Teil 29
Die Seele spendet Licht, der Tod ist ihr Schatten.
Wenn das Licht erlischt, begegnen sich Leben und Tod.
Lehre des Nantaku
Dicke schwarze Wolken verhangen den Himmel, wie ein Leichentuch, von dem große, schwere Tropfen auf den Asphaltboden klatschen, bis sich das Blut mit dem reinen Regen vermischt hatte. Die nasse Kleidung klebte an den leblosen Körpern, die gerade den letzten Atem ausgehaucht hatten. Doch egal wie viel Regen auch fiel, konnte es ihm nicht gelingen die Erde reinzuwaschen.
Kriechend schleppte sich Herr Wakabashi mit ungläubig aufgerissenen Augen zu den regungslosen Körpern vor sich, bis er nur wenige Meter vor ihnen schluchzend die Fäuste vors Gesicht schlug, als er den Anblick seiner toten Tochter nicht länger ertragen konnte.
Geschockt über die Tatsache auch Misa, seinen Schlüssel zur Macht, getötet zu haben, brach selbst Seiji würdelos am Boden zusammen, als er realisierte seinen eigenen Traum soeben zerstört zu haben. Durch seine Überheblichkeit hatte er auf Kojiro gezielt und den Abzug gelöst, ohne weiter darauf zu achten, ob sich dieses Ziel verändern würde, oder es jemand anderes das Leben kosten würde. Wütend über sich selbst vergoss er wohl zum ersten Mal in seinem Leben als Erwachsener Tränen, während ihm die Waffe in seiner Hand entglitt. Der Marktplatz an dem sich nur wenige Stunden später handelstreibende Menschen versammeln würden, glich einem Schlachtfeld, als die ersten besinnungslosen Gefolgsmänner Seijis ihr Bewusstsein wiederfanden und durch das verwirrende Szenario nicht wussten, was zu tun sei. Ohne einen Befehl ihres ansonsten so gefühlskalten Herrn, der nun fassungslos am Boden kniete, schienen sie ratlos und so zogen sie sich im stillen Einverständnis zurück.
Plötzlich begann die Erde ein weiteres Mal zu beben und der Sturm schlug tobend um sich, während von Misas Körper eine Flut von Licht den Himmel erhellte. So klar und strahlend, dass es in nur einem Atemzug alles um sich herum in ein Meer von gleißendem Licht tauchte. Seiji erhob sich wie magisch davon angezogen und schritt, ohne noch einen klaren Gedanken fassen zu können, näher an die Quelle dieses Wunders heran.
Obwohl die Schmerzen, die es ihm bereitete, beinahe unerträglich waren, schien ihn nichts mehr daran hindern zu können, sich diesem immer weiter zu nähern. Wie eine Motte, die ins Licht flog und wusste, dass sie sich dabei die Flügel verbrennen würde, so konnte auch er sich dem Bedürfnis nach mehr nicht entziehen, bis seine Augen wie Feuer brannten und sein Kopf sich anfühlte, als würde er innerlich zerfetzen. Er wurde überwältigt von den Bildern und Gefühlen, die auf ihn einströmten, die Qualen und Freuden der Welt, die ihn innerlich verbrannten. Alles in ihm schrie, obwohl kein Laut über seine Lippen kam, bis die Dunkelheit über ihn hereinbrach.
"Hab keine Angst mehr."
"Bin ich tot?"
"Ja."
"Oh... Wie ist dein Name?"
"Wie auch immer du mich nennen willst."
"Wer bist du?"
"... Deine Kraft."
"Hast du mein Baby getötet?"
"Nein. Das Schicksal. Ich nehme keinen Einfluss darauf."
"Dann hätte niemand etwas daran ändern können?"
"..."
"Warum hast du mich erwählt? Warum mich?! Ich wollte doch nur ein normales Leben."
"Den Grund dafür hast du gerade selbst genannt. Du warst genauso verletzt und verzweifelt wie ich damals. Unschuldig, zerbrechlich. Ich wusste, ich hatte dich endlich gefunden. Nach so langer Zeit, hatte ich die Hoffnung schon beinahe aufgegeben."
"Die Hoffnung worauf?"
"Auf einen Menschen, der bereit ist das Leben zu schützen, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Jemand, der sich nach mehr Leben und nicht nach mehr Macht sehnt. Jemanden, der wahrhaftig und aufrichtig lieben kann. Das warst du."
"Du irrst dich. Meine Mutter..."
