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Der Jadejunge

Die Erzählungen, Teil 1 - Shounen-Ai
von

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Erblindete Augen sehen wieder

A/N:

Leichte Verspätung um drei Tage, aber das neue Kapitel ist da! Viel Spaß beim Lesen wünsche ich ^^
 

15 - Erblindete Augen sehen wieder
 

Daniel nahm Dakkas Erklärung von einem besonders tiefem Traum mit gemischten Gefühlen auf, akzeptierte sie aber. Nachdem für den Heiler klar war, dass der Kleinste in ihrer Gruppe kein gesundheitliches Problem hatte, widmete er sich wieder dem Versuch, mit den Kochgeräten der Hütte eine essbare warme Mahlzeit herzustellen.
 

Jared begutachtete diese Versuche mit unverhohlenem Amüsement. Daniel war kein Koch und die Hütte lange nicht mehr benutzt worden; die Versuche des Heilers schlugen also eher katastrophal fehl.

Dakkas hatte sich neben Jared an den Tisch gesetzt und sah nur kopfschüttelnd vom einen zum anderen. „Weißt du, Jared, du magst ja rohes Fleisch essen können, aber wir anderen mögen ab und zu auch etwas Gebratenes.“, murmelte der Schwarzhaarige dann.
 

„Meh. Einige Sachen sollte man gar nicht erst kochen, braten oder sonst wie verfeuern. Es schmeckt dann nicht mehr so gut.“, war Jareds unbeeindruckte Antwort.

Dakkas zog nur stumm eine Augenbraue hoch und entspannte sein Gesicht dann wieder. Was fragte er auch einen Werwolf – oder Halbwolf – nach seiner kulinarischen Meinung.
 

„Wo sind die anderen?“, wechselte der Grünäugige das Thema.

„Shan ist draußen bei Nostradamus, um ihm bescheid zu sagen, dass du aufgewacht bist.“, erklärte Jared. „Wahrscheinlich wird er danach Koshi suchen und ihm das Selbe sagen… vielleicht aber auch nicht…“ Der letzte Teil war eher gemurmelt als gesprochen, aber Dakkas hörte ihn trotzdem.
 

„Molokosh-lana wollte sich die nähere Umgebung anschauen um zu sehen, wie viel Schaden das Unwetter von gestern angerichtet hat.“, fügte Daniel hinzu.

Dakkas nickte und runzelte seine Stirn. Sobald Molokosh wieder da war, würde er irgendwie mit dem Drachen alleine reden müssen. Die anderen ihrer kleinen Gruppe würden sicherlich nicht auf Dakkas Wort allein einen Dogen-Zauberer aufsuchen und ihn um etwas bitten. Nein, da Jared und Shan Rebellen aus der Grauen Zone waren, würden sie einen Dogen eher umbringen. Nicht, dass man es ihnen verübeln konnte. Die Qualen, die diese ‚Forscher’ ihren Experimenten zufügten…
 

Dakkas blinzelte und ordnete seine Gedanken wieder. Wo war denn das jetzt hergekommen… Gerade hatte er eine Vorstellung von einem Dogenlabor in seinem Kopf gehabt: Komische, magische Apparate, angeschlossen an Käfige und scheinbare Streckbänke.

Nein, wenn eins der Labore so aussah, dann konnte er wahrlich gut verstehen, warum man die Dogenfestungen angriff und dem Erdboden gleich machte.
 

Die Tür zur Hütte öffnete sich und Nostradamus und Sar’Shan traten ein. Der Seher wirkte abwesend wie immer, setzte sich aber neben Dakkas an den Tisch. Der Schwertkämpfer lächelte, hob Jared von seinem Stuhl hoch und setzte sich dann mit dem Halbwolf auf seinem Schoß wieder hin.

Dakkas blinzelte. Der Drache war doch noch etwas stärker, als er vermutet hatte. Den Halbwolf hochzuheben hatte ihn nicht im Geringsten angestrengt.
 

„Wo ist Molokosh?“, fragte der Grünäugige, anstatt sich weiter über Shans Kraft zu wundern.

Der Krieger zuckte mit den Achseln. „Konnte ihn nicht hier in der Umgebung finden.“ Der Grauhaarige schien nicht sehr besorgt über das Verschwinden des de’Sahr. Dakkas sah Nostradamus an. Der Seher würde schon etwas sagen, wenn sein Bruder in Gefahr war.
 

„Nah, Koshi wird schon nichts passieren. Außerdem vermiest er sowieso nur die Stimmung.“, grinste Jared. Daniel schnaubte. „Welche Stimmung? Hungrig und ausgelaugt?“

„Ich dachte eher an ‚befriedigt und entspannt’.“ Jareds Grinsen wurde breiter.

Dakkas schüttelte lächelnd den Kopf. „Muss ja eine sehr angenehme Nacht gewesen sein.“, meinte er dann verschmitzt. Jared grinste nur, aber Sar’Shan bekam einen sehr selbstzufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht.
 

Nostradamus Hand auf seiner Schulter ließ Dakkas kurz zusammenzucken. Der Seher sah den Grünäugigen konzentriert an. „Neues Ziel?“, fragte er dann.

Die anderen in der Hütte waren still geworden, als der Seher gesprochen hatte und sahen jetzt zu den beiden hin.
 

„…Ja. Wäre es zu viel verlangt, zu erfahren, woher du das schon wieder weißt?“

Nostradamus lächelte. „Die Möglichkeiten haben sich geändert.“

„Ah.“ Dakkas nickte. Das machte sogar Sinn. Er wusste jetzt mehr über sich und sein Ziel, daher hatte die Zukunft jetzt andere mögliche Ausgänge.

„Ziel?“, wiederholte Nostradamus.

„Olivier Jerome, Kleingaren. Zauberer.“

Ohne, dass er es gewollt hatte, hörte sich diese Unterhaltung doch wie eine Art Jagd an, wobei Nostradamus der Jagdhund war. Und tatsächlich trat ein abwesender Blick in Nostradamus Augen, während Dakkas und die anderen fasziniert zusahen.
 

„Wohnt Kreuzweg 6. Alleine. Keine Familie. Frühstück gerade.“ Nostradamus runzelte seine Stirn und fokussierte einen fragenden Blick auf Dakkas. „Doge?“

Sar’Shan grollte, blieb aber ruhig.

Dakkas nickte. „Er ist Mitglied der Dogen. Aber… wenn ich mich richtig erinnere kein echter Doge.“

„Kein echter Doge?!“, fauchte Sar’Shan, wurde aber von dem Seher und dem Grünäugigen nicht beachtet.
 

Nostradamus Blick wurde wieder abwesend und der Seher nickte langsam. „Kein echter Doge. … Spion.“ Wieder sah er Dakkas an. „Für dich.“

Daniel fiel die Kelle aus den Händen. Jared und Sar’Shan sahen Dakkas geschockt an. „Du hast einen Spion innerhalb der Dogen?!“, entfuhr es dem Drachen.

Dakkas lächelte zaghaft. „Ich… kann die Dogen wirklich nicht leiden?“

Alle abgesehen von Nostradamus sahen ihn weiterhin ungläubig an.

„Wir konnten nie einen Spion oder Informanten innerhalb der Dogen bekommen.“, murmelte Jared. „Wie hast du das angestellt? Und warum?“
 

„Daran erinnere ich mich nicht. Noch nicht. Aber ich muss wohl einen guten Grund gehabt haben.“, antwortete Dakkas.

Nostradamus nickte. „Er ist kein hohes Mitglied der Dogen, aber er hat Zugang zu einigen Dingen… Der Teleporter?“

Dakkas nickte. „Genau, daran hatte… ich gedacht. Wenn wir den Teleporter nehmen sind wir in Windeseile in Tirin und können Selena Windflügel abhängen.“

„Abgesehen davon, dass wir auf der anderen Seite vom Teleporter von den Dogen da aufgegriffen werden. Oder hast du da auch einen Spion?“, murrte Sar’Shan.
 

Der Grünäugige zögerte und dachte nach. Nein, Beauron hatte nicht erwähnt, ob er in Tirin auch einen Informanten oder Spitzel hatte. Aber irgendwie war er davon ausgegangen, schließlich musste er ja sicher auf der anderen Seite ankommen.

„Es wäre sinnlos, einen Spitzel zu haben, der den Teleporter bedienen kann, ohne sicheres Ankommen auf der anderen Seite zu gewährleisten.“, meinte Dakkas dann zögerlich.

„Das stimmt. Aber wie willst du die andere Seite kontaktieren, wenn du dich an so gut wie nichts erinnerst?“, hakte Jared nach.

