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Eren

Geheimnisse der Turanos
von

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Eine schwierige Frage

Nach den Fitnessübungen blieb nur noch ein Punkt übrig: Tests und Untersuchungen bei Dr. Ryu. Eigentlich hätte er nach den Blutuntersuchungen, Elektro- und Giftimunisierungsdosen und der täglichen Allgemeinuntersuchung Feierabend gehabt, aber nein, Ajax musste ihm ja unbedingt eine Strafe aufladen, die die ganze Nacht dauern soll. Und das nur, weil er … keine Ahnung weshalb!

Aber sich darüber aufzuregen bringt nichts. Es würde die Sache nur schlimmer machen.

 

„So. Dann sind wir fertig für heute“, verkündet die Ärztin, nachdem sie Erens Herz und Lunge abgehorcht hat, um sicherzugehen, dass nach der Toxinladung keine negativen Effekte zurückgeblieben sind.

 

Eren zieht sich das T-Shirt über den Kopf und gleitet vom Untersuchungstisch. „Schön wär´s. Ajax hat mir noch eine Strafe aufgebrummt.“

 

„So? Was hast du denn angestellt?“, schmunzelt sie, ohne ihre Aufräumarbeiten zu unterbrechen.

 

„Gar nichts! Ajax quält mich einfach nur gern“, behauptet Eren eingeschnappt. Bei Dr. Ryu hat er keine Angst zu sagen, was er wirklich denkt. Er vertraut ihr. Sie würde nie seiner Familie verraten, was er ihr anvertraut. Umgekehrt ist es genauso, weshalb sie sich bei ihm auch traut sich über seine Familie zu beschweren.

 

„Ja, Ajax hat eine starrsinnige Art, wenn es um deine Ausbildung geht. Da lässt er sich von niemanden reinreden. Nur leider ist er deswegen auch oft sehr streng. Zu streng, meiner Meinung nach“, gesteht Dr. Ryu mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. Bevor sich Eren darüber wundern kann, räuspert sie sich, schließt die Schranktür und lehnt sich mit dem Tablet in der Hand ans Waschbecken, um ihre Ergebnisse in Erens Akte einzutragen. „Also, was ist nun deine Strafe?“

 

„Ich soll die ganze Nacht Gewichte durch die Gegend fliegen“, stöhnt der Junge jetzt schon genervt davon.

 

Mit geweckter Neugier sieht die Frau den Zwölfjährigen an. „In welcher Form?“

 

„In beiden.“ Eren leert das Glas Wasser, das ihm Dr. Ryu freundlicherweise gegeben hat, und stellt es danach auf der Ablage neben dem Waschbecken ab. „Morgen werde ich sicher meine Arme nicht mehr spüren.“

 

„Perfekt“, freut sich die Ärztin.

 

Perplex blinzelt der Junge sie an. „Perfekt? Was ist perfekt daran, dass ich meine Arme nicht mehr bewegen kann?“

 

„Was?“ Verwirrt sieht die Frau zu dem Kind, das jetzt genauso verwirrt zurück sieht. Dann scheinen die Worte erst zum Gehirn der Ärztin vorzudringen. Ein amüsiertes Lächeln erscheint auf ihren Lippen. „Nein, so war das nicht gemeint. Ich meinte: perfekt, dass du in beiden Formen trainieren musst“, erklärt sie, schnappt sich ein Maßband, das sie in die Tasche ihres Laborkittels steckt, und geht einen Schritt auf Eren zu. „Du warst mein letzter Termin für heute, das heißt, ich komme mit. Es ist schon eine Weile her, seit wir zuletzt deine Flügelspannweite gemessen haben, nicht?“

 

„Ja, kann sein.“

 

Er merkt sich solche Dinge nicht, ist aber froh über Gesellschaft. Besonders da es schon spät ist und alle anderen Menschen im Bunker in ihren Schlafräumen sind. Deshalb ist es auch gespenstisch ruhig auf dem Weg zur Trainingshalle. Nur ab und zu treffen die beiden eine patrouillierende Wache. Jeder Schritt verursacht ein hallendes Echo im Korridor, das von den Wänden zurückgeworfen wird.

 

„Na?“, durchbricht die Ärztin bald die Stille. „Willst du mir jetzt sagen, was Ajax nicht gefallen hat?“

 

„Ach, keine Ahnung. Vielleicht hat er nur schlecht geschlafen, oder so“, meint Eren, legt dabei die Hände an den Hinterkopf. Er weiß, dass er der Ärztin keine Details über Missionen erzählen darf, bei denen sie selbst nicht involviert ist. Auch wenn er selbst eh nichts über die Person im Krankenhaus weiß. „Wir waren heute auf einer Mission ...“

 

„Heute?“, unterbricht Dr. Ryu ihn überrascht. „Und das obwohl ihr vor nicht einmal 24 Stunden erst von der Eiersuche zurückkamt?“

 

„Ja. Ich bin ja schon froh, dass ich duschen durfte und ein paar Stunden schlafen“, gesteht der Junge.

