eine sehr
zornig dreinschauende Misato stand.
Shinji schluckte. Als er den Raum betreten hatte, war er
noch mit Rei allein gewesen. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie
all die Leute hereinkamen. Doch Misatos Blick verhieß nichts
Gutes.
Doch sie gab sich sichtlich Mühe, das Bild vor ihren Augen
zumindest solange zu ignorieren, bis sie sicher sein konnte, die
Aufmerksamkeit ALLER Anwesenden zu haben. Sie atmete noch einmal
durch und entkrampfte sich ein wenig, bevor sie anfing zu
sprechen.
"Ok, Kinder", begann sie. "Nachdem ihr euch also nach all
der Zeit wieder begrüßt habt, gibt es noch ein paar wichtigere
Dinge zu besprechen. Rei, Asuka ihr seid vorerst festgenommen."
Allgemeines Erstaunen war die Reaktion. Nachdem die beiden
immerhin dafür gesorgt hatten, dass sie den Engel besiegen
konnten, hätten sie zumindest mit _etwas_ Dank gerechnet.
Andererseits kannten sie alle den Kommandanten nur zu gut.
"Begründungen dafür sind:", fuhr Misato fort. "Unerlaubtes
Entwenden einer EVA-Einheit und der damit verbundenen Weitergabe
streng geheimer Technologie an Dritte. Verlassen der
Organisation NERV, ohne zuvor die nötigen Anträge durchgeführt
zu haben. Weiterhin: Zerstörung der Stadt Neo-Tokyo-3 zu großen
Teilen." An diesem Punkt schüttelte sie den Kopf, um zu zeigen,
dass sie das selbst genauso an den Haaren herbeigezogen fand wie
die anderen auch. "Bis über ein angemessenes Urteil entschieden
wurde, werdet ihr beiden in getrennten Zellen untergebracht. In
Reis Fall, sobald ihr Zustand es erlaubt. Besuche sind
verboten." Sie atmete erneut tief durch. "Das ist JETZT der
Fall." Sie zog ihre Waffe und entsicherte sie, deutete damit
aber auf niemand bestimmtes. "Es tut mir leid..."
Asuka sprang auf und sah aus, als wollte sie jeden Moment
auf Misato losgehen, wurde aber auf unkonventionelle Art von Rei
gestoppt. Diese stand einfach nur auf und ging auf den Major zu.
"Ich habe verstanden", sagte sie ruhig. "Wo kann ich mich
umziehen?"
Misato blickte sie einen Moment lang verdutzt an -
anscheinend hatte sie mehr Widerstand erwartet - sagte aber
nichts, sondern deutete in Richtung eines Vorhanges, der eine
Ecke des Raumes vom Rest abgrenzte.
"Deine Sachen liegen bereits dort."
Rei nickte und ging hinüber, verschwand kurz darauf, um
sich umzuziehen. Erst jetzt fanden Shinji und die anderen
langsam ihre Sprache wieder.
"Aber Misato...", sagten sie alle zugleich.
Die junge Frau brachte sie allerdings mit einem einzigen
Wort zum Schweigen.
"Später."
Inzwischen war Rei fertig geworden und trug wieder ihre
gewohnte Schuluniform. Langsam ging sie auf die Männer des
Sicherheitsdienstes zu und bestätigte durch ein Nicken. dass sie
fertig war. Merkwürdig still und ruhig wurde sie von Asuka
begleitet. Doch in ihren Augen loderte eisiges Feuer.
Als die Tür sich wieder geschlossen hatte, blickte Misato
resignierend zu Boden. Shinji und Toji sagten nichts. Langsam
begannen die Ereignisse der letzten Stunden auf sie einzuwirken.
Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass sie heute einen ihrer
besten Freunde verloren hatte. Ironischerweise ein Engel, der
sich für die Menschheit geopfert hatte. So etwas würde sich
niemals wiederholen, oder?
Tränen begannen aus Shinjis Augen zu fließen. Er hasste es,
zu heulen. Es erinnerte ihn daran, wie sein Vater ihn verlassen
hatte, um ein Monster zu werden. Ein Tyrann, der sich
einbildete, Gott zu sein und das Schicksal und die Zukunft der
Menschheit zu bestimmen.
Toji hatte ähnliche Gedanken, doch konzentrierten sie sich
mehr auf Kaworu. Sie hatten nie wirklich Zeit gehabt, um sich
richtig kennen zu lernen, doch war er ihm irgendwie ans Herz
gewachsen. Kaworu hatte die Eigenschaft, bei jedem beliebt zu
sein, einfach nur durch die Art Mensch, oder besser Engel, die
er war. Er brauchte sich nicht zu verstellen oder irgendwie
anzustrengen, um Freunde zu finden. Es war ihm ein Leichtes auf
andere zuzugehen. Ein melancholisches Lächeln umspielte seine
Lippen. Kaworu hatte einmal behauptet, unsterblich zu sein. Man
hätte es ihm beinahe glauben können. Unwillkürlich fragte Toji
sich, wie es Kensuke jetzt ergehen würde. Auch er hatte erst vor
kurzem einen Menschen verloren, der ihm sehr viel bedeute.
Vielleicht mehr, als ihm je zuvor ein Mensch bedeutet hatte. Er
selbst hatte ja immer noch Hikari. Vielleicht würde er bei ihr
etwas Trost finden.
Schließlich, wie auf ein geheimes Zeichen hin, blickten
beide zu Misato hinüber, die ihre Augen noch immer auf den Boden
gerichtet hatte. Dann ging Shinji zu ihr hinüber und legte eine
Hand auf ihre Schulter. Die junge Frau zuckte kurz zusammen,
bewegte sich aber ansonsten nicht und hob auch nicht den Blick.
"Es ist in Ordnung", sagte der Junge schließlich mit
Überwindung. "Du kannst nichts dafür..."
Dann brach sie zusammen. Misato hockte sich auf den Boden,
zog die Knie an ihr Kinn und umschlang ihre Beine mit ihren
Armen. In dieser Position hatte sie schweigend einen Großteil
ihrer Kindheit verbracht. Shinji hatte davon gehört und wusste,
dass es für Misato eigentlich unmöglich war, sich derartig
zurückzuziehen. Umso gefährlicher war ihr aktueller Zustand. Der
Gedanke, zwei ihrer liebsten Schützlinge in Haft zu stecken,
musste sie innerlich zerfressen, egal, ob es ihre Schuld war
oder nicht.
Shinji tat das einzige, dass ihm richtig erschien. Er
setzte sich hinter sie und schlang seine Arme um sie, über ihren
eigenen. Dann drückte er sie an sich.
"Es ist in Ordnung..." wiederholte er seine Worte, während
Misato zu schluchzen begann.
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132
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Frank saß gemütlich in seinem Sessel und las. 1984.
George Orwell. "Krieg ist Frieden". Wie wahr. Wenn der Krieg zum
Dauerzustand wurde, nahm ihn niemand außer den unmittelbar
Beteiligten mehr wahr. Das galt damals genauso wie heute. Obwohl
die Erde beinahe ununterbrochen von den Angriffen der Engel
heimgesucht wurde und alle Menschen unter den Folgen des Second
Impact zu leiden hatten, lebte der Großteil so, als wäre dies
nicht nur heute, sondern schon immer ganz normal gewesen.
Frank blickte auf. Sein Leben war bislang nur ein Krieg
gewesen. Ein Krieg gegen den Krieg. Er hatte alles und jeden
ausspioniert und Informationen gesammelt, wo er nur konnte.
Selbst in SEELEs Hauptcomputer war er eingedrungen.
Wahrscheinlich würde Gregor ihn dafür einsperren oder sogar ganz
aus dem Verkehr ziehen lassen, doch es war ihm egal. Jeder
musste selbst herausfinden, wie er sich am besten durchs Leben
schlug. Frank wollte die Wahrheit herausfinden. Noch bevor er zu
SEELE gegangen war, hatte er nicht an die offizielle Version des
Second Impacts mit dem Meteoriteneinschlag geglaubt. Es war
irgendetwas besonderes am Nordpol geschehen. Etwas, das sich mit
nichts, was die Erde je zuvor erlebt hatte, vergleichen ließ.
Später dann war er SEELE beigetreten und hatte von Gregor die
Wahrheit erfahren. Adam, der erste Engel, war im Jahr
Zweitausend erwacht und hatte die Erde an den Rand des Abgrundes
getrieben... Adam, der - wie er zunächst geglaubt hatte - tief
unten in NERVs Keller an ein riesiges rotes Kreuz genagelt war.
Bei diesem Gedanken tauchte unwillkürlich Kajis Bild in seinem
Kopf auf. Frank musste schmunzeln, als er an seinen ehemaligen
"Lehrmeister" dachte...
Doch in diesem Moment wurde er von dem verhaltenen
Glockenton der Klingel an der Tür zu seinem Quartier wieder in
die Realität befördert.