„Entweder Olivier macht das, oder wir finden eine andere Möglichkeit… so schwer kann das ja nicht sein.“
 

„Entschuldigung?! So schwer kann das ja nicht sein?“, grollte Shan erbost. „Die Dogen sind gefährliche kleine Folterer. Ihre Teleporter stehen normalerweise mitten in einem ihrer Gildenhäuser, die voll sind von ihnen. Wie sollen wir da ohne Hilfe sicher auf der anderen Seite herauskommen? Außerdem, woher wissen wir, dass du uns nicht an sie verkaufst oder sonst was machst? Gedächtnisschwund hin oder her, wir wissen doch fast nichts über dich!“

Der Drache grollte aus voller Kehle. „Ich bin jedenfalls nicht dafür, dass wir dir einfach so trauen. Schließlich reden wir hier davon, einen Dogen um Hilfe zu bitten!“
 

Das saß. Dakkas gab sein Bestes, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Natürlich hatte er erwartet, dass Sar’Shan schlecht reagieren würde, aber mit so aggressivem Widerstand hatte er dann doch nicht gerechnet. Er hatte gedacht, dass er den Drachenkrieger inzwischen als Freund bezeichnen durfte. Anscheinend hatte er sich da getäuscht.

„Dakkas lügt nicht und sein Spion würde ihn niemals verraten.“, durchbrach Nostradamus das Grollen des Kriegers. Abrupt beendete Shan sein Murren.

„Sicher?“

Der Seher nickte. „Molokosh wird dem neuen Plan zustimmen.“, sprach er dann weiter. Etwas an der… Finalität, mit der Nostradamus sprach, störte Dakkas. Als wenn der Seher klar machen wollte, dass der schwarzhaarige Drache gar nicht anders konnte.
 

Jared runzelte seine Stirn. „Wird das so etwas wie eine Tradition? Unser lieber grünäugiger Freund hier sagt etwas, und die de’Sahrs springen?“ Es schwang keine Feindseligkeit, nur reine Neugierde in seiner Stimme mit, und dennoch spürte Dakkas, dass mehr hinter dieser Frage steckte.
 

Nostradamus drehte seinen Kopf in Jareds Richtung und sah den Halbwolf stumm an. Dieser hob beschwichtigend eine Hand. „Hey, nur eine ernstgemeinte Frage. So was sieht man nicht alle Tage.“

„Dakkas kann unserer Familie viel Glück bringen.“, erklärte Nostradamus und sah wieder den Grünäugigen an, der den ganzen Austausch etwas komisch fand. Aber als Glücksbringer angesehen zu werden war immerhin besser, als den Tod an den Hals gewünscht zu kriegen. Obwohl das ja in seinem Falle sowieso nicht sehr viel ausmachen würde, schließlich schien Beauron ihn nicht tot haben zu wollen.

Und überhaupt warf seine Beziehung zum Totengott ein ganz neues Licht auf den Spruch ‚den Tod am Hals haben’.
 

„Also ist er so was wie der offizielle Glücksbringer des de’Sahr Königshauses?“, hakte Jared nach.
 

Dakkas stockte. Moment mal. Königshaus? Im Sinne von König? „Königshaus?“ Seine Stimme hörte sich ungewollt etwas schrill an.

Die beiden Rebellen sahen zu ihm und Daniel stöhnte laut auf. Nostradamus lächelte nur. „Molokosh und mein Vater, Nebukhat de’Sahr, war der letzte König des Ursha’ba Klans und offizieller Thronfolger des Kaiserthrons der Drachen.“ Nach einer Pause fügte er noch hinzu: „Molokosh war dagegen, dir das zu erklären, sofern du dich nicht selbst daran erinnerst. Er wollte nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig.“
 

„Ach wie nett. Und keiner hat daran gedacht, dass diese Information ganz praktisch wäre, wenn eine verrückt gewordene Elfe uns im Nacken sitzt?!“, fragte Dakkas erbost.

„Ehrlich gesagt dachten wir, du wüsstest das.“, meinte Sar’Shan, der anscheinend wieder beruhigt worden war.

„Nein, bis gerade wusste ich das nicht.“ Aber es erklärte einiges. Warum zum Beispiel diese Elfe so hartnäckig hinter den Brüdern her war. Und warum Nostradamus so eine sorgfältige Tarnung hatte.
 

„Heißt das, Molokosh ist jetzt König? Oder Nostradamus?“

Shan bekam eine finstere Miene. „Mein König ist Molokosh sicherlich nicht.“, grummelte der Drache. Jared beruhigte seinen großen Freund und sah Dakkas dann entschuldigend an. „Es herrscht ein wenig… Uneinigkeit darüber, welcher von Nebukhats Söhnen regieren soll.“, erklärte der Halbwolf.
 

Dakkas blinzelte. Nun gut, solche Streitigkeiten über die Herrschaftslinie waren nichts neues, jedes Volk Kvi’stas hatte so einen Streit mindestens einmal erlebt, aber irgendetwas stimmte an dieser Erklärung nicht ganz.
 

Nostradamus war zwar nicht dumm und nicht verrückt, aber man konnte beides leicht glauben, wenn man den Seher nicht genau beobachtete. Auf alle Fälle trat er nicht als Führungspersönlichkeit auf. Diese Qualitäten hatte eher Molokosh, auch wenn Dakkas insgeheim glaubte, dass Nostradamus den schärferen Verstand von beiden hatte.
 

Aber, selbst wenn die beiden sich wirklich um den Thron stritten – warum reisten sie dann zusammen durch die Gegend? Sie wirkten nicht wie zwei zerstrittene Brüder. Molokosh war offensichtlich davon überzeugt, dass er Nostradamus beschützen musste und tat dies wohl auch von ganzem Herzen.

Die Brüder benahmen sich nicht wie zwei rivalisierende Thronerben.
 

„Bei wem genau herrscht diese Uneinigkeit?“, wollte der Kleine daher wissen. „Weil Nostradamus und Molokosh sich nicht so benehmen, als würden sie sich um ein Königreich streiten.“

Es trat eine kurze, betretene Stille ein, während der alle anderen Anwesenden in der Hütte einige Blicke austauschten. Dakkas bekam das definitive Gefühl, dass ihm etwas verschwiegen wurde.
 

Auch als Daniel brüskiert seinen Kopf schüttelte und zu einer Antwort ansetzte, wich dieses Gefühl nicht. „Natürlich tun sie das nicht. Das würden sie der Erinnerung an ihren Vater niemals antun.“ Der Heiler zögerte kurz, bevor er weitersprach: „Aber das Volk – der Klan – ist sich nicht ganz einig, wer gekrönt werden soll. Und solange ihr Volk sich nicht einigt, haben die Brüder beschlossen, gar keinen zu krönen.“
 

Kollektiver Thronverzicht aus Bruder-, Vater- und Volkesliebe? Dakkas konnte sich nicht helfen – er fand das komisch. „Das ist doch total unsinnig. Wer kümmert sich denn dann um den Klan? Das schwächt doch eure Position politisch und militärisch.“

Shan atmete auf. „Endlich jemand, der meiner Meinung ist. Am einfachsten wäre es, Molokosh tritt einfach komplett zurück vom Thron.“

Dakkas blinzelte. Der Krieger wollte also tatsächlich, dass Nostradamus regierte? Nun gut, ein Seher als König war sicherlich nicht schlecht… und selbst wenn Nostradamus die Illusion des Geistig-Abwesenden aufrecht erhielt, konnte Molokosh ja noch immer als Berater oder so fungieren.
 

„Bei allem Respekt zu Lanars Bruder – Lanar ist einfach der bessere König.“, warf Daniel vehement ein und starrte Sar’Shan dabei finster an. „Lanars Bruder ist einfach nicht für die… feineren Dinge der Diplomatie geschaffen. Und wie er auf so etwas wie Friedensverhandlungen oder einen drohenden Krieg reagiert ist jawohl… bestenfalls fraglich.“ Leiser fügte der Heiler missmutig hinzu: „Wenn er den Krieg nicht selbst anfängt heißt das…“

Shan grollte. „Molokosh hat keine Ahnung, wie man den Klan zu führen hat. Das sieht man schon daran, dass er wie ein Laufbursche von einem Engelsadligem zum anderen reist, um unser Heimaland zu befreien. Das ist höchstens ein Freikauf; und unser Land gehört uns, nicht den Engeln.“ Mit einem Schnauben meinte der Krieger noch: „Und von seinem Durchsetzungsvermögen reden wir jetzt erst gar nicht…“
 

Heiler und Krieger sahen sich finster an, während Jared mit den Augen rollte. Das war anscheinend kein neuer Streitpunkt zwischen den beiden. An den Grünäugigen gewand merkte er an: „Dummerweise interessiert es einige Drachen nicht, ob ihr Favorit regieren möchte oder nicht.“
 

Dakkas fand für beide Positionen sowohl gute als auch schlechte Dinge. Seiner ehrlichen Meinung nach würden beide de’Sahrs ungefähr gleich gut als König regieren, Nostradamus machte seine sozialen Schwächen mit seinem Sehertalent wieder wett und Molokosh konnte stattdessen mit natürlichen Führerqualitäten und einem anscheinend besserem diplomatischen Verhältnis aufwarten.

