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River under a soiled Sky

von

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Fernweh

Ich laufe an einer Reihe von hässlichen olivgrünen, grauen und braunen Türen vorbei, hinter denen sich viele winzige Wohnungen verbergen. Im Hauptbunker leben überwiegend Vampis. In den 23 angrenzenden Bunkern sind aber auch einige allein für Menschen vorgesehen. Der gesamte Bunkerkomplex beherbergt derzeit 3.482 Vampire und 7.564 Menschen, oder anders formuliert, wir platzen aus allen Nähten. In der umliegenden Gegend wohnen weitere 332 Vampire, von denen die meisten in der Landwirtschaft tätig sind. In den Pyramidenstädten der Loyalisten leben dagegen zwischen 20.000 und 100.000 Vampire, pro Stadt wohlgemerkt, und eine unbekannte Zahl an Menschen. Flüchtlinge können wir nur in Einzelfällen aufnehmen. Deshalb ist der Standort von Shattered Sky, das ist der Name unserer Bunkerzuflucht, streng geheim.

Ich gehe durch ein farbenfroh bemaltes Treppenhaus eine Etage nach unten. Das bunte Wandbild einer heiteren Familie im Grünen bröckelt, aber nicht im übertragenen Sinne, Familie ist super wichtig, sondern im materiellen Sinne. Ohne passenden Farben können wir das Fresko nämlich nicht restaurieren. Die Webstube lasse ich hinter mir und statte der Nähstube einen Besuch ab. Sie ist nur durch Glas vom Gang abgetrennt, was sie zu einer Art gläsernen Manufaktur macht, soll heißen, dass man den Leuten beim Arbeiten auf die Finger gucken kann. Bei uns ist ohnehin alles Handarbeit. Jeder, ob nun kurzlebiger Mensch oder Vampir, lernt während seiner Schulzeit drei Jahre lang halbtags abwechselnd in jedem der ansässigen Betriebe, was es zu wissen gibt und die Schneiderei mochte ich besonders gern. Eine Frau und zwei Männer sitzen in der Nähstube vor Nähmaschinen, die sie mit Fußpedalen betreiben. Die Namen der Männer kenne ich leider nicht. Die Frau, Helena, bemerkt mich sehr schnell. Sie legt die Hose in ihrer Hand beiseite und winkt mir zu. Ich grinse sie an und öffne die Glastür.

Mit den Worten: “Man munkelt, heute sei dein Geburtstag”, empfängt sie mich. Ich grinse noch breiter. Sie lacht und umarmt mich danach.

“Herzlichen Glückwunsch, Bächlein. Welcher ist es?”

“Der Zwanzigste”, antworte ich und die beiden Männer beginnen zu Lachen. Einer sagt: “Ach, was für ein blutjunger Bursche!”

Helena entlässt mich wieder aus ihrem sanften Griff. Ich stelle mich aufrecht.

“Jap und ich bin gut in Schuss.” Dazu hebe die Augenbrauen zweideutig.

“Und du bist immer noch ein kleiner Aufreißer. Dir ist klar, dass ich so alt wie dein Vater bin.”

Sie kennt nur Alexander, also meint sie ihn.

“Nicht doch”, entgegne ich, während mir bewusst wird, dass sie älter ist, als ich dachte. Sie muss um die hundertfünfzig Jahre alt sein, was für weniger Reinblütige wie sie, etwa Halbzeit sein sollte. Ich kann dagegen sehr, sehr viel älter werden, dem mächtigen Lucard Blut sei Dank. Da einer der Männer in der Näherei kein Vampir ist, sage ich nichts weiter dazu. Allgemein vermeiden wir es, für Menschen unerreichbare Jahreszahlen zu nennen. Gespräche dieser Art führen nur unnötig zu Missmut, was ich nur zu gut nachvollziehen kann.

Helena zeigt mir eine der alten Nähmaschinen, die einen kleinen Defekt hat. Ich bin etwas stolz, dass ich ihn tatsächlich sofort beheben kann. In Gedanken bei der Reise, zu der mich alle drängen wollen, frage ich während der Reparatur in die Runde: “Was glaubt ihr, wie die Welt da draußen so ist?”

“Neblig”, antwortet der menschliche Mann ein wenig fantasielos, aber irgendwie auch nachvollziehbar. Der andere zuckt mit den Schultern, als habe er noch nie darüber nachgedacht. Helena reagiert etwas differenzierter.