"Herein!" rief er.
Die Tür öffnete sich und Kensuke trat ein. Frank blickte
ihm mit einem unbestimmbaren Lächeln entgegen.
"Setz dich doch", bot er ihm einen freien Sessel an.
Doch Kensuke schien ihn nicht wirklich zu hören, sondern
blieb beinahe ein wenig orientierungslos im Raum stehen. Erst
nach ein paar Minuten schien er mitzubekommen, was ihm gesagt
wurde, und setzte sich. Doch auch dann macht er noch einen sehr
abwesenden Eindruck.
"Du hast sie geliebt." Es war keine Frage, sondern eine
einfache Feststellung. "Richtig geliebt."
Der Andere blickte auf. Seine Augen schienen zu leuchten,
allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Frank schaute ihn
an. Irgendwie wurde er aus diesem Jungen nicht klug. Er hatte
alles mögliche erwartet: Zorn, Hass, Niedergeschlagenheit,
Trauer, Wut, alles mögliche. Doch die wirkliche Reaktion war
ganz anders. Natürlich umgab den Jungen seit Karins Tod eine
Aura der Trauer, doch sonst macht er einen sehr gefassten
Eindruck. Es war, als hätte er seine Emotionen weggeschlossen
und sich entschieden, sein Innerstes vor allen anderen geheim zu
halten. Zumindest erschien es Frank so. Der Junge hatte eine
ziemlich introvertierte Art, mit diesem Verlust umzugehen.
Frank selbst hatte sich über den Tod des Mädchens noch
nicht allzu viele Gedanken gemacht, vor allem, weil er wusste,
dass diese mit Schmerzen verbunden sein würden. Er hatte sie
wirklich gemocht. Karin war für ihn so etwas wie eine kleine
Schwester gewesen, obwohl er kaum älter war als sie. Er wusste,
dass irgendetwas Dunkles in ihrer Vergangenheit war. Ihre
scheinbar unerschöpfliche Fröhlichkeit war nur eine Maske
gewesen. Doch sie hatte nie über ihre Probleme gesprochen. So
sehr er sich auch bemüht hatte, sie zum Reden zu bewegen, aus
dem Mädchen war nichts herauszubekommen. Jedes Mal, wenn er ihr
diesbezüglich eine Frage stellte, wich sie ihm aus oder
ignorierte ihn ganz einfach. Dabei ließ allein die Tatsache,
dass sie stets lange Kleidung trug - auch im Hochsommer -
vermuten, dass sie etwas zu verbergen hatte. Doch mehr als das
wusste eigentlich niemand über sie, wahrscheinlich nicht einmal
Gregor. Sie war für alle nur die immer freundliche, höfliche,
hilfsbereite und glückliche SERAPHIM-Pilotin gewesen. Der
Einzige, der vielleicht die Chance auf einen Blick hinter Karins
Fassade hatte, war möglicherweise Kensuke.
In diesem Moment wurde Frank bewusst, dass er seinen Gast
beinahe vergessen hätte und blickte auf. Doch Kensuke schien von
seiner geistigen Abwesenheit keinerlei Notiz genommen zu haben.
Er schaute nur gedankenverloren vor sich hin. Doch dann, von
einem Moment auf den anderen, schien er einen Entschluss gefasst
zu haben. Er blickte Gregor fest in die Augen und nickte leicht.
"Ja", sagte er. "Ich habe sie geliebt. Mit allem, was ich
bin. Mit allem, was mich ausmacht."
Frank nickte ebenfalls. "Auch wenn du sie nur ein paar
Stunden lang gesehen hast, kennst du sie vielleicht besser als
jeder andere hier."
"Sie hat mir ein paar... dunkle Geheimnisse verraten."
"Dennoch...", Frank zögerte einen Augenblick. "Ich habe ein
paar Nachforschungen angestellt... Hast du schon einmal etwas
von Projekt 862702 gehört?"
Kensuke nickte. "Mein Vater hatte daran mitgearbeitet. Ich
habe allerdings keinen blassen Schimmer, worum es dabei ging."
"Um ehrlich zu sein, ich weiß es auch nicht", sagte Frank.
"Allerdings ist diese Nummer identisch mit dem Index von Karins
Akte in der Personaldatenbank von SEELE."
"Was?"
"Genau. Irgendetwas hatte SEELE mit ihr geplant. Ich habe
keine Ahnung, was. Ich glaube allerdings kaum, dass sie ihr in
irgendeiner Weise Schmerzen zufügen wollten. Das würde ich
Gregor in keinem Fall zutrauen. Vielleicht ging es um eine
Verbesserung der Synchronrate. Vielleicht war es auch etwas
völlig anderes." Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß es wirklich
nicht. NERV hat ja auch immer irgendwelche Forschungen mit einen
Piloten betrieben, ohne ihnen dabei unbedingt zu schaden."
"Also hat mein Vater überhaupt nicht für NERV, sondern für
SEELE gearbeitet.."
Frank zuckte mit den Schultern. "Möglich. Heutzutage weiß
man von niemanden mehr, für wen er eigentlich arbeitet." Er
machte eine kurze Pause, als wollte er überlegen, wie er im
weiteren Verlauf ihres Gespräches vorzugehen habe. "Doch das ist
nicht das, worauf ich eigentlich hinauswollte. Karin besaß zwar
einen Eintrag in der Datenbank, allerdings war dieser leer."
"Was hat das zu bedeuten?"
"Im Prinzip hat niemand eine Ahnung, wer sie ist, wer ihre
Mutter war oder wie SEELE sie aufgespürt hat. Sie ist ganz
einfach nur da, keiner weiß, woher sie kommt. Man bekommt sogar
das Gefühl, dass sie es nicht einmal selbst weiß. Zwar ist
Stefan Maishima ihr Vater, aber viel hilft das auch nicht
weiter. Er selbst hält sich zu diesem Thema bedeckt und hätten
die beiden nicht denselben Nachnamen, könnte man aus ihrem
Verhalten schließen, dass sie sich völlig fremd sind. Aber
eines ist klar: sie ist die geborene SERAPHIM-Piloten. Ihr macht
niemand etwas vor. Doch wie SEELE sie gefunden hat, ist unklar.
Und dann ist da die Art, wie sie sich benimmt und kleidet. Als
wäre sie völlig durcheinander..."
Frank schüttelte leicht den Kopf. Auf ihren Versuchen,
Fragen, die sich direkt auf ihre Vergangenheit bezogen, zu
umgehen. war sie für diejenigen, die sich die Mühe machten, sie
genauer zu beobachten, immer näher an den Rand der
Unglaubwürdigkeit gerutscht. Immer wieder widersprach sie sich
selbst und das Lächeln, das sie ständig zur Schau trug,
bröckelte Stück für Stück ab, so dass die tiefen Schmerzen
darunter mehr und mehr zum Vorschein kamen. Doch nur Wenige
achteten darauf. Manchmal fragte er sich, ob er womöglich der
Einzige war, der sich ernsthaft über dieses Mädchen Gedanken
gemacht hatte.
Kensuke schnaubte und Frank begriff, dass es eine Art
Antwort auf das war, was er zuvor gesagt hatte.
"Wenn du wüsstest..."
Frank überlegte einen Augenblick, was er darauf antworten
sollte. Karin schien sich Kensuke tatsächlich anvertraut zu
haben. Einerseits wunderte ihn das, da sie sich nie zuvor
jemandem geöffnet hatte, andererseits konnte er es aus exakt
demselben Grund auch verstehen. Wenn sich der Frust und die
Schmerzen über Jahre hinweg angestaut hatten, reichte bereits
ein kleines Ventil, die geringste Hoffnung auf Linderung aus, um
sie zu dem Entschluss zu bringen, mit jemandem darüber zu reden.
Dann schüttelte er den Kopf.
"Das ist genau der Punkt. Ich habe versucht, mit ihr zu
reden und davon sie zu überzeugen, dass es besser für sie wäre.
Ich habe wirklich alles versucht. Ohne Erfolg. Ich weiß eben
NICHT, was los war. Ich habe keine Ahnung, was Karin bedrückte."
Ihm waren Tränen in die Augen gestiegen, obwohl er es eigentlich
nicht wollte. "Ich habe keinen blassen Schimmer. Sie WOLLTE mir
nichts sagen." Langsam beruhigte er sich wieder.
"Sie wollte niemandem etwas sagen, stimmt's?" fragte
Kensuke.
"Wenn sie dir nichts erzählt hat, was augenscheinlich nicht
der Fall ist, hat sie ihr Geheimnis mit ins Grab genommen",
bestätigte ihn Frank. "Ich denke, dass selbst Gregor nicht weiß,
was mit ihr los war, obwohl er sonst alles zu wissen scheint.
