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NGE Dimensionen

von

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NEON GENESIS EVANGELION : DIMENSIONEN basiert auf purer Fantasie. Sämtliche

Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind reiner Zufall.
 

Sämtliche Urheberrechte und Copyrights der originalen NEON GENESIS EVANGELION

liegen bei GAINAX.
 

Autor: Thomas Ryssel, Radebeul 2002

EMail: ThomasRyssel@web.de oder eastsoft@tripod.de

HP: http://www.eastsoft-online.de

Dimensionen im Netz: http://nge-dimensionen.eastsoft-online.de
 

Lang, lang ist's her seit dem letzten Kapitel. (Februar, glaube ich...)

Dafür will ich euch jetzt auch nicht lange stören, sondern euch lesen lassen

Mit diesem etwas umfangreicheren Werk haltet ihr im Übrigen das erste Kapitl

des dritten Buches von Dimensionen in den Händen.
 

Also dann noch viel Spaß.
 

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Neon Genesis Evangelion
 

Dimensionen
 

Buch 3: Schmerz

Kapitel 11: Opfer
 

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128

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"Satzball für Karin Maishima!" hallte die Stimme des

Stadionsprechers durch die große Halle. Die Menge tobte. Ein

Meer aus bunten Köpfen und T-Shirts wogte um den Rand des

Tennisfeldes. Die riesige Anzeigetafel wies mit rot leuchtenden

Ziffern den Punktestand von 30 zu 30 aus, das sechste Spiel im

dritten Satz. Die nächste Angabe konnte über Sieg und Niederlage

entscheiden. Dementsprechend angespannt war auch die Stimmung im

Stadion. Keiner der Zuschauer wagte es, auch nur einen Laut von

sich zu geben. In der Ferne hörte man ein paar Spatzen, völlig

unbeeindruckt von der Situation hier drinnen, ein fröhliches

Lied zwitschern. Die Grillen zirpten in der Mittagshitze. Das

Spiel ging nun schon seit beinahe zweieinhalb Stunden.
 

Doch Kensuke hatte weder Augen noch Ohren für das, was um

ihn herum geschah. Seine Blicke konzentrierten sich allein auf

Karin. Das Mädchen war eine begnadete Tennisspielerin, doch im

Moment besaß sie einen entscheidenden Nachteil: Sie spielte mit

Blick in die Sonne. Aus diesem Grund war sie während des letzten

Satzes auch nicht mehr so herausragend. Nachdem der erste Satz

bereits nach einer halben Stunde an ihre Gegnerin gegangen war

und das Publikum sich bereits mit einer langweiligen Vorstellung

abfinden wollte, hatte sie im zweiten eine atemberaubende

Aufholjagd gestartet. Sie und ihre Konkurrentin schenkten sich

nichts und so gewann Karin den zweiten Satz knapp. Doch durch

ihre kämpferische Art hatte sie eine Menge Sympathisanten unter

den Zuschauern gefunden. Kensuke war natürlich von Anfang an auf

ihrer Seite gewesen. Doch das Resultat nach dem mehr als eine

Stunde dauernden Satz war, dass beide Spielerinnen sichtlich

erschöpft in den dritten Satz gingen. Und dieser dauerte nun

auch schon wieder fast eine ganze Stunde. Man hatte das Gefühl,

die beiden würden sich lediglich durch ihren puren Willen auf

den Beinen halten.
 

Kensuke schrak zusammen, als plötzlich (oder besser:

endlich) der Pfiff des Schiedsrichters erfolgte. Karin warf den

Ball in die Luft, holte mit dem Schläger aus und beförderte die

gelbe Kugel mit einem mächtigen Schlag über das Netz.

Augenblicklich schien sie alle Müdigkeit einfach abgeschüttelt

zu haben. Kensuke hatte nach den letzten Minuten erwartet, die

Vorgänge unten auf dem Feld mehr oder weniger in Zeitlupe

beobachten zu können, doch nun lief alles in rasender

Geschwindigkeit ab. Der Ball schoss von einer Seite zur anderen

und lange Zeit schien es, als hätte keine der beiden

Konkurrentinnen einen Vorteil. Vor allem Karin schien plötzlich

über eine Energie zu verfügen, die sie irgendwie aus dem Nichts

schöpfte. Erneut raste der Ball in atemberaubendem Tempo auf sie

zu, doch sie holte bereits wieder aus, traf den Ball zielsicher.
 

In diesem Moment schien die Welt um Kensuke herum in

Flammen aufzugehen. Eine gleißende Explosion mit Karin in ihrem

Zentrum breitete sich vom Spielfeld aus und hatte bald auch ihn

in weißes Licht eingehüllt. Merkwürdigerweise fühlte er keine

Schmerzen. Doch er hörte ihren Schrei. Karin in einer Mischung

aus Agonie, Trauer und Enttäuschung. Durch das blendende Licht

konnte er nichts erkennen und es dauerte einige Augenblicke, bis

es wieder nachließ. Zurück blieb ein Meer aus tiefrotem Feuer.

Das Stadion war verschwunden, nur eine schwarze Leere schien

durch die haushohen lodernden Flammen.
 

Kensukes Augen starrten weit aufgerissen auf das grausige

Bild, welches sich ihm bot. Erst nach und nach konnte er die

zerfetzen Körper sehen, die in den Flammen lagen und mehr und

mehr verkohlten. Und wie eine schwarze Fratze starrte ihn Karins

schwarzes Gesicht mit rot glühenden Augen an. Sie sagte nichts,

doch er wusste genau, was ihr Blick ausdrücken sollte.
 

"Du hattest versprochen mich zu beschützen. Du hast es

nicht getan. Du hast versagt."
 

***
 

Kensuke atmete tief durch und blickte ungläubig in die

schwarze Dunkelheit. Dann erst bemerkte er, dass er aufrecht und

schweißgebadet in seinem Bett saß. Er ließ sich zurück in die

Kissen fallen und versuchte den pochenden Schmerz in seinen

Schläfen weitestgehend zu ignorieren.
 

"Schon wieder..." murmelte er schließlich. Wieder derselbe

Traum.
 

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129

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Irgendwie fühlten sich Shinji, Kaworu und Toji beim

Anblick des fünfzehnten Engels an einen überdimensionalen Hula-

Hopp-Reifen erinnert. Ein riesiger Ring aus Licht schwebte über

ihren Köpfen. Doch aus den Gesprächen mit Stefan Maishima

wussten die drei, dass dies nicht seine eigentliche Form war und

diese eher wie ein genetisch manipulierter Regenwurm wirkte. Ein

für EVAs sehr gefährlicher Regenwurm. Natürlich wusste NERV

nichts über die Vorbereitungen, die SEELE für den Kampf gegen

diesen Engel getroffen hatte. Der getarnte Satellit direkt im

Orbit über dem Zentrum des Gegners würde erst im letzten Moment

in Aktion treten. Laut SEELEs Angaben arbeitete dieser ähnlich

den AT-Generatoren in ihrem Hauptquartier, die dafür gesorgt

hatten, dass aus dem Unfall mit Sereamus keine noch größere

Katastrophe wurde als er es so schon war. Kaworu und Toji hatten

auf die Nachricht bestürzt reagiert, da sie wussten, wie

sensibel Kensuke hinter seiner Armee-Fassade war. Shinji gab

sich größte Mühe, ebenfalls betroffen zu wirken, doch es wollte

nicht so recht gelingen. Zum Glück war den anderen bislang noch

nichts aufgefallen. Ein trauriges Lächeln umspielte seine

Lippen. Er war sich sicher, dass Rei ihn für das, was er getan

hatte, hassen würde. Seine kurzzeitige 400%-Synchronisation mit

EVA-01 war NERV natürlich nicht verborgen geblieben und er hatte

zu kämpfen gehabt, sie davon zu überzeugen, dass es sich dabei

lediglich um einen Computerfehler handelte. Schließlich war es

ihm gelungen, vor allem weil sich keines der Symptome von Asukas

Vorfall, der ja durchaus Parallelen zu diesem aufwies,

wiederholt hatte.
 

Shinji schüttelte seinen Kopf, um diese Gedanken zu

verscheuchen. Im Moment gab es wichtigere Dinge für ihn zu tun.

So leid es ihm auch für Kensuke tat, es gab einfach keine

Möglichkeit, um diese Sache zu einem Ende zu bringen.
 

***
 

"Achtung, es geht los!" rief Kaworu über die Kom-

Verbindung. Der Engel hatte sich an einer Stelle geteilt und

glich nun einem mehrere hundert Meter langen Band. Auch die DNS-

ähnliche Doppelhelix hatte sich aufgelöst und war nun nur noch

eine Art weiß leuchtende Schnur. Und eines der beiden Enden

raste direkt auf EVA-00 zu.
 

"Kaworu!" schrie Toji, doch der Andere hatte es bereits

bemerkt und wich geschickt zur Seite aus. Scheinbar hatte es der

Engel vor allem auf ihn abgesehen, denn er machte keinerlei

Anstalten, sich auch um die restlichen beiden EVAs zu kümmern.

Wahrscheinlich wollte er einen nach dem anderen ausschalten.

Erneut sprang EVA-00 beiseite, so dass der Engel ihn um

Zentimeter verfehlte, was bei den Dimensionen des Kampfes, der

sich hier abspielte, SEHR wenig war. Doch diesmal hatte Kaworu

nicht so viel Glück. Er landete direkt in einem der niedrigeren,

nicht einfahrbaren Hochhäuser der äußeren Regionen der Stadt,

welches dann über ihm zusammenbrach. Vor lauter Staub und Schutt

konnte er nichts mehr sehen. Erst im allerletzten Moment

erblickte er das auf ihn zu rasende Energieband und riss

geistesgegenwärtig sein Gewehr hoch, um den Gegner abzublocken.

Es gelang ihm gerade so noch, wobei die Waffe in tausend Stücke

zersprang.
 

"Mist", murmelte er, als er versuchte, sich aus den

Trümmern zu befreien, bevor die nächste Attacke erfolgte. Wieder

schoss der Engel auf ihn zu und mit knapper Not gelang es ihm,

auszuweichen. Allerdings striff das Monster seinen Arm und

hinterließ dort eine brennende Wunde. Kaworu bemerkte die

Schmerzen jedoch kaum. In dem Moment der Berührung durchfluteten

Hunderte Bilder und Emotionen seinen Kopf, ohne dass er sich

dagegen wehren konnte. Er keuchte auf.
 

"Was war das?" Es war fast so, als würde der Andere

versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Kaworu schüttelte den

Kopf. Er hatte keine Zeit für solche Gedanken.

Shinji und Toji nahmen den Engel aus ungefähr einem

Kilometer Entfernung unter Beschuss. Doch ihre Projektile

erzielten keinerlei Wirkung. Sie blickten sich über ihre

Verbindungsfenster an. Toji lächelte verzweifelt.
 

"Keine Wirkung", sagte er schließlich. "Was sollen wir

tun?"
 

Shinji dachte nach. Der Gegner schien fast übermächtig zu

sein. Dem Zeitplan zufolge würde es noch eine Weile dauern, bis

auch Rei und Asuka in den Kampf eingreifen konnten. Bis dahin

mussten sie es irgendwie alleine schaffen. Aus den Augenwinkeln

sah er, wie Kaworu erneut zur Seite auswich, so dass der Engel

genau auf Shinji zu raste. Er nahm Misatos Warnung nur nebenbei

wahr und duckte sich automatisch unter dem Gegner hinweg,

wodurch dieser ihn um Haaresbreite verfehlte.
 

"Keine Chance", murmelte Toji vor sich hin. "Ohne die

anderen wird es uns nicht gelingen. "Shinji?" sagte er dann

laut. "Ich werde Kaworu ablösen."
 

Ohne auf eine Antwort zu warten stieg der schwarze EVA

hinunter in die Stadt, wo der eigentliche Kampf tobte. Zunächst

machte der Engel keine Anstalten, sich um ihn zu kümmern und

konzentrierte sich weiterhin auf EVA-00. Das Zentrum der Stadt

hatte bereits stark unter den Kämpfen gelitten. Dutzende

Hochhäuser lagen in Schutt und Asche. Erstaunlicherweise hatte

der EVA bislang nicht mehr als ein paar Beulen und Prellungen

davongetragen.
 

"Dieses verdammte Mistvieh!" brüllte Kaworu, als sein

mittlerweile viertes Gewehr in die Brüche ging.
 

Nach nur ein paar Sekunden stellte sich Toji mit grimmigem

Gesicht an seine Seite.

"Mal sehen, ob ich dich ein wenig entlasten kann", sagte er

zu dem grauhaarigen Jungen.
 

"Gute Idee...", antwortete dieser. "Nur... wo ist er

jetzt?"
 

"Was?"
 

Die beiden blickten sich um, doch von dem Engel war keine

Spur zu sehen.
 

Nach ein paar Sekunden explodierten ohne Vorwarnung

sämtliche Gebäude in ihrer unmittelbaren Nähe und ließen eine

gewaltige Staubwolke zurück. Als der Nebel sich lichtete,

erkannten die beiden, dass sie einen möglicherweise

folgeschweren Fehler begangen hatten. Der Engel hatte erneut

eine Ringform gebildet - mit den beiden EVAs im Zentrum.
 

"Uhmm..." murmelte Kaworu. "Vielleicht sollten wir das

nächste Mal doch lieber Misato die Taktik überlassen..."
 

***
 

Im Kommandoraum von NERV herrschte unterdessen helle

Aufregung. Techniker liefen kreuz und quer durch den Raum und

Boten brachten Berichte und Nachrichten von einem Ende zum

anderen. Der durch den Kampf angerichtete Schaden in der Stadt

war bereits jetzt jenseits aller Grenzen von Gut und Böse.
 

Misato war bereits seit einigen Sekunden sprachlos aufgrund

der Dummheit der beiden Piloten oben in der Stadt, aber auch

aufgrund des taktischen Geschickes, das der Engel plötzlich an

den Tag legte. Das war nicht mehr die Hau-drauf-und-mach-alles-

kaputt-Strategie der bisherigen Angreifer. Er wusste genau, dass

die EVAs mit ihren Waffen so gut wie überhaupt nichts gegen sein

AT-Feld ausrichten konnten. Also ließ er sich Zeit. Sie hatte

auch nicht den Eindruck, als ob es ihm darum ginge, den Gegner

um jeden Preis zu vernichten. Es wirkte eher so, als wollte er

mit den EVAs... spielen? Misato schüttelte sofort den Kopf. Das

war absurd. Kein Engel hatte je zuvor ein solches Verhalten an

den Tag gelegt. Warum sollten sie das ausgerechnet jetzt ändern.
 

"Shinji, Toji", rief sie schließlich. "Versucht, da

irgendwie auszubrechen!"
 

"Das sagst du so einfach", kam es über die Kom-Leitung.
 

Tatsächlich schien der Engel auf jede ihrer Bewegungen zu

reagieren. Sobald sie versuchten unter dem Ring hindurch zu

kriechen, senkte er sich hinab. Darüberspringen war genauso

aussichtslos. Plötzlich kam ihr eine Idee. Es schien so, als

würde der Gegner dieses Manöver nur ausführen, wenn er

mindestens zwei seiner Gegenüber damit ausschalten konnte.
 

"Ok, ihr beiden, hört zu", sagte sie dann. "Toji versucht,

unter ihm durchzukr..."
 

"Misato, das funktioniert nicht."
 

Sie ignorierte seinen Einwand. "Wenn der Engel sich herab

gesenkt hat, springt Kaworu über ihn drüber und rennt was das

Zeug hält. Verstanden? Ok, auf drei. Eins, Zwei..."
 

Die Gesichter der beiden wirkten nicht sehr überzeugt.
 

"Und drei!"
 

Toji warf sich auf den Boden und kroch auf den Spalt unter

dem Engel zu, der sich wie erwartet gerade schnell genug

schloss, um ihn am durchkommen zu hindern. In diesem Moment

sprang EVA-00 elegant über den Feind hinweg und lief, was das

Zeug hielt.
 

