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Eren

Geheimnisse der Turanos
von

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Die zwei Spiegel

Den restlichen Tag muss Eren wieder mit seiner täglichen Routine verbringen. Training, Tests und Abhärtungsmaßnahmen.
 

Nachdem er seinen Smoking gegen einen Trainingsanzug getauscht hat, musste er zusammen mit seinem Vater ins Labor von Dr. Ryu gehen, für eine weitere Dosis Elektrizität. Er wurde an einen Stuhl gefesselt und an eine merkwürdige Maschine angeschlossen, die über Elektroden mit seinem Körper verbunden war. Mit zusammengebissenen Zähnen hat er die Stromstöße ertragen bis sich seine Haut an den Stellen, an denen die Elektroden kleben, schwarz gefärbt hat und es im Raum penetrant nach verbranntem Fleisch roch. Die Ergebnisse hat die Ärztin dem zufrieden nickenden Turano mitgeteilt und gleichzeitig detailgenau in ihr Tablet eingetragen.
 

Noch bevor die Wunden vollständig heilen konnten, wurde der nächste Test durchgeführt. In einem großen Glastank, der bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, wurde Eren eingesperrt und die Zeit gemessen bis er ohnmächtig wurde, um herauszufinden, wie lange er die Luft anhalten kann, nachdem er starker Elektrizität ausgesetzt war. Auch dieses Ergebnis wurde ordentlich notiert.
 

Wozu das gut sein soll? Keine Ahnung. Turano hat die Test angeordnet, seine Beweggründe behält er dabei für sich. Dr.Ryu und Eren müssen nur gehorchen.
 

Anstatt darauf zu warten bis Eren wieder das Bewusstsein erlangt, hat man ihm eine Spritze verpasst, woraufhin er sofort die Augen aufschlug. Das ist zwar nicht die gesündeste Art, aber sein Terminkalender ist schließlich viel zu voll, um auch nur eine Minute Pause dazwischenzuschieben. Zumindest waren durch den Atem-anhalte-Test die Verbrennungen genesen, sodass er sofort weitermachen konnte. Dass seine Muskeln noch nicht ganz gehorchen wollten, das interessierte niemanden. Es gehört eben auch zum Training zu lernen mit einem geschwächten Körper kämpfen zukönnen.
 

Der nächste und glücklicherweise letzte Punkt auf der Liste, ist das Kampftraining mit Ajax, der ihn bereits auf dem Trainingsgelände hinter dem Anwesen erwartet.
 

Auf dem Weg von der Terrassentür des Wohnzimmers bis zum Trainingsgelände und Ajax, lässt Eren seine Arme und Schultern kreisen, um die verspannten Muskeln von den vorherigen Tests zu lockern, um zumindest eine etwas bessere Chance gegen seinen Bruderzu haben. Ajax erwartet den Jungen bereits mit ungeduldig trommelnden Fingern. Sein Gesicht ist so rätselhaft und undeutbar wie immer. Er hat seinen Anzug auch gegen bequemere Trainingskleidung getauscht, seine blonden Haare stehen wieder wie gewohnt in alle Richtungen ab und ein Stirnband hält die Strähnen von den Augen fern. In jeder Hand hält er einen Dolch bereit.
 

„Du kommst spät", grüßt ihn sein großer Bruder.
 

„Ja, sorry. Vater wollte heute etwas genauer forschen", verteidigt sich Eren.
 

Er kann schließlich nichts dafür, dass Turano die Stromtests heute etwas länger angesetzt hat als vorgesehen. Außerdem hat er sich noch fingerlose Handschuhe aus seinem Zimmer holen müssen, die fast bis zum Ellbogen reichen. Einerseits um seine Hände beim Training ein wenig zu schützen und andererseits um seine Male zuverstecken. Die schwarze Farbe lässt sich nämlich nicht mehr nur mit den Ärmeln verbergen. Mit denen seines T-Shirts schon gar nicht. Und er will nicht, dass Ajax weiß wie weit die Male schon sind, um noch strengeres Training zu vermeiden.
 

Ajax sagt nichts weiter zum Zuspätkommen, stattdessen hält er ihm den Griff des einen Dolches entgegen. „Da du auf deiner Mission morgen nur einen Dolch als Waffe dabeihaben wirst, möchte ich sehen wie gut du damit umgehen kannst."
 

„Also keine Kräfte?", fragt Eren nach und nimmt den einfachen Dolch entgegen. Er hat gehofft durch das Training die Farben noch etwas schrumpfen zu können. Aber wenn ohne Fähigkeiten gekämpft werden soll, kann er das vergessen.
 

„Nein", antwortet der junge Mann schlicht, entfernt sich ein paar Schritte von seinem Bruder und nimmt die Kampfposition ein. „Ich werde keinerlei Rücksicht nehmen."
 