Andererseits... hat er wirklich viel zu tun. Und ich bin sicher,
dass er Mittel und Wege kennt, es aus ihrem Kopf herauszuholen,
allerdings traue ich ihm nicht zu, dass er diese tatsächlich
einsetzt."
Kensuke blickte ihn plötzlich mit einer nie da gewesenen
Intensität an. Ihm war unvermittelt ein Gedanke gekommen.
"Das ist jetzt zwar ein etwas abrupter Wechsel", sagte er.
"Aber weißt du etwas über jemanden namens Eridastoh?"
Frank zuckte kurz zusammen. Eridastoh... Karin... diese
Verbindung gefiel ihm überhaupt nicht. Wieso hatte er nur das
Gefühl, dass hinter dieser ganzen Sache noch viel, viel mehr
steckte? Er nickte bedächtig.
"Vor ein paar Wochen, recht kurz bevor du hier angekommen
bist, kursierten ein paar Gerüchte über diesen Namen. Es handelt
sich dabei angeblich um eine Art Engel. Vielleicht hast du auch
schon bemerkt, dass Gregor kein gewöhnlicher Mensch ist. Ich
meine, welcher fünfzehnjährige Teenager leitet schon solch eine
Organisation wie SEELE? Manche Menschen glauben sogar, dass auch
er ein Engel sein soll." Frank schien einen kurzen Augenblick
lang nachzudenken. "Vielleicht hast du auch schon davon gehört,
dass er manchmal unter dem Decknamen ,Aristoh' operiert."
Kensuke fiel fast aus seinem Sessel. "Aristoh?" fragte er
mit einer Stimme, die nach einer seltsam bemerkenswerten
Mischung aus Schreien und Krächzen klang.
Sein Gegenüber blickte ihn fassungslos an. Sollte es am
Ende etwa stimmen? Den Gerüchten zufolge sollte sich Eridastoh
vor allem durch eine bestialische Unbarmherzigkeit und
Grausamkeit auszeichnen. Wenn ein derartiges Monster tatsächlich
existierte... Bereits der Gedanke daran fröstelte ihn... und
doch... irgendwie war er sich sicher, dass es wirklich wahr sein
musste. Aristoh und Eridastoh., zwei beinahe gleichstarke,
gewaltige Monster, die mit dem Krieg zwischen sich in der Lage
waren, ganze Sonnensysteme zu vernichten. Glücklicherweise
schien Aristoh auf ihrer Seite zu sein - nicht nur das. er
schien die Menschen auch als gleichberechtigte Partner und nicht
nur als seine Untergebenen anzusehen.
Seinem Gesichtsausdruck zufolge musste Kensuke soeben zu
denselben Schlüssen gelangt sein. Oder besser, zu noch viel
schlechteren, als er selbst. Kensuke wusste etwas über den Kampf
zwischen den beiden Überwesen, das sehr beängstigend war.
"Weißt du etwas über diesen Eridastoh?" fragte Frank
vorsichtig.
Kensuke benötigte einen Augenblick, um sich auf seine
Antwort vorzubereiten. "Nicht wirklich viel", sagte er dann.
"Nur, dass er in der Lage ist, Menschen zu kontrollieren. Allein
mit seinem Willen." Sein Blick verdüsterte sich. "Und.. dass er
allem Anschein nach so etwas wie der Erzrivale von Aristoh ist."
Die Kälte in seiner Stimme hatte inzwischen den absoluten
Nullpunkt fast erreicht. "Und dass er..." Kensuke stockte. Einen
Moment lang hatte er Schwierigkeiten, weiterzusprechen, doch er
fing sich bald wieder. "Und dass er Karin benutzt hat, um
Aristoh Schaden zuzufügen oder ihn zumindest aus der Reserve zu
locken." Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. "Was
allerdings nicht funktioniert hat, da sie niemandem etwas davon
erzählte." Seine Stimmung schwang plötzlich in
Niedergeschlagenheit um. "Außer mir..." er blickte zu Boden.
"Ich hatte ihr versprochen, sie zu beschützen." Seine Stimme
wurde brüchig. "Ich hätte alles getan. Ich hätte mein Leben
geopfert, um ihres zu retten." Er schwieg einen Moment. "Doch
ich habe versagt." Plötzlich empfand er nur noch Verbitterung
und Selbstmitleid. "Wie schon so oft."
Frank brauchte eine Weile, um all diese Informationen zu
verdauen. Er konnte sich nur vage vorstellen, was Karin vor
ihrem Tod alles durchleiden musste. Er hatte auch keine Ahnung,
über wie viele Jahre sich dieser Leidensweg bereits hingezogen
hatte. Und, um ehrlich zu sein, wollte er es auch gar nicht
wirklich wissen. Doch nun fiel ein weiteres Puzzleteil an seinen
Platz und passte sich perfekt in das Gesamtbild ein. Karin hatte
ihnen ihre Probleme nicht verschwiegen, weil sie - wie er
bislang angenommen hatte - die anderen nicht damit belästigen
wollte, sondern schlicht und einfach, weil sie verhindern
wollte, dass Eridastoh durch diese Aktionen sein Ziel erreichte.
Hätte sie sich eher jemandem anvertraut, wäre dies mit
Sicherheit irgendwie bis zu Aristoh durchgedrungen. Der wäre auf
jeden Fall dagegen vorgegangen und hätte sich
höchstwahrscheinlich irgendeine Blöße gegeben, wenn sie auch
noch so klein war. Dies wiederum hätte Eridastoh die Chance
gegeben, ihnen erheblichen Schaden zuzufügen. Also hatte sie all
die Jahre geschwiegen und erst kurz vor ihrem Tod Kensuke davon
erzählt. Ob sie vielleicht gewusst hatte, dass es zu dem Unfall
kommen würde? Andererseits... hätte sie Kensuke damit auf
egoistischste Art und Weise wissentlich wehgetan, und das traute
Frank ihr eigentlich überhaupt nicht zu. Wahrscheinlich hatte
sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und als Kensuke ihr
signalisierte, dass er sie mochte und sich um sie sorgte, noch
bevor er auch nur den Hauch einer Andeutung dessen, was mit ihr
los war, überhaupt mitbekommen konnte, war das Fass ganz einfach
übergelaufen und sie hatte sich ihm geöffnet. Damit hatte er -
ohne es zu wissen - etwas erreicht, mit dessen Unmöglichkeit
sich ganz Dresden eigentlich schon abgefunden hatte, denn jeder
in der Stadt hatte des seltsame, immer augenscheinlich so
fröhliche Mädchen gekannt oder zumindest von ihr gehört.
Mit diesen Gedankengängen wurde ihm plötzlich siedend heiß
bewusst, was für eine Gefahr eigentlich von Eridastoh ausging.
Nicht nur, dass er zumindest genau so viel Macht und Energie wie
Gregor respektive Aristoh zu besitzen schien, vielleicht noch
mehr - was angesichts der Umstände, die der Kommandant von SEELE
mit dem Bau der SERAPHIM-Einheiten auf sich nahm, sogar recht
wahrscheinlich war -, er war auch noch so voll von Tücke und
Boshaftigkeit - was vor allem durch die Taten, die er gegen
Karin begangen hatte, impliziert wurde -, dass man sich fragen
musste, ob es überhaupt Mittel gegen eine derartig subtile
Vorgehensweise gab, vor allem solche, die unter den aktuellen
Umständen angewendet werden konnten. Wer weiß, wie viele
ähnliche oder sogar mit diesem identische Abläufe und Schicksale
sich innerhalb SEELEs bereits ereignet hatten, ohne dass jemand
irgendeine Notiz davon nahm. Vielleicht hatte er es sogar
geschafft, dem einen oder anderen den Kopf derartig zu
verdrehen, dass er sie oder ihn auf seine Seite ziehen konnte -
womit sich möglicherweise Dutzende potentielle Mörder,
Attentäter und Saboteure unerkannt unter ihnen befanden. Dies
war in Franks Augen die größte Gefahr. Nicht einmal SEELEs
Kommandoriege wäre dagegen gefeit. Vielleicht war Eridastoh
sogar in der Lage, Gregor so zu manipulieren, dass dieser
unbewusst gegen seine eigenen Ziele und damit für die seines
Gegners arbeitete. Andererseits erschien ihm dieser Gedanke dann
doch zu abwegig. Ein solches Vorgehen wäre ein perfekter
Geniestreich gewesen und das traute er dem Gegner dann doch
nicht zu. Andererseits konnte man sich heutzutage mit absolut
nichts mehr sicher sein. Im Moment machte es sowieso keinen
Sinn, sich über derartige Dinge Gedanken zu machen. Bei SEELE
liefen die Vorbereitungen für den finalen Kampf auf Hochtouren,
obwohl niemand außer Gregor wusste, gegen wen oder was
eigentlich gekämpft werden sollte. Da jedoch keiner an den
Fähigkeiten des Kommandanten zweifelte, stellte auch niemand
diesbezügliche Fragen. Dennoch interessierten sich natürlich
alle brennend dafür, und Frank konnte sich lebhaft vorstellen,
worum es in den allabendlichen Diskussionen in den Bars und Pubs
ober- und unterhalb der Erdoberfläche ging. Doch niemand würde
je auf die Idee kommen, den Befehl seines vorgesetzten und damit
- wenn man in der Kommandostruktur bis ganz nach oben ging -
Gregors Befehl in Frage zu stellen. Absolute Loyalität gegenüber
dem Kommandanten war eines der Grundprinzipien, auf denen die
Basisstruktur der Organisation von SEELE aufbaute. Und in der
Vergangenheit hatte sich oft genug erwiesen, dass der von Gregor
mit seinen zum Teil seherischen Fähigkeiten eingeschlagene Kurs
immer der richtige gewesen war. Warum sollte man ihm also nicht
blind vertrauen? Doch genau darin bestand ein enormes
Gefahrenpotential, falls es Eridastoh tatsächlich gelingen
sollte, ihn zu manipulieren...