Nur wie Daniel darauf kam, dass Nostradamus so kriegsbereit sein sollte, verstand er nicht. So aggressiv kam ihm der Seher gar nicht vor.
 

Aber es war schon schade, dass der ganze Klan Ursha’ba dahin siechte, nur weil das Volk sich nicht auf einen König einigen konnte. Es waren ja nicht einmal die Brüder selber, die diesen Machtkampf wollten, so wie es aussah.
 

„Und euer Klan würde den einen Bruder nicht akzeptieren, auch wenn der andere freiwillig und so weiter zurücktritt?“

Nostradamus war still und hielt sich aus dem Gespräch raus, aber die drei anderen sahen sich ungemütlich an, selbst Jared schien über dieses Thema nicht gerne sprechen zu wollen.

„Du musst verstehen, Dak, das hat mit dem verstorbenen König de’Sahr zu tun.“, fing der Halbwolf dann langsam an.
 

„König Nebukhat wurde ermordet.“, erklärte Shan weiter, „Von Agenten des Sonnenkönigs.“ Dakkas verzog den Mund. Molokosh und Nostradamus waren also nicht die ersten de’Sahrs auf der schwarzen Liste des Engelherrschers. „Ein Drachenherrscher – egal, ob Herr einer Familie, eines Adelshauses oder eines Klans – legt normalerweise den Nachfolger im Falle seines Todes fest.“, fuhr Shan fort. „Einzige Ausnahme ist der Drachenkaiser, der die Zustimmung und Unterstützung der meisten Königsfamilien braucht, um sich durchsetzen zu können.“
 

„König Nebukhat hatte keinen offiziellen Thronfolger, als er ermordet wurde.“, machte Daniel weiter. „Nach Tradition würde damit der älteste Nachfahr den Titel und die Verantwortungen übernehmen.“ Der Heiler trat von einem Bein auf das andere, das versuchte Essen hinter ihm längst vergessen. „Allerdings hatte König Nebukhat kurz vor seiner Ermordung mit verschiedenen adeligen Ursha’ba gesprochen und in den Gesprächen verlauten lassen, er wolle eigentlich seinen jüngsten Sohn, Molokosh-lana, als Erben einsetzen.“
 

Also war Molokosh der jüngere der beiden Brüder. Interessant. Jetzt verstand Dakkas auch, worauf das Gespräch hinaus lief.

„Der eine Teil eures Klans ist für den älteren Bruder, weil es die Tradition so will. Der andere Teil meint, Molokosh wäre der rechtmäßige Erbe, auch wenn der verstorbene König keine Zeit mehr hatte, das offiziell zu machen.“ Mit einem Blick auf Sar’Shan fügte er schnell an: „Mal abgesehen von denjenigen, die einen wirklichen Favoriten haben.“
 

Shan und Daniel nickten und Jared seufzte. „Und das ist wieder ein Beispiel für die verworrene Politik der Drachen.“, kommentierte der Halbwolf. Sein drakonischer Freund lächelte ihn humorlos an und eine Stimme aus der Richtung der Tür fragte: „Was ist ein Beispiel dafür?“
 

Alle Anwesenden drehten sich zur Tür und sahen den gerade wieder gekommenen Molokosh an.

„Die ziemlich wiedersinnige Geschichte darüber, ob du jetzt König werden solltest oder nicht.“, fasste Dakkas das Gespräch kurz und prägnant zusammen. Molokosh verharrte an Ort und Stelle.

„Ja, man hat mir erklärt, mit wem ich die vergangenen Wochen unterwegs war. Es wäre nett gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass die komische Elfe uns nicht auf den Fersen ist, weil sie irgendeinen drakonischen Diplomaten ausschalten soll, sondern weil sie mögliche Anwärter auf den Thron der Ursha’ba erledigen soll. Das hätte zumindest ihre Hartnäckigkeit ganz gut erklärt.“

Dakkas sah Molokosh während dieser kleinen Ansprache an und schmunzelte dann. „Obwohl ich das ganze ziemlich neben der Sache finde. Ihr und euer Klan helft euch da selbst garantiert nicht. Solange euer Klan in sich zerstritten ist, werdet ihr die Engel nie aus eurem Heimatland rauskriegen.“
 

Nicht, dass wirklich welche da wären. Kaum ein Engel war so verrückt und wollte da wohnen. Aber Tribut war Tribut und eine offizielle Provinz des Engelsreiches war eine offizielle Provinz.

Molokoshs plötzlich aufgekommene Wut schien zu verfliegen. Der Drache schloss die Tür hinter sich und lächelte. „Ich hätte auf Daniel hören sollen, als er gesagt hat du wärst zu klug, um dich lange hinters Licht zu führen.“

„Hat er das?“ Dakkas sah Daniel grinsend an. „Danke.“ Der Heiler grummelte verlegen etwas und widmete sich wieder dem Essen.
 

„Dann weißt du jetzt also, warum wir Selena auf gar keinen Fall in die Fänge laufen dürfen.“ Molokosh setzte sich zu den anderen.

„Ja. Aber ich verstehe nicht mehr so wirklich, warum du zugesagt hast mit mir nach Tirin zu kommen. Wirst du nicht in deiner Heimat erwartet oder gebraucht?“
 

„Das ist eine sehr gute Frage.“, stimmte Sar’Shan zu. „Eine, die Jared und ich uns auch schon länger stellen. Unser kleiner grünäugiger Freund hier sagt etwas, und du springst, Molokosh. Du musst zugeben, das ist etwas ungewöhnlich.“
 

Dakkas fiel erst jetzt wirklich auf, wie ungewöhnlich das war. Vielleicht konnte er auch jetzt erst klar genug denken, um die Situation zu erfassen. Je mehr er über sich selbst erfuhr, desto klarer sah er seine Umgebung und die Geschehnisse darin.
 

Drachen waren hierarchische Wesen. Sie hatten klare Ordnungsstrukturen. Es gab Personen, die Befehle gaben und es gab welche, die diesen Befehlen folgten. Molokosh, als Prinz, war eine Autoritätsperson. Man befolgte seine Befehle, man gab ihm keine. Doch Dakkas hatte praktisch genau das gemacht, als er verlangt hatte, nach Tirin zu reisen.

Und der Schwarzhaarige hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Nein, er hatte Dakkas Wunsch sofort in die Tat umgesetzt.
 

Er hatte auch auf Dakkas gehört, als dieser die Abkürzung nach Sellentin vorgeschlagen hatte. Und jetzt wo er drüber nachdachte… Daniel hatte Ärger gekriegt für ihre kleine Exkursion ins brennende Sellentin. Den Halbwolf hatte Molokosh später, wie Dakkas erfahren hatte, auch kurz einer Predigt unterzogen. Nostradamus hatte keinen Ärger bekommen, aber das lag wohl an seinem damaligen Zustand und der Tatsache, dass er Molokoshs Bruder war.
 

Dakkas aber hatte nicht ein böses Wort von der Seite des Schwarzhaarigen gehört. Und jetzt wo er drüber nachdachte, auch noch nie einen richtigen Befehl. Das war doch ein Kontrast zu Molokoshs sonst freundlichem, aber auch eher kühlem Verhalten.

Und warum nur war ihm das vorher nicht aufgefallen? Für einen adligen Drachen verhielt sich Molokosh geradezu gönnerisch ihm gegenüber.
 

Molokosh schien diese Frage nicht antworten zu wollen. Er blickte keinem von ihnen in die Augen und behielt stoisch seine Ruhe.

„Gut. Du musst uns ja nichts sagen.“, erklärte Jared mit einem Grinsen. „Aber dein Jadejunge hat eine Kursänderung im Sinn und dein Bruder hat bereits zugestimmt.“
 

Jadejunge? Dakkas wusste ja, dass Jared gerne Spitznamen vergab, aber Jadejunge erschien ihm doch etwas abwegig… Obwohl Jade ja für die Drachen etwas besonderes zu bedeuten schien. Zumindest maßen sie seinen Augen viel Aufmerksamkeit bei, nur weil sie grün wie Jade waren. Und er vergas doch immer wieder, Daniel oder Jared danach zu fragen. Vielleicht weil ihm insgeheim auch peinlich war, dass er so viel vergessen hatte.
 

„Kursänderung?“, fragte Molokosh verwirrt.