*Als hättest du das je getan*, denkt Eren innerlich mit den Augen rollend und geht ebenfalls in Kampfstellung.
 

„Wir trainieren unter realen Bedingungen. Wenn einer nicht mehr weiterkämpfen kann, ist das Training beendet. Nicht vorher", verdeutlicht der Ältere betont.
 

„Also alles so wie immer", murmelt der Junge genervt und amüsiert zugleich.
 

Auch wenn Ajax die Worte nicht verstanden hat, so hat er dennoch gesehen, dass sich die Lippen seines kleinen Bruders bewegt haben. Streng kneift er die Augen zusammen. „Hast du was gesagt?"
 

„Nur, dass wir meinetwegen anfangen können", ruft Eren schelmisch grinsend zurück.
 

Es ist deutlich, dass Ajax ihm nicht glaubt, doch er belässt es dabei, richtet die Klinge auf ihn und geht noch etwas weiter in die Hocke. „Los!"
 

In rasantem Tempo sprintet der Mann auf das Kind zu, die Waffe in der rechten Hand, bereit zuzustechen. Eren lässt ihn keine Sekunde aus den Augen, verfolgt genau jede kleine Bewegung seiner Muskeln und wartet einfach ab. Als Ajax in Reichweite ist und bereits ausholt, mit den Rippen seines Gegners als Ziel, springt Eren in letzter Sekunde mit Leichtigkeit zur Seite und holt seinerseits mit dem Dolch aus. Blitzschnell wirbelt Ajax herum, fängt die Klinge mit der eigenen ab und verpasst dem Jüngeren einen harten Tritt gegen die ungeschützten Rippen.
 

Eren spürt deutlich den explodierenden Schmerz in der Seite, wird durch die Wucht von den Füßen gerissen und kommt einige Meter weiter, nach ein paar unfreiwilligen Purzelbäumen, zum Stehen. Wütend auf sich selbst, dass er diesen einfachen Schlag nicht hat kommen sehen, spannt er den Kiefer an. Dabei betastet er vorsichtig seine Rippen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie von Ajax zertrümmert wurden, doch er spürt zum Glück keinen Bruch.
 

Da er seinen Bruder nicht aus den Augen gelassen hat, kann er dem nächsten Fußtritt mit einem Sprung über Ajax' Kopf hinweg abwehren und selbst zustechen. Nur leider hat sein Bruder diesen Trick selbst erfunden. Sein Tritt war nur dazu gedacht ihn zu diesem Sprung zu verleiten, um ihn mit dem Dolch zu begrüßen. Eren sieht zwar die silberne Klinge auf sich zukommen, doch mitten in der Luft kann er die Richtung nicht ändern, weshalb ihm nichts anderes übrig bleibt als sich auf den Schmerz vorzubereiten. Er versucht zwar mit der eigenen Waffe zu blocken, doch verfehlt die Klinge.
 

Ihm bleibt gerade einmal Zeit „verdammt" zudenken, als der Dolch auch schon in seiner Magengrube versenkt wird. Schnell bringt er sich mit einem Rückwärtssprung wenige Meter in Sicherheit, sobald seine Zehen das Gras berühren und drückt die freie Hand auf den Bauch. Blut tropft aus seiner Wunde, welches zwischen seinen Fingern hindurchsickert und das grüne T-Shirt langsam umfärbt. Eren weiß, Ajax sagte ohne Kräfte, aber gegen die Heilfähigkeit kann er nichts tun. Er spürt bereits wie sich die Wunde zu schließen beginnt und nimmt die Hand runter.
 

Knurrend fixiert Eren seinen großen Bruder. Jetzt ist sein Kampfwille hellwach. Er unterdrückt die Schmerzen, umfasst den Dolchgriff fester und spannt die Beine an. Ab jetzt macht er es ihm nicht mehr so einfach. Eren braucht vielleicht immer ein bisschen bis er sich richtig in den Kampfrhythmus hineinfindet, aber dann gibt er sein Bestes und wird zu einem ernstzunehmenden Gegner. Ajax weiß das, weshalb er stets versucht in den ersten Minuten den Kampf für sich zu entscheiden.
 

Mit dem Dolch in der rechten Faust startet der Junge seinen Angriff. Ajax erwartet ihn bereits, pariert den ersten Schlag, ein Metall-auf-Metall-Echo hallt über die Wiese und umfasst die direkt nachfolgende Faust vor seinem Gesicht. Beides war nicht Erens eigentlicher Angriff, es diente nur dazu, Ajax' Hände zublockieren. Er stößt sich kräftig vom Boden ab, nutzt Ajax' Arme dazu, um die richtige Entfernung zu gewinnen und tritt mit beiden Füßen gleichzeitig so fest er kann gegen die Brust seines Gegners. Den Schwung nutzt er um mit einem Salto außer Reichweite zu gelangen und sofort wieder vorzustürmen, solange Ajax um Sauerstoff ringt. Dieses Mal prescht er unter den Schlag mit dem Dolch hindurch und verpasst seinem großen Bruder zwei fiese Schnitte in die Oberschenkel. Leider nicht annähernd so tief wie Eren es sich gewünscht hat. Bevor der Ältere zu einem Gegenschlag ausholen kann, ist Eren schon längst wieder außerhalb seiner Reichweite.
 