An dieser Stelle unterbrach Frank sich selbst, da er
merkte, dass sich seine Gedanken im Kreis drehten. Ein Problem
zog das nächste nach sich, wie eine Reihe aufgestellter
Dominosteine. Stieß man den ersten um, folgten die anderen
automatisch. Er seufzte. Es war zwecklos. Er konnte absolut
nichts tun, außer abzuwarten, was passieren würde. Vor diesem
Wall aus Problemen und tatsächlichen sowie potentiellen Gefahren
musste er passen. Es gab einfach zu viele Variationen und
Möglichkeiten. Man konnte sich nicht gegen alle absichern.
Kensuke schien sich inzwischen auch seine Gedanken gemacht
zu haben, allerdings war es unmöglich zu sagen, worüber. Doch
auch er schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass es keinen
Sinn machte, weiter darüber nachzugrübeln und straffte sich
unwillkürlich ein wenig. Dann blickte er Frank direkt in die
Augen.
"Du hast Karin viel länger gekannt als ich", sagte er dann.
"Was war sie für ein Mensch? Ich meine, einmal abgesehen von all
diesen mystischen Dingen, die sie umgaben."
Frank musste schmunzeln. Das war mit Sicherheit ein
angenehmeres Gesprächsthema. "Nun, im Großen und Ganzen war sie
ein höfliches, hilfsbereites und fröhliches, aber auch sehr
zurückhaltendes Mädchen. Ich meine, ich habe Momente mit ihr
verbracht, in denen sie wirklich glücklich war und all ihre
Sorgen vergessen hatte. Meistens dann, wenn Karin, meine
Freundin und ich etwas gemeinsam unternommen haben."
"Du hast eine Freundin?", unterbrach ihn Kensuke.
Frank grinste. "Ja. Leider arbeiten wir in
unterschiedlichen Schichten, so dass wir nur selten unsere
Freizeit gemeinsam verbringen können. Wenn es allerdings dazu
kam, haben wir immer versucht, Karin irgendwie mit
einzubeziehen. Meistens haben sich dann die beiden Mädchen gegen
mich verbündet und versucht, mich durchzukitzeln, was immer
darin endete, dass wir quer über den Boden kugelnd die Hälfte
der Einrichtung des jeweiligen Quartiers - zu meinem Leidwesen
meistens meines - zu Kleinholz verarbeitet haben. War allerdings
kein Problem, mein Gehalt ist ganz erklecklich."
Sie waren, während Frank erzählt hatte, aufgestanden und
langsam zum Fenster gegangen, von wo aus sie einen wundervollen
Blick in eine matt beleuchtete, natürliche Tropfsteinhöhle
hatten.
"Allerdings", fuhr Frank fort und er bemerkte, wie das
warme Lächeln, dass sich um Kensukes Lippen gebildet hatte,
allmählich wieder verschwand. "Allerdings glaube ich, dass diese
seltenen Moment die einzigen wirklich glücklichen in ihrem Leben
waren." Er machte eine kurze Pause, um seine Worte einwirken zu
lassen. "Sie besaß eine Art scheue Zurückhaltung, die ihr den
Kontakt zu anderen Menschen verwehrte. Es gab wirklich nur einen
einzigen Weg, eine Freundschaft mir ihr zu bilden: indem man
direkt und ohne Umschweife auf sie zuging und ihr sagte, was man
von ihr wollte. Von sich aus redete sie so gut wie nie mit
Anderen, von knappen Begrüßungen und Verabschiedungen einmal
abgesehen." Er machte erneut eine kleine Pause. "Hatte man sie
aber erst einmal als Freundin gewonnen, dann stand sie einem
allerdings in jedem Fall zur Seite. Als wir einmal in einem
Laden ein paar Schokoriegel kaufen wollten, ohne dafür Geld zu
bezahlen, und dabei erwischt wurden, hat sie sogar ihren
militärischen Rang als SERAPHIM-Pilotin ins Gewicht geworfen, um
den Besitzer davon abzuhalten, Anzeige gegen uns zu erstatten.
Das war kreuzgefährlich. SEELE hätte sie dafür rauswerfen
können. Doch sie hat es ohne zu zögern getan.
Kensuke musste unwillkürlich schmunzeln, als er das hörte.
Irgendwie passte es voll und ganz zu Karin.
"Ansonsten", setzte Frank seine Ausführungen fort, "war sie
meistens allein. Wir beiden waren ihre einzigen Freunde.
Abgesehen von dir natürlich. Allerdings gab es da noch eine
bemerkenswerte Ausnahme. Karin spielte mit einer faszinierenden
Leidenschaft Tennis. Sie war sogar die..." Frank stoppte, als er
bemerkte, dass Kensuke sich versteifte und sein Blick plötzlich
an Schärfe verlor. "Was hast du?" fragte er.
Doch Kensuke konnte nicht antworten. Ihm war, als würde er
in ein endlos tiefes, schwarzes Loch fallen. Vor seinem
geistigen Auge wiederholte sich immer wieder die gleißende
Explosion, tanzten immer wieder die Totenschädel mit ihren rot
glühenden Augen. Wie in einer Endlosschleife rauschte mit
atemberaubender Geschwindigkeit der Traum vorbei, der ihn in den
letzten Wochen immer wieder heimgesucht hatte. Doch nach einer
Weile klärten sich die verschwommenen Bilder wieder. Erneut
fiel ein Puzzleteil an seinen Platz, schloss sich eine Lücke in
der Lösung des Rätsels Karin Maishima. Sie hatte Tennis
gespielt. Das erklärte, warum er ausgerechnet diese Träume
hatte. Das erklärte aber nicht, woher er es schon zuvor gewusst
hatte. Oder hatte er es nur geahnt? Hatte Karin ihm aus dem
Reich der Toten eine Nachricht gesendet? Er schüttelte den Kopf.
Jedes Kind, das nach dem Second Impact geboren wurde, wusste,
dass es keinen Himmel und kein Paradies gab. Wahrscheinlich gab
es nicht einmal eine Hölle. Menschen, die starben, hörten
einfach auf, zu existieren. Das war alles. Das Gerede von
Engeln, die die Erde angriffen und vor allem der Glaube daran
bildeten einen Kontrast voller Ironie zur eigentlichen Realität.
Wie die Kirche hatte der Glaube an Gott aufgehört zu bestehen
und dennoch hielten ein paar arrogante, vereinzelte Individuen
daran fest, als würde er ihnen einem Lebenselixier ähnlich
Unsterblichkeit garantieren. Bei diesen Vereinzelten handelte es
sich allerdings keinesfalls um einfache Menschen, denen man
jeden Tag auf der Straße begegnen konnte, sondern um hohe Köpfe
in Wirtschaft, Wissenschaft und Industrie, die vor lauter Geld
die Hand vor Augen nicht mehr erkennen konnten. Für die normalen
Menschen hatten die alten Werte allerdings schon lange keinen
Bestand mehr. In weit über 95 Prozent aller Länder der Erde -
oder dem, was von ihnen nach dem Second Impact noch übrig war -
waren Armut und Reichtum nichtig und Wörter wie Wohlstand aus
den Köpfen der Menschen verschwunden. Elend regierte die Welt.
Doch über den Schicksalen Tausender wurde das Schicksal
Einzelner unwichtig. Damit schwebten Kensukes Gedanken zurück zu
Karin. Ja, er hatte sie wirklich geliebt. Und er würde sie sein
Leben lang nicht vergessen.
"...nsuke? Was ist mit dir los?"
Er erwachte aus seiner Lethargie, alarmiert durch Franks
besorgten Ruf. Der andere Junge stand ihm gegenüber, hatte ihn
an den Schultern ergriffen und schüttelte ihn leicht, als ob er
ihn aus einer Ohnmacht aufwecken wollte.
Kensuke lächelte schmal. "Ja, alles in Ordnung. Nur ein
weiteres Puzzleteil, das an seinen Platz gefallen ist. Und eine
neue Frage."