“Von dem, was mich interessiert, ist nichts mehr übrig. Ich war früher ziemlich sportbegeistert. Fußball. Schon mal gehört? Elf Spieler auf jeder Seite, die ohne Hände und Arme zu … Nein, so versteht man es nicht. Zehntausende von Leuten trafen sich in riesigen Stadien, um 22 Spieler auf eine Weise anzufeuern, als ginge es um Leben und Tod. Es war mitreißend. Ein unbeschreibliches Gefühl, das ich nie wieder erleben werde. Du verstehst also, wenn ich sage, draußen ist nichts mehr, das mich interessiert.”

“Wow”, hauche ich beeindruckt, ohne mir dieses Spektakel auch nur ansatzweise vorstellen zu können. Ich bringe die Reparatur zu Ende, verabschiede mich danach von ihr und den Männern und setze meine Besuche fort. Bunkertechnik, Stromerzeugung, Wasseraufbereitung und einige weitere Stationen arbeite ich ab. Unser Strom stammt im Übrigen aus leistungsfähigen Solaranlagen. Wir haben sie tonnenweise von der nahegelegenen Ruinenstadt abmontiert und lagern sie auch dort. Strom ist trotzdem knapp, weil nicht viel Sonnenlicht bis zur Erdoberfläche durchkommt.

Die Lebensmittelverarbeitung ist Menschen vorbehalten und die Blutabnahme sowie Aufbewahrung sind geschlossene Bereiche, in die ich nicht einfach so reinkomme. Man besucht beides in der Schulzeit, durchläuft sie aber nicht während der Berufsfindung. Bei mir kam damals heraus, dass ich ein Händchen für Mechanik habe. Ich verstehe mechanische Mechanismen und finde Fehler, die ich oft schnell reparieren kann. Das ist hier im Refugium sozusagen mein Job. Er macht mich beliebt. Ich bin der Typ, der es wieder richtet. Schon deshalb freut sich jeder, mich zu sehen.

Ich habe die Leute während meines Rundgangs immer mal wieder nach der Außenwelt gefragt. Das Desinteresse in der Näherei war symptomatisch. Dazu kamen noch einige Stimmen der offenen Ablehnung. Es scheint, als täten die Bewohner Shattered Skys so, als gäbe es da draußen gar nichts. Ist das eine Form der kollektiven Verdrängung?

Shine hat mir viel über die Pyramidenstadt Mensonia erzählt, meist in einem verächtlichen Tonfall. Der Kapitalismus hat sich tief in die Herzen der dortigen Bewohner gefressen und sie verdorben. Das Schlimmste aber ist die Zweiklassengesellschaft. Einfache Menschen werden dort von unseresgleichen wie Sklaven behandelt. Das ist inakzeptabel.

Nicht eine einzige Person konnte mir auch nur eine gute Sache über die Welt da draußen nennen, also frage ich mich, wieso ich sie mir dann überhaupt erst antun sollte? Die Ausbeutung von Menschen, der abhängig machende Bann der digitalen Technologie, die despotische Macht der Lucard Familie, zu der auch ich gehöre, wie könnte mich der Reiz all dieser Dinge nicht ebenfalls verderben? Das wäre nur natürlich.

Ich halte es für intelligenter, mich vor diesen miesen Einflüssen zu schützen. So sorge ich dafür, dass ich ein langes und gesundes Leben führen werde. Selbstfürsorge ist doch eine super Eigenschaft, oder etwa nicht?
 

Mit diesem Entschluss im Herzen gehe ich zurück zur Wohnung, hole mir den Kondensator, den Shine mir geschenkt hat und mache mich danach auf den Weg nach draußen zu meinem Motorrad. Wieder muss ich Hinz und Kunz begrüßen. Sich heimlich rauszuschleichen ist unmöglich. Ich stemme mich gegen die Stahltür, die schwerer geworden zu sein scheint. Der Nebel ist auch wieder dicker als zur Mittagszeit, doch das stört mich bei der Reparatur nicht.

Zwei fast vollständige, fahrtüchtige Elektro-Motorräder stehen in einem kleinen Holzschuppen neben dem Hauptbunker. Ich fand die beiden vorapokalyptischen Maschinen in einem vergleichsweise top Zustand nebst ihren verstorbenen Vorbesitzern vor fünf Jahren in einem luftdichten Bunker in der nahegelegenen Ruinenstadt. Da dieser Schuppen eigentlich für Ackerwerkzeuge gedacht ist, die überall im Weg herumstehen, schiebe ich das vor kurzem erst frisch lackierte ältere Modell der Motorräder nach draußen. Danach hole ich das Werkzeug.