„Gar nicht so schlecht", gibt Ajax widerwillig von sich. Er würdigt dem Rinnsal aus Blut, dass seine Beine hinabrinnt, keines Blickes. Als würde er es gar nicht spüren. Oder als wäre es ihm egal. „Aber so wirst du mich nie besiegen, kleiner Bruder."
 

Ajax weiß genau was er sagen muss, um Eren sauer und leichtsinnig zu machen. Knurrend ballt der Zwölfjährige die Hand so sehr, dass sie zittert. Sein Herzschlag beschleunigt sich. Er weiß sehr wohl, dass er noch meilenweit von der Kampfkunst seines Bruders entfernt ist, aber das muss er ihm ja nicht ständig unter die Nase reiben. Immerhin gehört er dennoch zu den besten in Turanos Truppe. Außerdem, wenn sie mit ihren persönlichen Kräften kämpfen würden, dann würde Eren wahrscheinlich sogar gewinnen.
 

In einem wahnsinnigen Tempo, viel zu schnell für gewöhnliche, menschliche Augen, sprintet Eren nun auf Ajax zu. Anstatt ihn frontal zu attackieren, umkreist er ihn und wartet auf eine Gelegenheit, in der Ajax eine Lücke in seiner Verteidigung öffnet. Nur schwer können die braunen Augen dem Kind folgen, es scheint als wäre er überall zugleich. Doch da er schon unzählige Kämpfe ausgefochten hat, weiß er, dass er ruhig bleiben muss. Anstatt zu versuchen mit den Augen zu folgen, konzentriert er sich mehr auf sein Gehör.
 

Schon nach wenigen Runden wird Eren klar, dass sich Ajax keine Blöße geben wird, also muss er seine Taktik ändern. Ein leichtes finsteres Grinsen zuckt in seinen Mundwinkeln als ihm eine Idee kommt, die er sogleich umzusetzen beginnt.
 

„Sag mal, Ajax, was hast du eigentlich für eine Mission bekommen?", fragt er ohne seinen Lauf zu unterbrechen.
 

„Eine Geheime", antwortet Ajax knapp, dreht dabei den Kopf zu der Stimme herum.
 

„Und warum darf ich nicht mit?", hakt Eren weiter nach. Es interessiert ihn zwar wirklich, aber hauptsächlich macht er das, um Ajax' Gehörsinn genauso zu verwirren wie den Sehsinn.
 

„Es ist eine Ein-Mann-Mission."
 

„Aber wir haben bisher immer jeden Auftraggemeinsam erledigt. Was ist bei diesem anders?"
 

„Das ist geheim." Ajax ist immer noch so gefasst wie zu Beginn.
 

Also gut, dann muss er eben noch weiter nerven. „Und warum kann ich diese Eiermission nicht allein erledigen? Ich war schließlich schon mal dort."
 

„Es geht nicht."
 

„Warum?"
 

„Es geht einfach nicht!"
 

Da! Er hat es geschafft! Ajax hat sich von den Fragen so aus der Gehörkonzentration reißen lassen, dass er am Rücken praktisch komplett ungeschützt ist. Das ist Erens Chance! Doch das ist kein Grund unvorsichtig zu sein. Er weiß, dass man sich seiner Sache nie zu sicher sein soll und immer einen Schritt weiter denken muss. Besonders bei Ajax als Gegner. Aus diesem Grund wirft er den Dolch von Vorne direkt auf Ajax, um dessen Aufmerksamkeit auf die Waffe zu ziehen und selbst von der gegenüberliegenden Seite anzugreifen. Sobald er die Waffe geworfen hat, flitzt er einen Halbkreis, ändert plötzlich die Richtung und springt mit Ajax' Rücken als Ziel auf diesen zu. Es klappt! Ajax hat den Dolch erspäht und macht sich bereit diesem mit seinem eigenen umzulenken.
 