Dem Engel schien das überhaupt nicht zu gefallen. Er löste

seine Ringform wieder auf und stürzte sich wutentbrannt auf EVA-

03, der es gerade noch rechtzeitig schaffte aufzustehen und

auszuweichen.
 

"Status quo" murmelte er.
 

Misato nickte. Sie musste ihm rechtgeben. Der Kampf hatte

bislang noch nichts gebracht. Außer dass Toji und Kaworu die

Rollen getauscht hatten und ungefähr zwei Drittel der Stadt

vernichtet waren. Und...
 

Entsetzen spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder. Der

Engel war bis zum Zentralschacht direkt über dem Hauptquartier

gelangt.
 

Plötzlich wandte Maya sich zu ihr um

.

"Sir, zwei unidentifizierte Flugobjekte nähern sich dem

Luftraum von Tokyo-3. Sie werden uns in ungefähr zehn Minuten

erreichen."
 

Entgeistert blickte Misato sie an.
 

***
 

An der Oberfläche tobte der Kampf inzwischen weiter und

langsam, aber sicher gewann der Engel die Oberhand. Nicht nur,

dass er im Gegensatz zu den EVAs und ihren Piloten keinerlei

Anzeichen von Erschöpfung zeigte, er steigerte das Tempo seiner

Attacken sogar noch. Wahrscheinlich war er wirklich wütend

darauf, dass ihm zwei potentiell sichere Opfer entkommen waren.
 

Toji versuchte wieder einmal auszuweichen. Doch diesmal war

er nicht mit allzu viel Glück gesegnet. Der Engel vernichtete

einen weiteren Wolkenkratzer und ein spitzes und scharfkantiges

Trümmerteil der Armierung bohrte sich quer durch die linke

Schulter von EVA-03. Von Schmerzen gepeinigt schrie der

dunkelhaarige Teenager auf.
 

Das reichte Shinji. Er hatte immer wieder versucht, den

Engel mit dem Gewehr anzugreifen. Als das nichts brachte, war er

zu immer stärkeren Waffen übergegangen und benutzte nun zwei

Raketenwerfer, einen in jedem Arm. Doch auch das war in keiner

Weise von Erfolg gekrönt. Die nächste Stufe wäre wohl eine N2-

Mine gewesen. Doch soweit wollte er nun auch wieder nicht gehen.

Und um das Positronen-Gewehr aufzubauen hatten sie nicht genug

Zeit.
 

Also blieb ihm nur der direkte Kampf. Mit wildem Geschrei

stürzte auch er sich in das Getümmel im Zentrum der Stadt. Der

Engel nutzte inzwischen beide Enden, um seine Gegner anzugreifen

und das mit einer Geschwindigkeit, die man ihm nie im Leben

zugetraut hätte.
 

"Shinji", hörte er Misato rufen, doch der Junge beachtete

sie nicht. Dort unten waren seine Freunde mehr oder weniger

hilflos den Attacken des Gegners ausgeliefert. Er musste ihnen

helfen. Außerdem hatte der Engel kein Ende mehr für ihn frei.

Das gab ihm die Chance, den Anderen wenigsten ein bisschen zu

schwächen.
 

Doch er hatte die Länge des Engels nicht mit beachtet.

Verdutzt betrachtete er das weiße Band, das plötzlich mit

atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu raste. Zu spät

erkannte er, dass sein Gegner ganz einfach mit seinem Körper

eine Schlaufe gebildet, die fast so gezielt wie seine beiden

Enden als Waffe einsetzen konnte. Und er erkannte auch zu spät,

dass es gar nicht dessen Ziel war, ihn direkt anzugreifen.
 

Das Hochhaus links neben EVA-01 explodierte in tausend

Stücke, und eines der größeren trennte sauber den linken Arm des

Roboters ab. Shinji schrie in Schmerzen und Panik auf. Plötzlich

wurde ihm das Ziel des Gegners klar. Der Engel wollte sie

schwächen und kampfunfähig machen, um sich dann in aller Ruhe

mit seinen Opfern zu beschäftigen.
 

Seine Gedanken wurden allerdings von einer gewaltigen

Explosion unterbrochen. Gleisendes Licht erfüllte das

Stadtzentrum, oder das, was von ihm übrig war und blendete die

Piloten. Einen irrsinnigen Moment lang glaubten sie tatsächlich,

ihn besiegt zu haben. Doch als sie wieder etwas erkennen

konnten, war der Engel immer noch da. Wie als Symbol seiner

eigenen Unbesiegbarkeit schwebte er ringförmig über ihren

Köpfen. Dann erkannten Shinji, Toji und Kaworu das Ausmaß und

den Zweck der Explosion. Ein riesiger Krater klaffte dort, wo

vor wenigen Augenblicken noch die Ruinen des Zentrums von Tokyo-

3 standen.
 

"Verdammt", kam Misatos Stimme über die Kom-Verbindung. "Er

hat achtzehn Panzerschichten zur Geofront mit einem Schlag

vernichtet. Noch zwei weitere, und er ist durch!"
 

Shinji biss sich auf die Lippen. Die Verstärkung musste in

weniger als drei Minuten eintreffen. Es sei denn, SEELE hatte

versagt oder keine Lust mehr.
 

Plötzlich sah er eine kleine Lichtkugel zu seinen Füßen

entstehen. Ein grauenvoller Verdacht schlich sich in seine

Gedanken und brachte ihn dazu, zu rennen so schnell er konnte.

Er hatte kaum fünfzig Meter zurückgelegt, als hinter ihm erneut

eine gewaltige Explosion erfolgte. Die heftige Druckwelle ließ

die Stadt erbeben und hob seinen EVA von den Füßen, so dass er

hundert Meter durch die Luft segelte und ziemlich unsanft in

einem der wenigen übrig gebliebenen Wolkenkratzern landete. Er

schüttelte den Kopf, als der Schmerz mit voller Macht

zurückkehrte. Seine linke Schulter schien zu brennen und er

spürte seinen Arm nicht mehr.
 

"Es ist nicht mein Arm," murmelte er zwischen

zusammengepressten Zähnen zu sich selbst. "Es ist nicht mein

Arm..."
 

Toji versuchte, die Lage für wenigstens eine Sekunde

objektiv zu beurteilen. Unbewusst war er zu denselben Schlüssen

gekommen wie Shinji. Der Gegner wollte sie schwächen. Doch er

hatte keine Ahnung, was dieser dann mit ihnen vorhatte.

Interessanterweise hatte keine der bisherigen Attacken direkt

auf Rücken oder Brust gezielt, so dass die Bereiche der

Entryplugs jedes Mal verschont geblieben waren. Wollte der Engel

sie etwa entführen?
 

***
 

Misato starrte auf das riesige Hologramm des Kampfgebietes

in der Mitte des Kommandoraumes. Auf grauenvolle Weise erinnerte

sie die Schlacht an den Kampf gegen den vierzehnten Engel. Auch

dieser war spielend durch die Panzerschichten gedrungen und

konnte die EVAs problemlos ausschalten. Bis Asukas Einheit Amok

gelaufen war. Asuka... sie wusste nur, dass sie wieder in

Deutschland war und es ihr dort gut gehen sollte. Doch irgendwie

fühlte sie sich noch immer dafür verantwortlich, dass es dem

Mädchen hier in Japan so schlecht ging. Sie schüttelte den

Gedanken ab. Jetzt war keine Zeit für solche Sentimentalitäten.
 

"Sir?" ließ sich Maya vernehmen.
 

"Was gibt es?" fragte Misato zurück, ganz froh über die

Ablenkung.
 

"Ich habe die Flugobjekte identifiziert. Zumindest eines

davon."

Der Major biss sich auf die Lippe. Sie hatte die beiden in

der Hektik der letzten Minuten völlig vergessen. Eigentlich

hätte ihr das nicht passieren dürfen.
 

"Und?" fragte sie dann.
 

"Nun, bei dem einen handelt es sich um einen der beiden

Roboter, die sich auch im letzten Kampf zu uns gesellt hatten.

Was den anderen anbelangt..." sie schüttelte leicht den Kopf.

"... von den Energie- und Strukturwerten her sehr ähnlich, aber

unbekannt. Ihr Blutmuster entspricht dem eines Engels, aber die

Magi weigern sich nach wie vor vehement, sie als solche zu

bezeichnen." Sie lächelte hilflos. "Man wird nicht schlau aus

ihnen."
 

Misato nickte. "Nun. Das letzte Mal haben sie uns geholfen.

Auch wenn sie EVA-02 entführt haben." Sie atmete tief durch.

"Mal sehen, was sie dieses Mal vorhaben."
 

"Sir?" meldete sich diesmal Shigeru. "Ich bekomme eine

Transmission. Nur Audio."
 

"Stellen Sie sie durch" sagte die Dunkelhaarige.

"Vielleicht können wir ihnen helfen."
 

Sie wandte sich nach vorne zum Bildschirm, auf dem jetzt

ein mittelgroßes Fenster mit dem Schriftzug "Sound only"

erschien.
 

"Hier spricht..."
 

"Major Katsuragi", wurde Misato von einer weiblichen,

ruhigen und beherrschten Stimme unterbrochen. "Befehlen sie

ihren EVA-Einheiten, sich hinter unsere Seraphim-Einheiten

zurückzuziehen, sobald wir eingetroffen sind. Anseamus, Ende."
 

Einige Sekunden blickte die junge Frau fassungslos auf das

mittlerweile geschlossene Fenster. Es war nicht die Frechheit

gewesen, ihr einfach Befehle zu erteilen, sondern die Stimme

selbst, die ihr die Sprache verschlug. Sie war sicher, dass es

Asuka war, mit der sie sich gerade "unterhalten" hatte. Doch man

konnte so viel Schmerz daraus hören. Als ob sie irgendetwas

verloren hatte, dass ihr sehr viel bedeutete. Ob das etwas mit

diesen Gerüchten über die Explosion in Deutschland zu tun hatte?
 

Misato blickte erneut auf die Karte und sah, wie sich die

EVAs bereits in Richtung der beiden Neuankömmlinge bewegten. Sie

schüttelte (zum wievielten Male eigentlich) schon wieder den

Kopf. Sie hatte bereits vor einer Weile die Kontrolle über den

Kampf verloren. Was konnte sie schon groß ausrichten. Im

Nachhinein kam es ihr sogar so vor, als ob die drei Piloten nur

auf die Ankunft der anderen gewartet hatten. Inzwischen hatten

sie die beiden anderen Roboter erreicht.
 

Plötzlich tönte ein neuer Alarm durch den Kommandoraum.
 

"Was ist los?" fragte Misato erschrocken.
 

Ritsuko, die bislang still geblieben war, ebenso wie die

beiden Kommandanten auf ihrer erhöhten Plattform, meldete sich

nun zu Wort.
 

"Die beiden, also Anseamus und dieser andere, entfalten

gemeinsam ein AT-Feld, das alle bisherig gemessenen Werte bei

weitem übersteigt!"
 

Auf dem Bildschirm war zu sehen, wie der Engel sich wütend

gegen das Feld warf, ohne es auch nur anzukratzen.
 

"Aber sie scheinen ihn in diesem Status nicht angreifen zu

können", sagte Maya. "Eine Patt-Situation also." Plötzlich

machte sich ein entsetzter Ausdruck auf ihrem Gesicht breit.

"Sir! Da ist irgendetwas im Orbit, direkt über dem Engel!"
 

Sie starrten auf das Bild der orbitalen

Überwachungssatelliten, zu denen sich zunächst schemenhaft, dann

immer deutlicher, ein weiterer gesellte.
 

"Er enttarnt sich!" rief jemand.
 

"Was um alles in der Welt..." stammelte Ritsuko, als sie

die Energiewerte auf ihrem Display las. "Wenn die das dort

wirklich abf..."
 

Weiter kam sie nicht, als das Hauptquartier auf brutalste

Weise durchgerüttelt wurde und alle Bildschirme nur noch Kriseln

zeigten. Die Schockwellen eines gewaltigen Energieaufpralls an

der Oberfläche ließen gewaltige Orkane durch Tokyo-3 fegen.
 

"Nur noch 18% der Kameras aktiv. Schalte Bild auf die

äußeren Regionen!" rief Maya.
 

Entsetzt nahmen alle ihre Hände vor den Mund, als sie das

Übersichtbild von Tokyo-3 sahen. Dort, wo früher einmal eine

stolze und moderne Stadt gestanden hatte, klaffte nun ein

riesiges Loch mit mehreren Kilometern Durchmesser.
 

"Oh mein Gott", sagte Ritsuko. "Sie haben die Geofront

freigelegt."
 

In der Tat hatte man einen wunderschönen Blick auf die

gewaltige Höhle.
 

"Was ist mit dem Satelliten?" wollte Misato wissen.
 

"Zerstört, vermutlich aufgrund einer Energieüberlastung."
 

"Und die EVAs?"
 

"Unbeschädigt. Die AT-Felder der anderen beiden Roboter

haben standgehalten."
 

"Und... der Engel?"
 

Doch eine Antwort war nicht mehr nötig. Misato sah das

leuchtende Band ihres Feindes, das über dem Loch schwebte,

selbst.
 

"Alles umsonst..."
 

"Nicht ganz", sagte Maya. "Der Engel wurde auf weniger als

die Hälfte seiner Originallänge reduziert."
 

Misato sah noch einmal genau hin. Es stimmte. Fehlten also

nur noch ungefähr 45%.
 

***
 

Asuka warf Rei einen kurzen Blick zu. Die versuchte zwar

ein Lächeln, doch es misslang vollständig. Beide hatten in den

letzten Wochen mit Karins Tod zu kämpfen gehabt. Doch irgendwie

hatte es sie auch einander näher gebracht. Das rothaarige

Mädchen kannte nun Reis Geheimnis und wusste, warum sie sich wie

eine Puppe verhielt. Jetzt waren sie beide Freundinnen, oder

zumindest so etwas Ähnliches. Asuka sah darin immerhin einen

Fortschritt. Doch dazu hätte es nicht den Tod eines Anderen

bedürfen sollen. Bis heute waren die eigentlichen Umstände der

Explosion ungeklärt geblieben. Irgendwie wollte sie der

offiziellen Version, dass Sereamus von einem Engel übernommen

wurde, nicht glauben. Es war nur so ein Gefühl... aber sie war

sich sicher, dass sie die Wahrheit herausfinden würde. Gemeinsam

mit Rei. Sie hatte Frank bereits vor einer Weile darauf

angesetzt, weitere Informationen über Karin zu sammeln. Ihre

Herkunft schien ebenso schleierhaft zu sein wie Reis noch bis

vor kurzem. Der Einzige, der noch etwas über sie wissen konnte,

war Kensuke. Doch der hatte bislang mit so gut wie niemandem

gesprochen. Asuka glaubte zu wissen, wie er sich fühlt. Als

Versager...
 

Sie schüttelte den Kopf. Jetzt war keine Zeit für solche

Gedanken. Der Satellit war vernichtet. Also würden sie den Rest

allein erledigen müssen.
 

Erneut blickte sie zu Rei und nickte dann. Rei antwortete

ebenfalls mit einem Nicken. Wie auf ein geheimes Kommando und in

perfekter Synchronisation schossen aus den Schultern ihrer

Einheiten Flügel und sie hoben ab, um zu dem Engel über der

Mitte des neu geschaffenen Loches zu fliegen.
 

Die beiden wussten, dass sie in einem Luftkampf keine

Chance haben würden. Also mussten sie ihren Feind zunächst auf

festen Boden locken. Und sie würden die Hilfe der EVAs

benötigen. Selbst mit den SERAPHIM wäre es ein Ding der

Unmöglichkeit, den Engel im Alleingang zu besiegen.
 