Ein Motorradkondensator ist das am schwersten zu beschaffende Bauteil, weil jedes Modell einen anderen braucht, es aber am schnellsten kaputt geht. Der, den ich in der Hand halte, muss eine Maßanfertigung gewesen sein. Er sieht jedenfalls nagelneu aus. Den Kondensator zu wechseln, ist dagegen eine der einfachsten Reparaturen überhaupt. Dieses E-Motorrad hat 150 Jahre auf dem metallenen Buckel, ist dank mir aber wieder vollkommen frei von Rost und auch die Mikrochips habe ich entfernt. Einziger Nachteil an der digitalen Abstinenz ist die manuelle Ladesteuerung, aber das bekomme ich schon hin.

Der Einbau geht mir gut von der Hand. Als ich die Maschine anlasse, sehe ich Shine angelehnt am Tor des Schuppens stehen. Sie muss sich von der Seite angeschlichen haben.

“Damit wäre Schritt eins getan”, sagt sie zufrieden und deutet daraufhin in den Schuppen hinein auf das zweite Motorrad. “Ist das da auch schon fahrbereit?”

Ich schüttle den Kopf. “Erstens fehlt dort ebenfalls der Kondensator und zweitens spinnt die Technik, seit ich die elektronische Steuerung ausgebaut habe. Der Motor überhitzt schnell. Ist halt ein neueres Modell als das andere.”

Shine grinst wissend und zaubert eine Sekunde später einen zweiten Kondensator hinter ihrem Rücken hervor.

“Wie lange fährt es, bis es zu heiß wird?”

Ich antworte überlegt. “Eine Stunde, höchstens zwei. Kommt auf einen Test an. Danach muss man eine halbstündige Pause einlegen.”

“Ach, das reicht doch”, ruft sie heiter. “Bau das Teil ein, dann fahren wir ein Stück.”

Okay, spricht nichts dagegen. Da das zweite Motorrad allerdings sehr viel weniger Liebe erfahren hat als das erste, dauert der Einbau etwas länger. Dennoch bekomme ich es ebenfalls problemlos gestartet. Es fühlt sich jedes Mal saugut an, wenn etwas funktioniert, das ich repariert habe. Ich koste den Moment aus und sehe Shine dabei zu, wie sie auf das Motorrad steigt, oder treffender, wie sie unbeholfen auf den Sitz klettert. Wenn sie es will, kann sie ein bisschen eleganter sein, ihr wahres Wesen ist aber der Stolpergorilla, den ich vor mir sehe. Ich muss lachen und steige auf meine ältere Maschine. Das habe ich schon unzählige Male gemacht, nur gefahren bin ich noch nie.

Wir zwei Anfänger beginnen, das Fahren zu üben. Das klappt zum Glück echt schnell. Wir tuckern vorbei an den Feldern und lassen die Bunker hinter uns zurück. Ich habe mir schon unzählige Male vorgestellt, durch die Gegend zu cruisen. Es wirklich zu tun, ist, ungelogen, der absolute Wahnsinn! Der Fahrtwind schmeißt meine halblangen Haare durcheinander, die mir auf die Wangen peitschen. Das hatte ich bei lappigen 20-30 Kilometern pro Stunde überhaupt nicht erwartet. Die bewirtschafteten Felder fliegen so schnell an mir vorbei, dass sie optisch verschwimmen. An leichten Biegungen verliere ich fast den Überblick, weil alles so schnell geht. Ein eigenartiges Gefühl wächst in mir an, das sich mit Verliebtsein vergleichen lässt. Es ist leicht wie das vielzitierte Blatt im Wind. Ich glaube, ich begreife gerade, was Freiheit wirklich bedeutet.

Wir verlassen den Feldweg, der in ein Waldstück mündet. Auch hier existiert ein gut gepflegter Weg. Ich kenne ihn. Er führt zu einem Felsen, von dem aus man das Meer rauschen hören kann. Bis zum Wasser hinuntersehen kann man üblicherweise auch, aber nicht in die Ferne.

Wir halten in der Nähe der Klippe, steigen ab und laufen das letzte Stück bis zum Rand. Gerade in diesem Moment lichtet sich der Nebel für einen Wimpernschlag, sodass er uns einen Blick auf ein kleines Stück des weiten Ozeans erhaschen lässt. Als Kind war ich oft an diesem Ort, aber so weit hinaus aufs Meer konnte ich noch nie sehen. Irre, wie surreal diese Entfernungen erscheinen. So, als sei da draußen wirklich nichts. Der Moment geht vorüber. Nun sehe ich wieder nur noch das Grau des Nebels, rieche die salzige See, sehe und höre die Gischt unter mir.

