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Musik 4Y

Diese eine Person, die...
von

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Karaoke

Kapitel 7:
 

Etwas stimmt nicht.
 

Als Hannes zu Besuch war, war ich noch unheimlich wütend auf ihn. Was fiel ihm ein meine Chipkarte einfach Timothy zu geben?! Nicht nur das. Er behauptete, dass Timothy genau der Richtige sei. Ich fragte ihn, wofür er der Richtige sei und Hannes antwortete: „Er ist der Richtige, um neben dir zu stehen.“
 

Mehr sagte Hannes nicht. Es war sonderbar, denn eigentlich konnte ich mit ihm über alles reden. Gerade weil ich ihm damals reinen Wein eingeschenkt und Hannes meine Situation verständnisvoll aufgenommen hatte, redete ich mit ihm viel offener über alles was mich bedrückte, als mit jedem anderen. Er war wahrlich mein bester Freund geworden. Aber dieses Wochenende… Sein Besuch war eigentlich dazu dagewesen, damit ich mich bei ihm direkt über Timothy auskotzen konnte. Darüber, wie dieser manipulative Sänger mich in die Musik zog und dass mir das nicht gefallen wollte. Mein Plan war einfach gewesen. Alles was mit Musik zu tun hatte, ob Instrumente, Medien, Gesang oder Bands zu vermeiden. Ich wollte mit der Welt der Musik, des Trubels, der Auftritte, der Aufregung und des Nervenkitzels nichts mehr zu tun haben. Fertig. Aus. Aber durch unser ständiges anecken, wurde ich nachlässiger und suchte Schlupflöcher, wie das Gitarre spielen im Probenraum. Ich hatte gehofft, Hannes würde einen guten Rat für mich haben. Einen Weg wie ich die Bekanntschaft mit diesem Teufel beenden konnte und wieder das ruhige und staubige Leben eines Architekturstudenten leben konnte.
 

Aber das tat Hannes nicht und ich verstand nicht, was er damit meinte, dass Timothy neben mir stehen könnte. Wir galten gerade Mal als Bekannte, warum sollte so jemand neben mir stehen und in welchen Bezug? Schlussendlich verabschiedete sich Hannes, ohne dass ich dieses Thema klären konnte.
 

Auf Timothy war ich ebenso sauer, weil er mir die Chipkarte immer noch nicht zurückgegeben hatte. Dazu kam, dass die Rechtsvorlesungen ausfielen und ich von einer anderen Dozentin kurzfristig einen Vortrag aufgedrückt bekommen hatte. Ich war so sehr mit der Ausarbeitung bis zum Ende der Woche beschäftigt, dass ich keine Zeit fand Timothy wenigstens über das Handy anzuschnauzen.
 

Nach dem Vortrag am Freitag hatte ich endlich Luft und mir fiel mein Groll auf den Sänger wieder ein. Ich schrieb ihm nicht, da wir uns eh zur Probe sehen würden. Also verbrachte ich meine Zeit damit mir alle möglichen Sprüche auszudenken, die ich ihm später an den Kopf knallen könnte. Jedoch …
 

T: >Die Probe fällt heute aus. Wir haben den Probenraum nicht. < 15:05
 

Ich war so perplex, dass ich eine Weile brauchte um zu antworten.
 

M: >Und die Wette? < 15:15
 

Die Wette war mir eigentlich egal. Ich hatte Timothy sehen und ihm eine reinhauen wollen, um dann meine Chipkarte zurückzufordern. Aber es kam natürlich anders als ich es mir wünschte. Keine Probe hieß kein Timothy.
 

T: >Komm einfach mit, wenn wir nach dem Auftritt einen trinken gehen. Die anderen würden dich gerne dabeihaben und ich sehe die Wette damit als erfüllt an. < 15:34
 

Skeptisch sah ich auf den Text. Mit allen zusammen einen trinken gehen, würde ich schon machen wollen. Jedoch traute ich den Worten nicht, weil sie von Timothy kamen. Andererseits hatte ich die Gruppe um den Sänger herum ziemlich gern gewonnen. Die letzten Wochen waren spaßiger gewesen als ich zugeben wollte. Zudem hatte selbst Hannes angemerkt, dass es gut wäre, mal auszugehen.
 

Ich stimmte zu und verkaufte es mir selbst als willkommene Abwechslung.
 

Sonntagmittags ging ich zum Auftritt. Die Auftritte begannen relativ zeitig und würden bis in den späten Nachmittag gehen. Inklusive Pausen für Dozenten und Zuschauer. Auf einer der Wiesen des Campus war eine kleine, aber zweckmäßige Bühne aufgebaut worden. Groß genug für die Band und eine kleine Tänzergruppe. Die Dozenten saßen bereits in guter Position auf Stühlen und ein jeder hielt seinen Bewertungsbogen auf einem Klemmbrett bereit. Diese Art von Event oder besser, der Notenvergabe, sah ich zum ersten Mal. Ich war ziemlich fasziniert von der Organisation und sah den ersten zwei Gruppen nicht mal wirklich zu.
 

Ich stand mitten in der Menge und hatte einen guten Blick auf die Bühne. Als nach viel zu vielen Auftritten und unterschiedlichen Genres endlich Timothy an der Reihe war, spürte ich eine alt-bekannte Nervosität. Waren sie gut vorbereitet? Waren sie auch nicht zu nervös? Hoffentlich lief die Technik einwandfrei und die Tänzer machten keine Patzer. Ich fieberte regelrecht mit. Gerade so als sei es nicht schon sechs Jahre her, dass ich zuletzt selbst in jener Position gewesen war. Erst als das erste Lied ohne Probleme angelaufen war und Timothys Stimme einige Mädels zum Kreischen gebracht hatte, entspannte ich mich. Das Üben hatte sich ausgezahlt. Sie waren ein super Team.
 

