Erkaltet
Mein Wecker klingelt.
Heute stehe ich früh auf.
Es ist schon hell.
Die Sonne scheint.
Vögel zwitschern.
Sie klingen fröhlich.
Ich ziehe mich an.
Kämme mir die Haare.
Schaue in den Spiegel.
Finde mich in Ordnung.
Auch wenn ich nicht schön bin.
Ich gehe in die Küche.
Esse mein Frühstück.
Eine Scheibe Toastbrot.
Kaffee trinke ich auch.
Ich weiß, dass er nicht gesund ist.
Irgendwann bin ich fertig.
Dann suche ich meinen Schlüssel.
Bis ich ihn gefunden habe.
Einen kurzen Moment ärgere ich mich.
Weil ich so unordentlich bin.
Ich nehme meinen Rucksack.
Und verlasse das Haus.
Auf den Straßen ist es voll.
Menschen gehen an mir vorbei.
Sie merken nicht, dass ich da bin.
Die Schule taucht vor mir auf.
Ich laufe die leeren Gänge entlang.
Wie immer bin ich der letzte.
Sie gucken mich alle an.
Vor der Klasse zu stehen ist schlimm.
Immer fühle ich mich nackt.
Bloßgestellt setze ich mich.
Meinen Kopf verstecke ich hinter einem Buch.
Links von mir sitzt er.
Braune Haare und blaue Augen.
Ich liebe seine eisblauen Augen!
Doch weiß er es nicht.
Jeden Tag ärgert er mich.
Und ich ihn, auch wenn ich es nicht will.
In den Pausen gehe ich auf den Hof.
Die hinterste Ecke ist meine.
Irgendwann sind die Stunden zu Ende.
Und ich stehe am Tor.
Ich werde ihm sagen, dass ich ihn liebe.
Auch wenn er lachen wird.
Dann ist es wenigstens raus.
Jahrelang trage ich diese Last schon mit mir rum.
Sie vernebelt meine Gedanken.
Ich sehe wie er kommt.
Er raubt mir fast den Atem, so schön ist er.
In diesem Moment weiß ich es.
Ich traue mich nicht.
Senke meinen Kopf.
Er geht an mir vorbei.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Deprimiert komme ich zu Hause an.
Niemand ist da.
Meine Eltern sind vor langer Zeit gestorben.
Hausaufgaben vertreiben mir den Nachmittag.
Abends nehme ich meine Tabletten.
Sie helfen mir einzuschlafen.
Damit meine Gedanken mich nicht länger quälen.
Ich träume von ihm.
Er lacht mich an.
Nimmt mich in seine Arme.
Und wir sind glücklich zusammen.
Mein Wecker klingelt.
Alles wiederholt sich.
Tag für Tag.
Es ist wie immer.
Ich weiß genau, was passieren wird.
Ich bin gefangen in meinem eigenen Leben!
Ich bin verzweifelt.
Ich bin einsam.
Ich will nicht länger.
Trauer hat mein Herz umhüllt.
Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem auch ich nicht mehr kann.
Meine Kräfte sind am Ende.
Ich komme nicht weiter und drehe mich im Kreis.
Alles ist so grau.
Niemand bemerkt es.
Ich habe verstanden, dass sich nichts ändern wird.
Heute gehe ich nicht zur Schule.
Denn ich habe es satt.
Ich bin im Park.
Die Enten essen meine Brotkrumen.
Beruhigt schaue ich ihnen zu.
Es ist das letzte, was ich sehen werde.
Mit einem Messer habe ich mir die Pulsadern aufgeschnitten.
Blut beschmiert meine Sachen.
Die Äste der Bäume bewegen sich im Wind.
Ich höre Schritte.
Man wird mein Massaker sehen!
Mein Atem wird schneller!
Ich denke nach und komme zu dem Schluss, dass es egal ist.
Gleich werde ich tot sein.
Auch dann habe ich nichts bewegt.
Selbst das wird die Gleichgültigkeit der Menschen nicht verändern.
Sie werden wegschauen.
In einigen Tagen haben sie mich vergessen.
Falls sie sich überhaupt an mich erinnern.
Darum ist es nicht wichtig, ob mich jemand sieht.
Die Enten sind verschreckt weggeflogen.
Mein Blick folgt ihnen nicht mehr.
Ich schaue starr gerade aus.
Jemand hat sich zu mir gesetzt.
Doch ich weiß nicht wer.
Ich merke, wie das Leben aus meinem Körper weicht.
Plötzlich höre ich eine Stimme.
Sie ist leise und ich verstehe sie kaum.
Sie fragt mich, warum ich das getan habe.
Ich erkläre es ihr.
Ich erzähle ihr von meinem farblosen Leben.
Von meiner unerwiderten Liebe, welche mich auffraß über die Jahre.
Schließlich bin ich fertig.
Ich fange an mich zu wundern.
Es ist das erste mal, dass sich jemand für mich interessiert.
Tränen verlassen meine Augen.
Sie machen meinen Blick verschwommen.
Ich will wissen, wer neben mir sitzt.
Mit letzter Anstrengung drehe ich meinen Kopf zur Seite.
Ich bin überrascht.
Er ist es.
Er ist es wirklich!.
Und ich habe es nicht erkannt.
Ohne es zu wissen habe ich ihm meine Liebe gestanden.
Und er hat mir zugehört.
Ihm geht es genauso wie mir.
Auch er hat sich nicht getraut, mich anzusprechen.
Jeden Tag am Tor hat ihn der Mut verlassen.
Jahrelang.
Dabei sieht er so stark aus.
Blonde Haare und braune Augen.
Das bin ich.
Er sagt, dass er mich die ganze Zeit über geliebt hat.
Endlich haben wir zueinander gefunden.
Der Nebel hat sich gelichtet.
Ich bin frei.
Endlich kann ich leben!
Endlich können WIR leben!
Glück durchströmt meinen Körper.
Dann bin ich tot.
Ende