"Aha. Willst du mir verraten, welches Teil?"
"Ein Alptraum, der mich seit Wochen plagt. Jetzt weiß ich
zumindest teilweise, was er bedeuten könnte."
Frank hob eine Augenbraue. "Ein Alptraum?" fragte er.
Kensuke nickte. "Ja. Eigentlich ziemlicher Schwachsinn. Ich
möchte auch nicht unbedingt darüber reden. Fakt ist, dass Karin
darin Tennis gespielt hat. Ich habe nur keine Ahnung, wie mein
Unterbewusstsein an diese Information gekommen sein soll."
Sein Gegenüber nickte nun ebenfalls. "Und das ist deine
neue Frage. Das scheint ein gängiges Problem der heutigen Zeit
zu sein. Je mehr Informationen wir herausfinden, desto weniger
scheinen wir zu wissen. Für jede Antwort, die wir bekommen,
entstehen mindestens zwei neue Fragen." Er überlegte kurz, wie
er fortfahren sollte. "Ich glaube kaum, dass es im Moment viel
Sinn macht, in diese Richtung weiter zu forschen. Du wirst immer
wieder ein Teil finden, mit dessen Hilfe du das Gesamtbild
vervollständigen kannst. Ich denke, vor allem Karin wird uns
noch eine Weile beschäftigen." Er legte Kensuke die Hand auf die
Schulter. "Du hast es geschafft, ihr Herz zu erobern. Du hast es
geschafft, sie wirklich glücklich zu machen. Es spielt keine
Rolle, ob nur für wenige Stunden oder für viele Jahre. In deinen
Armen war sie zufrieden und glücklich. Niemand sonst ist dies
jemals zuvor mit einem derartig durchschlagenden Erfolg
gelungen. Denke immer daran. Du hast nicht versagt. Im Gegenteil
- es gibt keine Möglichkeit, wie du es hättest besser machen
können."
Ein leichtes Leuchten bildete sich in Kensukes Augen. Aus
dieser Perspektive hatte er die Sache noch nicht betrachtet.
Auch wenn er sich selbst noch immer als Versager fühlte, bestand
immerhin die Möglichkeit, dass Karin ihn nicht als einen solchen
betrachtete. Vielleicht hatte er sie wirklich in einer gewissen
Weise erlöst.
"Natürlich hatte Karin auch ihre Eigenheiten", fuhr Frank
schließlich mit seiner Erzählung über das Mädchen fort. "Obwohl
sie immer nur Jungenklamotten anhatte, trug sie zum Beispiel
einen Ring im linken Ohr. Zusammen mit dem Kopftuch gab es ihr
fast das Aussehen eines Piraten. Es gab noch viele weitere
Details an ihr zu bemerken, auch wenn man lange und intensiv
danach suchen musste..."
"Ja", stimmte Kensuke ihm zu. "Wie auch dieser niedliche
Leberfleck an ihrem rechten Knie..."
Frank stutzte. "Wie um alles in der Welt kannst du so etwas
wissen?"
Kensuke wurde von einem Augenblick auf den anderen hochrot.
"Sie... sie hat mir davon erzählt!" stieß er hervor. Er konnte
dem Anderen doch unmöglich schildern, wie Karin sich vor seinen
Augen bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte, um ihm die
Narben als Folge von Eridastohs Misshandlungen an ihrem Körper
zu demonstrieren. Mehr noch, er hatte all seine Überredungskunst
und Überzeugungskraft aufbringen müssen, um sie davon
abzuhalten, auch noch diese letzten Stückchen Stoff abzulegen.
Doch noch während sie ein paar Minuten lang heiß darüber
diskutierten, inwiefern diese Narben ihren Wert als Individuum
verminderten - oder eben auch nicht, wie Kensuke meinte - war er
nicht in der Lage gewesen, seine Augen auf ihre zu heften und
sie davon abzuhalten, ihren Körper entlang zu wandern. Egal, wie
sehr sie behauptet hatte, ein hässliches und uninteressantes
Mädchen zu sein, sie war verdammt attraktiv. Die Narben waren
nicht einmal ansatzweise in der Lage, die Schönheit ihres
jungen, wohlgeformten und schlanken Körpers zu verbergen;
zumindest seiner Meinung nach - und das reichte ihm völlig aus.
Als er ihr erklärte - und sie allmählich auch begriff, dass ihm
die Meinung anderer über sie und sogar ihre eigene über sich
selbst gleichgültig war, nahm auch ihr Gesicht eine tiefe
Rotfärbung an. Wenn Kensuke Aida in Karin Maishima ein hübsches,
attraktives und faszinierendes Mädchen, ja fast schon eine
wunderschöne junge Frau sah, war niemand - nicht einmal sie
selbst - in der Lage, etwas daran zu ändern. Die einzige
Möglichkeit wäre gewesen, dass sie ihm auf eine ihr nicht
bewusste Weise - also keinesfalls Beteuerungen und halbherzige
Überredungsversuche - zeigte, dass all das, was sie ihm über
sich selbst erzählte, tatsächlich stimmte. Sie hätte sich selbst
und damit letztendlich auch ihn verraten müssen. Und je mehr sie
versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass sie das letzte Mädchen
war, mit dem ein normaler Junge zusammen sein wollte, desto
sicherer wurde er, dass sie sich all ihre Argumente mehr oder
weniger nur einbildete. Und er war sich genauso sicher, dass
jeder andere Junge, dem sie einen solchen Einblick gewährt
hätte, ebenfalls zu diesem Schluss gekommen wäre. Das wiederum
bedeutete, dass er unheimliches Glück hatte, dass ausgerechnet
er derjenige gewesen war, dem es als erstes gelungen war, die
Mauer, die sie um sich errichtet hatte, zu erklimmen. Doch das
warf bereits wieder eine neue Frage auf: Warum war Frank dies
nicht gelungen, obwohl er es doch augenscheinlich über Monate
und Jahre hinweg versucht hatte? Vielleicht lag es daran, dass
Karin zu Beginn möglicherweise geglaubt hatte, dass sein
Interesse an ihr rein beruflicher Natur war. Als er sich dann
von der Vergeblichkeit dieses Unterfangens überzeugt hatte,
suchte er sich eine andere Freundin und Karin war von da an nur
noch das fünfte Rad am Wagen. Kensuke glaubte zu wissen, wie sie
sich in dieser Situation gefühlt haben musste, schließlich war
er selbst jahrelang ein Außenseiter gewesen. Doch im Nachhinein
wurde er sich bewusst, dass er nur einen kurzen,
blitzlichtartigen Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlswelt
hatte erhaschen können. Ihren eigentlichen Charakter, ihr
wirkliches Wesen und vor allem ihre Vergangenheit würde er
niemals kennen lernen. Mit dem Mädchen selbst würde auch die
Erinnerung an sie aus den Köpfen der meisten Menschen bald
verschwinden und in wenigen Monaten würde kaum noch jemand
wissen, dass sie überhaupt existiert hatte. Die heutige Zeit war
einfach viel zu schnelllebig. In Kensuke Gedanken und Andenken
allerdings würde Karin immer weiterleben. Das und die Tatsache,
dass sie in seinen Armen wirklich glücklich gewesen war, wenn
auch nur für ein paar Minuten, gab ihm eine Art besonderes
Selbstvertrauen, einen emotionalen Aufschwung, der ihm erneut
bestätigte, dass sich seine Liebe zu dem Mädchen nicht
vermindert hatte, eher im Gegenteil. Er glaubte, noch immer dass
schillernde, feste und unverletzliche Band zwischen ihnen zu
spüren. Doch im selben Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er sie
vermisste. Je näher er sich ihr fühlte, desto unerträglicher
wurden die Schmerzen. Er seufzte. Es würde wohl Jahre dauern,
bis seine Wunden verheilt waren. Im Augenblick glaubte er sogar
nicht einmal, dass es überhaupt dazu kommen würde.
Frank hatte bemerkt, dass sein Gegenüber immer tiefer in
Gedanken versunken war, hatte sich aber bis zu diesem Zeitpunkt
nicht gewagt, ihn dabei zu unterbrechen. Außerdem war es viel zu
interessant, die vielfältigen Emotionen in seinem Gesicht zu
lesen.
Kensuke schaute auf und bemerkte Franks Blick.
Unwillkürlich musste er lächeln.
"Wie viel würdest du für meine Gedanken bieten?" fragte er.
"Deinem Gesichtsausdruck nach müssen sie unbezahlbar sein."
Kensuke setzte ein breites Grinsen auf. "Das ist allerdings
wahr. Um deine vorherige Frage aber vielleicht doch noch zu
beantworten: Ich habe wahrscheinlich als einziger Mensch auf
diesem Planeten außer ihr selbst das Privileg genossen, von
Karins Haut mehr als nur die ihrer Hände und die ihres Gesichtes
gesehen zu haben."