Nach ihrem Auftritt war ich gutgelaunt, sodass ich bereit war, normal mit Timothy zu reden und ihn nicht gleich anzuschnauzen, wie ich es eigentlich geplant hatte. Ich wartete den Beginn der nächsten Gruppe ab. Theoretisch gesehen, sollte die Gruppe damit genügend Zeit gehabt haben, um hinter der Bühne hervorkommen. Ich tippte wahllos auf eine Seite der Bühne und schlängelte mich durch die Massen hindurch. Ich lag richtig. Timothy stand am vordersten Bauzaun, der mit dunkelgrüner Sichtschutzplane bespannt war, und schaute in die Menge. Meine Hand zuckte. Ich wollte auf mich aufmerksam machen, hielt mich aber zurück. Als ich gerade den Rand der Zuschauer erreicht hatte, drehte Timothy sich weg. Ich beschleunigte meinen Gang, um ihn nicht zu verlieren, doch er stoppte und schien mit jemanden zu reden. Nach zwei weiteren Schritten erkannte ich Jasmine. Bestätigt, dass die Gruppe wirklich von dort kommen würde, hielt ich mein Tempo, ehe ich abrupt stehen blieb. Ich starrte auf die zwei sich küssenden Personen, drehte mich um und verschwand in der Menge. Erst als ich in der letzten Reihe der Zuschauer angekommen war, bemerkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte. Meine Haltung war total verkrampft und ich war unnatürlich aufgewühlt.
 

Etwas stimmte nicht.
 

Warum küsst Jasmine Timothy? Hatte der Sänger nicht erst letztens gesagt, dass er nichts für Jasmine empfand und nichts mit ihr anfangen wollte? Ich hatte ihm geglaubt, immerhin war Timothys Geschmack speziell. Vielleicht hatte Jasmine sich an ihn rangeschmissen? Das würde sogar etwas Sinn ergeben. Während der Proben hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen und was außerhalb dieser eineinhalb Stunden lief, wusste ich nicht. Vielleicht hatte sich Timothy zu einem Versuch überreden lassen? Schließlich sagte ich ihm, dass er nicht von vornherein Leute ausschließen konnte, oder schlimmer noch, einer Person diese Frage an den Kopf warf.
 

Ich erreichte das Hauptgebäude und setzte mich auf eine der Bänke. Den Gedanken, dass Timothy mit Jasmine ging, hatte ich bereits einige Male in meinen Kopf hin und her gewälzt. Schließlich ließ ich ihn fallen. Es machte keinen Sinn. Ich vermutete, dass es eine Liebeserklärung seitens Jasmine gewesen sein musste. Das klang plausibel und … ich hatte nur den Kuss gesehen, nicht was danach geschah. Warum war ich überhaupt weggelaufen?
 

Ich dachte nach, fand jedoch keine zufriedenstellende Antwort. Man sah öfter Paare, die sich auf offener Straße küssten. Nichts davon wurmte mich so sehr wie der Anblick von eben. Ich könnte mir vorstellen, dass ich durch mein verdrehtes Verhältnis zum Timothy so etwas wie einen Anspruch auf ihn erhob. Wegen der Musik. Weil ich noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte. Wegen der Chipkarte. In Gedanken flackerte ein Bild auf. Ein von Licht und Schatten bemaltes Gesicht. Neugierig mit intensivem Dunkelbraun. Mein Herz übersprang einen Schlag und eine kribbelnde Nervosität breitete sich in mir aus. Ich strich mir durchs Haar und legte den Kopf in den Nacken. Es musste an seiner Musik liegen. Eine verwirrte Anhänglichkeit. Mehr nicht.
 

Gott sei Dank hatte die Mensa jeden Tag geöffnet, sodass ich mir ein verspätetes Mittagessen gönnte. Fred und Marvin schwirrten irgendwo anders rum. Marvin wollte sich die Aufführungen ansehen und Fred hatte noch was in der Bibliothek zu erledigen. Beide waren eine gute Gesellschaft, jedoch redeten sie beim Essen auch unheimlich viel. Ab und an mal in Ruhe essen zu können, genoss ich dementsprechend sehr. Auch wenn ich heute ein bisschen Ablenkung begrüßt hätte. Meine Nervosität von vorhin war vergangen. Nun war ich angespannt und Timothys dämliches Präsenz lungerte in meinen Gedanken. Gott sei Dank blieb ich nicht lange alleine. Ich schob mir gerade ein Stück Schnitzel in den Mund, als zwei Stühle zurückgezogen wurden. Meine neue Gesellschaft bestand aus Chris und Jamil. Woher auch immer, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Vielleicht wäre Alleinsein heute doch besser gewesen?
 

„Hi“, sagte ich mit vollem Mund.
 

„Yo“, sagte Chris.
 

„Mahlzeit“, kam es von Jamil. Der Dunkelhäutige trug ebenfalls ein Tablett mit sich. Darauf befand sich Obst und ein Pudding.
 

„Mahlzeit“, erwiderte ich auf sein Essen hin, was kaum als vollwertige Mahlzeit durchgehen konnte. „Wie war der Auftritt?“
 

„Hast du uns nicht zugesehen?“, fragte Chris entrüstet.
 