Asuka öffnete eine Kom-Verbindung zu den EVAs und wurde von

dem Anblick von drei sehr erstaunten Gesichtern begrüßt.
 

"Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich mich amüsiert fühlen"

bemerkte sie trocken. "Ihr werdet den Engel ablenken, sobald er

hier ist, und wir kümmern uns um den Rest."
 

"Ähmm... Ok!" antworteten die anderen.
 

Doch das war leichter gesagt als getan. Der Engel war

äußerst schnell und wendig. Selbst die augenscheinliche Überzahl

von fünf Gegnern machte ihm herzlich wenig aus.
 

"Verdammt", murmelte Rei, als sie erneut um Haaresbreite

dem Engel auswich. Sie hatte den Zustand von Shinjis EVA bereits

gesehen, und er machte ihr mehr als nur Sorgen. Mit Karin hätten

sie den Kampf mit Hilfe der Lanze leicht beenden können, aber

Asuka und sie besaßen noch nicht das Können, eine solch präzise

Waffe zu führen. Plötzlich gab es eine neue Explosion und EVA-00

wurde durch die Luft gewirbelt. Er landete direkt auf SERA-03,

Asukas Einheit.
 

"Langsam hasse ich diese Kurzstreckenflüge" murmelte Kaworu

leicht benommen.
 

"Da bist du nicht der Einzige", ließ Shinji sich vernehmen.
 

Reis Augen weiteten sich plötzlich. Hinter EVA-01 hatte

sich eine weitere dieser Lichtkugeln gebildet. Sie wusste, dass

sie nicht mehr genug Zeit haben würde, um ihr AT-Feld aufzubauen

und damit Shinji zu schützen.
 

"SHINJI!" schrie sie und stürzte auf ihn zu. wobei sie EVA-

01 beiseite riss. Bei der Detonation wurde ihr linker Flügel

zerfetzt. Sie griff mit ihrem Arm an ihre Schulter und biss die

Zähne vor Schmerzen zusammen.
 

Shinji wurde erst jetzt bewusst, wer sich eigentlich in

diesem anderen Roboter befand.
 

"Rei..." sagte er, als er entsetzt mit ansehen musste, wie

sich ihre Einheit in Schmerzen wandte, ohne Kämpfen zu können.

Dann wurde sie ohnmächtig und der Roboter kam zum Stillstand.

Wut begann in ihm aufzubrodeln. Dieser Engel. Sie hätten ihn

schon vor Stunden besiegt haben müssen. Jetzt gab es keine Gnade

mehr. Die Augen von EVA-01 glühten in strahlendem Weiß.
 

Mit Furcht erregendem Brüllen und lediglich einem Messer

bewaffnet stürzte sich die Einheit auf den Engel. Dieser wurde

einen Moment lang aus der Fassung gebracht und schien sich

beinahe zu amüsieren. Doch dieser Augenblick der Unachtsamkeit

reichte Asuka. Mit ihrem AT-Feld zerteilte sie den Engel sauber

in der Mitte, so dass die Kreatur begann, sich schmerzvoll zu

winden. Sie ließ ihm gar keine Zeit, sondern bearbeitete eine

der beiden Hälften mit allem, was ihr an Waffen und Energie zur

Verfügung stand. Das Band wurde immer heller und heller und

detonierte in einer Explosion, deren Kraft beinahe an die der

durch den Satelliten verursachten erreichte.
 

"Hab ich dich", sagte Asuka, als nur noch ein Viertel des

Engels übrig war.
 

Shinji schüttelte den Kopf als er das sah. "Wie ein

riesiger Regenwurm."
 

Asuka nickte. Dann wurde sie ernst. "Kümmere dich bitte um

Rei. Ich werde den Rest hier erle..."
 

"ASUKA!" brüllte plötzlich Kaworu durch die Leitung.

Blitzschnell drehte sie sich um, nur um zu sehen, wie das letzte

Stückchen Engel direkt auf sie zu raste. Es war zu spät um

irgendwie auszuweichen. Sie riss die Arme schützend vor den Kopf

und erwartete den Aufprall.
 

Doch er kam nie. Als die Deutsche wieder aufblickte, sah

sie, warum. EVA-00 hatte sich zwischen sie und den Engel

geschoben und ihn so abgefangen. Und dieser begann mit der

Einheit zu verschmelzen.

Plötzlich wurde es unheimlich still. Der Körper des Engels

leuchtete in strahlendem Weiß und wurde wieder länger.
 

Auf allen Bildschirmen, sowohl in der Kommandozentrale als

auch in den am Kampf beteiligten Einheiten erschien Kaworus

Gesicht. Ein warmes Lächeln umspielte seine Lippen.
 

"Mein wahrer Name ist Tabris", sagte er. "Ich bin der

siebzehnte Engel. Ich hatte gehofft, meinem Schicksal entgehen

zu können und mich Aristoh auf eurem Planeten anzuschließen.

Doch diese Hoffnung war vergebens. Die Verbindung zweier Engel

hat die Entstehung eines einzigen unbesiegbaren zur Folge."
 

Tatsächlich ließ sich auf den Bildschirmen erkennen, wie

sich auf der Oberfläche des weißen Bandes Tausende Köpfe

bildeten, die eindeutig Kaworus Gesichtszüge trugen.
 

"Dieses Ereignis bezeichnet ihr Menschen als den Third

Impact. Ich habe nicht vor, zuzulassen, dass dies geschieht. Ich

bin der Engel des freien Willens. Mein Tod wird euer Leben

bedeuten. Vielleicht sehen wir uns im Paradies, wenn es

tatsächlich existiert. Bis dahin sage ich euch Lebewohl."
 

Noch Stunden nach der Explosion von EVA-00 war keiner in

der Lage zu verstehen, was heute eigentlich geschehen war.
 

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130

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Kensuke lag auf seinem Bett. Obwohl er die letzten

zwei Wochen nichts anderes getan hatte, als zu arbeiten, und so

gut wie keinen Schlaf gefunden hatte, war er nicht müde. Seine

Gedanken wanderten immer wieder zu Karin, so sehr er auch das

Gegenteil erzwingen wollte. Wie er ihr Lächeln vermisste. Er

konnte das Gefühl, das sich seitdem seiner bemächtigt hatte,

einfach nicht beschreiben. Es war, als wäre ein Teil von ihm

einfach herausgerissen worden, als wäre er nicht mehr

vollständig.
 

Ein ironisches Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Sein

Leben war bislang eigentlich halbwegs normal verlaufen, wenn man

einmal von seinem Militärtick absah. Seine Mutter war bereits

früh gestorben und sein Vater arbeitete beim Militär, wodurch er

ihn vielleicht einmal im Monat zu Gesicht bekam, wenn er Glück

hatte. Er lebte meistens bei seinen Großeltern und war so gut

wie immer allein gewesen. Diese Einsamkeit hatte sich erst

geändert, als er nach Neo-Tokyo-3 umzog. Sein Vater war ins

Hauptquartier von NERV versetzt worden und so war er mit hierher

gekommen. Doch leider war seine neue Arbeit so streng geheim,

dass Kensuke den Großteil seiner Phantasie überlassen musste.

Zunächst hatte er mit seinen Mitschülern einige Probleme, die

vor allem darin bestanden, dass er überhaupt keinen Kontakt zu

ihnen finden konnte. Deswegen verbrachte er seine Freizeit auch

größtenteils allein draußen auf den Feldern vor der Stadt, wo er

sich in aller Ausgiebigkeit seinen Militärspielen widmen konnte.

Kensuke war für den Rest der Welt eigentlich immer nebensächlich

und unwichtig gewesen. Deswegen hatte er auch unbedingt EVA

steuern wollen. Um endlich eine Bedeutung zu haben und bewundert

zu werden. Eines Tages, es musste vor ungefähr drei Jahren

gewesen sein, wurde er von einem der neuen Mitschüler bei einer

seiner Trainingsstunden überrascht. Sein Name war Toji Suzuhara.

Irgendwie hatten sich die beiden vom ersten Moment an verstanden

und wurden sofort unzertrennliche Freunde. Toji hatte ihn öfters

auf seinen Streifzügen begleitet, wenn es auch mit der Zeit

immer seltener wurde. Dann war Shinji zu ihnen gestoßen. Kensuke

musste unwillkürlich lächeln, als er daran dachte, wie der

dunkelhaarige den Neuen zusammenschlug. Und noch mehr musste er

lächeln, als er daran dachte, wie Toji daraufhin von seiner

kleinen Schwester zur Schnecke gemacht wurde. Daraufhin wurden

die drei zu einem festen Gespann, dem "Idioten-Trio", wie Asuka

sie später bezeichnete.
 

Er seufzte, als er an diese glücklichen Tage zurückdachte.

Damals hatte er noch nicht gewusst, wie viel Leid noch auf ihn

zukommen würde. Wieder kehrten seine Gedanken zu Karin zurück.

Zu dem friedlichen Lächeln, das sich über ihre Züge gelegt

hatte, als sie in seinen Armen eingeschlafen war. Er hatte

versagt. Er hatte nichts tun können. Überhaupt nichts.
 

In diesem Moment klopfte es an seiner Tür. Müde wandte er

den Blick in die entsprechende Richtung und sah, wie Gregor

eintrat. Er lächelte Kensuke aufmunternd zu. Dann setzte er sich

zu ihm und sein Gesichtsausdruck wurde ernst.
 

"Der Kampf ist beendet", sagte er dann.
 

"Also haben wir gewonnen."
 

Gregor schüttelte den Kopf.
 

"Nein, nicht wirklich. Kaworu ist tot."
 

Ungläubig blickte Kensuke ihn an. Er nickte.
 

"Er hat die Selbstzerstörung von EVA-00 ausgelöst. Sich

selbst geopfert, um alle anderen zu retten."
 

Er blickte Kensuke direkt in die Augen.
 

"Halt' dich bereit. In fünf Stunden geht es los."
 

Doch Kensuke hörte ihm gar nicht mehr richtig zu. Jetzt

wusste er, was er falsch gemacht hatte. Er hätte sich auch für

Karin opfern sollen. Er wusste, dass er ihr hätte helfen können.

Dennoch hatte er es nicht getan. Er hatte versagt. Dieser eine

Gedanke wiederholte und wiederholte sich in seinem Kopf, ohne

dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Seine Hände begannen

zu zittern. Die Lösung hatte die gesamte Zeit über so nahe

gelegen. Und dennoch war er nicht darauf gekommen. Er konnte

sich selbst dafür ohrfeigen. Doch dazu kam er nicht.
 

Gregor konnte scheinbar seine Gedanken lesen. "Wir alle

trauern im Karin", sagte er bedächtig. "Doch im Moment macht es

keinen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, was hätte sein

können. Du..."

In genau diesem Moment schlug Kensuke ihm mit seiner ganzen

Kraft ins Gesicht.
 

"Du hast keine Ahnung!" brüllte er. "Du kannst gar nicht

wissen, wie es ist, einen Menschen, den man... den man ge..." er

konnte nicht weiter sprechen, weil er in Tränen ausbrach. Er

stützte seinen Kopf in die Hände und schluchzte vor sich hin.
 

Gregor betrachtete ihn mit einer Mischung aus Verärgerung

und Mitleid. Doch nach einer Weile wich der Zorn und machte der

Anteilnahme platz. Er legte seine Hand auf Kensukes Schulter und

rechnete bereits halb damit, roh beiseite gestoßen zu werden.

Allerdings geschah nichts dergleichen. Er schluchzte einfach nur

weiter vor sich hin und schien sich nicht mehr um den Rest der

Welt zu kümmern.
 

"Es gab da einmal ein Mädchen", sagte Gregor schließlich.

"Sie war so ungefähr in meinem Alter."
 

Kensuke blickte ihn fragend an.
 

"Das bezauberndste Wesen, das das Universum jemals gesehen

hatte." Er versuchte zu lächeln, doch es wurde mehr zu einer

verzerrten Fratze.
 

"Wie hieß sie?" fragte der andere vorsichtig.
 

Gregor musste lächeln. "Es ist bereits so lange her..."
 

Kensukes angeborene Neugier übernahm langsam die Überhand.

Er wusste, dass irgendetwas mit diesem Jungen nicht stimmte.
 

"Du bist nicht wirklich fünfzehn Jahre alt oder?"
 

"Wie?" Gregor blinzelte, als er plötzlich aus seinen

eigenen Gedanken gerissen wurde. "Achso", er grinste

verschmitzt. "Aber ich habe mich gut gehalten, oder?"
 

Kensuke nickte. Er hatte schon vor längerem Gerüchte

gehört, nach denen vor ungefähr siebzig Jahren Außerirdische auf

der Erde gelandet sind. Er hatte keine Ahnung, warum er gerade

jetzt daran denken musste. Ob es irgendetwas mit Gregors

scheinbar ewigen Jugend zu tun hatte. Ein normaler

fünfzehnjähriger Teenager wäre mit Sicherheit nicht in der Lage,

Kommandant einer derartigen Organisation zu werden. Allerdings

hatte er ja Hilfe in Form von Lorenz Kiel und Stefan Maishima...
 

Maishima... er biss sich auf die Lippen. Gregor hatte

gesagt, jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber

Gedanken zu machen. Sicher hatte er damit Recht, doch das

hinderte nicht dieses zerrende Gefühl der Leere, sich immer

wieder seiner zu bemächtigen. Die Schmerzen, die er empfand,

wurden von Mal zu Mal immer unerträglicher. Er konnte nichts

dagegen unternehmen...
 

"Gregor?" Schließlich gab er sich einen Ruck.
 

"Hmm?" fragte der andere, der sich in der Zwischenzeit

vermutlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt hatte. "Was gibt

es?"
 

Kensuke grinste wehmütig. "Eine Frage, bevor wir weiter

über verlorene Lieben reden. Kann ich nach Japan zurückkehren,

wenn das alles hier vorbei ist?"
 

"Du meinst, es könnte dir helfen zu... vergessen?"
 

Der andere schüttelte den Kopf. "Nein. Ich werde Karin

niemals vergessen können." Er atmete tief durch und blickte zur

Decke. "Sie wird immer meine Gedanken beherrschen, Tag und

Nacht. Jeden verdammten einzelnen Augenblick meines restlichen

Lebens."
 

Gregor nickte. "Kehre ruhig zurück. Vielleicht findest du

eine Lösung für dich. Ich habe keine gefunden."
 

Kensuke schielte zu ihm hinüber. In den Augen seines

Gegenübers konnte er die verschiedensten Emotionen erkennen, vor

allem jedoch Schmerz. Tiefen, dunklen Schmerz. Wunden, die

wahrscheinlich niemand mehr heilen konnte. In diesem Moment

wurde ihm bewusst, dass er alles in allem vielleicht sogar noch

ganz gut davon gekommen war. Doch im nächsten Moment schüttelte

er den Gedanken ab. Es gab keine Möglichkeit, sein Schicksal mit

Gregors zu vergleichen. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen

Kampf zu führen. Und Kensukes bestand darin, seinen Teil zur

Schlacht gegen die Engel beizutragen. Er würde SEELE

ermöglichen, auch die restlichen EVA-Piloten nach Deutschland zu

bringen. So würde das letzte Gefecht zu einem Kinderspiel für

die Menschheit werden. Er selbst würde an dieser Schlacht nicht

teilnehmen. Zu diesem Zeitpunkt würde er bereits wieder in Japan

sein und sich irgendeine Beschäftigung suchen. Er lächelte.

Vielleicht würde er Karin den größten Gefallen machen, wenn er

selbst nicht auch noch unterging. Sie hätte das mit Sicherheit

nicht gewollt...
 

"Achja, noch etwas..." sagte Gregor schließlich. "Frank

wollte unbedingt irgendetwas mit dir besprechen." Er blickte in

Kensukes Augen. "Wenn du dich besser fühlst,

selbstverständlich..."
 

Kensuke richtete sich auf. Dann schüttelte er energisch den

Kopf. "Ich wollte sowieso noch ein paar Dinge mit ihm klären."
 