"Wie viel mehr?"
"Das... möchte ich dann lieber doch für mich behalten",
antwortete Kensuke mit verschmitztem Lächeln.
In eben diesem Augenblick meldete sich die
Kommunikationsanlage in Franks Quartier mit einer Durchsage zu
Wort.
"An das gesamte Personal", konnte man Gregors leicht
verrauschte Stimme über die Lautsprecher hören. "Erste Welle
gegen NERV startet in fünfzehn Minuten."
Frank dachte nach. Gegen NERV, also. Doch er war sich
sicher, dass dies nicht das wirkliche Ziel war.
Kensuke straffte sich. "Jetzt kommt wohl mein großer
Auftritt." Er lächelte schief. "Mal sehen, was mein Programm
taugt..."
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133
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Stefan Maishima stand in seinem Büro am Fenster und
schaute hinunter in dieselbe Tropfsteinhöhle, die auch schon
Frank und Gregor zuvor betrachtet hatten. Doch die Vielzahl an
Stalaktiten und Stalagmiten - er konnte nie auseinander halten,
welche welche waren, die, die an der Decke hingen oder die, die
scheinbar aus dem Boden wuchsen - konnte er nicht bewundern.
Seine Gedanken gingen in eine völlig andere Richtung. Er musste
an seine Tochter denken.
Jetzt, im Nachhinein, musste er sich eingestehen, keine
Ahnung zu haben, was für ein Mensch Karin gewesen ist. Er hatte
- abgesehen von ihren Geburtstagen, und selbst an denen nur
selten - so gut wie keinen Kontakt zu ihr gehabt. Ständig waren
irgendwelche dringenden Aufträge und Missionen dazwischen
gekommen, wenn er eigentlich einen freien Nachmittag für sich
und seine Tochter hatte reservieren wollen. Manchmal glaubte er
sogar, dass Gregor dies mit Absicht tat. Allerdings wusste er
natürlich genau, dass es nicht so war.
Einen Moment dachte er zurück an die Zeit vor dem Second
Impact, vor den Engeln und, vor allem, die Zeit vor Gregor
Argusow. Die Zeit, in der er noch ein beschauliches
Informatikunternehmen unter dem Namen "SEELE" gemeinsam mit
seinem Freund Lorenz Kiel geführt hatte. Damals war der Begriff
"SEELE" eigentlich nur ein Jux gewesen und noch nicht zu einer
Ikone für die einzige Hoffnung der Menschheit im Kampf gegen
riesige außerirdische Invasoren gewesen. Lorenz hatte den Namen
für ein IT-Unternehmen als viel zu übertrieben empfunden. Doch
am Ende hatten sie sich dennoch dafür entschieden, zumal diese
Bezeichnung die Suche nach einem tieferen Sinn - da man sie ja
nur zu einfach für irgendeine Abkürzung eines komplizierten
technischen Begriffes halten konnte - geradezu provozierte.
Tatsächlich verging seit dem keine Woche, in der sie nicht auf
die eine oder andere Weise gefragt wurden, was "SEELE" denn nun
eigentlich bedeutete. Der Witz war, es gab keine Bedeutung. Es
war schlicht und einfach das simple deutsche Wort "Seele", nur
in Großbuchstaben geschrieben. Stefan musste heute noch bei dem
Gedanken daran lächeln. Dies waren glückliche Tage gewesen. Es
gab keine Engel, keine EVAs und SERAPHIMs, keinen Gregor Argusow
und... Er zögerte bei diesem Gedanken einen Moment. Doch es
stimmte. Es gab auch keine Karin Maishima.
Er versuchte, sich einen Augenblick lang an Karins Mutter
zu erinnern, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Er
glaubte nur noch zu wissen, dass sie mittellange, blonde Haare
besaß. Er strich sich mit seiner Hand durch den Vollbart. Er
hatte nie Zeit für seine Tochter gehabt. Zunächst hatte er sich
eingeredet, dass dies nur aufgrund der wahren Flut an Terminen
und Aufgaben, die er jeden Tag zu erledigen hatte, lag. Doch
später war ihm bewusst geworden, dass er Angst vor ihr hatte.
Tiefe, unbewusste und manchmal beinahe panische Angst.
Irgendetwas war ihm an seiner Tochter nicht geheuer gewesen,
genau wie auch an ihrer Mutter. Er grinste verächtlich. Er
musste ein wirklicher Rabenvater gewesen sein. Panik vor dem
eigenen Kind war doch tatsächlich eine pathetische Ausrede. Er
könnte sich selbst dafür ohrfeigen.
Doch Stefan wusste genau, dass dies nichts, absolut nichts
in irgendeiner Weise ändern würde. Seine Tochter war tot und er
hatte die mit Sicherheit letzte Chance, ihr trotz allem näher zu
kommen, verspielt. In diesem Moment glaubte er plötzlich zu
wissen, wie Ikari sich fühlen musste, wenn er an seinen Sohn
dachte.
Seine Gedanken wanderten zurück zu dieser geheimnisvollen
Frau, mit der er ein knappes glückliches Jahr verbracht hatte.
Sie waren sich nie wirklich nahe geworden und selbst, als sie
sich entschieden, ein Kind zu zeugen, schien sie diesen
Entschluss eher aus irgendwelchen rationellen statt emotionalen
Gründen gefasst zu haben. Ihre Augen hatten nie das typische
Glitzern eines frisch verliebten Menschen aufgewiesen, vielmehr
war darin eine Art tiefer Schmerz präsent gewesen. Immer und
jederzeit.
Wie dem auch sei, kurz nach Karins Geburt - sie hatten sich
schon im Vorfeld auf diesen Namen geeinigt - war sie spurlos
verschwunden und hatte ihm mit dem Kind allein zurückgelassen.
Stefan hatte diesen Schmerz nie so recht überwunden, denn im
Gegensatz zu ihr, hatte er sie tatsächlich innig geliebt. Karins
Nähe war ihm mit der Zeit unerträglich geworden, da ihre blauen
Augen ihn ständig an ihre Mutter erinnerten.
Das alles war kurz nach dem Second Impact geschehen,
ungefähr einen Monat, nachdem SEELE seine geheime Kommandobasis
hier in Dresden fertig gestellt hatte. Er hatte Karin nach und
nach vernachlässigt, unter dem Vorwand, den Kampf gegen die
Engel vorbereiten zu müssen. Nein, damals hatte er es wirklich
geglaubt. Erst heute wurde ihm bewusst, dass er seine Tochter
auf eine bestimmte Weise einfach nicht ertragen konnte. War das
eine weitere Parallele zu Gendo und Shinji Ikari? Er schüttelte
den Kopf. Derartige Gedanken waren absolut sinnlos.
Andererseits... Stefan Maishima hatte nicht die geringste
Vorstellung, was seine Tochter für ihn empfunden haben mochte.
Wahrscheinlich waren ihre Gefühle für ihn zu großen Teilen von
Hass, Verachtung und Enttäuschung geprägt. Doch das machte ihm
nicht viel aus. Jetzt war es sowieso zu spät.
In eben diesem Augenblick meldete sich die
Kommunikationsanlage in Stefans Quartier mit einer Durchsage zu
Wort.
"An das gesamte Personal", konnte man Gregors leicht
verrauschte Stimme über die Lautsprecher hören. "Erste Welle
gegen NERV startet in fünfzehn Minuten."
Er schnaubte als Antwort verächtlich durch die Nase. NERV,
natürlich. "Erste Welle" - so ein Unfug. Befreiungsversuch - und
dazu fast noch ein pathetischer - wäre wohl passender gewesen.
Das Schicksal der Menschheit in die Hände eines einzigen Jungen
zu legen - eines seelisch seit dem Tod Karins schwer
angeschlagenen Jungen - war in Stefans Augen völliger
Schwachsinn. Aber sollten sie doch seine Warnungen und Hinweise
in den Sand schlagen. Gregor würde am Ende wahrscheinlich
sowieso wieder Recht haben. Doch er - Stefan - würde das nicht
mehr miterleben müssen.
Langsam, aber ohne zu zögern, öffnete er die rechte
Schublade seines Schreibtisches und nahm seine Dienstwaffe
heraus. Der Schuss war nur als ein gedämpftes Geräusch zu hören,
auf das niemand aufmerksam wurde. Erst als die Putzkräfte zwei
Stunden später anrückten, fanden sie Stefan Maishimas
blutüberströmten Körper. Der Teppich hatte eine dunkle
Rotfärbung angenommen. Der Notarzt konnte nur noch den Tod
feststellen.
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134
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Rei Ayanami saß auf der Pritsche ihrer Zelle und
starrte mit ausdruckslosen Augen auf die gegenüberliegende Wand.