„Doch, doch.“ Beruhigte ich Chris und schmunzelte „Ich wollte wissen, wie er für euch war.“
 

„Ahh~“, summte Chris und stützte sich auf beiden Ellenbogen ab. „Tim hat gesagt, du hättest zugesehen, aber ich hab dich nicht gesehen. Ich schaue selten auf das Publikum, wenn ich tanze.“
 

Ich lachte verlegen und versuchte das mulmige Gefühl zu unterdrücken, welches allein durch die Erwähnung von Timothys Namen aufkam. Er wusste, dass ich da war und trotzdem ließ er sich küssen?
 

„Ich fand den Auftritt entspannt“, sagte Jamil und mampfte sein Obst. „Wir sind eigentlich nur hier, um dich zur Feier einzuladen.“
 

„Feier?“
 

„Ja, nach einem gelungenen Auftritt gehen wir alle zusammen einen trinken. Kommst du mit?“, fragte Jamil und hielt eine Weintraube zwischen seinen dunklen Fingern. Der Kontrast lenkte mich etwas ab. War das die Siegesfeier von der Timothy gesprochen hatte? Allein um unsere Wette nicht zu verlieren, musste ich daran teilnehmen.
 

„Ich trinke nicht viel, aber ich komme mit, wenn ich keinen störe.“
 

„Wen solltest du stören? Du hast mit uns am Auftritt gefeilt! Das ist doch nur verdient“, sagte Chris.
 

Fragend als auch skeptisch sah ich Chris an. „Ich glaube nicht, dass Jasmine mich gerne dabei hätte. Sie scheint mich nicht ausstehen zu können, auch wenn ich nicht weiß warum.“ Ich wusste, warum sie mir unsympathisch war...
 

Das Obst getilgt, griff Jamil nach einem Löffel für seinen Pudding. „Jassi ist zu allen unfreundlich, außer zu Tim. Und Tim hat es vorgeschlagen, also mach dir keinen Kopf. Das wird lustig.“
 

„Ja, genau! Ich mag Ka-“ Chris brach ab und verzog sein Gesicht schmerzlich. „Ka-Ka-Kakao. Ich mag den Kakao hier.“ Ich sah auf mein Kakaopäckchen und schob dieses zu Chris rüber.
 

„Hier. Mir schmeckt er nicht.“
 

Rückblickend war es zu offensichtlich gewesen. Jamil wirkte so unschuldig mit seinem Pudding, während Chris sich schuldbewusst gab. Hätte ich nur unter den Tisch gesehen, hätte ich Jamils großen Fuß auf Chris‘ gesehen. Dann wäre ich vorsichtiger gewesen und hätte sicherlich abgesagt.
 

Aber da ich nichts dergleichen getan hatte, gaben die beiden mir den Treffpunkt und die Uhrzeit, ehe wir uns nach dem beendeten Essen verabschiedeten.
 

M: >Chris und Jamil haben erzählt, wann wir uns treffen. Geht das wirklich in Ordnung? < 19:12
 

Ich lag auf meinem Bett und hatte die SMS geschrieben, bevor ich nachgedacht hatte. Gleich nachdem ich auf Senden gedrückt hatte, bereute ich es. Doch löschen ging nicht mehr. Timothy hatte sie bereits gelesen. Mist, dachte ich und starrte unruhig auf das >schreibt…<
 

T: >Klar! Es sei denn du willst die Wette verlieren < 19:12
 

Das wollte ich nicht! Definitiv nicht. Ich seufzte schwer und sah zur Decke. Die Sache mit Timothy und Jasmine beschäftigte mich mehr als ich zugeben wollte. Ich hatte mich mehrfach dabei erwischt, wie ich ihm hatte schreiben wollen. Doch wenn ich genauer darüber nachdachte, war ich mir sicher, dass nichts zwischen ihnen lief. Trotzdem war ich angefressen. Wenn nichts lief, könnte er es doch einfach sagen, aber ... warum sollte er? Wir waren nicht mal wirklich befreundet. Er hatte keinen Grund sich zu rechtfertigen oder es einfach zu erzählen. Dass ich so sehr auf verlorenem Posten stand, nervte mich nur noch mehr.
 

M: >Dann bis Dienstag < 19:14
 

Wir trafen uns zwei Tage nach dem Auftritt, am Dienstagabend auf dem kleinen Marktplatz in der Stadt. Zu Fuß waren das gerade mal zwanzig Minuten. Timothy und seine WG standen bereits am Treffpunkt. Ich begrüßte alle vier und schaffte es Timothy anzusehen, ohne dass mir die Szene vom Sonntag in den Kopf schoss. Ramira und Jasmine kamen separat an. Ramira war fröhlich wie immer, Jasmine wirkte etwas verhalten und ruhiger als sonst. Meinen Blick mied sie entschieden, was mir nur recht war. Kacke... ich sollte das einfach vergessen!
 

Steven und Phillip konnten nicht kommen. Ramira erzählte mir ausführlich, wie sehr Phillip seine Hausarbeiten nach hinten geschoben hatte und somit in Bedrängnis geraten war. Sie lief die ganze Zeit rückwärts, was mich erstaunte. Immer wenn ein Laternenmast oder ein Hindernis kam, erwartete ich, dass sie gegenlaufen würde. Aber ich wurde jedes Mal enttäuscht. Warum Steven nicht konnte, wusste keiner so recht.
 

Nach ein paar Minuten betraten wir das Lokal und ich war verwundert, wie nah es doch gewesen war. Das Radio lief leise im Hintergrund, an der Rezeption stand eine junge Frau in quietschigen Farben. Chris und Jamil erzählten mit ihr. Sie zeigten auf uns und schienen zu bezahlen. Mir wurde flau im Magen. Noch mehr als ich mich gründlicher umsah. Kunstlederne Stühle in grellen Farben, Stehtische. Eine Bar oder Restaurant war das nicht. Ich blickte auf die Anzeige über einen langen Flur von dem einige Türen nach links und rechts abgingen. Dort stand „On Air“.
 