"Hat geliebt. Sehr sogar. Aber sie hat sich selbst aufgegeben. Sie hat den Menschen, den sie eigentlich mit aller Kraft beschützen wollte allein zurückgelassen. Ihr Selbsthass hat sie getötet. Und mit dem Geschenk das ihr zuteil wurde, stürzte sie viele ins Unglück. Auch wenn sie selbst es nicht wollte.
Du wusstest, welche Macht in deinen Händen liegt und doch hast du sie nicht genutzt. Du hast sie gefürchtet. Das erste Mal, das ich nach jemandem wie dir gesucht habe, ist schon lange Zeit her.
Ich war enttäuscht und traurig. Die Menschen haben alles zerstört, was ich erschaffen hatte. Sie haben schon immer nach Besitz gestrebt und waren sogar dafür bereit zu töten. Mutlos und verzweifelt entschied ich mich einen Teil meiner Kraft jemandem zu schenken, der wie ich meine Trauer verstand. In der Hoffnung, jemanden zu finden, der das Leben und seine Vielfalt genauso liebt wie ich.
Doch viele vor dir haben diese Kraft nicht benutzt, um etwas Neues zu erschaffen, sondern nur um zu zerstören und die eigene Macht zu vergrößern. Sie wurde dazu verwendet andere zu unterdrücken, zu verletzten, manchmal sogar um zu töten. Ihrer eigenen Art haben sie das wertvollste entrissen, haben vergessen sich selbst in ihnen zu sehen, obwohl der Mensch, dem sie das Leben genommen haben, nur ein Spiegel ihrer selbst war. Sie haben nie verstanden. Sie haben es auch nie versucht. Sie waren geblendet von der bloßen Möglichkeit, die sich ihnen durch diese Macht bot."
"Aber ich habe viele Menschen verletzt."
"Ich weiß."
"Habe ich nicht deine Kraft genauso missbraucht? Ich hätte beinahe jemanden getötet."
"Aber du hast es nicht. Du hattest in blinder Wut vergessen, was du dadurch verloren hättest. Mit jedem Mord stirbt auch ein Teil deiner selbst. Dein Körper mag dies verbergen, aber er ist nur eine Hülle. Du selbst gehst dabei verloren. Mit der Kraft, die du in dir getragen hast, wäre es dir unmöglich gewesen diesen Schmerz zu ertragen. Durch die Erkenntnis ein Leben, das deinem so ähnlich war, wissentlich beendet zu haben, hätte sich diese Kraft gegen dich gewendet, du hättest sie unbewusst gegen dich selbst eingesetzt.
Du warst zornig und verzweifelt, vor allem aber hattest du Angst. Du wolltest die schützen, die du liebst. Du hast nicht zum ersten Mal den Tod gesehen. Nicht zum ersten Mal die Leere, die sich vor allem in den Augen wiederspiegelt erkannt, wenn die Seele dem Körper entflieht. Ich habe deinen Schmerz gespürt. Ich kenne ihn. Aber du hast im letzten Moment zu dir zurückgefunden. Du warst letztendlich stärker als der Hass in dir."
"Ich habe nie zuvor so empfunden. Es war als würde es mich von innen heraus verbrennen, als würde nichts mehr von mir übrig bleiben. Wie eine furchtbare Art von Hunger, der gestillt werden wollte. Hikari hatte es nicht verdient zu sterben. Sie war doch nur ein unschuldiges Kind."
"Doch wer verdient es zu Leben? Willst du wirklich darüber ein Urteil fällen? Dieser Aufgabe fühle auch ich mich nicht gewachsen. Ich lasse dem Schicksal seinen Lauf. Doch ihr bekämpft den Tod sowie das Leben gleichermaßen."
"Du redest von Schicksal, was ist Schicksal? Kann ich denn nur abwarten und nichts tun?! Ist denn alles schon vorherbestimmt?!"
"Es ist ein Teil deiner Seele. Du kannst seinen Lauf durchaus beeinflussen, kannst es ändern. Aber ich versuche euch nicht zu ändern. Diese Entscheidung, diese Wahl liegt bei euch.
Oft habt ihr falsch gewählt und ich habe nur zugesehen. Doch Gefühle sind kein Verbrechen und meist sind eure Entscheidungen durch sie bestimmt. Ob sie nun Gutes oder Schlechtes hervorbringen.
Auch ich kenne beide Seiten. Oft habe ich die Menschen für das, was sie geworden waren verabscheut und doch habe ich sie geliebt.