„Wir werden in Kleingaren einen Dogen kontaktieren.“, sprach Nostradamus wieder. „Er ist ein Spitzel für Dakkas und wird uns mit dem Teleporter im Dogen-Gildenhaus nach Tirin bringen.“

„Spitzel?!“ Molokoshs Gesicht ähnelte stark dem von Sar’Shan vor wenigen Augenblicken.

„Nicht schon wieder…“, murmelte indessen der Kleinste ihrer Gruppe. „Ich habe mich an jemanden in Kleingaren erinnert, der mir wohl als… Informant oder sonst was hilft. Ich habe aber keine Ahnung, warum ich so jemanden habe oder brauche. Aber so können wir schnell und relativ sicher nach Tirin kommen. Die Elfe wird niemals daran denken, dass wir so reisen könnten.“
 

Wie genau er den anderen seine Bekannte, Rita die Werwölfin erklären sollte, war ihm ziemlich unklar, aber darüber würde er sich Gedanken machen, wenn es so weit war.

„Und dieser… Informant ist ein Doge?“, wollte Molokosh wissen.

Nostradamus nickte. „Aber wir brauchen uns keine Sorgen machen.“ Die Klarheit wich langsam aus den Augen des Sehers und seine Stimme verlor sich langsam. „Er ist vertrauenswürdig…“
 

Molokosh sah zuerst seinen Bruder und dann Dakkas eine lange Zeit lang an. Dann nickte er. „Gut. Dann reden wir mit deinem Dogen. Aber wir müssen darauf achten, dass man uns nicht mit ihm zusammen sieht. Ein Doge und ein Haufen Wildblütler sieht man nicht oft miteinander.“
 

Sar’Shan und Jared wechselten einen kurzen Blick miteinander und Daniel sah von seinem Herrn zu Dakkas und wieder zurück.

Dakkas nahm das Ganze ohne Kommentar zu Kenntnis. Aber im Stillen sagte er sich, dass er schon noch herauskriegen würde, was es mit Molokoshs Verhalten und den merkwürdigen Blicken der anderen auf sich hatte.
 

~*~
 

Ihre Abreise nach Kleingaren musste verschoben werden. Molokosh war so lange weg gewesen, weil er die Straße durch den Wald entlang gegangen war und überprüft hatte. Durch den Wald verlief nicht nur der kleine Bach in der Nähe ihrer Hütte, sondern auch ein größerer Fluss. Die Straße führte über diesen hinweg.
 

Die Holzbrücke hatte dem Unwetter standgehalten und war auch nicht von umgefallenen Bäumen oder ähnlichem beschädigt worden. Aber sie war nicht sonderlich hoch gebaut worden und alt, da diese Waldstraße kein viel bereister Weg war.

Durch das Unwetter führte der Fluss mehr Wasser mit sich als gewöhnlich und schwappte immer wieder auf die teilweise morsche Holzbrücke, hatte Molokosh erzählt. Sie würden sicherheitshalber warten müssen, bis der Fluss sich wieder etwas beruhigt hatte. Erst dann wollte der Drachenprinz es riskieren, dort drüber zu laufen. Schwimmen stand außer Frage, sagte er. Dazu war der Fluss zu gefährlich.
 

„Der Fluss hat seinen Ursprung weiter nördlich in den Dern Bergen.“, hatte Jared hinzu gefügt. „Wenn da oben irgendetwas passiert, um mehr Schnee schmelzen zu lassen als sonst oder sonst was los ist, hat der Fluss wahrscheinlich auch Hochwasser.“
 

Dakkas konnte sich zwar nicht vorstellen, was in den Dern Bergen passiert sein sollte, sagte das aber nicht laut. Und Schneeschmelze… Dazu müsste es Frühjahr sein, momentan war aber Spätsommer. Eher schon Anfang Herbst, jetzt wo er darüber nachdachte.
 

Stirnrunzelnd saß Dakkas am Fenster der kleinen Hütte und starrte nach draußen. Es war noch erstaunlich warm und mild dafür, dass das Jahr sich bereits wieder dem Winter neigte. Eigentlich hätte es schon längst etwas kühler sein sollen. Er war schließlich schon etliche Wochen mit den Drachen unterwegs und sie reisten gen Norden.
 

„Dakkas!“ Der Grünäugige sah auf, als er Shan nach ihm rufen hörte. Vor gut einer Stunde hatten sie das gegessen, was Daniel zubereitet hatte und er war noch etwas müde vom Verdauen. Ein extravaganter Koch war Daniel nicht, aber erstaunlicherweise waren seine Mahlzeiten immer essbar.
 

„Was ist, Shan?“

Als Antwort reichte der Krieger ihm den Griff eines kurzen Schwertes. „Jared meint, der Fluss braucht mindestens noch ein, zwei Tage, bevor wir gefahrlos über die alte Brücke oder schwimmen können. Da können wir die Zeit auch sinnvoll benutzen.“

Stirnrunzelnd nahm Dakkas den Schwertgriff in seine Hand und umklammerte ihn vorsichtig. Das Schwert war zwar kurz, aber trotzdem um einiges schwerer als der schlanke Dolch, den er immer mit sich führte.

„Und sinnvoll nutzen heißt…?“ Er hatte zwar schon eine gute Ahnung, wollte sie aber von Shan bestätigt haben.
 

„Wir werden uns mal anschauen, was du so kannst. Daniel hat erzählt, du hättest in Kish-Laro einen Engelwächter zu Boden gebracht und beim Angriff von Selenas Leuten hast du gezaubert. Du erinnerst dich also vielleicht nicht mehr, aber du hast wohl mal gelernt, zu kämpfen. Ich werde mir mal anschauen, was du mit einem Schwert hinkriegst und Jared wir schauen, ob er deine Erinnerungen an Magie wieder auffrischen kann.“
 

Das machte wirklich Sinn. Dakkas nickte und schleppte sich samt Schwert hinaus aus der Hütte und zum nahen Bach, wo Jared unbekümmert im noch nassem Gras lag. Eigentlich hätte man ihn von Anfang trainieren müssen, dachte Dakkas zu sich. Er hätte das jedenfalls getan, wenn er an Molokoshs Stelle gewesen wäre.
 

Sar’Shan zeigte ihm zuerst, wie er das Schwert zu halten hatte und in welche Position er seine Füße bringen sollte. Dann stießen sie schon auf das erste Problem: Selbst das kleinste von Shans Schwertern war noch zu groß und zu schwer für den bedeutend kleineren Dakkas. Der Grünäugige konnte es gerade ebenso in eine verteidigende Stellung bringen, aber auch das nur mit beiden Händen und viel Aufwand. Jeder Hieb mit dem Schwert würde praktisch nutzlos sein, da er keine Kraft übrig hatte, mit der er einen Feind hätte verletzen können.
 

„Wie hast du den Engel in Kish-Laro zu Boden gekriegt?“, fragte Shan schließlich, als schmerzhaft klar war, dass ihre Gruppe kein Schwert hatte, dass Dakkas würde benutzen können.
 

Der Grünäugige erinnerte sich. Damals hatte er eher instinktiv als bewusst gehandelt, er hatte nur verhindern wollen, dass der Schwertknauf auf seinem Schädel landete.

„Ich bin ihm ausgewichen und hab ihm die Beine weggerissen.“, meinte er dann zögerlich. „Aber das war Instinkt. Ich habe nicht bewusst drüber nachgedacht, was ich tue.“
 

Der Krieger lehnte seine Schwerter an einen nahen Baum und runzelte seine Stirn. „Instinktiv, obwohl du Amnesie hattest?“ Dakkas nickte.

Der Krieger grummelte etwas zu sich selbst und sprach dann laut weiter: „Wenn jemand instinktiv in einem Kampf reagieren kann, hat er viel Übung hinter sich. Irgendwann sind die Attacken und Kontermethoden so tief im Geist verankert, dass der Körper automatisch handelt. An irgendeinem Punkt in deinem Leben musst du also Nahkampftraining gehabt haben. Bei deiner Größe und Stärke hast du wahrscheinlich einen schnellen, flexiblen Kampfstil trainiert.“

Der Drachenkrieger lächelte humorlos. „Also etwas, wovon ich nicht viel Ahnung habe. Alle meine Kampfstile beruhen auf meiner Körperstärke und Ausdauer.“
 

„Nach dem Motto: Der letzte, der noch steht hat gewonnen?“, schmunzelte Dakkas. Shan nickte lächelnd und fuhr dann fort: „In einem Kampf würdest du wahrscheinlich wieder instinktiv handeln. Das Gelernte ist ja noch da. Wir könnten versuchen, dich zum Handeln zu zwingen, indem ich dich angreife. Vielleicht erkenne ich den Kampfstil ja doch von irgendwo her.“
 

Jared, der die beiden bis jetzt nur beobachtet hatte, meldete sich an dieser Stelle. „Ist das klug? Wenn Dak sich nicht dran erinnert stampfst du ihn doch nieder.“ Auf den bösen Blick des Grünäugigen hin fügte der Halbwolf besänftigend hinzu: „Ich meine, Shan ist ein gutes Stück größer als du, Dak. Wenn er ernst macht – und das wird er müssen, wenn er deinen Instinkt einschalten soll – dann haut er einmal zu und du gehst zu Boden.“
 

Da hatte der Werwolf allerdings recht. Auch ohne jegliche Waffen war der Drache Dakkas doch haushoch überlegen. „Was schlägst du dann vor?“, wollte der Schwarzhaarige von Jared wissen.