"Gut. Aber vergiss nicht. Noch-" Gregor blickte auf die

Uhr. "-viereinhalb Stunden, bis wir dich brauchen."
 

"Geht klar." Damit verließ er den Raum.
 

Gregor blickte ihm nach. Was stand in seinem

psychologischen Gutachten? Ständige Stimmungsschwankungen oder

so etwas...
 

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131

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Als Rei erwachte, starrte sie direkt auf die weiße

Decke. Ihre Hände verkrallten sich in die Bettlaken. Sie war

wieder zurück. Das Krankenhaus von NERV. Hier hatte sie

vermutlich mehr Zeit ihres Lebens verbracht als irgendwo anders.
 

Unbewusst wanderte ihre rechte Hand zu ihrer linken

Schulter. Sie glaubte, noch immer die Schmerzen durch die

Vernichtung ihres Flügels wahrnehmen zu können. Doch ihr eigener

Arm war noch dran. Wie nach jedem Kampf. Sie verzog das Gesicht,

als sie daran dachte, wie oft sie schon nur zu knapp mit dem

Leben davonkam. Noch bevor die Engel überhaupt angegriffen

hatte, wurde sie beim Aktivierungstest des Prototypen schwer

verletzt. Wäre Shinji damals nicht für sie "eingesprungen",

hätte sie Kämpfen müssen. Sie hätte es getan, doch der Tod wäre

ihr sicher gewesen. Das nächste Mal war der Kampf gegen Ramiel

gewesen. Sie hatte dessen Energiestrahl von EVA-01 abgeschirmt

und dabei aufs Neue ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Damals war sie

der Überzeugung, dass sie es getan hatte, weil sie wusste, dass

sie ersetzt werden konnte, der Pilot der anderen Einheit aber

nicht.
 

Heute wusste sie es besser. Sie hatte Shinji beschützen

wollen. Nicht, weil er für den Plan seines Vaters unerlässlich

war oder weil es ihr befohlen wurde. Sie hatte es getan, weil

sie die Chance haben wollte, ihn kennen zu lernen, weil der

Gedanke an seinen Tod für sie unerträglich war. Lange hatte sie

benötigt, um herauszufinden, wieso solche Gedanken durch ihren

Kopf spuken. Erst nachdem sie vor dem Kampf gegen Bardiel

versagt hatte, danach orientierungslos durch die Gegend irrte

und schließlich an Gregor geriet, begann sie zu verstehen.
 

"Ob Klon oder nicht, du bist ein Mensch wie jeder andere."
 

Das hatte er damals zu ihr gesagt, als sie in ihrer

Verzweiflung fast keinen Ausweg mehr gewusst hatte. Sie wusste,

dass sie ein Klon war, hatte aber nie geglaubt, dennoch auch als

Mensch zu zählen. Doch wenn dem so war, konnte auch sie

Emotionen empfinden und Gefühle besitzen. Mit diesen Worten

hatte sie begonnen, gegenüber sich selbst einen Sinn zu machen.
 

Sie war bereits früh mit dem Konzept der Liebe vertraut

gewesen, hauptsächlich durch unauffällige Beobachtungen des

Verhaltens des Kommandanten und Doktor Akagi. Doch verstehen

konnte sie die Dinge, die sie sah, nicht. Erst viel später, als

sie Shinji das erste Mal sah, begann ihr zu dämmern, was

dahinter stecken konnte.
 

Als sie vor dem Kampf gegen Sachiel in den EVA-Hangar

gerollt wurde und von der Bare fiel, war er zu ihr hinüber

gestürzt und hatte sie in seine Arme genommen. In diesem einen

Moment hatte sie etwas empfunden, dass sie noch nie zuvor

gespürt hatte. Einerseits Wärme. Keine thermische, sondern eher

in ihrem inneren. Und das andere war... ein Gefühl der

Sicherheit. Als würden seine Arme alles von ihr abhalten. Als

müsste sie sich nicht selbst verteidigen, sondern beschützt

werden. Trotz all der Schmerzen hatte sie sich in diesem Moment

zum ersten Mal richtig wohl gefühlt. Oder zumindest

ansatzweise...
 

Dafür war sie ihm dankbar gewesen. Sie konnte es sich

zunächst nicht erklären, doch heute wusste sie, dass DAS Liebe

war.
 

Bevor sich ihre Gedanken allerdings weiter bewegen konnten,

wurde ihr ein leichtes Gewicht bewusst, dass auf ihrem linken

Unterarm lastete. Einen Augenblick lang wunderte sie sich, warum

sie es nicht schon früher bemerkt hatte, dann drehte sie den

Kopf leicht, um zu sehen, was es war.
 

Zunächst sah sie nur ein Objekt, dass merkwürdige

Ähnlichkeit mit einer zerzausten Wollkugel hatte. Dann wurde ihr

bewusst, dass es sich um Haare und, vermutlich, den

dazugehörigen Kopf handelte.
 

In der selben Sekunde kam ein herzhaftes Gähnen aus dieser

Richtung, wie um zu bestätigen, dass sie mit ihrer Vermutung

richtig lag. Dann drehte der Kopf sich und enthüllte Shinjis

verschlafenes Gesicht.
 

Er lächelt leicht, als er bemerkte, dass sie ebenfalls wach

war. Dann richtete er sich langsam auf und kam auf sie zu, bis

ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter von einander entfernt

waren. Er blickte direkt in ihre fragenden, rot leuchtenden

Augen.
 

"Ich habe dich vermisst" flüsterte er dann zärtlich und

beugte sich noch etwas weiter vor, bis sich ihre Lippen

berührten. Erst nach ein paar Minuten trennten sie sich wieder.
 

"Ich dich auch", sagte Rei, indem sie ihre Arme um seinen

Nacken legte und ihn in einen weiteren Kuss nach unten zog.
 

Als sie ihre Augen schließlich wieder öffneten, erblickte

Rei etwas am Rand ihres Sichtfeldes. Sie drehte den Kopf leicht

nach rechts. Und blickt in zwei kristallblaue Augen, umrahmt von

langen, rotbraunen Haaren.
 

Asuka.
 

"Lasst euch nur nicht stören", sagte diese. "Ich will nur

etwas für mich selbst dazulernen." Ein schelmisches Grinsen

umspielte dabei ihre Lippen.
 

Shinji allerdings war kein bisschen erfreut. "Asu-"
 

Doch Rei unterbrach ihn. "Dann schau gut zu."
 

Damit zog sie den leicht überraschten Shinji wieder zu sich

nach unten in einen Kuss, der an Tiefe alles übertraf, das sie

bislang miteinander geteilt hatten. Shinjis Gesicht konkurrierte

unterdessen mit Asukas Haaren um den Titel des tiefsten je

gesehen Rot. Shinji gewann, wenn auch nur mit knappem Vorsprung.
 

"Ähmm...", kam es aus dem Hintergrund. "Ich will eure

kleine Unterrichtsstunde ja nicht stören, aber im Moment gibt es

doch wichtigere Dinge..."
 

Alle drehten sich auf einmal in Richtung des Störenfriedes,

Toji. Doch der wies nur leicht nervös auf die beiden

schwarzgekleideten Gestalten links und rechts der Tür des

Krankenzimmers. Auf diese Weise darauf aufmerksam geworden, dass

sie doch nicht ganz so allein waren, wie sie erst glaubten,

rückten sie sich wieder in halbwegs gerade Positionen zurecht.

Vor allem, da zwischen den beiden dunklen Anzügen eine sehr

zornig dreinschauende Misato stand.
 

Shinji schluckte. Als er den Raum betreten hatte, war er

noch mit Rei allein gewesen. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie

all die Leute hereinkamen. Doch Misatos Blick verhieß nichts

Gutes.
 

Doch sie gab sich sichtlich Mühe, das Bild vor ihren Augen

zumindest solange zu ignorieren, bis sie sicher sein konnte, die

Aufmerksamkeit ALLER Anwesenden zu haben. Sie atmete noch einmal

durch und entkrampfte sich ein wenig, bevor sie anfing zu

sprechen.
 

"Ok, Kinder", begann sie. "Nachdem ihr euch also nach all

der Zeit wieder begrüßt habt, gibt es noch ein paar wichtigere

Dinge zu besprechen. Rei, Asuka ihr seid vorerst festgenommen."
 

Allgemeines Erstaunen war die Reaktion. Nachdem die beiden

immerhin dafür gesorgt hatten, dass sie den Engel besiegen

konnten, hätten sie zumindest mit _etwas_ Dank gerechnet.

Andererseits kannten sie alle den Kommandanten nur zu gut.
 

"Begründungen dafür sind:", fuhr Misato fort. "Unerlaubtes

Entwenden einer EVA-Einheit und der damit verbundenen Weitergabe

streng geheimer Technologie an Dritte. Verlassen der

Organisation NERV, ohne zuvor die nötigen Anträge durchgeführt

zu haben. Weiterhin: Zerstörung der Stadt Neo-Tokyo-3 zu großen

Teilen." An diesem Punkt schüttelte sie den Kopf, um zu zeigen,

dass sie das selbst genauso an den Haaren herbeigezogen fand wie

die anderen auch. "Bis über ein angemessenes Urteil entschieden

wurde, werdet ihr beiden in getrennten Zellen untergebracht. In

Reis Fall, sobald ihr Zustand es erlaubt. Besuche sind

verboten." Sie atmete erneut tief durch. "Das ist JETZT der

Fall." Sie zog ihre Waffe und entsicherte sie, deutete damit

aber auf niemand bestimmtes. "Es tut mir leid..."
 

Asuka sprang auf und sah aus, als wollte sie jeden Moment

auf Misato losgehen, wurde aber auf unkonventionelle Art von Rei

gestoppt. Diese stand einfach nur auf und ging auf den Major zu.
 

"Ich habe verstanden", sagte sie ruhig. "Wo kann ich mich

umziehen?"
 

Misato blickte sie einen Moment lang verdutzt an -

anscheinend hatte sie mehr Widerstand erwartet - sagte aber

nichts, sondern deutete in Richtung eines Vorhanges, der eine

Ecke des Raumes vom Rest abgrenzte.
 

"Deine Sachen liegen bereits dort."
 

Rei nickte und ging hinüber, verschwand kurz darauf, um

sich umzuziehen. Erst jetzt fanden Shinji und die anderen

langsam ihre Sprache wieder.
 

"Aber Misato...", sagten sie alle zugleich.
 

Die junge Frau brachte sie allerdings mit einem einzigen

Wort zum Schweigen.

"Später."
 

Inzwischen war Rei fertig geworden und trug wieder ihre

gewohnte Schuluniform. Langsam ging sie auf die Männer des

Sicherheitsdienstes zu und bestätigte durch ein Nicken. dass sie

fertig war. Merkwürdig still und ruhig wurde sie von Asuka

begleitet. Doch in ihren Augen loderte eisiges Feuer.
 

Als die Tür sich wieder geschlossen hatte, blickte Misato

resignierend zu Boden. Shinji und Toji sagten nichts. Langsam

begannen die Ereignisse der letzten Stunden auf sie einzuwirken.

Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass sie heute einen ihrer

besten Freunde verloren hatte. Ironischerweise ein Engel, der

sich für die Menschheit geopfert hatte. So etwas würde sich

niemals wiederholen, oder?
 

Tränen begannen aus Shinjis Augen zu fließen. Er hasste es,

zu heulen. Es erinnerte ihn daran, wie sein Vater ihn verlassen

hatte, um ein Monster zu werden. Ein Tyrann, der sich

einbildete, Gott zu sein und das Schicksal und die Zukunft der

Menschheit zu bestimmen.
 

Toji hatte ähnliche Gedanken, doch konzentrierten sie sich

mehr auf Kaworu. Sie hatten nie wirklich Zeit gehabt, um sich

richtig kennen zu lernen, doch war er ihm irgendwie ans Herz

gewachsen. Kaworu hatte die Eigenschaft, bei jedem beliebt zu

sein, einfach nur durch die Art Mensch, oder besser Engel, die

er war. Er brauchte sich nicht zu verstellen oder irgendwie

anzustrengen, um Freunde zu finden. Es war ihm ein Leichtes auf

andere zuzugehen. Ein melancholisches Lächeln umspielte seine

Lippen. Kaworu hatte einmal behauptet, unsterblich zu sein. Man

hätte es ihm beinahe glauben können. Unwillkürlich fragte Toji

sich, wie es Kensuke jetzt ergehen würde. Auch er hatte erst vor

kurzem einen Menschen verloren, der ihm sehr viel bedeute.

Vielleicht mehr, als ihm je zuvor ein Mensch bedeutet hatte. Er

selbst hatte ja immer noch Hikari. Vielleicht würde er bei ihr

etwas Trost finden.
 

Schließlich, wie auf ein geheimes Zeichen hin, blickten

beide zu Misato hinüber, die ihre Augen noch immer auf den Boden

gerichtet hatte. Dann ging Shinji zu ihr hinüber und legte eine

Hand auf ihre Schulter. Die junge Frau zuckte kurz zusammen,

bewegte sich aber ansonsten nicht und hob auch nicht den Blick.
 

"Es ist in Ordnung", sagte der Junge schließlich mit

Überwindung. "Du kannst nichts dafür..."
 

Dann brach sie zusammen. Misato hockte sich auf den Boden,

zog die Knie an ihr Kinn und umschlang ihre Beine mit ihren

Armen. In dieser Position hatte sie schweigend einen Großteil

ihrer Kindheit verbracht. Shinji hatte davon gehört und wusste,

dass es für Misato eigentlich unmöglich war, sich derartig

zurückzuziehen. Umso gefährlicher war ihr aktueller Zustand. Der

Gedanke, zwei ihrer liebsten Schützlinge in Haft zu stecken,

musste sie innerlich zerfressen, egal, ob es ihre Schuld war

oder nicht.
 

Shinji tat das einzige, dass ihm richtig erschien. Er

setzte sich hinter sie und schlang seine Arme um sie, über ihren

eigenen. Dann drückte er sie an sich.
 

"Es ist in Ordnung..." wiederholte er seine Worte, während

Misato zu schluchzen begann.
 

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132

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Frank saß gemütlich in seinem Sessel und las. 1984.

George Orwell. "Krieg ist Frieden". Wie wahr. Wenn der Krieg zum

Dauerzustand wurde, nahm ihn niemand außer den unmittelbar

Beteiligten mehr wahr. Das galt damals genauso wie heute. Obwohl

die Erde beinahe ununterbrochen von den Angriffen der Engel

heimgesucht wurde und alle Menschen unter den Folgen des Second

Impact zu leiden hatten, lebte der Großteil so, als wäre dies

nicht nur heute, sondern schon immer ganz normal gewesen.
 

Frank blickte auf. Sein Leben war bislang nur ein Krieg

gewesen. Ein Krieg gegen den Krieg. Er hatte alles und jeden

ausspioniert und Informationen gesammelt, wo er nur konnte.

Selbst in SEELEs Hauptcomputer war er eingedrungen.

Wahrscheinlich würde Gregor ihn dafür einsperren oder sogar ganz

aus dem Verkehr ziehen lassen, doch es war ihm egal. Jeder

musste selbst herausfinden, wie er sich am besten durchs Leben

schlug. Frank wollte die Wahrheit herausfinden. Noch bevor er zu

SEELE gegangen war, hatte er nicht an die offizielle Version des

Second Impacts mit dem Meteoriteneinschlag geglaubt. Es war

irgendetwas besonderes am Nordpol geschehen. Etwas, das sich mit

nichts, was die Erde je zuvor erlebt hatte, vergleichen ließ.

Später dann war er SEELE beigetreten und hatte von Gregor die

Wahrheit erfahren. Adam, der erste Engel, war im Jahr

Zweitausend erwacht und hatte die Erde an den Rand des Abgrundes

getrieben... Adam, der - wie er zunächst geglaubt hatte - tief

unten in NERVs Keller an ein riesiges rotes Kreuz genagelt war.