Unbewusst machte ich einen Schritt zurück. Noch einen. Dann stieß ich gegen etwas. Ich sah auf und erkannte Timothys elendes Gesicht. Sein Lächeln war so fröhlich, wie sein Blick verdorben war. Deswegen hatte er mir nur übers Handy geschrieben. Deswegen waren Chris und Jamil zu mir gekommen um Ort und Zeit durchzureichen. Jetzt machte auch Chris‘ Reaktion mit dem „Ka“ Sinn. Und auf den Weg hierher hatte ich mich erfolgreich ablenken lassen und meine Umgebung nicht im Blick behalten. Die Sache mit dem Kuss lenkte mich zusätzlich ab und ... ohh, diese Verräter!
 

„Vergiss es“, zischte ich ihn an.
 

„Ich sag doch gar nichts.“
 

Ich drehte mich um und stand ihm offensiv gegenüber. „Ich dachte, ihr geht in eine Bar oder so. Deswegen bin ich mit. Vergiss es, Tim. Ich gehe jetzt“, sagte ich entschieden und schob Timothy mit einer Hand zur Seite. Ich wunderte mich noch, dass er keine Anstalten machte mich aufzuhalten, als ich am Arm gepackt und aufgehalten wurde.
 

„Geh noch nicht Mik“, bat Chris und sah schuldbewusst drein. „Man kann hier auch was trinken und es macht wirklich Spaß.“

Ich sah zurück und schluckte schwer.
 

„Lass ihn, wenn er nicht mag. Du hast zwar schon bezahlt, aber das Geld kann er dir wiedergeben“, kommentierte Timothy gespielt fürsorglich und legte Chris eine Hand auf die Schulter.
 

„Ums Geld geht es mir nicht“, winkte Chris ab und ließ meinen Arm los. Fuck. Verdammter Mist! Ich war so sauer auf Timothy, dieses elende manipulative Arschlosch! Natürlich schickte er Chris vor. Jemand der so unschuldig war, wie ein Lamm vor dem Schlachter. Ich unterdrückte meine Wut und ließ meinen Frust mit einem langen Seufzer hinaus. Gegen Lämmeraugen hatte selbst ich keine Chance. Diese Runde hatte ich verloren.
 

„Schon ok. Ich komme mit. Aber ich singe nicht.“
 

„Das ist ok!“, gestand Chris und freute sich.
 

„Lass dich nicht immer von Tim für seine Zwecke einspannen“, bat ich Chris.
 

„Hä?“, fragte Chris zurück, doch ich ging nicht genauer drauf ein.
 

„Warts ab, Mik. Es macht wirklich Spaß“, stieg nun auch Nayla mit ein. Chris fasste mich bei der Hand und zog mich zum schmalen Flur. Wir passierten das „On Air“-Schild. Ramira stieg ins Gespräch mit ein. Alle feuerten sich gegenseitig an, wie Lustig es letztes Mal gewesen war und dass es Revanchen gäbe und wie viel Spaß Karaoke machte. Ich ließ meinen Kopf hängen und glaubte auf den Weg zum Schafott zu sein.
 

Wir betraten unseren Raum. Klein, fensterlos, mit riesigem Bildschirm und einem Tablet zur Steuerung. An der Wand hingen vier Mikrofone. Links stand eine Eckcouch, welche ebenfalls mit grellem Kunstleder überzogen war. Allerdings fiel es in dem bunten Lichtern des Raumen nicht auf. Vor der Eckcouch gab es einen kleinen Tisch für Getränke und Essen. Ich sagte es nochmal mit Nachdruck. Ich hasse Karaoke. Allerdings sagte ich es nur in Gedanken.
 

Frustriert setzte ich mich auf die Couch. Jamil setzte sich neben mich, während Timothy sich die Getränkekarte nahm und der Rest die Liederauswahl studierte.
 

„Du musst nicht singen“, sagte Jamil im gedämpften Ton. „Meist singen eh die Mädels und Tim.“
 

Das hob meine Stimmung nicht sonderlich. Ich sah auf. Alle wirkten ausgelassen und aufgeregt. So sollte es in einer Karaokebar auch zugehen. Nur ich spielte den Miesepeter. Schwer seufzend ließ ich meinen Kopf hängen.
 

„Tut mir leid. Ich … ich bin ein schlechter Sänger“, gestand ich leise. So geknickt wie ich war, glaubte ich das beinahe selbst.
 

„Find ich nicht“, insistierte Jamil. Ich sah ihn nur flüchtig aus den Augenwinkeln an und merkte, dass er mit seiner Hand wedelte. „Ich finde, du hast eine gute Stimme.“
 

Ich hob den Kopf und wollte wissen, woher er das bitte wissen wollte. Da bemerkte ich das Ding um sein Handgelenk und gefror augenblicklich. Genau genommen, war es ein Armband.
 

Jeder der Jungs trägt ausgesprochen oft Schmuck. Timothy schmückte sich gerne mit Ketten und Ringen. Heute hatte er schlicht zu viele Ringe um. Chris trug Ohrringe und Battelarmbänder. Jamil eine lederne Kette und Armbänder. Für gewöhnlich waren diese auch aus Leder mit nur wenig silbernen Akzenten darin. Jetzt jedoch hing knapp unter seinem Handgelenk ein rotes Armband. Es bestand aus einer roten, dickeren Kordel, deren Enden so verknoten waren, dass man die Größe noch verstellen konnte. An der Kordel hing ein kleines goldfarbenes M.
 