Es wurde immer schwerer nur zuzusehen, ihnen den freien Willen zu lassen. Sie begannen nicht nur sich gegenseitig, sondern auch noch alles um sich herum für sich zu beanspruchen. Es gab keinen Platz mehr auf der Welt, den sie nicht kontrollieren wollten, dem sie nicht ihren eigenen Willen aufzwingen wollten. Ich ließ ihnen die Freiheit zu entscheiden, doch dasselbe galt nicht für sie."
"Warum hast du nichts daran geändert? Du hättest ihnen doch diese Freiheit nehmen können, oder nicht?"
"Ich wollte verstehen und gleichzeitig, dass auch sie verstehen. Vor allem aber brauchte ich ein Zeichen, dass es noch Menschen gab, die dieses Geschenk zu schätzen wussten. Ich habe gewartet und letztendlich dich gefunden. Ich habe durch deine Augen gesehen und mit deinem Herzen gefühlt. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Du hast deinen Weg gefunden und mir dabei meinen Glauben und meine Hoffnung zurückgegeben."
"Wie kannst du so etwas nur so einfach sagen?! Ich bin nicht unschuldig. Ich kann nicht deine Hoffung, dein Glaube sein! Du irrst dich! Ich wünschte, ich wäre es, aber ich bin nicht besser als die anderen! Ich hätte ihn töten können, so sehr habe ich Seiji gehasst! Ich weiß, ich hätte es getan, wenn nicht... Ohne Kojiro hätte ich ihn umgebracht. Das ich nicht zum Mörder wurde, habe ich allein ihm zu verdanken.
Sein Vater ist durch seine Hand gestorben. Aber Kojiro ist kein Mörder, hörst du! Er hat so viel Seele, so viel Herz in sich, wie niemand sonst. Damals hast du ihm keine Wahl gelassen! Hätte er ihn nicht getötet, dann hätte er Kojiro umgebracht! Das ist keine Wahl! Das ist grausam..."
"Das Leben kann grausam sein, aber das ist der Preis den man zahlt, um zu leben. Den Preis bestimme nicht ich, sondern ihr Menschen. In diesem Fall sein Vater. Aber du hast Recht. Er hat aus Notwehr gehandelt, weil er sein eigenes Leben bedroht sah. Er hätte sich auch für den eigenen Tod entscheiden können, aber das hat er nicht. Als er sich verteidigt hat, war er sich seiner Tat nicht voll bewusst. Dennoch ist er nicht völlig ohne Schuld. Er hat bereits geahnt, dass es so kommen würde und trotz allem ist er geblieben."
"Aber er ist kein kaltblütiger Mörder!"
"Kaltblütig? Nein, aber er hat gesehen, gefühlt, wozu der Mensch fähig ist. Dieses Wissen wird ihn auf ewig begleiten. Es hat seine Spuren hinterlassen. Narben, nicht sichtbar, aber umso schmerzhafter und tiefer. Die Narbe auf der Stirn wäre leicht vergessen, aber die Bedeutung dahinter... er wird nie vergessen."
"Ich weiß. Ich wünschte nur ich hätte ihm helfen können."
"Aber das hast du doch. Ich sagte, er wird niemals vergessen, aber er fängt an zu verzeihen."
"Wem?"
"Sich selbst."
"Oh... Ich hoffe, es geht ihm gut und er macht sich keine Sorgen. Er konnte es vielleicht nicht immer zeigen, aber ich weiß, dass er mich liebt. Besonders nachdem Hikari... Ich habe noch nie so für jemanden empfunden. Ich hatte mir so sehr eine gemeinsame Zukunft mit ihm gewünscht.
Doch als er so dalag... Denkst du, er hat mich noch gehört? Wenigstens war er nicht allein... Sprichst du mit ihm so wie mit mir? Kannst du ihm sagen, dass es mir gut geht und dass ich ihn liebe? Ich glaube, er weiß es. Aber ich will nur sicher gehen. Er zweifelt immer an sich selbst...
Könnte ich...vielleicht...irgendwann...... Werde ich ihn je wiedersehen?"
"Folge mir. Denn auch wenn du es nicht glauben magst, du hast mir ein unglaublich wertvolles Geschenk gemacht. Nun ist es an mir dir etwas zurückzugeben."
Eine Wärme durchflutete den kalten Körper, der regungslos in jemandes Armen lag, der diesen fest an sich presste und herzzerreißende Laute von sich gab, während er mit unkontrolliert zitternden Händen über das bläuliche Gesicht fuhr und ihr unbeholfen die Haare aus der Stirn strich.