Hätte sie jemand beobachtet, so wäre er zu dem Schluss gekommen,
Rei wäre in sich selbst zurückgekehrt und hätte wieder ihr altes
Ich nach außen gestülpt. Es sei denn, dieser Jemand wäre Shinji
gewesen. Er hätte als einziger Mensch das leichte Flackern in
ihren Augen, dass sich dort trotz der Ausdruckslosigkeit zeigte,
erkannt. Und er wäre auch in der Lage gewesen es richtig zu
deuten: in Reis Innerem war ein wahrer Gefühlssturm am wüten.
Auch Rei war über die Dreistigkeit, die NERV sich erlaubte,
mehr als nur erzürnt gewesen. Schließlich würde es ohne sie und
Asuka keine Menschheit mehr geben. Wie konnten sie es wagen, sie
festzunehmen? Doch in gewisser Weise war es bezeichnend für
NERVs und - vor allem - Ikaris Überheblichkeit. Sicher hatten
auch die anderen Piloten zum Erfolg beigetragen, vornehmlich
Shinji. Doch war das ein Grund, sie einzusperren? Weiterreichen
streng geheimer Technologie an Dritte? Schwachsinn. SEELE war
schon seit Jahren dank Omega NERV mehrere Schritte voraus...
Allerdings machten diese Gedanken im Moment keinen Sinn.
Sie wunderte sich lediglich, dass Gregor für einen Fall wie
diesen keine Vorkehrungen getroffen hatte. Das sah ihm überhaupt
nicht ähnlich. Andererseits konnte auch er nicht alles
vorhersehen...
Rei musste plötzlich wieder an Karin denken. Sie hatte von
Anfang an geglaubt, eine Art Band zwischen ihnen zu spüren. Sie
beide hatten eine verschlossene Lebensweise gezeigt. Auch wenn
es Rei gelungen war, dieses Defizit mit Gregors Hilfe zu
überwinden, konnte sie sich dennoch ungefähr vorstellen, was in
Karins Innerem vorgegangen war. Doch da war noch etwas... eine
Art Seelenverwandtschaft zu dem Mädchen, die sie sich einfach
nicht erklären konnte. Sie hatten sich von Beginn an gut
verstanden, als würden sie sich bereits ein Leben lang kennen.
Als ob sie Geschwister wären, die sich nach vielen Jahren wieder
gefunden haben, ohne überhaupt voneinander gewusst zu haben...
Aber Rei wusste, dass dieser Gedanke sinnlos war. Im Gegensatz
zu ihr hatte Karin immerhin einen richtigen Vater, egal ob er
sich so verhielt oder nicht. Sie selbst konnte eine solche
Person nicht vorweisen. Obwohl Gendo Ikari für sie bis zu einem
gewissen Punkt eine Bezugsperson darstellte, war sie nie in der
Lage gewesen, eine Art Bindung zu ihm aufzubauen. Im Prinzip war
sie nie zu so etwas in der Lage gewesen. Erst als Gregor auf sie
zugegangen war, begann sie den Sinn des Lebens zu verstehen.
Auch Shinji hatte ihr zunächst gezeigt, dass er sich um sie
sorgte und sie mochte, nicht nur als befreundeter EVA-Pilot
sondern auch als Mensch. Es war also immer zunächst nötig
gewesen, auf sie zuzugehen, bevor Rei eine Bindung zu einem
Menschen aufbauen konnte. Doch bei Karin war es anders gewesen.
Sie hatte das Mädchen einfach auf den ersten Blick in ihr Herz
geschlossen. Vielleicht weil sie sich so ähnlich waren... Rei
musste schmunzeln, als sie an ihren ersten gemeinsamen Ausflug
an der Oberfläche erinnerte. Karins Gesicht war einfach zu
köstlich gewesen, als sie bemerkte, dass Rei immer ein
"Ersatzkleid" mit sich herumtrug. Bei dem Gehalt, das man als
SERAPHIM-Pilot bekam, konnte man sich so etwas auch wahrlich
leisten. Karin hatte es dennoch nicht getan, sondern einen
Großteil ihres Einkommens einer Kinderhilfsorganisation
gespendet. Allein das erschien Rei bereits merkwürdig, doch sie
hatte sich nicht allzu sehr damit beschäftigt. Im Nachhinein
bereute sie das, möglicherweise hätten tiefere Nachforschungen
in dieser Richtung ein paar interessante Details zu Tage
befördert.
Aber nun wäre auch das vergebens. Karin war tot und stand
nicht länger auf SEELEs Gehaltsliste. Mitleid brachte nun nichts
mehr.
***
Eine Zelle weiter hatte Asuka Soryuu Langley zur selben
Zeit fast dieselben Gedanken. Doch drehten sich diese weniger um
Karin - schließlich hatte sie, zugegeben bedauerlicherweise, sie
so gut wie überhaupt nicht gekannt - als um Gregor. Das
rothaarige Mädchen glaubte nicht, dass es bislang irgendeinem
Menschen gelungen war, aus ihm schlau zu werden, sie selbst
eingeschlossen. Sie spürte, dass er die Nähe zu ihr suchte, und
trotzdem war eine Art kühle Mauer zwischen ihnen. Asuka glaubte
nicht, dass es an ihrer eigenen Vergangenheit lag, auch wenn sie
noch so ein egoistischer und unberechenbarer Mensch gewesen war.
Sie hatte vielmehr den Eindruck, als würde mehr als nur die
Verantwortung des obersten Anführers der Menschheit im Kampf
gegen die Engel auf seinen Schultern lasten. Einmal davon
abgesehen, dass er mit Sicherheit nicht fünfzehn Jahre alt war -
alle hier hatten sich damit abgefunden, dass er kein
gewöhnlicher Mensch war. Die Gerüchte behaupteten sogar, er sei
selbst ein Engel, was Asuka gar nicht so unwahrscheinlich
erschien. Nein, irgendetwas anderes gab es noch. Vielleicht hing
es mit seiner Vergangenheit zusammen, vielleicht war es auch
dieser geheimnisvolle Kampf, den SEELE nach der Vernichtung der
Engel gegen einen bislang nur ihm bekannten Feind führen wollte.
Wahrscheinlich bedrückte ihn eine Mischung aus beidem. Asuka
hatte sich vorgenommen, nach dem letzten Kampf zumindest einen
Teil dieser Belastung von ihm zu nehmen, gewissermaßen aus
Dankbarkeit ihm gegenüber und um jeden Preis. Sie würde sich
nicht davon abhalten lassen, auch nicht von ihm selbst.
Sie seufzte. Doch dazu würde sie erst einmal aus dieser
verdammten Zelle herauskommen müssen. Und sie hatte keinen
blassen Schimmer, wie sie das ohne Hilfe anstellen sollte...
***
"Ist das wirklich nötig?" fragte Maya, während sie
die Überwachungsbildschirme der beiden Zellen in der
Kommandozentrale weiterhin im Auge behielt.
Ritsuko nickte. "Solange Ikari dieser Meinung ist, ja." Sie
seufzte, fast im selben Moment wie Asuka in ihrer Zelle. "Und
Gott weiß, wie lange das noch der Fall ist."
Maya zog eine Augenbraue nach oben, sagte aber wohlweißlich
nichts. Sie kannte ihre Vorgesetzte gut genug, um zu wissen,
dass in ihr ein unterdrückter Hass gegen Ikari schlummerte. Doch
dann war da wieder so eine Art Abhängigkeit von ihm, aus der sie
einfach nicht schlau wurde. Sie beschloss, wie immer, nicht in
diese Richtung weiterzudenken.
Die Tür zu einem der Fahrstühle öffnete sich und Misato kam
zum Vorschein. Sie machte einen etwas erschöpften Eindruck.
"Na, gestern abend wieder zu lange wach geblieben", nickte
Ritsuko sie.
Misato streckte ihr die Zunge entgegen, ließ sich aber doch
irgendwie nicht so richtig aufheitern. "Dieser Bastard...",
murmelte sie leise, aber dennoch laut genug, dass Maya sie hören
konnte.
Die junge Technikerin nickte. Sie konnte gut verstehen, was
im inneren des Majors vorging, oder glaubte zumindest, dazu in
der Lage zu sein. "Ich finde das auch nicht richtig", sagte sie
dann.
Ritsuko warf ihr einen finsteren Blick zu. "Sag das lieber
nicht zu laut, man kann nie wissen, wann er plötzlich
auftaucht."
Also hielt Maya den Mund. Das konnte sie aber nicht davon
abhalten, auf telepathischem Wege finstere Gedanken gegen Ikari
auszuspeien. Nicht, dass es ihr irgendetwas bringen würde, so
unausgereift, wie ihre telepathischen Fähigkeiten nun einmal
waren...
Die drei vertrieben sich mit dieser Art "Smalltalk" noch
eine Weile lang die Zeit, und hätten es wohl auch noch bis zu
ihrem Feierabend beziehungsweise Schichtwechsel getan. Doch die
plötzlich ertönende, übermäßig laute und alle aufschreckende
Sirene hielt sie davon ab. Dieser Alarm konnte nur eines
bedeuten: die MAGI wurden angegriffen.