Ich traute meinen Augen nicht. So ein altes Ding! Merchandise, ich hasse dich! Hatte ich schon immer, übrigens. Nach meinem ersten Schock kam der zweite und ich sah Jamil mit großen Augen an. Er erstrahlte in einem völlig anderen Licht.
 

„Du-", begann ich, aber meine Stimme versagte. Eilig zog Jamil sein dünnes Sweatshirt über das Armband und sein Handgelenk.
 

„Ja, sorry. Ich wollt dich schon eine Weile darauf ansprechen, aber es hat nie den Anschein gemacht, als wolltest du das.“
 

„Richtig“, sagte ich ernst und versteckte meine Panik. Heilige Scheiße, Jamil war ein Fan. Ein alter Fan! Kacke, ich dachte die wären lange ausgestorben!
 

„Hahaha, eben. Ich wollte an nichts rühren, aber nur damit du es weißt, ich fand, nein, finde es immer noch schade, dass du aufgehört hast. Und viele-“
 

Ich hob meine Hand und unterbrach ihn. Gott sei Dank hielt er auch den Mund. „Vielleicht. Mag sein. Aber das ist kein Thema für hier und jetzt. Wichtiger …“ Ich ließ meinen Blick kurz zur Wand gleiten und zurück. Jamil folgte unbewusst. „Weiß er davon?“, fragte ich flüsternd.
 

Jamil sackte etwas in sich zusammen, lächelte aber. „Ich habe niemanden was gesagt. Allerdings wäre er nicht Tim, wenn er nichts vermuten würde.“
 

Ich ließ meinen Kopf hängen und seufzte. Als ich aufsah, schlug ich mir beide Hände vors Gesicht. „Bei meinem Glück weiß er was, hat’s gegoogelt oder irgendjemanden erpresst und ist so an alle schmutzigen Infos gekommen.“
 

Jamil lachte nur. „Nun unterstell ihm nichts.“
 

„Unterstellen? Auf die Art ist er doch an meine Adresse und meinen Namen gekommen“, sagte ich eindringlich und blickte nun gerade heraus zu Timothy. Dieser stand an die Wand gelehnt und maß uns mit stechendem Blick.
 

„Mhm? So war das. In dem Fall habe ich keine Chance“, verkündete Jamil und hob beide Hände hoch als ergäbe er sich. Timothy sah kurz darauf nach vorne zu den Mädels und Chris, welche sich endlich auf ein Lied geeinigt hatten und wer die erste Runde bestritt.
 

„Jedenfalls“, begann Jamil, „du musst nicht singen. Aber wenn doch, schätze ich mich glücklich dabei zu sein.“
 

Jamil war sehr taktvoll. Sein Verständnis entlockte mir ein Lächeln und ich fühlte mich nicht mehr ganz so angespannt wie Minuten zuvor. Jedoch trotzdem noch unwohl genug.
 

Nachdem alle etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu knabbern bestellt hatten, ging es los. Nayla und Ramira machten den Anfang. Beide sangen schief, aber sie gaben ihr Bestes. Jasmine und Chris kamen als nächstes. Jasmine war erstaunlich gut und Chris nur in den tiefen Lagen sicher. Die Mikrofone wechselten und die Lieder ebenso. Von brandneu, zu alt und Oldies. Rock, Pop, Schlager, Ska, ausländisch – wobei es egal war, ob man den Text richtig aussprechen konnte oder nicht – alles war irgendwann mal vertreten. Timothy stieg mit ein und sang mal mit jedem zusammen. Selbst Jamil ergab sich seinem Schicksal. Jamil hatte eine gute Stimme, war aber nur im Hip- Hop gut. Er und Ramira kämpften in einem Rap-Song um die Vorherrschaft. Sie waren unheimlich gut. Die Lippen so schnell bewegen zu können, war wirklich ein Talent. Ich musste für solche Stellen immer üben. Auch um die Worte nicht zu verschlucken.
 

Jamil und Ramira beendeten ihr Lied und kamen zur Couch. Beide stürzten synchron ihr restliches Getränk hinter. Ich gratulierte beiden und wollte sie fragen, welche Technik sie anwendeten, um keinen Zungenknoten zu bekommen. Bevor ich auch nur den Mund aufbekam, räusperte sich jemand vor dem Tisch stehend. Chris reichte mir ein Mikrofon, während Timothy vor dem Bildschirm mit Micro in der Hand stand. Chris sagte nichts, doch sein Blick war flehend und bittend zu gleich. Ich sah auf den Bildschirm und las das Lied. Dynamite von BTS. Warum so ein ausgelassenes Lied?
 

„Ich sagte doch, lass dich nicht immer von ihm einspannen“, sagte ich murrend zu Chris.
 

Ich hatte keine Lust laut abzusagen, also blieb ich einfach sitzen. Timothy hob sein Kinn provozierend mit einem frechem Grinsen. Egal ob er Start drücken würde oder nicht, ich blieb sitzen! Timothy war ein guter Sänger, aber ich hatte nicht vor mit ihm zusammen zu singen. Ich hatte mir auch nie vorgestellt, wie es sich anhören würde, wenn wir zusammen sängen noch habe ich je zu der Aufnahme seines Liedes auf meinem Handy mitgesungen, nur um die Harmonie unserer Stimmen wenigstens einmal hören zu können.
 