 

Inzwischen haben sie ihr Ziel erreicht. Die Sporthalle ist ein großer Saal mit einer Decke, die so hoch ist, dass man problemlos umherfliegen kann. Es hängen dafür sogar Trainingsgeräte an der Decke. Neben der Eingangstür sind mehrere Regale aufgereiht mit Utensilien und Hilfsmitteln für alle möglichen Trainingsarten.

 

Eren bleibt vor ein paar Gewichten stehen, die er die nächsten Stunden herumtragen soll. Ajax hat nicht gesagt, wie schwer die Gewichte sein sollen, grinst er in sich hinein und schnappt sich zwei der leichtesten Hanteln. Wenn er so darüber nachdenkt, hat sein Bruder nicht nur über die Gewichte nichts gesagt, auch die Höhe, die Flugmanöver oder den Windtunnel hat er nicht erwähnt. Irgendwie seltsam, dass der sonst so gewissenhafte Ajax nichts davon erwähnt hat. Aber für Eren ist das gut, also beschwert er sich nicht. Als er sich mit den Zehn-Kilo-Hanteln zu der Frau umdreht, schmunzelt diese ihn wissend an.

 

„Ajax war wohl nicht sehr präzise in der Beschreibung, was?“, errät sie.

 

Zur Antwort wird Erens Grinsen noch breiter. „Ich tue genau das, was Ajax gesagt hat. Ist nicht meine Schuld, wenn er so ungenau war.“

 

„Hoffentlich findet er das nicht heraus“, sagt die Frau besorgt.

 

„Also ich werd´s ihm nicht verraten. Und du sicher auch nicht. Er wird’s nicht herausfinden“ , meint Eren überzeugt. Doch sein Lächeln weicht nach einer Sekunde einem grüblerischen Ausdruck. „Außer er sieht sich die Überwachungsbänder an.“

 

„Tja, dann lass uns hoffen, dass er nicht auf die Idee kommt“, zwinkert Dr. Ryu. Sie legt ihr Tablet ab und zieht das Maßband aus dem Kittel. „Ich bin soweit.“

 

„Welche Form zuerst?“, möchte der Junge wissen.

 

Na welche wohl? Die bessere natürlich!

 

Stimmt. Die dämonische zuerst. Jeder weiß, das beste kommt zum Schluss.

 

„Ist mir eigentlich egal. Mit welcher du anfangen willst“, entscheidet die Ärztin schulterzuckend.

 

Unabhängig von den überflüssigen Meinungen entscheidet sich Eren für die Dämonenflügel. Aus dem einfachen Grund, dass er sich dann keine Beschwerden anhören muss. Nur einen Herzschlag später bilden sich die dunklen Fledermausschwingen und seine blaue Iris färbt sich lilafarben. Die Teilverwandlungen hat er mittlerweile ganz gut drauf, im Gegensatz zu seinen anfänglichen Schwierigkeiten, die sehr … interessant aussahen.

 

Ha! Ich wusste, dass dir meine Kraft lieber ist, Kleiner!

 

Staunend verfolgt die Frau die Verwandlung. „Ich bin immer wieder fasziniert, wie vielfältig du dein Aussehen ändern kannst. Du bist wirklich etwas besonderes, Eren.“

 

„Ach, Quatsch“, winkt Eren ab und dreht den Kopf weg, um die Röte seiner Wangen zu verbergen. „Es gibt hier viele, die sich verwandeln können. Zum Beispiel Wilma.“

 

„Das mag sein, aber du bist der einzige, der zwei komplette und viele Zwischenformen hat. Du bist einzigartig“, wiederholt Dr. Ryu noch immer im Staunenmodus.

 

Verlegen kratzt sich der Junge am Hinterkopf, unsicher wie er mit der Situation umgehen soll. Er bekommt kaum Komplimente oder Lob zu hören. Eine der wenigen Dinge, die ihm Ajax nicht gelehrt hat.

 

Schleimerin.

 

Tut doch gut auch mal was Nettes zu hören.

 

Die Frau strafft die Schultern und konzentriert sich wieder auf ihr eigentliches Vorhaben. „Leg dich auf den Boden und breite die Flügel aus.“

 

Der Junge tut wie ihm geheißen. Da seine Flügelspannweite zu groß ist, um sie allein messen zu können und Erens Arme zu kurz sind, ist dies die einzige Methode, um seine Spannweite zu ermitteln. Die Frau fixiert das eine Ende des Maßbandes unter ihrem Tablet und geht dann ans andere Ende der Schwingen.