Shine stellt sich neben mich. Auch sie scheint den Weitblick genossen zu haben. “Du hast noch nie eine Pyramidenstadt gesehen, richtig? Bist du nicht neugierig?”

“Nope”, antworte ich, was sie dazu bringt, leise in sich hinein zu lachen. Danach schweigt sie, was mich wiederum irritiert. Shine ist acht Jahre älter als ich. Im Gegensatz zu mir hat sie schon viel gesehen, kennt die Politik, die Systeme, die Lebensweise der Loyalisten und so vieles mehr aus erster Hand. In ihren Augen bin ich ein Hinterweltler, keine Frage. Einige Zeit lang betrachten wir nur noch die graue Wand vor uns. So langsam erdrückt mich ihr Schweigen. Ich weiß, was sie vorhat. Damit lässt sie ein Gefühl in mir wachsen, das im völligen Kontrast zu unserer Herfahrt steht. Der Druck, den sie aufbaut, schnürt mir die Brust immer weiter zusammen. In meiner Fantasie fragt sie mich, ob ich denn niemals von dieser Insel runter will. Ob ich mein ganzes Leben lang so tun will, als gäbe es die Welt da draußen überhaupt nicht und es macht mich verrückt. Ihre stumme Frage ist Terror! Schlimmer als eine offene, frei gestellte Frage. Ich glaube, das liegt auch an ihrer erwartungsvollen Aura.

Ja, verdammt! Natürlich will ich alles wissen, will alles sehen, alles erleben. Mein Leben ist viel zu lang für ein ewiges Versteckspiel. Das kann doch nicht wahr sein. Lass mich in Ruhe, Shine! Geh mir aus den Gedanken! Hör auf, sie gegen meinen Willen zu kapern! Scheiße! Dann breche ich eben dieses verfluchte Schweigen!

“Ich geb's ja zu, ich hab Schiss, zufrieden?”

Sie tritt etwas näher, ohne etwas zu sagen. Dafür tue ich es.

“Hier bin ich jemand, verstehst du? Hier kann ich was Leisten. Ich bin jemand, der gemocht wird. Die Leute kennen mich. Sie- sie feiern meinen Geburtstag mit mir. Was ist, wenn ich dort alles Kacke finde, oder schlimmer, wenn ich alles geil finde? Was ist, wenn alles, was ich gelernt habe, nichts mehr wert ist? Was ist, … wenn ER mich sieht und … enttäuscht … ist von mir …?”

Fuck! Das war der Kern. Meine Fresse, tut das weh! Ich sehne mich danach, meinem Konvertierer meine Meinung ins Gesicht zu schreien, aber ich habe Angst vor seiner Reaktion. Scheiße!

Ich lehne mich mit meiner an Shines Schulter an und mit einem Mal beginnen die Tränen zu fließen. Es muss Jahre her sein, dass ich das letzte Mal geheult habe. Selbst als sie mich vor drei Jahren abserviert hat, konnte ich das besser verkraften. Dieser Ort und ihr Schweigen haben dieses Gefühl aus mir herausgekitzelt. Das war doch Absicht! Diese Frau ist unglaublich … hinterhältig.
 

Wir fahren zurück durch den Wald und an den Feldern vorbei. Die Hinfahrt war genial, aber nun erlebe ich alles noch viel intensiver. Der frische Wind lässt mich fast abheben.

Zurück beim Bunker stellen wir die Motorräder wieder ab. Als ich den Schuppen verschließe, konfrontiere ich Shine mit meiner Entscheidung.

“Ich tu’s. Ich muss es tun und es wäre mir eine Ehre, wenn du mich führen könntest.”

“Endlich bist du einsichtig”, beginnt sie, aber ich nehme ihr die Möglichkeit, mehr zu sagen.

“Freu dich nicht zu früh. Ich habe auch vor, Tear um ihre Begleitung zu bitten.”

“WIE BITTE?”, platzt es aus Shine heraus.

“Nimm es mir nicht übel, aber Tear hier zurückzulassen, finde ich schlimmer, als ihr meine Begleitung zuzumuten.”

Sie dreht sich von mir weg, doch die Änderung ihrer zuvor noch sehr befreit wirkenden Aura entgeht mir nicht. Sie braucht einen Moment, bis sie entgegnet: “Das finde ich nicht gut.”

“Kann sein”, bestätige ich. “Aber das ist nicht deine Entscheidung, sondern ihre.”