Timothy startete das Lied. Der Text begann sofort und Timothy begann fehlerfrei mitzusingen. Die hohen Töne zu Beginn waren nicht leicht und doch meisterte er sie spielend. Ich hatte absolut kein Verlangen mitzusingen, ermahnte ich mich. Timothy begann die Strophe. Textsicher drehte er sich zu mir um und sag gerade „Rolling on like a Rolling Stone.“
 

Die Provokation war klar, aber ich würde sitzen bleiben! Das hier war anders als im Probenraum mit der Gitarre. Das Risiko war zu groß und es gab zu viel Publikum. Andererseits waren es Leute, die ich recht gut kannte, glaubte ich. Nein, das Risiko war zu groß, aber ... es könnte einmalig sein.
 

Zwei Takte später war ich aufgesprungen, hatte mir das Mikrofon von Chris gegriffen und stieg ein als es Mehrstimmig weiter ging. Das Verlangen uns zusammen zu hören war größer gewesen. Timothys Stimme war dunkler als meine, also übernahm ich die kleinen Pointen. Laut Vorgabe sang ich den Refrain alleine, also tat ich es. Wir wechselten oder sangen zusammen, je nach Vorgabe des Programmes. Genau genommen, dachte ich diesen Moment gar nicht nach. Ich tat einfach, was ich am besten konnte. Singen und den Rhythmus fühlen.
 

Natürlich hatte ich Spaß. Singen war das, was ich die vergangen Wochen am liebsten mit Timothy zusammen gemacht hätte. Für mich fühlte es sich an wie ein kaltes Eis im heißen Sommer, wenn ich mit einem anderen Sänger gleicher Qualität zusammen sang. Und ich hatte recht gehabt. Unsere Stimmen harmonierten gut zusammen.
 

Unser Publikum hatte ich vollkommen ausgeblendet. Chris, Jasmine und Nayla waren sprachlos. Jamil lehnte sich zurück und genoss die Show. Ramira hatte ihr Handy gezückt und einen kleinen Ausschnitt gefilmt. Es war gegens Licht, darum erkannte man keine Gesichter. Nur die groben Umrisse der Personen, die dort sangen. Begeistert postete sie die gefilmten Sekunden auf Instagram – Wie ich später erfuhr.
 

Das Lied beendet, war mein Puls nach oben geschossen und ich atmete schneller. Timothy ging es ähnlich, nur war er in Übung, weshalb er nicht ganz so gehetzt wirkte. Ich grinste über das ganze Gesicht. Für etwa zwei Sekunden.
 

Als mir aufging, was ich gerade getan hatte, gab ich mich äußerlich geordnet und ruhig, während ich mir das Hirn nach einer guten Ausrede zermarterte. Schweigend legte ich das Mikrofon zurück und setzte mich neben Jamil, der es sich in der Ecke der Couch bequem gemacht hatte.
 

„Das war genial“, lobte Ramira mich. Ihr Handy noch in der Hand. „Ich hab noch nie jemanden gehört, der so gut mit Tim mithalten kann.“
 

„Ich auch nicht“, warf Nayla ein und schaute scheinbar beleidigt zur Seite. „Sollte nicht ich, als seine Schwester, eine so gute Stimme haben?“
 

„Du hast dein Aussehen und andere Talente“, sagte Timothy zu ihr und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Das Mikrofon noch in der Hand, wirkte er bereit für die nächste Schandtat.
 

„Er war überraschend gut“, gestand Jasmine mir zu. Ein ziemliches Lob von ihrer Seite, wie ich fand.
 

„Jaa~“, stimmte ich verlegen zu. „Das war nur in der Hitze des Gefechts. Ich höre euch lieber zu“, wiegelte ich ab und hoffte das Thema woanders hin zu lenken.
 

„Ich sagte doch: Mein Gefühl sagt mir, er kann singen“, warf Timothy ein.
 

„Du hast nur gesagt, dass er musikalisch gut ist und Noten lesen kann“, verbesserte ihn Chris. Timothy neigte seinen Kopf überlegend, während Jamil neben mir laut anfing zu lachen.
 

„Ich find’s gut, dass es auch andere Sänger als Tim gibt. Seine Höhenflüge sind manchmal nicht auszuhalten.“ Jamil lachte noch immer und klopfte mir dabei brüderlich auf die Schulter. Ich war dankbar, dass er das Thema umlenkte, darum ließ ich ihn machen.
 

„Hmpf“, schnaufte Timothy. „Ihr könnt einfach keine Kritik ab.“
 

„Das hat nichts mit Kritik zu tun, wenn du jedes Duell gewinnst“, insistierte Jasmine.
 

„Haha! Wer singt als nächstes?“, fragte Jamil. „Ich passe und Mik denke ich auch.“
 

„Ich würde nochmal Getränke holen“, bot Chris sich an und sammelte die Wünsche von allen ein. Die Mädels gingen die Liederliste durch, welche ihnen gerade Random angeboten wurde. Ich fühlte mich, als hätte ich einen kleinen Marathon hinter mir. Ganz zu schweigen davon, dass ich am liebsten weiter machen würde. Timothy stand neben dem Schnatterhaufen und schicke ein hämisches Grinsen zur Couch rüber. Ich konnte es nicht fassen, dass ich wirklich auf ihn reingefallen war! Wie lange hatte er das geplant? Sich ausgedacht? Wichtiger noch, was war sein Ziel? Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen und musste mich UNbedingt singen hören? In Gedanken versunken, begann ich an meinem Daumennagel zu knabbern.
 