„Du hast dich an deinen Dogen erinnert, oder?“

Zögerlich nickte Dakkas. Streng genommen war das zwar nicht der Fall, aber die Wahrheit würden sie ihm nie glauben.

„Dann versuch, dich an Kampftechniken zu erinnern und greif Shan an. Auch wenn er nur still dasteht wird er wahrscheinlich noch alles abwehren können, an dass du dich erinnerst.“ Jared grinste und zeigte dabei seine Zähne. „Nichts gegen dich, aber Shan kann wahrscheinlich etwas mehr als du.“
 

Dakkas wiedersprach ihm nicht – das war sehr wahrscheinlich richtig. Und da Sar’Shan sein Einverständnis bekundete, hatten sie auch kein Problem mehr. Abgesehen von Dakkas löchrigem Gedächtnis.
 

Einige Zeit lang standen der Drache und der Schwarzhaarige sich nur still gegenüber, während Dakkas sein Gedächtnis nach allem durchforstete, dass man ‚Kampftechnik’ nennen konnte. Er erinnerte sich an einige Bücher über alte, magische Waffen, die er mal gelesen hatte und, dass er mal an einem Trainingsfort der Engel vorbei gekommen war. Beides brachte ihn nicht wirklich weiter.
 

Überhaupt, was sollte er schon gegen einen Gegner wie Sar’Shan ausrichten? Er ging dem Drachen ja gerade mal bis zur Brust. Ein Angriff auf den Kopf war damit ausgeschlossen.

Wenn er irgendeine Chance haben wollte, musste er den Hünen zuerst zu Fall bringen, damit er auch an alle wichtigen Körperteile heran kam. Ansonsten waren nur drei tödliche Stellen in seiner Reichweite.
 

Ein Dolchstoß in den Bauch würde auch einen Drachen erledigen. Es würde dauern, aber Bauchwunden hinterließen viel Schaden und führten unbehandelt schnell zum Tod durch Verbluten. Ebenso gab es eine große Blutader im Oberschenkel, wenn man die traf verblutete das Opfer innerhalb von Minuten. Als drittes könnte er natürlich Shans ‚bestes Stück’ anvisieren… aber das würde Jared ihm sicherlich übel nehmen.
 

Dakkas durchging ein Ruck und er zuckte sichtbar. „Was ist?“, fragte Jared auch schon besorgt. Der etwas bleichgewordene Dakkas schluckte. Zusammen mit seinen Erinnerungs-Träumen der vergangenen Nacht und dieser kühlen Auflistung von tödlichen Stellen hatte er ein sehr bestimmtes Bild von seinem Kampfstil bekommen. Zusammen mit einigen kurzen, detaillierten Bildern von dem, was wahrscheinlich frühere Opfer waren.

Entweder das, oder er hatte früher einige sehr komische Orte aufgesucht. Obwohl, da Beauron sein Bekannter war, war letzteres wohl eher der Fall.
 

„Ich glaub mir wird schlecht.“

Besorgt sprang Jared auf und führte den fast schon weißen und zittrigen Schwarzhaarigen zum Bach, wo er sich vorsichtig das Gesicht mit Wasser benetzte.
 

Er ignorierte die nervösen Fragen seiner beiden Reisegefährten und Freunde. Irgendwann schließlich schüttelte er nur seinen Kopf. „Ich weiß jetzt zwei Dinge. Erstens ist direkter Angriff so absolut nicht mein Ding und zweitens habe ich weitaus mehr Leichen gesehen als ich möchte.“
 

Seine beiden Freunde schwiegen und wechselten einen besorgten Blick. Sie fragten nicht weiter nach seinem Leichen Kommentar, was Dakkas freute. Als Grauzonler kannten sie wahrscheinlich genügend Leute, die blutige Taten hatten mit ansehen müssen, ohne es zu wollen.
 

„Direkter Angriff?“, hakte Sar’Shan dann irgendwann nach.

„Ich glaube, meine bevorzugte Kampfmethode war ‚Lock sie an, versteck dich und bring sie um bevor sie zurück hauen können’.“

Die Art, wie er das sagte ließ Dakkas vermuten, dass er dieses Sätzchen nicht zum ersten Mal aufgesagt hatte. Wie von weit her konnte er sich selbst sprechen hören.
 

--„Ich handele nach dem Motto ‚TTV’. ‚Täuschen, Tarnen und Verpissen’.“

„Das hört sich aber nicht sehr nett an.“

„Es soll nicht nett sein, sondern effektiv.“--
 

Neben ihm spannte Shan sich an und grollte kaum merklich. „Das sollten wir Molokosh und Daniel vielleicht nicht erzählen.“, meinte der Drache schließlich. Fragend sah Dakkas auf.

„Die meisten Drachen haben etwas gegen Angriffe aus dem Hinterhalt.“, erklärte Jared schnell. „Also, damit ist kein Überraschungsangriff gemeint, sondern das Auflauern auf eine Person; Jemanden umzubringen ohne ihn überhaupt erkennen zu lassen, wer ihn getötet hat.“

„Es verstößt gegen unseren Ehrenkodex.“, bestätigte Shan die Worte seines Freundes. Fügte aber hinzu: „Aber von mir brauchst du keine Kritik zu erwarten. Ich weiß, dass nicht jeder die nötige Kraft oder Fähigkeit hat, um einen Feind im offenen Kampf zu bezwingen.“ Der Drache lächelte sanft. „Hätte mir eigentlich klar sein sollen.“
 

Dakkas sah hinab in den langsam dahin fließenden Bach und schluckte schwer. Etwas sagte ihm, dass er eigentlich hätte wissen müssen, was gegen den Ehrenkodex der Drachen verstößt. Die Drachen richteten ihr ganzes Leben nach ihrer Ehre und somit diesem Kodex aus.
 

Molokosh hatte ihn schon jemanden hinterrücks ermorden sehen. Die Drakharuda damals bei Halmsdorf und ihr Begleiter. Und der schwarzhaarige Drache hatte den anderen nicht erzählt, wie genau Dakkas es geschafft hatte, die weitaus stärkere Frau zu besiegen. Damals hatte Dakkas sich darüber nur ein bisschen gewundert, aber jetzt…
 

Der Drache hatte ihn gedeckt und verhindert, dass die anderen Drachen ihrer Gruppe ihn als ‚unehrenhaft’ ansahen. Auch wenn das bei Sar’Shan wohl unnütz gewesen war.

Molokosh hatte seine ‚Ehre’ retten wollen, obwohl diese nach drakonischem Brauch beschmutzt war. Eine große Tat für einen Drachen. Und vollkommen unverständlich.
 

„Und Molokosh würde niemals über den Kodex hinweg sehen?“ Dakkas bekam erst mit, dass er diese Frage gestellt hatte, als Jared und Sar’Shan anfingen zu lachen.

„Nichts für ungut, Dak. Koshi hat dir ja geholfen, aber er ist ein…“ Jared schien nach einem passenden Wort zu suchen. Shan schüttelte darüber nur den Kopf. „Er ist ein verklemmter, prüder Drache der nur auf seinen Regeln herum reitet. Auch wenn die manchmal nicht sehr nützlich oder sinnvoll sind.“
 

Dakkas blickte wieder hinunter in den Bach. Vielleicht sprachen sie ja von zwei verschiedenen Molokoshs. Obwohl, das bezweifelte er doch eigentlich stark. Nein, Jared und Shan waren überzeugt von dem, was sie da sagten. Dann war die Frage also, warum Molokosh sich Dakkas gegenüber so anders benahm.
 

~*~
 

Jared hatte große Hoffnung darauf, dass Dakkas sich an seine Zauberfähigkeiten erinnern würde. Der Halbwolf schien davon überzeugt zu sein, dass er dem Grünäugigen helfen könnte, wenigstens ein wenig Kontrolle über seine Zauberkraft zurück zu kriegen.
 

„Als aller erstes,“ erklärte der Zauberer, „müssen wir rauskriegen, was du bist.“

Dakkas lächelte grimmig. „Das versuche ich jetzt seit etlichen Wochen.“

Der Werwolf schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ich meine, wie du zaubern kannst. Komm schon, du erinnerst dich an die komischsten Dinge. Du musst dich doch daran erinnern wie man zaubert, oder?“
 

Dakkas runzelte seine Stirn. Ja, da war doch etwas gewesen…

… Es gab Zauberer, Hexer und Magier. Und der Unterschied zwischen ihnen lag nicht nur in ihrem Namen.
 