Da ich schnellen Schrittes an Shine vorbei schreite, geht ihr “Aber …” hinter mir unter. Ich betrete den Bunker durch die zwei Luftdrucktüren und zum ersten Mal in meinem Leben fühlt sich das beklemmend an. Die dicken Mauern des Bunkers, das fahle Licht darin. Plötzlich fühlt es sich an wie ein Gefängnis. Puh! Zumindest ist damit klar, dass ich keine Wahl mehr habe. Ich muss es tun. Ich muss mich meinen Ängsten stellen.

Ich klopfe etwas zu forsch an Tears Wohnungstür, die sich direkt neben unserer befindet. Sie öffnet leicht verzögert, ich trete ein und sehe auf dem Tisch in der Raummitte ein schwarzes Tuscheglas, eine Zeichenfeder und Papier liegen. Darüber hat sie unverkennbar eilig Tabellen geworfen, die mit ihrer Arbeit als Buchhalterin zu tun haben. Tear hat eine Neigung zum Akkuraten. Unsauber ausgerichtete Papiere sind unüblich für sie.

Ich kenne einige ihrer Naturzeichnungen von ausgestorbenen Tieren und Pflanzen, die sie geometrisch konstruiert, selbst wenn sie dafür von der Realität abweichen muss. Davon abgesehen, dass sie sehr hübsch sind, macht das ihre Bilder zu etwas Besonderem. Ich habe eine Naturstudie von ihr, die einen Ammoniten im Vergleich zu einer Schnecke zeigt, über meinem Bett hängen. Die Zeichnung ist mein Schaaatzzzz.

Ich stoppe Shine, die mir auf der Spur gefolgt ist, weil sie ebenfalls mitkommen wollte und mich nun entgeistert ansieht. Ich schüttle den Kopf in ihre Richtung und drehe mich dann zur Tür, die ich behutsam hinter mir schließe.

Das hat mich überraschend viel Kraft gekostet. Nun stehe ich alleine in Tears Wohnung und muss mich neu sammeln. Wohl wegen der Zeichnungen wirkt sie wiederum ertappt, was es mir auch nicht leichter macht. Na, los, du Feigling! Trau dich!

Ich atme tief durch.

“Wenn ich die Reise antrete, würdest-”, beginne ich ohne Umschweife, wobei sie mir direkt ins Wort fällt.

“Danke.”

Ich schaue sie verblüfft an und sehe das ergriffene Glitzern in ihren hübschen, rehbraunen Augen.

“Danke, wofür?”, frage ich verwundert und trete verlegen auf der Stelle.

“Dass du mich fragen willst, ob ich dich begleite. Das will ich.”

Noch einmal hole ich Luft, doch wieder spricht sie, statt ich.

“Shine ist dagegen, ich weiß, aber es ist mein Leben und meine Entscheidung.”

Genau das habe ich auch gedacht. Aber Moment, soll das heißen, dass sie wirklich mitkommt? In mir kribbelt alles. Ich kann es kaum fassen und strahle sie an wie ein Volldepp. Ich unterdrücke den Impuls, sie zu knuddeln und bleibe in gebührlichem Abstand stehen. Wie kann mich diese kleine Maus nur so glücklich machen? Das gibt's nicht!

Auch sie lächelt. Es ist nicht ihr überdrehtes Alter Ego Strahlefrau-Lächeln, sondern ein sanftes, ich möchte mir einbilden, zärtliches Lächeln. Wow, das lässt mein von Shine zum Krüppel geschlagenes Herz höher schlagen. Oh, meine süße Knuddel-Tear.

“Ich werd verrückt. Übermorgen brechen wir auf, ja? Okay? Passt dir das?”

“Okay”, bestätigt sie und kichert total niedlich. Das halt ich nicht aus.

Ich verlasse ihre kleine Wohnung mit dem heftigsten Hochgefühl, das ich je hatte. Die Motorradfahrt ist damit schon wieder in den Schatten gestellt. Pah, und Orgasmen sind ein Dreck dagegen. Liebe ist soooo viel krasser. Junge, Junge, schwebe ich auf Wolke sieben. Shine hatte ich damals auch echt lieb, habe ich sie eigentlich immer noch, aber so intensiv habe ich unsere Beziehung nicht erlebt.

Die eingeschnappte Gorilla-Lady steht vor mir und liest mir am breiten Grinsen ab, dass Tear mitkommt. Die Gute zieht ein unzufriedenes Schnütchen, sagt aber nichts. Das will ich als Einverständnis deuten.



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