 

„Also? Was war auf der Mission“, nimmt sie das ursprüngliche Thema wieder auf.

 

Eren hat die Hände auf den Bauch gelegt und wartet. „Naja, eigentlich sollte ich aufpassen, dass niemand ins Zimmer geht und Ajax stört, aber dabei wurde ich gestört. Ein echt nervtötender Junge hat mich ohne Punkt und Komma vollgequatscht und wollte einfach nicht verschwinden.“

 

Dr. Ryu kommentiert das mit einem belustigten Kichern während sie das Ergebnis eintippt. Inzwischen setzt sich Eren auf, um die Flügel auszutauschen. Die Dämonenschwingen verschwinden, seine Augen werden für einen kurzen Moment blau bevor er die zweite Form aktiviert. Diesmal ist es weißer Rauch aus dem sich weiche, weiß gefiederte Flügel formen, die genauso wie die anderen unsichtbar mit seinem Körper verbunden sind. Seine Augen haben nun eine grüne Farbe als er sich zurücklehnt und die Flügel ausbreitet.

 

Wieder ist Dr. Ryu begeistert. „Ich mag die Form lieber. Damit siehst du freundlicher aus, nicht so bedrohlich.“

 

Danke, Dr. Ryu.

 

Hmpf.

 

„Und weiter? Du warst bei dem nervigen Jungen.“ Sie lässt einfach nicht locker.

 

„Egal was ich versucht hab, der Junge hat mich nicht in Ruhe gelassen.“ Eren schnaubt leise. „Dann ist Ajax gekommen und hat gesehen, wie ich mit dem anderen gesprochen hab, obwohl ich nur sagte, dass er verschwinden soll. Ajax dachte, ich hätte ihm irgendwelche Geheimnisse verraten – Was ich natürlich nicht getan hab! Er hat mir einen „Du brauchst keine Freunde“-Vortrag gehalten und mich zu einer Flugnacht verdonnert. Siehst du? Ich hab nichts falsch gemacht.“

 

Jetzt ist die Ärztin diejenige, die abfällig schnaubt. „Dieser Ajax! Er war schon immer so emotionslos und viel zu sehr auf Regeln fokussiert, die total sinnlos sind.“

 

„Tja, so ist mein Bruder eben“, seufzt Eren. Er kann ja doch nichts daran ändern. Außerdem hat er jetzt genug davon über Ajax zu sprechen. Er steht auf, schnappt sich die Gewichte, die er vorhin abgelegt hat und beschließt jetzt in dieser Form zu bleiben, auch wenn sich die raue Stimme sofort beschwert, was Eren mit eigenen Worten zu übertönen versucht. „Willst du nicht nach Hause gehen? Du hättest ja jetzt eigentlich frei.“

 

„Ich bleib noch ein bisschen und leiste dir Gesellschaft“, entscheidet Dr. Ryu lächelnd. Sie setzt sich auf die Bank, schlägt die Beine übereinander und rückt ihre Brille zurecht. „Außer du willst lieber allein sein.“

 

Eren zuckt mit den Schultern. „Wie du willst.“

 

Im Inneren ist er froh darüber, dass sie noch bleibt, aber das kann er nicht sagen. Es würde ihm zwar nichts ausmachen allein zu sein, aber einen netten Gesprächspartner zu haben ist selten hier im Bunker und auf dem Anwesen und auch im Familienunternehmen allgemein.

 

Um nicht noch länger zu trödeln, beginnt er mit den Schwingen zu schlagen und vom Boden abzuheben. Ganze dreißig Zentimeter! Auf dieser Höhe bleibt er.

 

„Sag mal, Dr. Ryu, wo wohnst du eigentlich?“ Eren ist gerade aufgefallen, dass er nie gesehen hat, dass sie den Bunker je verlassen hätte.

 

Überrascht von der Frage blinzelt die Frau ein paar Mal ehe sie antwortet. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

 

Erneut zuckt Eren mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gefühlt wohnst du hier.“

 

Die Ärztin lächelt milde. „Ich arbeite eben sehr gern hier. Aber ich hab natürlich auch ein Privatleben. Wenn auch nur ein paar Stunden in der Woche. Ich hab eine kleine Wohnung im Zentrum von Haikla City. Willst du mich etwa mal besuchen kommen?“

 

Der Junge schüttelt den Kopf. „Ich glaub kaum, dass ich das dürfte. Ajax und Vater lassen mich doch keinen Schritt ohne ihr Wissen tun.“

 

„Das muss schwer für dich sein. So überwacht zu werden, meine ich.“ Mitfühlend sieht sie ihn an.