Jared war ein Zauberer. Dakkas musterte den wie immer fröhlich aussehenden Halbwolf. Ein Zauberer benutzte die Magie um sich herum um zu zaubern. Er sog sie sozusagen in sich hinein, gab ihr ein Ziel und ließ sie wieder frei.

Der Halbwolf mochte augenscheinlich die Natur, obwohl er Städte nicht hasste. Er schien daran gewöhnt zu sein, das beste aus seiner Lage und seiner Umgebung zu machen. Viele Zauberer waren so. Schon beim Zaubern gewöhnten sie sich daran, die Kräfte ihrer Umgebung zu erkennen und zu nutzen.
 

„Ich bin kein Zauberer.“, sprudelte es aus Dakkas heraus. Jared nickte nur und deutete ihm an, weiter nachzudenken. Das war schwer, weil wieder diese dämlichen Kopfschmerzen sich in seinem Kopf breit machten. Es pochte hinter seiner Schläfe, aber Dakkas ignorierte das.
 

Hexer. Hexer und Hexen konnten nicht die Magie ihrer Umgebung benutzen. Stattdessen konnten sie eine Art Magievorrat in sich selbst anzapfen. Sie waren oft ungestüm, da ihre Kraft von nichts außer ihnen selbst abhing. Und Einzelgänger. Strikt genommen brauchten sie keine Hilfe bei ihrem Handwerk.
 

Außerdem waren sie meist nervig. Dieser Gedanke ließ Dakkas grinsen. Ein Hexer war er also wahrscheinlich auch nicht, es sei denn, er nannte sich selber nervig. Dann blieb nur noch Magier übrig…
 

Der Grünäugige blinzelte und sah weg von Jareds erwartungsvollem Gesicht.

Magier konnten beides. Ihre innere Energie benutzen und die ihrer Umgebung. Allein das machte sie gefährlicher als Hexer und Zauberer. Und weitaus seltener. Es gab nur sehr wenige Wesen, egal von welchem Volk, die mit beiden Gaben geboren wurden.

Irgendwie konnte er nicht ganz glauben, dass er einer dieser mächtigen Magieanwender sein sollte.
 

„Dak?“

„Ich bin mir absolut sicher, dass ich weder ein Hexer noch ein Zauberer bin. Aber als Magier sehe ich mich auch nicht wirklich.“, murmelte der Grünäugige vorsichtig.

Sein Halbwolf-Freund runzelte seine Stirn. „Es wäre zumindest ein verdammt großer Zufall, wenn du einer wärst. Molokosh reist quer durchs Ödland, trifft einen armen, an Gedächtnisschwund leidenden jungen Mann, der sich dann zufälligerweise als Magier entpuppt… Unwahrscheinlich.“

Dakkas nickte bestätigend. „Und obwohl wir schon eine ganze Menge von komischen Dingen über mich wissen, wäre das einfach zu viel des Guten. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Absolut.“ Der Werwolf nickte. „Außerdem bleibt uns noch eine Möglichkeit.“
 

Dakkas zog eine Augenbraue hoch. „Und welche bitte? Es gibt nur die drei Arten von Zauberei.“

Jared seufzte und bekam einen komischen Gesichtsausdruck. „Nicht ganz. Deine Zauberkraft könnte dir auch von einem Gott geschenkt worden sein.“
 

Dakkas stockte.

Daran hatte er gar nicht. Jeder Gott war in der Lage, seinen Anhängern gewisse magische Kräfte zu gewähren.

„Ein Gott?! Ich weiß ja nicht mal, ob ich zu irgendeinem gebetet habe, geschweige denn, ob einer von ihnen mich so mochte, dass er mich…“ Dakkas brach ab und beendete diesen Satz nicht.

Jared nickte und sprach davon, dass sie das wohl nicht so schnell herausbekommen würden, es aber eine Möglichkeit wäre.
 

Den Rest von dem, was der Werwolf erzählte, hörte Dakkas nicht mehr.

Er erinnerte sich zwar nicht ans Beten, aber es gab einen Gott der ihn sehr zu mögen schien, ständig besuchte – und durch dessen ‚Hilfe’ er damals beim Überfall gezaubert hatte.
 

‚Seine’ magischen Fähigkeiten konnten sehr wohl von Beauron kommen und nichts mit ihm selbst zu tun haben.
 

~*~
 

„Morgen früh werden wir sicher über den Fluss können.“, verkündete Molokosh früh am nächsten Morgen. Seine Mitreisenden seufzten erleichtert auf. Je länger sie an einem Ort verharrten, desto nervöser wurden sie. Auch wenn sie Selena scheinbar abgehängt hatten, blieb die Bedrohung durch sie doch ständig im Hinterkopf.
 

Außerdem war es fürchterlich langweilig, in einer alten Hütte in einem Wald zu sitzen. Auch Jareds Kartenspiel brachte nicht sehr viel Vergnügen, zwei Karten fehlten und die Hälfte von ihnen war einmal so verzaubert worden, dass sie zufällig ihr Aussehen veränderten. Auf die Frage hin, warum er die Karten nicht weggeschmissen hätte, meinte Jared: „Sie waren mein erster Versuch an verwandelnder Magie. Da ist sentimentaler Wert dabei!“

Daniel tat kund, dass er es eher senil als sentimental finden würde und so wurde das Kartenspiel zur Bewahrung des Friedens wieder weggesteckt.
 

Dakkas saß wieder am Fenster und war in Gedanken versunken. Trotzdem sie nicht wussten, woher seine magischen Kräfte kamen, hatte Jared darauf bestanden zu üben. Schließlich, so der Werwolf, war es egal, warum er sie hatte. Wichtig war nur, dass er sie hatte.
 

Leider waren sie noch nicht sehr weit gekommen. Dakkas hatte sich schnell an die Theorie des Zauberns erinnert – die Gesten, die Zauberformeln, die Dinge, die man lieber sein lassen sollte…

Nur schien er nicht in der Lage, seinen Handbewegungen und magischen Worten irgendeine Wirkung einzuflößen.
 

Sar’Shan hatte schon scherzhaft gefragt, ob sein Freund aus Dakkas einen Magieanwender oder einen Straßenkünstler machen wollte. Das stumme oder mit halblauten Worten begleitete Herumgefuchtel erinnerte den Krieger an Pantomime und andere Künstler, die er bei seinen Reisen gesehen hatte.

Verständlicherweise verlor Dakkas so langsam die Lust am Üben; gleichzeitig wollte er es aber jetzt erst recht. Deswegen starrte er auch jetzt mal wieder missmutig aus diesem kleinen Fenster und ging erneut die Theorie hinter dem ganzen durch.
 

Jared war vor kurzem mit Sar’Shan an der Hand in den Wald verschwunden, mit den Worten, dass sie ‚etwas weiter weg’ sein würden. Man musste kein Genie sein um sich denken zu können, was der Halbwolf mit seinem Freund vor hatte.

Molokosh hatte nur seine Augenbrauen hochgezogen, sich aufs Sofa gesetzt und angefangen ihre Reisekarte zu studieren. Daniel war ebenfalls in den Wald verschwunden, jedoch in andere Richtung als Jared und Shan, um zu sehen , ob er irgendwelche brauchbaren Heilkräuter finden konnte.
 

Das ließ Dakkas alleine mit den beiden adligen Drachen in der Hütte. Da keiner von beiden im Moment reden wollte, war das eine stille Angelegenheit. Außerdem wurde es langsam öde, immer das gleiche durch das Fenster zu sehen. „Ich gehe zum Bach.“, verkündete Dakkas und verließ daher die Hütte. Wenn er schon etwas anstarren musste, konnte er wenigstens das Angestarrte hin und wieder wechseln.
 

Der Bach war schnell erreicht. Da er Jared und Shan weder hören noch sehen konnte, mussten sie wirklich weiter weg von der Hütte sein.

Seufzend kniete er sich an den Bach und fuhr mit einem Finger durch das kühle Wasser. Sein Leben konnte auch nicht einfach sein. Nein, gerade er musste Gedächtnisschwund bekommen, ausgerechnet an die Drachen geraten, die von Meuchelmördern quer durchs Land gejagt wurden und zu alledem auch noch mehr Götter in sich interessiert haben als gut für eine Person war.
 

Das Schlimme war, er war sich ziemlich sicher, dass sein Leben vor der Amnesie genauso kompliziert gewesen war. Wenn nicht sogar noch komplizierter.
 