„Er wird nichts tun“, sprach Jamil leise neben mir. Überrascht sah ich zu ihm. „Wirklich nichts. Tim wirkt ungehobelt, aber er hat einen weichen Kern. Du weckst sein Interesse. Alle anderen Sänger in seinem Semester kann er nämlich locker in die Tasche stecken.“
 

Jamils ruhige Art zog mich mit und ich entließ meinen Daumen. Nicht ganz überzeugt, schielte ich nach vorne zu Timothy, der mit den Mädels eifrig am Diskutieren war. Jamil hatte Recht und eigentlich wusste ich es selbst, nur war ich nicht bereit alte Kamellen aufleben zu lassen. Es hatte Spaß gemacht, solange es nicht ernst wurde, aber nun? Konnte ich Timothy vertrauen? Würde er schweigen, wenn ich ihn darum bat?
 

„Aber dieses Lied kommt nicht so oft!“, warf Nayla ein.
 

„Und trotzdem hast du es letztens erst gesungen. Wie wäre es mit was anderem. Du magst doch Herausforderungen. Nimm das hier.“
 

„Ich will aber nicht!“
 

„Und das hier?“, fragte Ramira.
 

„Das kommt doch ständig“, meinten Jasmine und Nayla, wie aus einem Mund.
 

Timothy zuckte mit den Schultern. „Ihr habt wirklich keinen Geschmack. Was ist mit dem? Wolltet ihr da nicht eine Wiederholung, weil Jassi sich angeblich verschluckt hatte?“
 

Jasmine lief rot an und argumentierte dagegen. Mir rann ein Schweißtropfen von der Schläfe. Seit ich den Titel des Liedes gelesen hatte, rührte ich mich nicht mehr und vergas zu atmen. Erst Jamils Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammenzucken und holte mich ein Stück weit zurück. Ich sah ihn nicht an und verlor nichts von meiner Anspannung. Aber zumindest atmete ich wieder. Ich hätte mich geehrt fühlen können, eines meiner Lieder beim Karaoke zu sehen und auch, dass jemand es singen wollte. Stattdessen verengte sich mein Blick und ich hörte mein Herz laut in meinen Ohren schlagen. Was zur Hölle machte mein Lied hier?!
 

Nach einem kleinen Hin und Her, wählten sie ein anderes Lied. Timothy blieb stehen, bis das neu gewählte Lied anspielte. Das war Beweis genug. Er wusste es! Er wusste, dass Nayla mein altes Lied wählen wollte und er wusste, dass ich sofort weg wäre, würden sie es spielen. Geschickt hatte er sie zu einem anderen Lied überredet, womit mein Lied von der Randomliste verschwand. Vorerst. Aber … er wusste es! Wie viel noch? Panik kroch in mir hoch und meine Augen weiteten sich etwas, als er näherkam und sich rechts neben mich setzte. Ich war so angespannt, dass ich es nicht mal fertig brachte meinen Kopf zu ihm zu drehen oder einen Spruch zu lassen. Schockiert über die Erkenntnis, fragte ich mich, was er noch wusste, wie weit er nachgeforscht hatte. Jamil war das eine. Er war ein Fan und schien den Schmutz in den Medien live miterlebt zu haben. Aber Timothy … Meine Panik ließ mich nicht sonderlich weit denken.
 

Ich bekam auch nicht mit, dass Timothy sich zurückgelehnt hatte und mich besorgt musterte, oder dass er mit Jamil einen vielsagenden Blick austauschte.
 

„Mik“, begann Jamil vorsichtig, aber ich senkte meinen Blick. Nervös wippte Jamils Fuß auf der Stelle. Es gab nur noch eine logische Handlung für mich. Ich musste gehen. Sofort! Ich spannte meine Beine an, bereit aufzustehen und diese Hölle hinter mir zulassen. In diesem Moment spürte ich eine Berührung am unteren Rücken und zuckte leicht zusammen. Finger gingen tapsig auf meiner Wirbelsäule auf und ab. Leicht wie Fliegenbeine. Mein Kopf ruckte nach rechts und ich sah Timothys ruhiges Gesicht, seinen Blick auf mich gerichtet. Ich sah keine Schadenfreude, keinen Hohn. „Er wird nichts tun“, hallten Jamils Worte in meinen Kopf wider. Vielleicht deshalb und weil meine Konzentration sich auf die Finger an meinem Rücken richtete, ließ meine Anspannung nach und mein Fluchtgedanke verflog.
 

„Ich geh mal gucken, wo Chris bleibt“, sagte Jamil, erhob sich und war weg. Wohin er ging, war mir egal. Welches Lied die Mädels sangen und wie schief es wurde, war mir egal. Ich folgte den Fingern, welche meine Wirbelsäule langsam hochliefen. Etwa auf Höhe des Brustkorbes, war ich soweit runtergekommen, dass ich mit meinem Hintern das letzte Stück zurück auf die Couch rutschte. Die Finger erreichten den Kragen meines Shirts. Warme Tapse brannten sich auf meiner ausgekühlten Haut ein. Die Finger streckten sich, bis schließlich Timothys Handfläche auf meinen Nacken lag. Das Gefühl von Haut auf Haut war angenehm. Die Anspannung verließ mich komplett und ich lehnte mich ebenfalls zurück. Ich hatte nicht gewusst, dass seine Hände sich so gut anfühlten. Beinahe vergaß ich, was mich gerade noch panisch gemacht hatte.
 

„Wie viel“, brachte ich die unfertige Frage hervor.
 