Bei diesem Gedanken tauchte unwillkürlich Kajis Bild in seinem

Kopf auf. Frank musste schmunzeln, als er an seinen ehemaligen

"Lehrmeister" dachte...
 

Doch in diesem Moment wurde er von dem verhaltenen

Glockenton der Klingel an der Tür zu seinem Quartier wieder in

die Realität befördert.
 

"Herein!" rief er.
 

Die Tür öffnete sich und Kensuke trat ein. Frank blickte

ihm mit einem unbestimmbaren Lächeln entgegen.
 

"Setz dich doch", bot er ihm einen freien Sessel an.
 

Doch Kensuke schien ihn nicht wirklich zu hören, sondern

blieb beinahe ein wenig orientierungslos im Raum stehen. Erst

nach ein paar Minuten schien er mitzubekommen, was ihm gesagt

wurde, und setzte sich. Doch auch dann macht er noch einen sehr

abwesenden Eindruck.
 

"Du hast sie geliebt." Es war keine Frage, sondern eine

einfache Feststellung. "Richtig geliebt."
 

Der Andere blickte auf. Seine Augen schienen zu leuchten,

allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Frank schaute ihn

an. Irgendwie wurde er aus diesem Jungen nicht klug. Er hatte

alles mögliche erwartet: Zorn, Hass, Niedergeschlagenheit,

Trauer, Wut, alles mögliche. Doch die wirkliche Reaktion war

ganz anders. Natürlich umgab den Jungen seit Karins Tod eine

Aura der Trauer, doch sonst macht er einen sehr gefassten

Eindruck. Es war, als hätte er seine Emotionen weggeschlossen

und sich entschieden, sein Innerstes vor allen anderen geheim zu

halten. Zumindest erschien es Frank so. Der Junge hatte eine

ziemlich introvertierte Art, mit diesem Verlust umzugehen.
 

Frank selbst hatte sich über den Tod des Mädchens noch

nicht allzu viele Gedanken gemacht, vor allem, weil er wusste,

dass diese mit Schmerzen verbunden sein würden. Er hatte sie

wirklich gemocht. Karin war für ihn so etwas wie eine kleine

Schwester gewesen, obwohl er kaum älter war als sie. Er wusste,

dass irgendetwas Dunkles in ihrer Vergangenheit war. Ihre

scheinbar unerschöpfliche Fröhlichkeit war nur eine Maske

gewesen. Doch sie hatte nie über ihre Probleme gesprochen. So

sehr er sich auch bemüht hatte, sie zum Reden zu bewegen, aus

dem Mädchen war nichts herauszubekommen. Jedes Mal, wenn er ihr

diesbezüglich eine Frage stellte, wich sie ihm aus oder

ignorierte ihn ganz einfach. Dabei ließ allein die Tatsache,

dass sie stets lange Kleidung trug - auch im Hochsommer -

vermuten, dass sie etwas zu verbergen hatte. Doch mehr als das

wusste eigentlich niemand über sie, wahrscheinlich nicht einmal

Gregor. Sie war für alle nur die immer freundliche, höfliche,

hilfsbereite und glückliche SERAPHIM-Pilotin gewesen. Der

Einzige, der vielleicht die Chance auf einen Blick hinter Karins

Fassade hatte, war möglicherweise Kensuke.
 

In diesem Moment wurde Frank bewusst, dass er seinen Gast

beinahe vergessen hätte und blickte auf. Doch Kensuke schien von

seiner geistigen Abwesenheit keinerlei Notiz genommen zu haben.

Er schaute nur gedankenverloren vor sich hin. Doch dann, von

einem Moment auf den anderen, schien er einen Entschluss gefasst

zu haben. Er blickte Gregor fest in die Augen und nickte leicht.
 

"Ja", sagte er. "Ich habe sie geliebt. Mit allem, was ich

bin. Mit allem, was mich ausmacht."
 

Frank nickte ebenfalls. "Auch wenn du sie nur ein paar

Stunden lang gesehen hast, kennst du sie vielleicht besser als

jeder andere hier."
 

"Sie hat mir ein paar... dunkle Geheimnisse verraten."
 

"Dennoch...", Frank zögerte einen Augenblick. "Ich habe ein

paar Nachforschungen angestellt... Hast du schon einmal etwas

von Projekt 862702 gehört?"
 

Kensuke nickte. "Mein Vater hatte daran mitgearbeitet. Ich

habe allerdings keinen blassen Schimmer, worum es dabei ging."
 

"Um ehrlich zu sein, ich weiß es auch nicht", sagte Frank.

"Allerdings ist diese Nummer identisch mit dem Index von Karins

Akte in der Personaldatenbank von SEELE."
 

"Was?"
 

"Genau. Irgendetwas hatte SEELE mit ihr geplant. Ich habe

keine Ahnung, was. Ich glaube allerdings kaum, dass sie ihr in

irgendeiner Weise Schmerzen zufügen wollten. Das würde ich

Gregor in keinem Fall zutrauen. Vielleicht ging es um eine

Verbesserung der Synchronrate. Vielleicht war es auch etwas

völlig anderes." Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß es wirklich

nicht. NERV hat ja auch immer irgendwelche Forschungen mit einen

Piloten betrieben, ohne ihnen dabei unbedingt zu schaden."
 

"Also hat mein Vater überhaupt nicht für NERV, sondern für

SEELE gearbeitet.."
 

Frank zuckte mit den Schultern. "Möglich. Heutzutage weiß

man von niemanden mehr, für wen er eigentlich arbeitet." Er

machte eine kurze Pause, als wollte er überlegen, wie er im

weiteren Verlauf ihres Gespräches vorzugehen habe. "Doch das ist

nicht das, worauf ich eigentlich hinauswollte. Karin besaß zwar

einen Eintrag in der Datenbank, allerdings war dieser leer."
 

"Was hat das zu bedeuten?"
 

"Im Prinzip hat niemand eine Ahnung, wer sie ist, wer ihre

Mutter war oder wie SEELE sie aufgespürt hat. Sie ist ganz

einfach nur da, keiner weiß, woher sie kommt. Man bekommt sogar

das Gefühl, dass sie es nicht einmal selbst weiß. Zwar ist

Stefan Maishima ihr Vater, aber viel hilft das auch nicht

weiter. Er selbst hält sich zu diesem Thema bedeckt und hätten

die beiden nicht denselben Nachnamen, könnte man aus ihrem

Verhalten schließen, dass sie sich völlig fremd sind. Aber

eines ist klar: sie ist die geborene SERAPHIM-Piloten. Ihr macht

niemand etwas vor. Doch wie SEELE sie gefunden hat, ist unklar.

Und dann ist da die Art, wie sie sich benimmt und kleidet. Als

wäre sie völlig durcheinander..."
 

Frank schüttelte leicht den Kopf. Auf ihren Versuchen,

Fragen, die sich direkt auf ihre Vergangenheit bezogen, zu

umgehen. war sie für diejenigen, die sich die Mühe machten, sie

genauer zu beobachten, immer näher an den Rand der

Unglaubwürdigkeit gerutscht. Immer wieder widersprach sie sich

selbst und das Lächeln, das sie ständig zur Schau trug,

bröckelte Stück für Stück ab, so dass die tiefen Schmerzen

darunter mehr und mehr zum Vorschein kamen. Doch nur Wenige

achteten darauf. Manchmal fragte er sich, ob er womöglich der

Einzige war, der sich ernsthaft über dieses Mädchen Gedanken

gemacht hatte.
 

Kensuke schnaubte und Frank begriff, dass es eine Art

Antwort auf das war, was er zuvor gesagt hatte.
 

"Wenn du wüsstest..."
 

Frank überlegte einen Augenblick, was er darauf antworten

sollte. Karin schien sich Kensuke tatsächlich anvertraut zu

haben. Einerseits wunderte ihn das, da sie sich nie zuvor

jemandem geöffnet hatte, andererseits konnte er es aus exakt

demselben Grund auch verstehen. Wenn sich der Frust und die

Schmerzen über Jahre hinweg angestaut hatten, reichte bereits

ein kleines Ventil, die geringste Hoffnung auf Linderung aus, um

sie zu dem Entschluss zu bringen, mit jemandem darüber zu reden.

Dann schüttelte er den Kopf.
 

"Das ist genau der Punkt. Ich habe versucht, mit ihr zu

reden und davon sie zu überzeugen, dass es besser für sie wäre.

Ich habe wirklich alles versucht. Ohne Erfolg. Ich weiß eben

NICHT, was los war. Ich habe keine Ahnung, was Karin bedrückte."

Ihm waren Tränen in die Augen gestiegen, obwohl er es eigentlich

nicht wollte. "Ich habe keinen blassen Schimmer. Sie WOLLTE mir

nichts sagen." Langsam beruhigte er sich wieder.
 

"Sie wollte niemandem etwas sagen, stimmt's?" fragte

Kensuke.
 

"Wenn sie dir nichts erzählt hat, was augenscheinlich nicht

der Fall ist, hat sie ihr Geheimnis mit ins Grab genommen",

bestätigte ihn Frank. "Ich denke, dass selbst Gregor nicht weiß,

was mit ihr los war, obwohl er sonst alles zu wissen scheint.

Andererseits... hat er wirklich viel zu tun. Und ich bin sicher,

dass er Mittel und Wege kennt, es aus ihrem Kopf herauszuholen,

allerdings traue ich ihm nicht zu, dass er diese tatsächlich

einsetzt."
 

Kensuke blickte ihn plötzlich mit einer nie da gewesenen

Intensität an. Ihm war unvermittelt ein Gedanke gekommen.
 

"Das ist jetzt zwar ein etwas abrupter Wechsel", sagte er.

"Aber weißt du etwas über jemanden namens Eridastoh?"
 

Frank zuckte kurz zusammen. Eridastoh... Karin... diese

Verbindung gefiel ihm überhaupt nicht. Wieso hatte er nur das

Gefühl, dass hinter dieser ganzen Sache noch viel, viel mehr

steckte? Er nickte bedächtig.
 

"Vor ein paar Wochen, recht kurz bevor du hier angekommen

bist, kursierten ein paar Gerüchte über diesen Namen. Es handelt

sich dabei angeblich um eine Art Engel. Vielleicht hast du auch

schon bemerkt, dass Gregor kein gewöhnlicher Mensch ist. Ich

meine, welcher fünfzehnjährige Teenager leitet schon solch eine

Organisation wie SEELE? Manche Menschen glauben sogar, dass auch

er ein Engel sein soll." Frank schien einen kurzen Augenblick

lang nachzudenken. "Vielleicht hast du auch schon davon gehört,

dass er manchmal unter dem Decknamen ,Aristoh' operiert."
 

Kensuke fiel fast aus seinem Sessel. "Aristoh?" fragte er

mit einer Stimme, die nach einer seltsam bemerkenswerten

Mischung aus Schreien und Krächzen klang.
 

Sein Gegenüber blickte ihn fassungslos an. Sollte es am

Ende etwa stimmen? Den Gerüchten zufolge sollte sich Eridastoh

vor allem durch eine bestialische Unbarmherzigkeit und

Grausamkeit auszeichnen. Wenn ein derartiges Monster tatsächlich

existierte... Bereits der Gedanke daran fröstelte ihn... und

doch... irgendwie war er sich sicher, dass es wirklich wahr sein

musste. Aristoh und Eridastoh., zwei beinahe gleichstarke,

gewaltige Monster, die mit dem Krieg zwischen sich in der Lage

waren, ganze Sonnensysteme zu vernichten. Glücklicherweise

schien Aristoh auf ihrer Seite zu sein - nicht nur das. er

schien die Menschen auch als gleichberechtigte Partner und nicht

nur als seine Untergebenen anzusehen.
 

Seinem Gesichtsausdruck zufolge musste Kensuke soeben zu

denselben Schlüssen gelangt sein. Oder besser, zu noch viel

schlechteren, als er selbst. Kensuke wusste etwas über den Kampf

zwischen den beiden Überwesen, das sehr beängstigend war.
 

"Weißt du etwas über diesen Eridastoh?" fragte Frank

vorsichtig.
 

Kensuke benötigte einen Augenblick, um sich auf seine

Antwort vorzubereiten. "Nicht wirklich viel", sagte er dann.

"Nur, dass er in der Lage ist, Menschen zu kontrollieren. Allein

mit seinem Willen." Sein Blick verdüsterte sich. "Und.. dass er

allem Anschein nach so etwas wie der Erzrivale von Aristoh ist."

Die Kälte in seiner Stimme hatte inzwischen den absoluten

Nullpunkt fast erreicht. "Und dass er..." Kensuke stockte. Einen

Moment lang hatte er Schwierigkeiten, weiterzusprechen, doch er

fing sich bald wieder. "Und dass er Karin benutzt hat, um

Aristoh Schaden zuzufügen oder ihn zumindest aus der Reserve zu

locken." Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. "Was

allerdings nicht funktioniert hat, da sie niemandem etwas davon

erzählte." Seine Stimmung schwang plötzlich in

Niedergeschlagenheit um. "Außer mir..." er blickte zu Boden.

"Ich hatte ihr versprochen, sie zu beschützen." Seine Stimme

wurde brüchig. "Ich hätte alles getan. Ich hätte mein Leben

geopfert, um ihres zu retten." Er schwieg einen Moment. "Doch

ich habe versagt." Plötzlich empfand er nur noch Verbitterung

und Selbstmitleid. "Wie schon so oft."
 

Frank brauchte eine Weile, um all diese Informationen zu

verdauen. Er konnte sich nur vage vorstellen, was Karin vor

ihrem Tod alles durchleiden musste. Er hatte auch keine Ahnung,

über wie viele Jahre sich dieser Leidensweg bereits hingezogen

hatte. Und, um ehrlich zu sein, wollte er es auch gar nicht

wirklich wissen. Doch nun fiel ein weiteres Puzzleteil an seinen

Platz und passte sich perfekt in das Gesamtbild ein. Karin hatte

ihnen ihre Probleme nicht verschwiegen, weil sie - wie er

bislang angenommen hatte - die anderen nicht damit belästigen

wollte, sondern schlicht und einfach, weil sie verhindern

wollte, dass Eridastoh durch diese Aktionen sein Ziel erreichte.

Hätte sie sich eher jemandem anvertraut, wäre dies mit

Sicherheit irgendwie bis zu Aristoh durchgedrungen. Der wäre auf

jeden Fall dagegen vorgegangen und hätte sich

höchstwahrscheinlich irgendeine Blöße gegeben, wenn sie auch

noch so klein war. Dies wiederum hätte Eridastoh die Chance

gegeben, ihnen erheblichen Schaden zuzufügen. Also hatte sie all

die Jahre geschwiegen und erst kurz vor ihrem Tod Kensuke davon

erzählt. Ob sie vielleicht gewusst hatte, dass es zu dem Unfall

kommen würde? Andererseits... hätte sie Kensuke damit auf

egoistischste Art und Weise wissentlich wehgetan, und das traute

Frank ihr eigentlich überhaupt nicht zu. Wahrscheinlich hatte

sie einfach nicht mehr ausgehalten. Und als Kensuke ihr

signalisierte, dass er sie mochte und sich um sie sorgte, noch

bevor er auch nur den Hauch einer Andeutung dessen, was mit ihr

los war, überhaupt mitbekommen konnte, war das Fass ganz einfach

übergelaufen und sie hatte sich ihm geöffnet. Damit hatte er -

ohne es zu wissen - etwas erreicht, mit dessen Unmöglichkeit

sich ganz Dresden eigentlich schon abgefunden hatte, denn jeder

in der Stadt hatte des seltsame, immer augenscheinlich so

fröhliche Mädchen gekannt oder zumindest von ihr gehört.
 

Mit diesen Gedankengängen wurde ihm plötzlich siedend heiß

bewusst, was für eine Gefahr eigentlich von Eridastoh ausging.