Ein Knacken ertönte hinter ihm und wie von selbst spannte sein gesamter Körper sich an. Er verharrte in seiner knienden Position und lauschte in den Wald hinein.

Neben den normalen Lauten eines Waldes vernahm er auch Rascheln, das Knacken von Zweigen und das Geräusch von schweren, gemächlichen Schritten. Sie kamen aus der Richtung der Hütte, was einen Großteil der Anspannung wieder aus Dakkas Körper entfliehen ließ.
 

Ein Blick ins Gebüsch zeigte dann auch Nostradamus, der sich langsamen Schrittes auf den Bach und den Grünäugigen hinzu bewegte. Erst damit entspannte Dakkas sich wieder gänzlich. Der Seher füllte seinen Wasserschlauch am Fluss und ging dann neben dem Grünäugigen in einen Schneidersitz.
 

Die Augen des Grauhaarigen waren klar. Dakkas setzte sich ebenfalls und wartete, bis Nostradamus endlich sprach. „Jared hatte noch keinen Erfolg, oder?“

Fragend sah Dakkas den Drachen an. „Bei der Magie, meine ich.“, fügte Nostradamus hinzu.

Dakkas nickte bestätigend. „Stimmt.“ Er lächelte humorlos. „Obwohl Shan der Meinung ist, dass ich ein guter Straßenkomödiant wäre.“
 

Nostradamus schnaubte amüsiert und schüttelte dann seinen Kopf. „Vielleicht hat er nur den falschen Ansatz. Es gibt unzählige Arten, wie man Magie erlernen kann.“

„Ich erinnere mich an die Theorie.“, gab Dakkas als Antwort. Ein wenig Pikiertheit schwang in seiner Stimme mit, schließlich war er nicht dumm und Nostradamus erzählte nichts Neues.
 

Der Seher grinste. „So meinte ich das nicht. Jared sagte, dein Problem liegt beim Nutzen der magischen Energien.“ Dakkas nickte. „Dann nutzt du sie vielleicht falsch.“

Der Schwarzhaarige rollte mit den Augen. „Ich sage die Formel, vollführe die dazu gehörige Geste und konzentriere mich auf das Ziel, dass ich der Magie geben will. Wie sonst soll man zaubern?“

„So wie ich.“, war Nostradamus mysteriöse Antwort.
 

Dakkas blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

„Ich kann nicht alles in deiner Vergangenheit sehen, im Gegenteil. Du hast viel Zeit bei starken, mächtigen Wesen verbracht. Etwas an dir… verschwimmt immer wieder, als wenn ich eine Brille bräuchte.“ Der Drache seufzte. „Aber ich habe mir alles noch einmal angeschaut, dass ich sehen kann. Du hast früher gezaubert, sehr gut sogar. Wirkungsvoll. Fast beeindruckend.“ Er lächelte.
 

Dakkas Herz pochte und freudige Erwartung schoss durch seine Blutbahn. Nostradamus Komplimente ließen ihn fast rot werden. Es war schmeichelnd, wie viel Vertrauen der Drache in seine magischen Fähigkeiten setzte. Und aufregend, vielleicht war ja etwas dran an dem, was er sagte.
 

„Na schön. Was sagt das ganze über meine Art zu zaubern aus?“

„Du zauberst zu effektiv, um der Magie einfach deinen Willen aufzuzwingen. So funktioniert das nicht.“

Wieder war Dakkas verwirrt und sah den Seher nur fragend an. Dieser seufzte und rieb sich die Schläfe.

„Pass auf. Vergleichen wir die Magie mal mit einem langsam dahin fließendem Fluss, ja?“

Dakkas nickte.

„Dein Feld liegt ganz in der Nähe und muss bewässert werden. Was tust du?“

Dakkas runzelte seine Stirn. „Ich trage Wasser vom Fluss zum Feld.“

Nostradamus schmunzelte. „Ja, das würde gehen. Das wäre die Methode des Zauberlehrlings: Wir haben magische Energie und bringen diese mühselig und Stückchen für Stückchen dazu, das zu tun was wir wollen. Aber es gibt noch bessere Methoden.“
 

Dakkas legte seinen Kopf schief und dachte angestrengt nach. Das ganze Gespräch erinnerte ihn an etwas; Unterricht. Nostradamus versuchte ehrlich, ihm etwas zu lehren.

„Man könnte eine Wasserleitung vom Fluss zum Feld bauen und so die Bewässerung regeln.“, meinte er dann zögerlich.

Nostradamus lächelte sanft. „Das macht der trainierte Zauberer, Magier oder Hexer. Er leitet die Magie in die Bahnen, die er haben will. Aber jetzt denk drüber nach, was könnte noch effektiver sein und noch bessere Ergebnisse bringen?“
 

Jetzt war der Schwarzhaarige überfragt. Noch effektiver als das… Da konnte er sich wirklich nichts mehr vorstellen. Achselzuckend sah er den Seher ihm gegenüber an. Der grinste. „Indem man den Fluss verlegt.“

Dakkas runzelte seine Stirn. Bezogen auf den Fluss als Metapher für Magie würde das bedeuten… „Die magische Energie selbst verändern?!“

Der Seher nickte zufrieden. „Anstatt einen Teil von ihr zu borgen, lenkt man sie einfach komplett um. Oder… gibt ihr einen Schubs-“

„- in die richtige Richtung.“, schloss Dakkas den Satz ab und blinzelte dann. „Warum kommt mir das so bekannt vor?“
 

Nostradamus grinste verstohlen. „Wahrscheinlich, weil das dein Einstiegsseminar für höhere beeinflussende Magie war. Oder zumindest ein Teil davon.“ Sprachlos starrte Dakkas den Seher an. Der meinte nur mit einem Zucken: „Ich dachte mir, wenn du Studenten das erklären konntest, musst du’s selbst auch verstehen.“

„Ich bin ein Professor.“, formulierte Dakkas langsam und vorsichtig.

„Du warst einer. Gastprofessor. Ziemlich beliebt sogar.“

„Dann sollte man meinen, dass ich beherrsche was ich unterrichte, hu?“
 

Nostradamus lächelte. „Sollte man.“

„Dummerweise erinnere ich mich nicht mehr daran, wie man schubst.“, murrte der Grünäugige frustriert und blickte wieder hinab in den Bach.

Der Seher schwieg und als Dakkas kurz zu ihm sah, schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Nach einigen Augenblicken voller Stille sprach er wieder: „Also gut. Wir probieren jetzt etwas.“

„Probieren?“

Nostradamus grinste. „Die letzte Zuflucht des Ungebildeten oder Verzweifelten: Solange versuchen, bis etwas klappt.“
 

Dakkas schmunzelte und schüttelte amüsiert seinen Kopf. „Na dann los.“

„Schau einfach in den Bach und hör mir zu.“, orderte der Seher.

Dakkas tat wie ihm geheißen und spitzte seine Ohren.
 

„Bevor du die Magie schubsen kannst, musst du sie ja erst mal erkennen. Magie ist überall in Kvi’sta, auch wenn die meisten sie nicht benutzen können oder ihrer gewahr sind. Aber da ist sie trotzdem.

Sie durchflutet alles, bis hin zum letzten Kieselstein in diesem Bach. Sie hört nie und nirgends auf und fängt auch nirgends an.“
 

Die Stimme des Drachen wurde immer tiefer und sanfter und hatte eine fesselnde Wirkung auf den Grünäugigen. Fast war ihm so, als könne er die bunten Stränge der Magie wirklich sehen.
 

„An einigen Orten der Welt sammelt sie sich, so dass selbst normale Wesen sie spüren können. Diese Orte zittern nur geradezu vor Magie. Du kennst das Gefühl, das Zittern. Es kribbelt auf deiner Haut oder legt sich wie ein Schleier, ein Tuch über dich drüber.“
 

Ja, Dakkas kannte diesen Schleier, tief in sich selbst. Der Bach verschwamm vor seinen Augen.
 

„Auch jetzt umgibt uns Magie und taucht unsere Umgebung in ein sanftes Leuchten, wenn man nur seine Augen öffnet und genau hinsieht. Du kannst das, da bin ich mir sicher. Denk nicht drüber nach, spür einfach die magischen Stränge, die auch durch dich hindurch laufen. Sie sind stark, sie sind mächtig. Sie verbinden dich mit deiner Umgebung, mit diesem Bach.“
 

So viele Farben. Die Welt schwamm in ihnen, eine bunte Ansammlung von durcheinander gewürfeltem Leuchten und Glitzern. Es war wie ein zweiter Strom im Bach; ein gemächlich aber stet dahin fließendes Farbenspiel.
 

Fasziniert tunkte Dakkas seine eisblau leuchtende und von Schatten umgebende Hand in das farbig leuchtende Wasser und sah zu, wie die Tropfen auf seiner Haut funkelten, glitzerten und die Farben sich langsam mit denen seiner Hand vermischten. Aus dem bunten Wirrwarr traten einzelne Blau-, Rot- und Gelb-Töne hervor und hoben sich so von der Umgebung ab.
 