Maya und Ritsuko ließen die Finger über die Tasten fliegen,
während sich die Türen hinter der oberen Kommandoebene öffneten
und die beiden Kommandanten freigaben, gehetzte und aufgeregte
Blicke in den Gesichtern. Einen Moment später kamen auch Shigeru
und Hyuuga hineingestürmt und setzten sich sofort an ihre
Konsolen.
"Ein unbekannter Angreifer dringt in unser System ein!"
schrie Maya ihre erste, vorläufige Analyse ohne bestimmte
Adresse in den Raum, da sie wusste, dass jeder hier wissen
wollte, was los war. "Er hat den äußeren Verteidigungsring
bereits durchbrochen."
"Sämtliche Firewalls online", berichtete Hyuuga ohne Hast.
Hektik war in diesem Moment der größte Fehler, der ihnen
unterlaufen konnte.
"Köder-Zugänge sind geöffnet."
Ritsuko betrachtete die über ihren Bildschirm wälzenden
Datenkolonnen. Irgendwie erinnerte sie dieser Angriff an den des
elften Engels. Auch der hatte versucht, in MAGI einzudringen.
Doch an diesem Punkt hörten die Parallelen auch schon wieder
auf. Es gab keine Korrosionen, keine EVA-Testkörper...
"Verdammt, er ignoriert die Köder!" rief Maya.
"Und er ist wahnsinnig schnell", erwiderte Hyuuga. "Hat
bereits achtzig Prozent der Firewalls ausgeschaltet."
In diesem Moment wechselte die Beleuchtung des Raumes
plötzlich von Rot auf Schwarz. Das Licht, oder besser der Strom
in der Kommandozentrale war ausgefallen.
Alle Anwesenden hielten den Atem an. Maya brannte eine
Kerze an, die sie von irgendwo aus ihrem Schreibtisch
hervorgekramt hatte. Dann widmete sie sich einem
batteriebetriebenen Display im Taschenbuchformat. Doch ihre
Analyse war wenig erfreulich.
"Er hat uns aus allen Systemen einfach hinausgeworfen", sie
schüttelte den Kopf.
Ritsuko nahm ein zweites Display. "Das war zu einfach. Er
hätte niemals so leicht in MAGI eindringen können dürfen."
Misato hörte den beiden Informatikerinnen zu und versuchte
etwas von dem technischen Kauderwelsch zu verstehen, doch es
gelang ihr nur ansatzweise.
"Ich hab's", sagte Maya. Alle blickten sie an. "Er hat ein
Hintertürchen, dass in der Hardware verankert war, genommen."
Sie schüttelte erneut den Kopf. "Warum haben wir das bislang
noch nicht entdeckt?"
"Und vor allem", ergänzte Ritsuko. "Wie und warum kam es
überhaupt in das System?"
Alle weiteren Gedanken wurden plötzlich von den drei rot
aufleuchtenden Zahlen auf dem Hauptdisplay abgebrochen. Es
zeigte ihnen nun einen Countdown von weniger als fünf Minuten,
bis etwas ganz bestimmtes - vermutlich etwas ziemlich
bedeutendes - passieren würde.
"Die Selbstzerstörungssequenz des MAGI-Systems Neo-Tokyo-3
wurde aktiviert", verkündete dann eine unpersönliche, metallene
Stimme aus den Lautsprechern. "Forderung ist die sofortige
Freilassung der Piloten Rei Ayanami und Asuka Soryuu Langley.
Sie sind innerhalb der nächsten drei Minuten in einem VTOL auf
Kurs 3-4-1 abzuschicken. Um den Rest werden wir uns kümmern."
Als die Stimme fertig gesprochen hatte, verstummte sie
wieder völlig. Alle blickten hinauf zu Gendo Ikari.
"Ihr Analyse, Doktor?" wollte er von Ritsuko wissen, obwohl
er sich denken konnte, dass es keinen Ausweg geben würde.
Sie schüttelte den Kopf. "Wir haben keinerlei Zugang zu
irgendwelchen Systemen, außer denen, die wir benötigen, um
diesen ,Auftrag' auszuführen. Der Strom ist so gut wie überall
abgestellt. Ich sehe keinen anderen Weg, als den Forderungen
folge zu leisten." Sie senkte leicht den Kopf. "Nicht in der uns
zur Verfügung stehenden Zeit."
Das Display stand inzwischen bei weniger als dreieinhalb
Minuten.
Gendo Ikari wartete noch einen Moment, bevor er antwortete.
Dann nickte er. "Gut. Tun sie es."
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135
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Frank drehte seinen Kopf ganz leicht nach rechts, so
dass Kensuke auf dem Sitz neben ihm in sein Gesichtsfeld rückte.
Dahinter konnte er teilweise die Wolken auf der anderen Seite
des Fensters des Flugzeugs erkennen. Frank hatte sich noch
einmal ausführlich mit Gregor unterhalten und sie beide waren zu
dem Schluss gekommen, dass es besser für Kensuke war, wenn er
von jemandem begleitet wurde, mit dem er sich recht gut
verstand. Im Moment machte er einen ziemlich abwesenden
Eindruck, auch wenn das stille Lächeln auf seinen Lippen zeigte,
dass er sich auf seine Heimkehr freute.
Frank lehnte sich wieder zurück. Das Programm, dass Kensuke
geschrieben hatte, um in NERVs MAGI-System einzudringen, war
entgegen aller Erwartungen ein durchschlagender Erfolg gewesen.
Wobei, nicht ganz aller Erwartungen. Gregor hatte natürlich von
Anfang an gewusst, dass es funktionieren würde und hatte fest an
Kensuke und dessen Fähigkeiten geglaubt. Rei und Asuka waren
längst zurück in Deutschland und auch Toji und Hikari waren
ihnen gefolgt. Der kräftige dunkelhaarige Junge hatte in Frank
gemischte Gefühle hervorgerufen. Doch dann hatte er mit einer
Sensibilität, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, mit Kensuke
geredet. Frank war nicht dabei gewesen, doch die anderen hatten
ihm erzählt, dass der Junge förmlich aufgeblüht sei unter den
aufmunternden Worten seines Freundes. Das hatte seine Meinung
über Toji grundlegend geändert. Leider hatte er es nicht mehr
geschafft, persönlich sich mit ihm zu unterhalten. denn er war
sicher, dass es ein sehr interessantes Gespräch geworden wäre.
Dann waren sie in Richtung Japan abgeflogen. Kensuke schien
so fröhlich wie schon lange nicht mehr.
Frank hoffte das Beste für ihn.
=== ENDE KAPITEL 11 ===
Leute, eines sage ich euch: wenn es dann so direkt auf's Abi zugeht,
hat man kaum noch Zeit zum Schreiben. Wobei ich zugeben muss, dass
ich ewig gebraucht habe, um mich aufzuraffen und dieses Kapitel zu
schreiben. Nunja, was lange währt, wird gut. (hoffe ich)
Wie ihr vielleicht merkt, ist das Kapitel "Karin Maishima" noch nicht
ganz abgeschlossen. Auch in den nächsten Kapiteln werden noch einige
Informationen zu der Frage, wer denn dieses geheimnisvolle Mädchen nun
eigentlich war, kommen. Soviel kann ich euch aber schon jetzt verraten:
ihr werdet überrascht sein.
Ich versuche noch immer, mich zumindest im groben an die Abläufe der
Originalserie zu halten, damit ihr einen Überblick habt, wo wir denn
eigentlich stehen. Die nächsten Kapitel werden sich dann langsam, aber
sicher mit dem Third Impact beschäftigen. Ihr könnt also weiterhin ge-
spannt sein. (Falls ihr nicht nach dieser langen Wartepause schon
längst eingeschlafen seit).
Danksagungen (immer noch die selben):
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Christian Schulze - http://www.gruselgrotte.rockt.de
- (wie immer) für die Korrektur meiner Texte,
die Anmerkungen, die Kritik, die Hinweise
usw.
Seashore - http://www.evangelion-armageddon.de
Evaunit01 - http://www.evangelion-rulz.de
AnimeXX - http://www.animexx.de
Defender - http://defender3.sondergleichen.org
- für das Veröffentlichen meiner Fic auf ihren
Seiten.
Alle meine Leser vor allem diejenigen, die sich durch ihre Kommen-
tare für das Weiterschreiben dieser Fic ein-
setzen.
Autor: Thomas Ryssel, Radebeul 2001
EMail: ThomasRyssel@web.de oder eastsoft@tripod.de
Homepage: http://www.eastsoft-online.de
NGE Dimensionen im Netz: http://nge-dimensionen.eastsoft-online.de
Ich hoffe, es dauert nicht mehr soooooooo lange bis zum
Kapitel 11 - Boten.
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