Nicht nur, dass er zumindest genau so viel Macht und Energie wie

Gregor respektive Aristoh zu besitzen schien, vielleicht noch

mehr - was angesichts der Umstände, die der Kommandant von SEELE

mit dem Bau der SERAPHIM-Einheiten auf sich nahm, sogar recht

wahrscheinlich war -, er war auch noch so voll von Tücke und

Boshaftigkeit - was vor allem durch die Taten, die er gegen

Karin begangen hatte, impliziert wurde -, dass man sich fragen

musste, ob es überhaupt Mittel gegen eine derartig subtile

Vorgehensweise gab, vor allem solche, die unter den aktuellen

Umständen angewendet werden konnten. Wer weiß, wie viele

ähnliche oder sogar mit diesem identische Abläufe und Schicksale

sich innerhalb SEELEs bereits ereignet hatten, ohne dass jemand

irgendeine Notiz davon nahm. Vielleicht hatte er es sogar

geschafft, dem einen oder anderen den Kopf derartig zu

verdrehen, dass er sie oder ihn auf seine Seite ziehen konnte -

womit sich möglicherweise Dutzende potentielle Mörder,

Attentäter und Saboteure unerkannt unter ihnen befanden. Dies

war in Franks Augen die größte Gefahr. Nicht einmal SEELEs

Kommandoriege wäre dagegen gefeit. Vielleicht war Eridastoh

sogar in der Lage, Gregor so zu manipulieren, dass dieser

unbewusst gegen seine eigenen Ziele und damit für die seines

Gegners arbeitete. Andererseits erschien ihm dieser Gedanke dann

doch zu abwegig. Ein solches Vorgehen wäre ein perfekter

Geniestreich gewesen und das traute er dem Gegner dann doch

nicht zu. Andererseits konnte man sich heutzutage mit absolut

nichts mehr sicher sein. Im Moment machte es sowieso keinen

Sinn, sich über derartige Dinge Gedanken zu machen. Bei SEELE

liefen die Vorbereitungen für den finalen Kampf auf Hochtouren,

obwohl niemand außer Gregor wusste, gegen wen oder was

eigentlich gekämpft werden sollte. Da jedoch keiner an den

Fähigkeiten des Kommandanten zweifelte, stellte auch niemand

diesbezügliche Fragen. Dennoch interessierten sich natürlich

alle brennend dafür, und Frank konnte sich lebhaft vorstellen,

worum es in den allabendlichen Diskussionen in den Bars und Pubs

ober- und unterhalb der Erdoberfläche ging. Doch niemand würde

je auf die Idee kommen, den Befehl seines vorgesetzten und damit

- wenn man in der Kommandostruktur bis ganz nach oben ging -

Gregors Befehl in Frage zu stellen. Absolute Loyalität gegenüber

dem Kommandanten war eines der Grundprinzipien, auf denen die

Basisstruktur der Organisation von SEELE aufbaute. Und in der

Vergangenheit hatte sich oft genug erwiesen, dass der von Gregor

mit seinen zum Teil seherischen Fähigkeiten eingeschlagene Kurs

immer der richtige gewesen war. Warum sollte man ihm also nicht

blind vertrauen? Doch genau darin bestand ein enormes

Gefahrenpotential, falls es Eridastoh tatsächlich gelingen

sollte, ihn zu manipulieren...
 

An dieser Stelle unterbrach Frank sich selbst, da er

merkte, dass sich seine Gedanken im Kreis drehten. Ein Problem

zog das nächste nach sich, wie eine Reihe aufgestellter

Dominosteine. Stieß man den ersten um, folgten die anderen

automatisch. Er seufzte. Es war zwecklos. Er konnte absolut

nichts tun, außer abzuwarten, was passieren würde. Vor diesem

Wall aus Problemen und tatsächlichen sowie potentiellen Gefahren

musste er passen. Es gab einfach zu viele Variationen und

Möglichkeiten. Man konnte sich nicht gegen alle absichern.
 

Kensuke schien sich inzwischen auch seine Gedanken gemacht

zu haben, allerdings war es unmöglich zu sagen, worüber. Doch

auch er schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass es keinen

Sinn machte, weiter darüber nachzugrübeln und straffte sich

unwillkürlich ein wenig. Dann blickte er Frank direkt in die

Augen.
 

"Du hast Karin viel länger gekannt als ich", sagte er dann.

"Was war sie für ein Mensch? Ich meine, einmal abgesehen von all

diesen mystischen Dingen, die sie umgaben."
 

Frank musste schmunzeln. Das war mit Sicherheit ein

angenehmeres Gesprächsthema. "Nun, im Großen und Ganzen war sie

ein höfliches, hilfsbereites und fröhliches, aber auch sehr

zurückhaltendes Mädchen. Ich meine, ich habe Momente mit ihr

verbracht, in denen sie wirklich glücklich war und all ihre

Sorgen vergessen hatte. Meistens dann, wenn Karin, meine

Freundin und ich etwas gemeinsam unternommen haben."
 

"Du hast eine Freundin?", unterbrach ihn Kensuke.
 

Frank grinste. "Ja. Leider arbeiten wir in

unterschiedlichen Schichten, so dass wir nur selten unsere

Freizeit gemeinsam verbringen können. Wenn es allerdings dazu

kam, haben wir immer versucht, Karin irgendwie mit

einzubeziehen. Meistens haben sich dann die beiden Mädchen gegen

mich verbündet und versucht, mich durchzukitzeln, was immer

darin endete, dass wir quer über den Boden kugelnd die Hälfte

der Einrichtung des jeweiligen Quartiers - zu meinem Leidwesen

meistens meines - zu Kleinholz verarbeitet haben. War allerdings

kein Problem, mein Gehalt ist ganz erklecklich."
 

Sie waren, während Frank erzählt hatte, aufgestanden und

langsam zum Fenster gegangen, von wo aus sie einen wundervollen

Blick in eine matt beleuchtete, natürliche Tropfsteinhöhle

hatten.
 

"Allerdings", fuhr Frank fort und er bemerkte, wie das

warme Lächeln, dass sich um Kensukes Lippen gebildet hatte,

allmählich wieder verschwand. "Allerdings glaube ich, dass diese

seltenen Moment die einzigen wirklich glücklichen in ihrem Leben

waren." Er machte eine kurze Pause, um seine Worte einwirken zu

lassen. "Sie besaß eine Art scheue Zurückhaltung, die ihr den

Kontakt zu anderen Menschen verwehrte. Es gab wirklich nur einen

einzigen Weg, eine Freundschaft mir ihr zu bilden: indem man

direkt und ohne Umschweife auf sie zuging und ihr sagte, was man

von ihr wollte. Von sich aus redete sie so gut wie nie mit

Anderen, von knappen Begrüßungen und Verabschiedungen einmal

abgesehen." Er machte erneut eine kleine Pause. "Hatte man sie

aber erst einmal als Freundin gewonnen, dann stand sie einem

allerdings in jedem Fall zur Seite. Als wir einmal in einem

Laden ein paar Schokoriegel kaufen wollten, ohne dafür Geld zu

bezahlen, und dabei erwischt wurden, hat sie sogar ihren

militärischen Rang als SERAPHIM-Pilotin ins Gewicht geworfen, um

den Besitzer davon abzuhalten, Anzeige gegen uns zu erstatten.

Das war kreuzgefährlich. SEELE hätte sie dafür rauswerfen

können. Doch sie hat es ohne zu zögern getan.
 

Kensuke musste unwillkürlich schmunzeln, als er das hörte.

Irgendwie passte es voll und ganz zu Karin.
 

"Ansonsten", setzte Frank seine Ausführungen fort, "war sie

meistens allein. Wir beiden waren ihre einzigen Freunde.

Abgesehen von dir natürlich. Allerdings gab es da noch eine

bemerkenswerte Ausnahme. Karin spielte mit einer faszinierenden

Leidenschaft Tennis. Sie war sogar die..." Frank stoppte, als er

bemerkte, dass Kensuke sich versteifte und sein Blick plötzlich

an Schärfe verlor. "Was hast du?" fragte er.
 

Doch Kensuke konnte nicht antworten. Ihm war, als würde er

in ein endlos tiefes, schwarzes Loch fallen. Vor seinem

geistigen Auge wiederholte sich immer wieder die gleißende

Explosion, tanzten immer wieder die Totenschädel mit ihren rot

glühenden Augen. Wie in einer Endlosschleife rauschte mit

atemberaubender Geschwindigkeit der Traum vorbei, der ihn in den

letzten Wochen immer wieder heimgesucht hatte. Doch nach einer

Weile klärten sich die verschwommenen Bilder wieder. Erneut

fiel ein Puzzleteil an seinen Platz, schloss sich eine Lücke in

der Lösung des Rätsels Karin Maishima. Sie hatte Tennis

gespielt. Das erklärte, warum er ausgerechnet diese Träume

hatte. Das erklärte aber nicht, woher er es schon zuvor gewusst

hatte. Oder hatte er es nur geahnt? Hatte Karin ihm aus dem

Reich der Toten eine Nachricht gesendet? Er schüttelte den Kopf.

Jedes Kind, das nach dem Second Impact geboren wurde, wusste,

dass es keinen Himmel und kein Paradies gab. Wahrscheinlich gab

es nicht einmal eine Hölle. Menschen, die starben, hörten

einfach auf, zu existieren. Das war alles. Das Gerede von

Engeln, die die Erde angriffen und vor allem der Glaube daran

bildeten einen Kontrast voller Ironie zur eigentlichen Realität.

Wie die Kirche hatte der Glaube an Gott aufgehört zu bestehen

und dennoch hielten ein paar arrogante, vereinzelte Individuen

daran fest, als würde er ihnen einem Lebenselixier ähnlich

Unsterblichkeit garantieren. Bei diesen Vereinzelten handelte es

sich allerdings keinesfalls um einfache Menschen, denen man

jeden Tag auf der Straße begegnen konnte, sondern um hohe Köpfe

in Wirtschaft, Wissenschaft und Industrie, die vor lauter Geld

die Hand vor Augen nicht mehr erkennen konnten. Für die normalen

Menschen hatten die alten Werte allerdings schon lange keinen

Bestand mehr. In weit über 95 Prozent aller Länder der Erde -

oder dem, was von ihnen nach dem Second Impact noch übrig war -

waren Armut und Reichtum nichtig und Wörter wie Wohlstand aus

den Köpfen der Menschen verschwunden. Elend regierte die Welt.

Doch über den Schicksalen Tausender wurde das Schicksal

Einzelner unwichtig. Damit schwebten Kensukes Gedanken zurück zu

Karin. Ja, er hatte sie wirklich geliebt. Und er würde sie sein

Leben lang nicht vergessen.
 

"...nsuke? Was ist mit dir los?"
 

Er erwachte aus seiner Lethargie, alarmiert durch Franks

besorgten Ruf. Der andere Junge stand ihm gegenüber, hatte ihn

an den Schultern ergriffen und schüttelte ihn leicht, als ob er

ihn aus einer Ohnmacht aufwecken wollte.
 

Kensuke lächelte schmal. "Ja, alles in Ordnung. Nur ein

weiteres Puzzleteil, das an seinen Platz gefallen ist. Und eine

neue Frage."
 

"Aha. Willst du mir verraten, welches Teil?"
 

"Ein Alptraum, der mich seit Wochen plagt. Jetzt weiß ich

zumindest teilweise, was er bedeuten könnte."
 

Frank hob eine Augenbraue. "Ein Alptraum?" fragte er.
 

Kensuke nickte. "Ja. Eigentlich ziemlicher Schwachsinn. Ich

möchte auch nicht unbedingt darüber reden. Fakt ist, dass Karin

darin Tennis gespielt hat. Ich habe nur keine Ahnung, wie mein

Unterbewusstsein an diese Information gekommen sein soll."
 

Sein Gegenüber nickte nun ebenfalls. "Und das ist deine

neue Frage. Das scheint ein gängiges Problem der heutigen Zeit

zu sein. Je mehr Informationen wir herausfinden, desto weniger

scheinen wir zu wissen. Für jede Antwort, die wir bekommen,

entstehen mindestens zwei neue Fragen." Er überlegte kurz, wie

er fortfahren sollte. "Ich glaube kaum, dass es im Moment viel

Sinn macht, in diese Richtung weiter zu forschen. Du wirst immer

wieder ein Teil finden, mit dessen Hilfe du das Gesamtbild

vervollständigen kannst. Ich denke, vor allem Karin wird uns

noch eine Weile beschäftigen." Er legte Kensuke die Hand auf die

Schulter. "Du hast es geschafft, ihr Herz zu erobern. Du hast es

geschafft, sie wirklich glücklich zu machen. Es spielt keine

Rolle, ob nur für wenige Stunden oder für viele Jahre. In deinen

Armen war sie zufrieden und glücklich. Niemand sonst ist dies

jemals zuvor mit einem derartig durchschlagenden Erfolg

gelungen. Denke immer daran. Du hast nicht versagt. Im Gegenteil

- es gibt keine Möglichkeit, wie du es hättest besser machen

können."
 

Ein leichtes Leuchten bildete sich in Kensukes Augen. Aus

dieser Perspektive hatte er die Sache noch nicht betrachtet.

Auch wenn er sich selbst noch immer als Versager fühlte, bestand

immerhin die Möglichkeit, dass Karin ihn nicht als einen solchen

betrachtete. Vielleicht hatte er sie wirklich in einer gewissen

Weise erlöst.
 

"Natürlich hatte Karin auch ihre Eigenheiten", fuhr Frank

schließlich mit seiner Erzählung über das Mädchen fort. "Obwohl

sie immer nur Jungenklamotten anhatte, trug sie zum Beispiel

einen Ring im linken Ohr. Zusammen mit dem Kopftuch gab es ihr

fast das Aussehen eines Piraten. Es gab noch viele weitere

Details an ihr zu bemerken, auch wenn man lange und intensiv

danach suchen musste..."
 

"Ja", stimmte Kensuke ihm zu. "Wie auch dieser niedliche

Leberfleck an ihrem rechten Knie..."
 

Frank stutzte. "Wie um alles in der Welt kannst du so etwas

wissen?"
 

Kensuke wurde von einem Augenblick auf den anderen hochrot.

"Sie... sie hat mir davon erzählt!" stieß er hervor. Er konnte

dem Anderen doch unmöglich schildern, wie Karin sich vor seinen

Augen bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte, um ihm die

Narben als Folge von Eridastohs Misshandlungen an ihrem Körper

zu demonstrieren. Mehr noch, er hatte all seine Überredungskunst

und Überzeugungskraft aufbringen müssen, um sie davon

abzuhalten, auch noch diese letzten Stückchen Stoff abzulegen.

Doch noch während sie ein paar Minuten lang heiß darüber

diskutierten, inwiefern diese Narben ihren Wert als Individuum

verminderten - oder eben auch nicht, wie Kensuke meinte - war er

nicht in der Lage gewesen, seine Augen auf ihre zu heften und

sie davon abzuhalten, ihren Körper entlang zu wandern. Egal, wie

sehr sie behauptet hatte, ein hässliches und uninteressantes

Mädchen zu sein, sie war verdammt attraktiv. Die Narben waren

nicht einmal ansatzweise in der Lage, die Schönheit ihres

jungen, wohlgeformten und schlanken Körpers zu verbergen;

zumindest seiner Meinung nach - und das reichte ihm völlig aus.