Nostradamus Stimme hörte er nicht mehr. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt der bunten, sich bewegenden Welt um ihn herum.

Plötzlich trat eine rötlich glühende Hand in sein Sichtfeld und das Farbenfunkeln der Tropfen veränderte sich erneut, als die Hand die seine umschloss.

Verwundert starrend drehte Dakkas seinen Kopf und blickte die rötlich glitzernde Gestalt neben ihm an. Nostradamus.
 

Sein Körper glühte von innen heraus, die Brust am stärksten. Aber da war noch mehr als nur das roten Glühen. Nostradamus war umgeben von dünnen, schimmernden Fäden in dunklen Grün- und Blau-Tönen. Und seine Augen… sie schienen von innen heraus golden zu leuchten.
 

Nostradamus Mund bewegte sich, was ein grotesk-faszinierendes Bild voller Farbexplosionen und Wellen entstehen ließ, aber Dakkas hörte kein Wort von dem, was er sagte. Dann steigerte sich auf einmal das Leuchten in den Augen des Sehers und plötzlich war es so, als hätte der Drache einen zweiten, goldenen Körper bekommen, der unmittelbar neben seinem alten stand.
 

Der goldene Nostradamus runzelte seine Stirn und berührte Dakkas bläulich-schimmernde, von Schatten umspielte Hand. Augenblicklich ging ein Zucken durch den Schwarzhaarigen und die Schatten um seine Hand verdichteten sich, so dass das eisblaue Leuchten fast ganz erstarb. Der goldene Nostradamus runzelte seine Stirn und zog seine Hand zögerlich zurück.
 

Er sah zur Seite und plötzlich schien der goldene Körper des Sehers wieder von seinen Augen aufgesogen zu werden. Dakkas sah in die Richtung, in die der Drache geschaut hatte und sah eine rot-schimmernde Figur durch den bunt flimmernden Wald kommen.

Wie auch Nostradamus schimmerte, blinkte und leuchtete diese Person rötlich und wie Nostradamus umgaben sie noch kleinere, dunkelblaue Fäden. Diese waren jedoch dünner als beim Drachen und wirkten nicht so robust. Das goldene Leuchten in den Augen war ebenfalls nicht da.

Es war Molokosh.
 

Die beiden Brüder unterhielten sich kurz, bis Molokosh kehrt machte und wieder zur Hütte zurück lief. In diesem Augenblick ging Dakkas auf, dass er gerade genau wie in seinem Traum die Welt mit anderen Augen betrachtete.

Er konnte Magie sehen.
 

Zusammen mit dieser Erkenntnis brach seine Konzentration auf die bunten Farben und Formen zusammen und seine Sicht wurde abrupt wieder normal. Blinzelt sah Dakkas wieder zu Nostradamus, der jetzt wieder ohne Leuchten, goldene Augen oder Fäden vor ihm stand.
 

Der Seher begutachtete den kleineren, starr vor Schock dasitzenden Schwarzhaarigen. „Das war gut. Jetzt wissen wir wenigstens, was du warst, bevor du unbedingt einen Berg auf dich drauf fallen lassen musstest.“

„Bitte was?“, brachte Dakkas entgeistert hervor.
 

„Du warst gerade komplett unsichtbar. Ich habe Molokosh gesagt, dass du etwas tiefer in den Wald gegangen bist.“

Unsichtbar? Das mussten die Schatten um ihn herum gewesen sein, schlussfolgerte Dakkas freudig. Er konnte sich unsichtbar machen, wenn auch noch nicht bewusst gesteuert. Das konnte ihm das Leben retten, wenn er es richtig anwandte. Das war eine verdammt nützliche Fähigkeit.

„Und das sagt etwas darüber aus, was ich war?“
 

Der grauhaarige Drache schmunzelte. „Wenn man bedenkt, dass du selbst mit meiner Sicht nur schwach zu erkennen warst und direkt vor mir sitzt, würde ich mal sagen du bist ein ziemlich mächtiger Illusionist.“ Der Seher schien diese Aussage zu überdenken und nickte dann. „Ein sehr guter Täuschungsmagier.“
 

Die Worte hörten sich richtig an, dachte der Grünäugige bei sich und atmete einmal tief aus.

Er fühlte sich auf einmal so erleichtert, als wenn eine große Last von ihm gefallen war.

Er war ein Magier. Er konnte Magie sehen. Er war ein Illusionist. Daher kamen wahrscheinlich auch die blauen Augen in seinen Erinnerungsträumen. Eine Tarnung, damit man ihn nicht so schnell wieder erkannte. Seine grünen Augen waren schließlich sehr markant.
 

Zusammen mit der Freude über all diese Erklärungen und Antworten kam aber auch eine plötzliche, tiefe Enttäuschung.
 

Er war ein Illusionist.

Ein Illusionist war so ziemlich das genaue Gegenteil des Kodex der Drachen. Die meisten verachteten Täuschungszauberer jeder Art. Sie galten als unehrlich, betrügerisch und nicht vertrauenswürdig. Viele andere Wesen aus den anderen Völkern dachten genauso. Wie konnte man schließlich jemandem vertrauen der dich mit einer Handbewegung und drei Worten glauben lassen konnte, du wärst im luxuriösesten Palast Kvi’stas?
 

Molokosh durfte das unter keinen Umständen erfahren.

Als Dakkas Nostradamus ansah, schien der Seher das gleiche zu denken. „Vergessen wir einfach, das meinem Bruder gegenüber zu erwähnen, ja?“ Dakkas war vollkommen seiner Meinung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2007-10-13T21:58:50+00:00 13.10.2007 23:58
wow!
das ist eine der geilsten geschichten überhaupt!
ich muss naerrchen definitiv zustimmen: du solltest das an einen buchverlag schicken!
ich mag dakkas^^ besonders den namen...und überhaupt mag ich alle hauptpersonen!
und die geschichte und alles^^

ich hoffe dass du die zeit findest um bald weiter zu schreiben^^

ciao^^
Von:  Siiri
2007-09-26T12:06:05+00:00 26.09.2007 14:06
Achtung, ultimative Lobeshymne:
Das ist die beste Fanfiction, die ich je irgendwo gelesen habe. Fanficiton kann man das ja eigentlich schon gar nicht mehr nennen. Du hast irre Talent. Ich liebe deinen Stil, deine Wortwahl, wie du deine Geschichte und deine Charaktere aufbaust.
Ich hab bei vielen FFs irgendwan zwischen drin das Gefühl "Hey, dieser Satz passt doch überhaupt nicht dazu". Sowas passiert mir bei dir nie.
Du schreibst so strukturiert, alles entwickelt sich sinnvoll und logisch aus dem anderen und bleibt dabei immer spannend.
Deine Charas sind nicht standart oder klischee Charas. Es macht Spaß mitzulesen und zu merken wie sich der Charakter entwickelt oder die Sichtweise sich verändert. Nicht nur Dakkas, von dem man ja so langsam und super spannend erfährt, wer er eigentlich ist.
Mein persönlicher Liebling in diesem Sinne ist Nostradamus. Erst dachte ich er sein einfach nur alt und zerknischt, dann dachte ich er sei eine verwöhnte kleine Göre und jetzt ist er auf einmal doch der ältere Bruder und da man etwas mehr von seiner Art und seinen Motiven erfährt find ich ihn richtig toll!
Ich finde es auch total süß wie du die Beziehung zwischen Beauron und Dakkas beschreibst. Beauron mit all seiner Kraft und Stärke, aber auch seine Verzweiflung, der sich an seinen großen Bruder (sofern ich das richtig verstanden habe) klammert und Dakkas, der alles tun würde um den kleinen zu beschützen. Die Konstellation ist einfach total niedlich!
Ich hoffe innigst auf eine Fortsetzung!
Ich bin tooootal neugierig!
MFG Yasha
Von:  Egnirys
2007-08-29T18:09:55+00:00 29.08.2007 20:09
*_*
wow~~~!!
das ist wahnsinn! <3
schreib doch bitte bald weiter!
Von: abgemeldet
2007-08-22T20:17:04+00:00 22.08.2007 22:17
mhnmmmm!!! oh mein gott! oh wie geil!! waiii! das war einer der besten teile bisher! einfach nur genial geschrieben! das warten hat sich richtig gelohnt, wenn dann so ein hammerteil kommt^^ und endlich erfahren wir etwas mehr über unseren kleinen grünäugigen =3
ich kanns jetzt schon kaum aushalten bis zum nächsten teil!

Die story musst du als buch rausbringen! die hat so megapotential!!!! *freu* *knuddel*


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