Fragt... nicht!
Von außen würde es wie eine ganz normale Mathestunde aussehen. Die Lehrerin sitzt vorne am Pult und sagt etwas zu dem, was in dem vor ihr aufgeschlagenen Buch steht. Die Schüler sitzen Reihe um Reihe mit aufgeschlagenen oder nicht aufgeschlagenen Büchern da und hören - einige mehr, andere weniger - zu.
Dann öffnet sich die Tür und drei scheue Mädchen betreten den Raum, in ihren Hände einige Zettel.
Ob sie etwas Zeit für eine Umfrage haben könnten.
Politikunterricht aus der achten Klasse, sagen sie.
Es geht um Gewalt und Mobbing an Schulen, sagen sie.
Und die Lehrerin lächelt gezwungen und willigt ein, obwohl die Klasse mit dem Stoff schon etwas hinterhinkt - aber die Mädchen machen die Umfrage ja auch für die Schule und der Politiklehrer will sicherlich Resultate sehen.
Es ist eine nette Mathelehrein.
Sie schaut nicht in die Hefte, wenn sie durch die Kasse geht.
Die Mädchen huschen nach vorne, vor die Tafel. Eins von ihnen erklärt den Umfragebogen, die beiden anderen verteilen die Zettel.
Die Klasse greift zum Stift, freut sich darauf, den Zahlen entfliehen zu können.
Die Streberin in der ersten Reihe seufzt schwermütig, fast, als wären ihr die Zahlen lieber.
Der ,Computerfreak' vorne rechts wippt mit seinem Stuhl und stellt sich wahrscheinlich gerade vor, zu Hause vor dem PC zu sitzen und einen neuen Forumsbeitrag zu erstellen.
Der Klassenmacho lehnt sich zurück und grinst die Klassenschönheit an, die ihm schräg gegenüber sitzt.
Der Klassenclown blödelt herum und kommentiert jeden der Punkte auf dem Fragebogen lauthals.
Die Mädchen huschen durch die Klasse, ein wenig verängstigt, aber auch beruhigt: Die Lehrerin ließ sie ihre Umfrage durchführen und solche Leute haben sie auch in ihrer Klasse.
Ganz hinten sitzt sie. Als sie ihren Zettel bekommt, bleibt das Augenmerk des austeilenden Mädchens nur eine Sekunde länger auf ihr liegen, dann huscht es weiter.
Sie seufzt leise und greift zu ihrem Füller.
Frage um Frage arbeitet sich die Klasse durch den Fragebogen. Einige lachend, andere schmunzelnd, andere ärgern sich, andere freuen sich über die freie Zeit.
Aber ihnen allen ist der Fragebogen in Wahrheit gleichgültig.
Vor dem Fragebogen hatten sie Mathe, nach dem Fragebogen werden sie Mathe haben.
Der Fragebogen hat nichts mit ihrem Leben zu tun.
Nur sie sitzt hinten, in ihrer letzten Reihe und stockt.
Fragen, Fragen, Fragen.
Wurdest du schon einmal gemobbt?
Ihr Blick wandert zur Streberin.
Zur Streberin in ihren Designerkleidung, mit ihren teuren Turnschuhen, ihren teuren Freunden und ihren anhänglichen Freundinnen.
Zur Streberin mit dem flotten Mundwerk und dem schlauen Köpfchen.
Zur Streberin mit den abfälligen Bemerkungen. Die Bemerkungen, die kommen werden, wenn der Fragebogen abgegeben und die Stunde vorbei ist. Die Bemerkungen, die kamen, bevor der Fragebogen kam.
Wurdest du schon einmal gemobbt?
Ihr Blick wandert zum Computerfreak.
Zum Computerfreak mit seinen Handbüchern, mit seinen Fachausdrücken, mit seinen Freunden aus aller Welt, mit seinen Beziehungen zu den gebrannten CDs.
Zum Computerfreak mit seinem abschätzigem Blick und seinem schallenden Lachen.
Zum Computerfreak mit seinen Blicken, die sie voller Häme durchbohren werden, wenn der Fragebogen weg ist. Die gleichen Blicke, die sie auch vorher durchbohrt haben.
Wurdest du schon einmal gemobbt?
Ihr Blick wandert zum Klassenmacho und der Klassenschönheit.
Die beiden Klassenstars mit ihrem Gefolge, mit ihren coolen Freunden, mit ihren ganzen Bekannten, mit ihren tollen Parties.
Die beiden Klassenstars mit ihrem tollen Aussehen und ihrer tollen Sprechweise.
Die beiden Klassenstars mit ihrem höhnischen Gelächter und ihrem Anrempeln, Schubsen und Verstecken von Sachen, All diese kleinen Sachen, die vor dem Fragebogen passierten und die nach dem Fragebogen passieren werden.
Wurdest du schon einmal gemobbt?
Ihr Blick wandert zum Classenclown.
Der Klassenclown, mit den vielen Freunden, mit den irgendwie schlechten und doch guten Noten, mit dem Charme und Witz.
Der Klassenclown, mit der schnellen Faust und dem zielsicheren Auge.
Der Klassenclown, der andere schlug, weil er auch ein Schläger war. Er würde nach dem Fragebogen schlagen, und er hatte vor dem Fragebogen geschlagen.
Wurdest du schon einmal gemobbt?
Und vor ihr der Fragebogen.
Der Fragebogen, der auch keine blauen Flecken verschwinden ließ oder ihr plötzlich Freunde gab.
Der Fragebogen, der ihr auch keine teuren Klamotten oder Geld schenkte.
Der Fragebogen, der sie auch nicht von 80 Kilo auf 50 herunterbringen konnte.
Der Fragebogen, der nichts, absolut nichts an ihrer Klasse verändern würde.
Der Fragebogen, der letztendlich auch nur ein Stück Papier war und nichts erreichen würde.
Ihr Finger fasst den Füller an, wandert auf dem Zettel hin und her und macht ein Kreuzchen.
Wurdest du schon einmal gemobbt?
Nein
Denn der Fragebogen ändert eh nichts, egal, was man tut.
Denn es interessiert ja nicht wirklich jemanden.
Denn sie ist sowieso nur ein dummes Mädchen.
Denn sie wird ja sowieso nichts erreichen können.
Und ihr Blick wandert weiter, während ihre Gedanken um den Fragebogen kreisen und ihre Finger ihren Füller bewegen.
Nein
Nein
Nein
Vielleicht
Nein
Nein
Hast du noch Tipps zur Vorgehensweise gegen Mobbing?
Und wieder ruhen ihre Finger.
Und wieder sieht sie sich die Frage an, studiert sie.
Sie geht die Antworten durch, all die verschiedene möglichen Antworten, bis sie an das Kästchen Sonstiges: kommt und stoppt.
Es ankreuzt.
Und in einem Anflug von Hoffnung schreibt:
Fragt
Sie ruht wieder. Sie ist eine der letzten, die abgeben sollen, und sie weiß das.
Die Mädchen vorne sind unruhig, sie wollen weiter, müssen noch einen Lehrer finden, der ja zu der Störung sagt.
Und ihre Finger bewegen wieder ihren Füller und machen aus dem kleinen Wörtchen etwas anderes... Etwas, das wie ein Scherz eines Klassenclowns aussieht. Etwas, das nichts mehr aussagt. Etwas, das ihnen nichts mehr sagt.
Fragt... nicht!
Wurdest du schon mal gemobbt?