Als er ihr erklärte - und sie allmählich auch begriff, dass ihm

die Meinung anderer über sie und sogar ihre eigene über sich

selbst gleichgültig war, nahm auch ihr Gesicht eine tiefe

Rotfärbung an. Wenn Kensuke Aida in Karin Maishima ein hübsches,

attraktives und faszinierendes Mädchen, ja fast schon eine

wunderschöne junge Frau sah, war niemand - nicht einmal sie

selbst - in der Lage, etwas daran zu ändern. Die einzige

Möglichkeit wäre gewesen, dass sie ihm auf eine ihr nicht

bewusste Weise - also keinesfalls Beteuerungen und halbherzige

Überredungsversuche - zeigte, dass all das, was sie ihm über

sich selbst erzählte, tatsächlich stimmte. Sie hätte sich selbst

und damit letztendlich auch ihn verraten müssen. Und je mehr sie

versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass sie das letzte Mädchen

war, mit dem ein normaler Junge zusammen sein wollte, desto

sicherer wurde er, dass sie sich all ihre Argumente mehr oder

weniger nur einbildete. Und er war sich genauso sicher, dass

jeder andere Junge, dem sie einen solchen Einblick gewährt

hätte, ebenfalls zu diesem Schluss gekommen wäre. Das wiederum

bedeutete, dass er unheimliches Glück hatte, dass ausgerechnet

er derjenige gewesen war, dem es als erstes gelungen war, die

Mauer, die sie um sich errichtet hatte, zu erklimmen. Doch das

warf bereits wieder eine neue Frage auf: Warum war Frank dies

nicht gelungen, obwohl er es doch augenscheinlich über Monate

und Jahre hinweg versucht hatte? Vielleicht lag es daran, dass

Karin zu Beginn möglicherweise geglaubt hatte, dass sein

Interesse an ihr rein beruflicher Natur war. Als er sich dann

von der Vergeblichkeit dieses Unterfangens überzeugt hatte,

suchte er sich eine andere Freundin und Karin war von da an nur

noch das fünfte Rad am Wagen. Kensuke glaubte zu wissen, wie sie

sich in dieser Situation gefühlt haben musste, schließlich war

er selbst jahrelang ein Außenseiter gewesen. Doch im Nachhinein

wurde er sich bewusst, dass er nur einen kurzen,

blitzlichtartigen Einblick in ihre Gedanken- und Gefühlswelt

hatte erhaschen können. Ihren eigentlichen Charakter, ihr

wirkliches Wesen und vor allem ihre Vergangenheit würde er

niemals kennen lernen. Mit dem Mädchen selbst würde auch die

Erinnerung an sie aus den Köpfen der meisten Menschen bald

verschwinden und in wenigen Monaten würde kaum noch jemand

wissen, dass sie überhaupt existiert hatte. Die heutige Zeit war

einfach viel zu schnelllebig. In Kensuke Gedanken und Andenken

allerdings würde Karin immer weiterleben. Das und die Tatsache,

dass sie in seinen Armen wirklich glücklich gewesen war, wenn

auch nur für ein paar Minuten, gab ihm eine Art besonderes

Selbstvertrauen, einen emotionalen Aufschwung, der ihm erneut

bestätigte, dass sich seine Liebe zu dem Mädchen nicht

vermindert hatte, eher im Gegenteil. Er glaubte, noch immer dass

schillernde, feste und unverletzliche Band zwischen ihnen zu

spüren. Doch im selben Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er sie

vermisste. Je näher er sich ihr fühlte, desto unerträglicher

wurden die Schmerzen. Er seufzte. Es würde wohl Jahre dauern,

bis seine Wunden verheilt waren. Im Augenblick glaubte er sogar

nicht einmal, dass es überhaupt dazu kommen würde.
 

Frank hatte bemerkt, dass sein Gegenüber immer tiefer in

Gedanken versunken war, hatte sich aber bis zu diesem Zeitpunkt

nicht gewagt, ihn dabei zu unterbrechen. Außerdem war es viel zu

interessant, die vielfältigen Emotionen in seinem Gesicht zu

lesen.
 

Kensuke schaute auf und bemerkte Franks Blick.

Unwillkürlich musste er lächeln.
 

"Wie viel würdest du für meine Gedanken bieten?" fragte er.
 

"Deinem Gesichtsausdruck nach müssen sie unbezahlbar sein."
 

Kensuke setzte ein breites Grinsen auf. "Das ist allerdings

wahr. Um deine vorherige Frage aber vielleicht doch noch zu

beantworten: Ich habe wahrscheinlich als einziger Mensch auf

diesem Planeten außer ihr selbst das Privileg genossen, von

Karins Haut mehr als nur die ihrer Hände und die ihres Gesichtes

gesehen zu haben."
 

"Wie viel mehr?"
 

"Das... möchte ich dann lieber doch für mich behalten",

antwortete Kensuke mit verschmitztem Lächeln.
 

In eben diesem Augenblick meldete sich die

Kommunikationsanlage in Franks Quartier mit einer Durchsage zu

Wort.
 

"An das gesamte Personal", konnte man Gregors leicht

verrauschte Stimme über die Lautsprecher hören. "Erste Welle

gegen NERV startet in fünfzehn Minuten."
 

Frank dachte nach. Gegen NERV, also. Doch er war sich

sicher, dass dies nicht das wirkliche Ziel war.
 

Kensuke straffte sich. "Jetzt kommt wohl mein großer

Auftritt." Er lächelte schief. "Mal sehen, was mein Programm

taugt..."
 

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133

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Stefan Maishima stand in seinem Büro am Fenster und

schaute hinunter in dieselbe Tropfsteinhöhle, die auch schon

Frank und Gregor zuvor betrachtet hatten. Doch die Vielzahl an

Stalaktiten und Stalagmiten - er konnte nie auseinander halten,

welche welche waren, die, die an der Decke hingen oder die, die

scheinbar aus dem Boden wuchsen - konnte er nicht bewundern.

Seine Gedanken gingen in eine völlig andere Richtung. Er musste

an seine Tochter denken.
 

Jetzt, im Nachhinein, musste er sich eingestehen, keine

Ahnung zu haben, was für ein Mensch Karin gewesen ist. Er hatte

- abgesehen von ihren Geburtstagen, und selbst an denen nur

selten - so gut wie keinen Kontakt zu ihr gehabt. Ständig waren

irgendwelche dringenden Aufträge und Missionen dazwischen

gekommen, wenn er eigentlich einen freien Nachmittag für sich

und seine Tochter hatte reservieren wollen. Manchmal glaubte er

sogar, dass Gregor dies mit Absicht tat. Allerdings wusste er

natürlich genau, dass es nicht so war.
 

Einen Moment dachte er zurück an die Zeit vor dem Second

Impact, vor den Engeln und, vor allem, die Zeit vor Gregor

Argusow. Die Zeit, in der er noch ein beschauliches

Informatikunternehmen unter dem Namen "SEELE" gemeinsam mit

seinem Freund Lorenz Kiel geführt hatte. Damals war der Begriff

"SEELE" eigentlich nur ein Jux gewesen und noch nicht zu einer

Ikone für die einzige Hoffnung der Menschheit im Kampf gegen

riesige außerirdische Invasoren gewesen. Lorenz hatte den Namen

für ein IT-Unternehmen als viel zu übertrieben empfunden. Doch

am Ende hatten sie sich dennoch dafür entschieden, zumal diese

Bezeichnung die Suche nach einem tieferen Sinn - da man sie ja

nur zu einfach für irgendeine Abkürzung eines komplizierten

technischen Begriffes halten konnte - geradezu provozierte.

Tatsächlich verging seit dem keine Woche, in der sie nicht auf

die eine oder andere Weise gefragt wurden, was "SEELE" denn nun

eigentlich bedeutete. Der Witz war, es gab keine Bedeutung. Es

war schlicht und einfach das simple deutsche Wort "Seele", nur

in Großbuchstaben geschrieben. Stefan musste heute noch bei dem

Gedanken daran lächeln. Dies waren glückliche Tage gewesen. Es

gab keine Engel, keine EVAs und SERAPHIMs, keinen Gregor Argusow

und... Er zögerte bei diesem Gedanken einen Moment. Doch es

stimmte. Es gab auch keine Karin Maishima.
 

Er versuchte, sich einen Augenblick lang an Karins Mutter

zu erinnern, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Er

glaubte nur noch zu wissen, dass sie mittellange, blonde Haare

besaß. Er strich sich mit seiner Hand durch den Vollbart. Er

hatte nie Zeit für seine Tochter gehabt. Zunächst hatte er sich

eingeredet, dass dies nur aufgrund der wahren Flut an Terminen

und Aufgaben, die er jeden Tag zu erledigen hatte, lag. Doch

später war ihm bewusst geworden, dass er Angst vor ihr hatte.

Tiefe, unbewusste und manchmal beinahe panische Angst.

Irgendetwas war ihm an seiner Tochter nicht geheuer gewesen,

genau wie auch an ihrer Mutter. Er grinste verächtlich. Er

musste ein wirklicher Rabenvater gewesen sein. Panik vor dem

eigenen Kind war doch tatsächlich eine pathetische Ausrede. Er

könnte sich selbst dafür ohrfeigen.
 

Doch Stefan wusste genau, dass dies nichts, absolut nichts

in irgendeiner Weise ändern würde. Seine Tochter war tot und er

hatte die mit Sicherheit letzte Chance, ihr trotz allem näher zu

kommen, verspielt. In diesem Moment glaubte er plötzlich zu

wissen, wie Ikari sich fühlen musste, wenn er an seinen Sohn

dachte.
 

Seine Gedanken wanderten zurück zu dieser geheimnisvollen

Frau, mit der er ein knappes glückliches Jahr verbracht hatte.

Sie waren sich nie wirklich nahe geworden und selbst, als sie

sich entschieden, ein Kind zu zeugen, schien sie diesen

Entschluss eher aus irgendwelchen rationellen statt emotionalen

Gründen gefasst zu haben. Ihre Augen hatten nie das typische

Glitzern eines frisch verliebten Menschen aufgewiesen, vielmehr

war darin eine Art tiefer Schmerz präsent gewesen. Immer und

jederzeit.
 

Wie dem auch sei, kurz nach Karins Geburt - sie hatten sich

schon im Vorfeld auf diesen Namen geeinigt - war sie spurlos

verschwunden und hatte ihm mit dem Kind allein zurückgelassen.

Stefan hatte diesen Schmerz nie so recht überwunden, denn im

Gegensatz zu ihr, hatte er sie tatsächlich innig geliebt. Karins

Nähe war ihm mit der Zeit unerträglich geworden, da ihre blauen

Augen ihn ständig an ihre Mutter erinnerten.
 

Das alles war kurz nach dem Second Impact geschehen,

ungefähr einen Monat, nachdem SEELE seine geheime Kommandobasis

hier in Dresden fertig gestellt hatte. Er hatte Karin nach und

nach vernachlässigt, unter dem Vorwand, den Kampf gegen die

Engel vorbereiten zu müssen. Nein, damals hatte er es wirklich

geglaubt. Erst heute wurde ihm bewusst, dass er seine Tochter

auf eine bestimmte Weise einfach nicht ertragen konnte. War das

eine weitere Parallele zu Gendo und Shinji Ikari? Er schüttelte

den Kopf. Derartige Gedanken waren absolut sinnlos.
 

Andererseits... Stefan Maishima hatte nicht die geringste

Vorstellung, was seine Tochter für ihn empfunden haben mochte.

Wahrscheinlich waren ihre Gefühle für ihn zu großen Teilen von

Hass, Verachtung und Enttäuschung geprägt. Doch das machte ihm

nicht viel aus. Jetzt war es sowieso zu spät.
 

In eben diesem Augenblick meldete sich die

Kommunikationsanlage in Stefans Quartier mit einer Durchsage zu

Wort.
 

"An das gesamte Personal", konnte man Gregors leicht

verrauschte Stimme über die Lautsprecher hören. "Erste Welle

gegen NERV startet in fünfzehn Minuten."

Er schnaubte als Antwort verächtlich durch die Nase. NERV,

natürlich. "Erste Welle" - so ein Unfug. Befreiungsversuch - und

dazu fast noch ein pathetischer - wäre wohl passender gewesen.

Das Schicksal der Menschheit in die Hände eines einzigen Jungen

zu legen - eines seelisch seit dem Tod Karins schwer

angeschlagenen Jungen - war in Stefans Augen völliger

Schwachsinn. Aber sollten sie doch seine Warnungen und Hinweise

in den Sand schlagen. Gregor würde am Ende wahrscheinlich

sowieso wieder Recht haben. Doch er - Stefan - würde das nicht

mehr miterleben müssen.
 

Langsam, aber ohne zu zögern, öffnete er die rechte

Schublade seines Schreibtisches und nahm seine Dienstwaffe

heraus. Der Schuss war nur als ein gedämpftes Geräusch zu hören,

auf das niemand aufmerksam wurde. Erst als die Putzkräfte zwei

Stunden später anrückten, fanden sie Stefan Maishimas

blutüberströmten Körper. Der Teppich hatte eine dunkle

Rotfärbung angenommen. Der Notarzt konnte nur noch den Tod

feststellen.
 

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134

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Rei Ayanami saß auf der Pritsche ihrer Zelle und

starrte mit ausdruckslosen Augen auf die gegenüberliegende Wand.

Hätte sie jemand beobachtet, so wäre er zu dem Schluss gekommen,

Rei wäre in sich selbst zurückgekehrt und hätte wieder ihr altes

Ich nach außen gestülpt. Es sei denn, dieser Jemand wäre Shinji

gewesen. Er hätte als einziger Mensch das leichte Flackern in

ihren Augen, dass sich dort trotz der Ausdruckslosigkeit zeigte,

erkannt. Und er wäre auch in der Lage gewesen es richtig zu

deuten: in Reis Innerem war ein wahrer Gefühlssturm am wüten.
 

Auch Rei war über die Dreistigkeit, die NERV sich erlaubte,

mehr als nur erzürnt gewesen. Schließlich würde es ohne sie und

Asuka keine Menschheit mehr geben. Wie konnten sie es wagen, sie

festzunehmen? Doch in gewisser Weise war es bezeichnend für

NERVs und - vor allem - Ikaris Überheblichkeit. Sicher hatten

auch die anderen Piloten zum Erfolg beigetragen, vornehmlich

Shinji. Doch war das ein Grund, sie einzusperren? Weiterreichen

streng geheimer Technologie an Dritte? Schwachsinn. SEELE war

schon seit Jahren dank Omega NERV mehrere Schritte voraus...
 

Allerdings machten diese Gedanken im Moment keinen Sinn.

Sie wunderte sich lediglich, dass Gregor für einen Fall wie

diesen keine Vorkehrungen getroffen hatte. Das sah ihm überhaupt

nicht ähnlich. Andererseits konnte auch er nicht alles

vorhersehen...
 

Rei musste plötzlich wieder an Karin denken. Sie hatte von

Anfang an geglaubt, eine Art Band zwischen ihnen zu spüren. Sie

beide hatten eine verschlossene Lebensweise gezeigt. Auch wenn

es Rei gelungen war, dieses Defizit mit Gregors Hilfe zu

überwinden, konnte sie sich dennoch ungefähr vorstellen, was in

Karins Innerem vorgegangen war. Doch da war noch etwas... eine

Art Seelenverwandtschaft zu dem Mädchen, die sie sich einfach

nicht erklären konnte. Sie hatten sich von Beginn an gut

verstanden, als würden sie sich bereits ein Leben lang kennen.

Als ob sie Geschwister wären, die sich nach vielen Jahren wieder

gefunden haben, ohne überhaupt voneinander gewusst zu haben...

Aber Rei wusste, dass dieser Gedanke sinnlos war. Im Gegensatz

zu ihr hatte Karin immerhin einen richtigen Vater, egal ob er

sich so verhielt oder nicht. Sie selbst konnte eine solche

Person nicht vorweisen. Obwohl Gendo Ikari für sie bis zu einem

gewissen Punkt eine Bezugsperson darstellte, war sie nie in der

Lage gewesen, eine Art Bindung zu ihm aufzubauen. Im Prinzip war

sie nie zu so etwas in der Lage gewesen. Erst als Gregor auf sie

zugegangen war, begann sie den Sinn des Lebens zu verstehen.