„Weniger als du denkst“, antwortete Timothy. Seine Stimme sanft. Ich sah zu ihm auf und wusste nicht wohin mit mir. Meine Panik hatte ein wenig Wut und Empörung enthalten. Nun wich all das und ich fühlte mich wie nach einer bitteren Niederlage. Läge seine Hand nicht in meinem Nacken, wäre ich mir nicht mal sicher, ob ich selbstständig saß oder irgendwo durch den Raum trudelte. Mein Kopf war schwer, meine Gedanken schwerer. Ich glaubte, dass mit der Lüftung dieses Geheimnisses alles vorbei wäre. Doch mein Körper fühlte sich leicht an und etwas warmes sammelte sich in meiner Brust.
 

„Dann such nicht weiter“, bat ich schwach. Es wäre erniedrigend, peinlich und aufwühlend. Ich wollte einfach nicht, dass jemand diese Schmach von damals wieder ausbuddelte. Vor allem Timothy sollte sie nicht ausbuddeln. Mir wäre es lieber, man würde mich in der Geschichte der Musik einfach vergessen. Jamils Wunsch, dass ich wieder sang, konnte ich nicht erfüllen. Dazu fehlte mir schlicht die Kraft und das Selbstvertrauen. Ich wollte nichts davon nochmal erleben, es hatte mich schlichtweg ausgebrannt.
 

Die Hand in meinem Nacken bewegte sich und zog mich näher. Ich ließ ihn gewähren, da mein Körper sich erstaunlich gehörig zeigte. Für den Moment schloss ich meine Augen und spürte die langen Finger an meinem Ohr und in meinen Haaren. Sie schickten angenehme Schauer meine linke Körperhälfte hinab. Mein Kopf wurde leichter und meine Finger kribbelten. Ich spürte wie die Traurigkeit über mein Lebens ich neben etwas Neues setzte, das warm und stark erschien. Timothys Atmen strich meine rechte Schläfe und sein Geruch stieg in meine Nase. Ziemlich belebend und frisch für jemanden wie ihn. Nach weiteren Sekunden hob ich meinen Kopf etwas an und bekam seinen Atem direkt ins Ohr. Nun kribbelte auch noch meine gesamte rechte Seite, bis runter in die Zehen.
 

„Ich kann nicht“, flüsterten Worte in mein Ohr und ließen es noch mehr Kribbeln. Seine Hand sank und legte sich wie beiläufig um meine Taille.
 

Verwirrt hob ich meinen Kopf und sah direkt in die dunkelbraunen Augen. Die bunten Lichter des Raumes spiegelten sich in ihnen wider. „Mh?“
 

„Ich werde weitersuchen, Mik“, sagte Timothy so leise, dass ich glaubte mich verhört zu haben. Nach der endlosen Leere und dem beginnenden tuffigen Gefühl in meinem Magen, fühlte sich die Wut, die jetzt aufstieg, viel heißer an. Meine Stimme verschluckt, starrte ich mit geweiteten Augen zurück. Ich dachte, wenn ich ihn bitten würde, würde er es annehmen. Jamil sagte doch, er sei nicht so!
 

„Ich werde weitersuchen“, wiederholte Timothy ruhig, aber bestimmt, „Weil ich noch mehr mit dir singen will.“
 

Hatte er sie noch alle? Ja, unsere Stimmen klangen gut zusammen, aber ich wollte meine Verbindung zur Musik kappe und das gelang mir erst seit kurzen einigermaßen gut. Nun kam er und ... dachte er, es sei leicht sich von allem zu lösen? Frustriert und wütend, verdrängte ich alles tuffige, was sich eben noch gut angefühlt hatte und hob meine linke Faust. Ich schlug zu, aber Timothy hielt sie auf. Einen zweiten Schlag schaffte ich nicht, da Chris auftauchte. Er hatte das Tablett mit den Getränken auf den kleinen Couchtisch gestellt und schob nun meine und Timothys Hand auseinander.
 

„Ruhig Blut ihr zwei“, bat Chris und schaffte es mich wegzudrängen, sodass er sich zwischen mich und Timothy setzten konnte. Die Nähe zum Sänger war beendet. Allein die restliche Wärme seiner Hand verweilte oberhalb meiner Hüfte.
 

„Ich weiß nicht, was war, aber das lässt sich sicher regeln. Hier. Eure Getränke. Kühl und Frisch. Bringt euch wieder runter“, sagte Chris und wurde zunehmend nervöser, je mehr er redete. Scheinbar war er nicht der typische Streitschlichter.
 

Da wir unterbrochen wurden, eh wir wirklich anfangen konnten und nur ich derjenige war, dem die Wut hochgekocht war, ebbte die hitzige Stimmung schnell ab. Timothy lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Auf Drängen von Chris, nahm er diesem sein Glas gekühlte Cola ab und hielt sie in der Hand ohne zu trinken. Mein Blick hing an den langen Fingern, welche das Glas sicher fassten. Nachdem Chris mir meine Sprite gereicht hatte, sah ich weg.
 

Die Kälte in meiner Hand beruhigte mich. Die Mädels beendeten ihr Lied, was mir bewusst machte, dass all das nicht mal drei Minuten gedauert hatte. Dabei hatte es sich viel länger angefühlt. Vor allem als Timothy mich in den Arm … Ich brach meinen Gedanken ab. Das Schlimme an starken Emotionen und Schockmomenten war, dass man erst im Nachhinein realisierte, was passiert war. Dass, während die Mädels wetteiferten, ich mich von Timothy hatte in den Arm nehmen lassen und es mich nicht nur beruhigt, sondern auch angenehm gewesen war. Seine Nähe hatte sich verdammt gut angefühlt. Dabei war er überhaupt erst Schuld an meiner Panik!
 

Nein, genau genommen, war es mein eigenes Lied und die Tatsache, dass ich zu Feige war mich dem zu stellen, was lange vergangen war.



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