 

Eren überlegt einen Moment und schüttelt dann den Kopf. „Nicht wirklich. Ich kenne es nur so.“

 

Der mitfühlende Ausdruck in den braunen Augen hinter den Brillengläsern wird noch trauriger als sich Dr. Ryu etwas vorbeugt. „Sag mal, Eren, bist du eigentlich glücklich?“

 

~~~

 

Sobald am nächsten Morgen die ersten Menschen zum trainieren in die Sporthalle kommen, beendet Eren seine Strafe. Er räumt die Hanteln auf, lässt die Flügel verschwinden und schlürft durch die Gänge auf den geheimen Tunnel zu. Unterwegs rennt er mehrmals in Wachen oder andere Kräftemenschen hinein. Er hat Mühe die Augen offenzuhalten und jede Bewegung brennt in seinen Muskeln. Sogar die Flügelmuskulatur, obwohl sie gar nicht mehr da sind. Beinahe jede Minute muss er die Hand heben, um sein Gähnen zu verbergen. Von den anderen Menschen wird er seltsam gemustert, was ihn überhaupt nicht kümmert. Er will nur eins: in sein Bett.

 

Eigentlich kommt er locker ein paar Tage ohne Schlaf aus, aber die letzten vier Tage hat er kaum geschlafen, kaum eine Sekunde Freizeit gehabt, immer nur Mission oder Training. Das schlaucht mit der Zeit doch ganz schön. Noch dazu hat ihm Dr. Ryu, bevor sie dann gegen 0:30 Uhr doch nach Hause gegangen ist, eine Frage gestellt, an die er ständig denken muss.

 

Sag mal, Eren, bist du eigentlich glücklich?

 

Glücklich. Tja, wenn er das nur wüsste. Wie fühlt sich Glücklichsein an? Er kennt nur das Leben eines Erforschers, eines Diebes, eines Assassinen. Er hat ihr zwar mit einem sicheren Ja geantwortet, aber ob das stimmt, weiß er nicht.

 

Im Wagen der Einschienenbahn muss sich der Zwölfjährige tierisch anstrengen, um nicht einzuschlafen. Er nutzt die Zeit, um etwas wacher zu werden. Zumindest ein bisschen bevor er auf seine Familie trifft. Mit etwas Glück ist es noch zu früh, um jemanden zu treffen. Ein letztes Mal klopft er sich auf die Wangen, dann betritt er das Wohnzimmer. Prompt findet er sich Nase an Nase mit Ajax wieder. Natürlich. Der ältere Turano sitzt auf der Lehne der Couch und sieht seinen Bruder mit seiner typischen nichtssagenden Mimik an. Schläft er überhaupt irgendwann?

 

Eren, der sofort hellwach … nun ja, etwas wacher … ist, stellt sich kerzengerade hin. Innerlich verabschiedet er sich schon mal von seinem Bett und der Hoffnung auf ein wenig Ruhe. „Guten Morgen, Ajax.“

 

„Guten Morgen, Eren. Ich nehme an, du hast die ganze Nacht trainiert?“, erkundigt er sich ohne Umschweife.

 

Der Junge nickt. „Klar. So wie du gesagt hast.“

 

„Hast du deine Lektion gelernt?“, hakt Ajax nach.

 

„Ja, Ajax. Ich werde nie mehr mit Fremden reden, sondern sie ignorieren, um nichts ausversehen zu verraten“, rattert Eren runter. *Bitte, lass mich in mein Zimmer gehen.*

 

„Gut.“ Ajax Gesicht wirkt zufrieden. Irgendwie. So genau kann man es bei seiner Emotionslosigkeit nicht sagen. „Aber das wirst du müssen.“

 

„Hä?“ Eren steht ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Jetzt versteht er gar nichts mehr. Er wurde bestraft, weil er mit einem fremden Jungen geredet hat und jetzt sagt Ajax, er soll aber mit Fremden sprechen? Hat er sich verhört? Das muss es sein. Er ist so müde, dass er schon Dinge hört.

 

Ajax rutscht von der Lehne und winkt Eren hinter sich her. „Komm. Vater will dich sehen.“

 

*Oh, nein.* Das letzte Mal, als er bei Vater war, hat er eine neue Mission bekommen. Eren seufzt schwer, lässt die Schultern hängen und trottet Ajax hinterher. Bevor dieser seine Niedergeschlagenheit sehen kann, reißt sich der Junge zusammen. Auch wenn´s ihm schwer fällt.



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