Auch Shinji hatte ihr zunächst gezeigt, dass er sich um sie

sorgte und sie mochte, nicht nur als befreundeter EVA-Pilot

sondern auch als Mensch. Es war also immer zunächst nötig

gewesen, auf sie zuzugehen, bevor Rei eine Bindung zu einem

Menschen aufbauen konnte. Doch bei Karin war es anders gewesen.

Sie hatte das Mädchen einfach auf den ersten Blick in ihr Herz

geschlossen. Vielleicht weil sie sich so ähnlich waren... Rei

musste schmunzeln, als sie an ihren ersten gemeinsamen Ausflug

an der Oberfläche erinnerte. Karins Gesicht war einfach zu

köstlich gewesen, als sie bemerkte, dass Rei immer ein

"Ersatzkleid" mit sich herumtrug. Bei dem Gehalt, das man als

SERAPHIM-Pilot bekam, konnte man sich so etwas auch wahrlich

leisten. Karin hatte es dennoch nicht getan, sondern einen

Großteil ihres Einkommens einer Kinderhilfsorganisation

gespendet. Allein das erschien Rei bereits merkwürdig, doch sie

hatte sich nicht allzu sehr damit beschäftigt. Im Nachhinein

bereute sie das, möglicherweise hätten tiefere Nachforschungen

in dieser Richtung ein paar interessante Details zu Tage

befördert.
 

Aber nun wäre auch das vergebens. Karin war tot und stand

nicht länger auf SEELEs Gehaltsliste. Mitleid brachte nun nichts

mehr.
 

***
 

Eine Zelle weiter hatte Asuka Soryuu Langley zur selben

Zeit fast dieselben Gedanken. Doch drehten sich diese weniger um

Karin - schließlich hatte sie, zugegeben bedauerlicherweise, sie

so gut wie überhaupt nicht gekannt - als um Gregor. Das

rothaarige Mädchen glaubte nicht, dass es bislang irgendeinem

Menschen gelungen war, aus ihm schlau zu werden, sie selbst

eingeschlossen. Sie spürte, dass er die Nähe zu ihr suchte, und

trotzdem war eine Art kühle Mauer zwischen ihnen. Asuka glaubte

nicht, dass es an ihrer eigenen Vergangenheit lag, auch wenn sie

noch so ein egoistischer und unberechenbarer Mensch gewesen war.

Sie hatte vielmehr den Eindruck, als würde mehr als nur die

Verantwortung des obersten Anführers der Menschheit im Kampf

gegen die Engel auf seinen Schultern lasten. Einmal davon

abgesehen, dass er mit Sicherheit nicht fünfzehn Jahre alt war -

alle hier hatten sich damit abgefunden, dass er kein

gewöhnlicher Mensch war. Die Gerüchte behaupteten sogar, er sei

selbst ein Engel, was Asuka gar nicht so unwahrscheinlich

erschien. Nein, irgendetwas anderes gab es noch. Vielleicht hing

es mit seiner Vergangenheit zusammen, vielleicht war es auch

dieser geheimnisvolle Kampf, den SEELE nach der Vernichtung der

Engel gegen einen bislang nur ihm bekannten Feind führen wollte.

Wahrscheinlich bedrückte ihn eine Mischung aus beidem. Asuka

hatte sich vorgenommen, nach dem letzten Kampf zumindest einen

Teil dieser Belastung von ihm zu nehmen, gewissermaßen aus

Dankbarkeit ihm gegenüber und um jeden Preis. Sie würde sich

nicht davon abhalten lassen, auch nicht von ihm selbst.

Sie seufzte. Doch dazu würde sie erst einmal aus dieser

verdammten Zelle herauskommen müssen. Und sie hatte keinen

blassen Schimmer, wie sie das ohne Hilfe anstellen sollte...
 

***
 

"Ist das wirklich nötig?" fragte Maya, während sie

die Überwachungsbildschirme der beiden Zellen in der

Kommandozentrale weiterhin im Auge behielt.
 

Ritsuko nickte. "Solange Ikari dieser Meinung ist, ja." Sie

seufzte, fast im selben Moment wie Asuka in ihrer Zelle. "Und

Gott weiß, wie lange das noch der Fall ist."
 

Maya zog eine Augenbraue nach oben, sagte aber wohlweißlich

nichts. Sie kannte ihre Vorgesetzte gut genug, um zu wissen,

dass in ihr ein unterdrückter Hass gegen Ikari schlummerte. Doch

dann war da wieder so eine Art Abhängigkeit von ihm, aus der sie

einfach nicht schlau wurde. Sie beschloss, wie immer, nicht in

diese Richtung weiterzudenken.
 

Die Tür zu einem der Fahrstühle öffnete sich und Misato kam

zum Vorschein. Sie machte einen etwas erschöpften Eindruck.
 

"Na, gestern abend wieder zu lange wach geblieben", nickte

Ritsuko sie.
 

Misato streckte ihr die Zunge entgegen, ließ sich aber doch

irgendwie nicht so richtig aufheitern. "Dieser Bastard...",

murmelte sie leise, aber dennoch laut genug, dass Maya sie hören

konnte.
 

Die junge Technikerin nickte. Sie konnte gut verstehen, was

im inneren des Majors vorging, oder glaubte zumindest, dazu in

der Lage zu sein. "Ich finde das auch nicht richtig", sagte sie

dann.
 

Ritsuko warf ihr einen finsteren Blick zu. "Sag das lieber

nicht zu laut, man kann nie wissen, wann er plötzlich

auftaucht."
 

Also hielt Maya den Mund. Das konnte sie aber nicht davon

abhalten, auf telepathischem Wege finstere Gedanken gegen Ikari

auszuspeien. Nicht, dass es ihr irgendetwas bringen würde, so

unausgereift, wie ihre telepathischen Fähigkeiten nun einmal

waren...
 

Die drei vertrieben sich mit dieser Art "Smalltalk" noch

eine Weile lang die Zeit, und hätten es wohl auch noch bis zu

ihrem Feierabend beziehungsweise Schichtwechsel getan. Doch die

plötzlich ertönende, übermäßig laute und alle aufschreckende

Sirene hielt sie davon ab. Dieser Alarm konnte nur eines

bedeuten: die MAGI wurden angegriffen.
 

Maya und Ritsuko ließen die Finger über die Tasten fliegen,

während sich die Türen hinter der oberen Kommandoebene öffneten

und die beiden Kommandanten freigaben, gehetzte und aufgeregte

Blicke in den Gesichtern. Einen Moment später kamen auch Shigeru

und Hyuuga hineingestürmt und setzten sich sofort an ihre

Konsolen.
 

"Ein unbekannter Angreifer dringt in unser System ein!"

schrie Maya ihre erste, vorläufige Analyse ohne bestimmte

Adresse in den Raum, da sie wusste, dass jeder hier wissen

wollte, was los war. "Er hat den äußeren Verteidigungsring

bereits durchbrochen."
 

"Sämtliche Firewalls online", berichtete Hyuuga ohne Hast.

Hektik war in diesem Moment der größte Fehler, der ihnen

unterlaufen konnte.
 

"Köder-Zugänge sind geöffnet."
 

Ritsuko betrachtete die über ihren Bildschirm wälzenden

Datenkolonnen. Irgendwie erinnerte sie dieser Angriff an den des

elften Engels. Auch der hatte versucht, in MAGI einzudringen.

Doch an diesem Punkt hörten die Parallelen auch schon wieder

auf. Es gab keine Korrosionen, keine EVA-Testkörper...
 

"Verdammt, er ignoriert die Köder!" rief Maya.
 

"Und er ist wahnsinnig schnell", erwiderte Hyuuga. "Hat

bereits achtzig Prozent der Firewalls ausgeschaltet."
 

In diesem Moment wechselte die Beleuchtung des Raumes

plötzlich von Rot auf Schwarz. Das Licht, oder besser der Strom

in der Kommandozentrale war ausgefallen.
 

Alle Anwesenden hielten den Atem an. Maya brannte eine

Kerze an, die sie von irgendwo aus ihrem Schreibtisch

hervorgekramt hatte. Dann widmete sie sich einem

batteriebetriebenen Display im Taschenbuchformat. Doch ihre

Analyse war wenig erfreulich.
 

"Er hat uns aus allen Systemen einfach hinausgeworfen", sie

schüttelte den Kopf.
 

Ritsuko nahm ein zweites Display. "Das war zu einfach. Er

hätte niemals so leicht in MAGI eindringen können dürfen."
 

Misato hörte den beiden Informatikerinnen zu und versuchte

etwas von dem technischen Kauderwelsch zu verstehen, doch es

gelang ihr nur ansatzweise.
 

"Ich hab's", sagte Maya. Alle blickten sie an. "Er hat ein

Hintertürchen, dass in der Hardware verankert war, genommen."

Sie schüttelte erneut den Kopf. "Warum haben wir das bislang

noch nicht entdeckt?"
 

"Und vor allem", ergänzte Ritsuko. "Wie und warum kam es

überhaupt in das System?"
 

Alle weiteren Gedanken wurden plötzlich von den drei rot

aufleuchtenden Zahlen auf dem Hauptdisplay abgebrochen. Es

zeigte ihnen nun einen Countdown von weniger als fünf Minuten,

bis etwas ganz bestimmtes - vermutlich etwas ziemlich

bedeutendes - passieren würde.
 

"Die Selbstzerstörungssequenz des MAGI-Systems Neo-Tokyo-3

wurde aktiviert", verkündete dann eine unpersönliche, metallene

Stimme aus den Lautsprechern. "Forderung ist die sofortige

Freilassung der Piloten Rei Ayanami und Asuka Soryuu Langley.

Sie sind innerhalb der nächsten drei Minuten in einem VTOL auf

Kurs 3-4-1 abzuschicken. Um den Rest werden wir uns kümmern."
 

Als die Stimme fertig gesprochen hatte, verstummte sie

wieder völlig. Alle blickten hinauf zu Gendo Ikari.
 

"Ihr Analyse, Doktor?" wollte er von Ritsuko wissen, obwohl

er sich denken konnte, dass es keinen Ausweg geben würde.
 

Sie schüttelte den Kopf. "Wir haben keinerlei Zugang zu

irgendwelchen Systemen, außer denen, die wir benötigen, um

diesen ,Auftrag' auszuführen. Der Strom ist so gut wie überall

abgestellt. Ich sehe keinen anderen Weg, als den Forderungen

folge zu leisten." Sie senkte leicht den Kopf. "Nicht in der uns

zur Verfügung stehenden Zeit."
 

Das Display stand inzwischen bei weniger als dreieinhalb

Minuten.
 

Gendo Ikari wartete noch einen Moment, bevor er antwortete.

Dann nickte er. "Gut. Tun sie es."
 

---------

135

---------
 

Frank drehte seinen Kopf ganz leicht nach rechts, so

dass Kensuke auf dem Sitz neben ihm in sein Gesichtsfeld rückte.

Dahinter konnte er teilweise die Wolken auf der anderen Seite

des Fensters des Flugzeugs erkennen. Frank hatte sich noch

einmal ausführlich mit Gregor unterhalten und sie beide waren zu

dem Schluss gekommen, dass es besser für Kensuke war, wenn er

von jemandem begleitet wurde, mit dem er sich recht gut

verstand. Im Moment machte er einen ziemlich abwesenden

Eindruck, auch wenn das stille Lächeln auf seinen Lippen zeigte,

dass er sich auf seine Heimkehr freute.
 

Frank lehnte sich wieder zurück. Das Programm, dass Kensuke

geschrieben hatte, um in NERVs MAGI-System einzudringen, war

entgegen aller Erwartungen ein durchschlagender Erfolg gewesen.

Wobei, nicht ganz aller Erwartungen. Gregor hatte natürlich von

Anfang an gewusst, dass es funktionieren würde und hatte fest an

Kensuke und dessen Fähigkeiten geglaubt. Rei und Asuka waren

längst zurück in Deutschland und auch Toji und Hikari waren

ihnen gefolgt. Der kräftige dunkelhaarige Junge hatte in Frank

gemischte Gefühle hervorgerufen. Doch dann hatte er mit einer

Sensibilität, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, mit Kensuke

geredet. Frank war nicht dabei gewesen, doch die anderen hatten

ihm erzählt, dass der Junge förmlich aufgeblüht sei unter den

aufmunternden Worten seines Freundes. Das hatte seine Meinung

über Toji grundlegend geändert. Leider hatte er es nicht mehr

geschafft, persönlich sich mit ihm zu unterhalten. denn er war

sicher, dass es ein sehr interessantes Gespräch geworden wäre.
 

Dann waren sie in Richtung Japan abgeflogen. Kensuke schien

so fröhlich wie schon lange nicht mehr.
 

Frank hoffte das Beste für ihn.
 

=== ENDE KAPITEL 11 ===
 

Leute, eines sage ich euch: wenn es dann so direkt auf's Abi zugeht,

hat man kaum noch Zeit zum Schreiben. Wobei ich zugeben muss, dass

ich ewig gebraucht habe, um mich aufzuraffen und dieses Kapitel zu

schreiben. Nunja, was lange währt, wird gut. (hoffe ich)
 

Wie ihr vielleicht merkt, ist das Kapitel "Karin Maishima" noch nicht

ganz abgeschlossen. Auch in den nächsten Kapiteln werden noch einige

Informationen zu der Frage, wer denn dieses geheimnisvolle Mädchen nun

eigentlich war, kommen. Soviel kann ich euch aber schon jetzt verraten:

ihr werdet überrascht sein.
 

Ich versuche noch immer, mich zumindest im groben an die Abläufe der

Originalserie zu halten, damit ihr einen Überblick habt, wo wir denn

eigentlich stehen. Die nächsten Kapitel werden sich dann langsam, aber

sicher mit dem Third Impact beschäftigen. Ihr könnt also weiterhin ge-

spannt sein. (Falls ihr nicht nach dieser langen Wartepause schon

längst eingeschlafen seit).
 

Danksagungen (immer noch die selben):

=====================================
 

Christian Schulze - http://www.gruselgrotte.rockt.de

- (wie immer) für die Korrektur meiner Texte,

die Anmerkungen, die Kritik, die Hinweise

usw.

Seashore - http://www.evangelion-armageddon.de

Evaunit01 - http://www.evangelion-rulz.de

AnimeXX - http://www.animexx.de

Defender - http://defender3.sondergleichen.org

- für das Veröffentlichen meiner Fic auf ihren

Seiten.

Alle meine Leser vor allem diejenigen, die sich durch ihre Kommen-

tare für das Weiterschreiben dieser Fic ein-

setzen.
 

Autor: Thomas Ryssel, Radebeul 2001

EMail: ThomasRyssel@web.de oder eastsoft@tripod.de

oder ThomasRyssel@hotmail.com

Homepage: http://www.eastsoft-online.de

NGE Dimensionen im Netz: http://nge-dimensionen.eastsoft-online.de
 

Ich hoffe, es dauert nicht mehr soooooooo lange bis zum
 

Kapitel 11 - Boten.

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2007-03-20T08:21:02+00:00 20.03.2007 09:21
MIR GEFÄLLT DEINE GESCHICHTE AUSGEZEICHNET IST GANZ IM STILLE VON NGE MACH WEITER SO MÖCHTE GERN WISSEN WIE ES WEITER GEHT
Von: abgemeldet
2003-05-17T23:19:59+00:00 18.05.2003 01:19
extrem gute fanfic, wunder mich das niemand sonst ein kommentar geschrieben hat ?!?
wäre schön wenn du die kapitel etwas kontinuierlicher veröffentlichen würdest. deine ideen gefallen mir sehr gut, obwohl dein schreibstil sehr viele fragen auflässt, obwohl das wahrscheinlich beabsichtigt ist. zudem wäres cool wenn du bissel mehr romantik rein bringen würdest, brauch ja nich in den bereich abdriften (hät ich auch nichs gegen solange du das dann nich als lemon deklarierst) aber ein bissel mehr shinji - rei oda gregor - asuka wäre schon sehr gut.


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