Zuerst zaghaft und mit einiger Antstrengung, dann wie von selbst holte der gefroren wirkende Körper tief Luft, während die Farbe langsam wieder ins Gesicht zurückkehrte. Doch erst als Misa den sanften Wind auf ihre Haut spürte, wagte sie es sich zu bewegen und die Augen zu öffnen. Verwirrt blickte sie in das geliebte Gesicht über ihr. Mit den gleichen strohblonden Haaren und den gleichen blauen Augen. Nur das diese durch die vielen Tränen, die er einfach nicht mehr verhindern konnte und auch nicht wollte, rot geschwollen waren. Ungläubig hatte er bemerkt wie sich der Brustkorb plötzlich wieder hob und senkte und sie schließlich sogar ihre wunderschönen Augen aufschlug.
Unter Schock stehend beobachtete er nur still das Wunder, bis Misa ihn anlächelte und ihre Hand auf die seine legte, die noch immer auf ihrer Wange ruhte. "Hi.", hauchte sie mit gefrierendem Atem, als wäre es Winter und drückte dabei seine Hand.
Mit einem schiefen Lächeln zog er Misa noch fester an sich und vergrub dabei sein Antlitz in ihrer Halsbeuge, als nun sein ganzer Körper unter dem Schluchzen hemmungslos geschüttelt wurde.
"Kojiro?" Erst nach einer halben Ewigkeit gestattete er Misa sich ein paar Zentimeter von ihm zu lösen, um ihr nicht aus Versehen die Luft abzuschnüren und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. "Ich...ich dachte.... Ich bin plötzlich aufgewacht, aber du..." Noch immer nach Atem ringend, brachte er kaum ein Wort über die Lippen, obwohl er ihr so vieles zu sagen hatte.
"Ich..." Sprachlos, gerührt und vor allem glücklich nickte Misa nur und küsste ihn innig, bis er sich etwas beruhigt hatte, als Misa blitzartig zurückschreckte. Ängstlich erwartete Kojiro, dass man sie ihm ein weiteres Mal entreißen würde, bis diese sich lachend und weinend zugleich an seinen Hals warf, nur um im nächsten Moment sein Gesicht mit Küssen zu bedecken. Unfähig für eine Erklärung nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch, in dem jemand ganz offensichtlich ,Guten Tag' sagen wollte.
Ende
So zu Bettyna: Mit deiner Bemerkung auf die Hoffnung eines Lichtblicks hättest du es gar nicht besser treffen können, oder?
Du warst mir eine große Hilfe und ich bedanke mich ganz herzlich bei dir, dass du mir die Treue gehalten hast und es bis zu Ende gelesen hast!
Im Übrigen ist das Zitat ganz am Anfang von... hähämm (sich räusper) einer Magik Karte. Nein, ich bin kein Sammler der Karten, aber ich habe zufällig, als ich mit meinem Bruder gespielt habe (und dabei grauenhaft verloren habe) dieses Zitat gelesen und ich dachte mir, dass es für meine Geschichte wie die Faust aufs Auge passt. Besonders aber für den letzten Teil.
Wer sich fragt mit wem Misa dieses Gespräch geführt hat... nun ja ich denke, es ist eigentlich ziemlich eindeutig. (In meinen Kreisen nennt man dieses Wesen Gott)
Ich hatte es zuvor nicht so geplant. Allerdings deutete schon so einiges in der Geschichte darauf hin, dass es jemanden, oder etwas, gab, der die Person auf die die Kraft übertragen wird bestimmt.
Und um ehrlich zu sein, ich bin keineswegs ein Religionsfanatiker, aber so wie ich überraschender Weise durch mein letztes Kapitel gesehen habe, auch kein Atheist. Ich habe nur inzwischen meine eigene Vorstellung von Gott. Und der ist in meinen Augen keineswegs perfekt und unfehlbar...
Aber ich will hier keine Glaubensdiskussion anzetteln und hoffe stattdessen, dass ihr mit dieser Wende zufrieden seid und es nachzuvollziehen ist.
Wenn nicht, dann bin ich ganz Ohr.
Für alle, die sich noch einen runderen, fröhlicheren Abschied von meiner Geschichte wünschen, gibt es einen Epilog mit dem Titel: Entscheidungen, der zeitlich sechs Jahre danach angesiedelt ist. Und in dem auch viele alte Bekannte auftauchen werden.^^
Den Epilog werde ich übrigens getrennt von dieser Geschichte ins Netz stellen.