Eren kommt ihm gleichzeitig immer näher. Als seine Faust die gegnerische Wirbelsäule beinahe berührt und sich bereits ein siegessicheres Grinsen auf seinem Gesicht breit macht, duckt sich Ajax ohne Vorwarnung einfach weg. Hat er ihn doch gesehen? Nein, er hat noch nicht einmal den Kopf gedreht. Weicht er einfach nur so der Waffe aus? Nein, das ist nicht Ajax' Art. Der Junge ist viel zu perplex, um noch einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn reagieren zu können. So wird er von seinem eigenen Dolch bis zum Heft in der Brust durchbohrt, gleichzeitig sticht der Ältere dessen Dolch in Erens Rücken, zieht ihn blitzschnell heraus und sticht erneut zu, dieses mal in die Seite, zwischen zwei Rippen hindurch.Dann zieht er sich zwei Sprünge zurück, die blutbeschmierte Waffe in der Hand und beobachtet das Ergebnis.
 

Der Junge schreit schmerzhaft auf und zieht dann scharf die Luft ein, dabei hat er Probleme den Sauerstoff in die Lungen zu bekommen. Ajax hat den linken Lungenflügel erwischt. Zwar hält er sich noch auf den Beinen, aber durch den Blutverlust kriecht ganz allmählich die Taubheit in seine Glieder. Er beugt sich vornüber, umfasst den Dolchgriff, der noch immer in seiner Brust steckt und beißt fest die Zähne zusammen. Solange die Klinge in ihm ist, kann die Wunde nicht heilen. Sie muss raus, auch wenn das ziemlich weh tun und ihn eine Menge Blut kosten wird. In einem Ruck zieht er die Waffe heraus, begleitet von einem Blutschwall und höllischen Schmerzen, sodass ihm auch noch schlecht wird.
 

Knapp eine Minute bekommt er überhaupt keine Luftmehr in seinen Körper bis die Heilkraft die Lungenfunktion einigermaßen wiederhergestellt hat und ein heiseres Keuchen möglich ist. Auch das taube Gefühl weicht ganz langsam, nur die Einstiche bluten nach wie vor. Doch noch ist er nicht geschlagen. Noch kann er weiterkämpfen. Und genau das wird er auch tun! Die Entschlossenheit zu siegen lässt ihn die Schmerzen in seinem Oberkörper vergessen und weckt die zu erschlaffen beginnenden Muskeln auf. Der Kampfeswille kehrt stärker zurück als zuvor, glänzt in den blauen Augen und pumpt Adrenalin durch den Körper. Nein, er gibt ganz sicher nicht auf!
 

Mit der blutigen Waffe in der Hand dreht er sich zu seinem Gegner um. Bereit weiterzumachen. Bereit alles zu geben. Sein Bruder erwartet ihn schon. Noch bevor sich Eren vollständig herumgedreht hat, spürt er bereits den Dolch im Magen. Schon wieder. Erschrocken schnappt Eren nach Luft. Doch das reicht Ajax noch lange nicht. Er packt die zittrige Hand seines kleinen Bruders und stößt auch dessen Waffe neben die seine. Mit der anderen Hand stützt er das Kind, das zusammenzubrechen droht.
 

„Ich hab gewonnen", verkündet Ajax gleichgültig mit einem enttäuschten Unterton.
 

Fassungslos hebt der Zwölfjährige den Kopf, um in die Augen seines Bruders sehen zu können. Er begreift noch nicht was gerade los ist. Sein Körper ist komplett taub, aus mehreren tiefen Wunden fließt mehr und mehr rotes Blut heraus, gleichzeitig kribbelt es in jeder Ader, als würden Millionen von Ameisen hindurchrasen. Als Ajax seine Hände zurückzieht, verliert Eren den letzten Halt, der ihn noch auf den Beinen hielt. Das Kind kippt um, starrt mit glasigen Augen zum mittlerweile sternenübersäten Himmel hinauf. Seine Klamotten und das Gras um ihm herum färben sich nach und nach tiefrot, der Geruch nach Blut wird immer stärker und stärker. Er atmet stoßweise durch den Mund ohne wirklich Sauerstoff in die durchbohrte Lunge zu bekommen. Eren spürt seinen Körper nicht mehr und seine Sehkraft verschwimmt, wodurch die Sterne zu tanzen beginnen und sich pochende Kopfschmerzen breitmachen.
 

Der junge Mann geht in die Hocke, zieht die Dolche heraus und mustert das Kind. „Das war ein ganz netter Versuch, aber du machst viel zu viele unnötige Bewegungen, erschöpfst dich dadurch selbst und machst dich langsamer und unvorsichtiger."
 

Erens Stimme versagt beim Versuch zu antworten, heraus kommt nur ein unverständlicher Laut.
 

„Jetzt muss ich dich leider bestrafen. Tut mir leid, kleiner Bruder." Es glitzert tatsächlich eine enttäuschte Träne in den Augenwinkeln des Älteren als dieser mit der Faust ausholt und sie dem Kind treffsicher im Solar Plexus versenkt.
 

Eine enorme Schmerzwelle rast durch den kindlichen Körper, seine Organe scheinen die Funktion einzustellen, sein Blickfeld wird schwarz und er hat das Gefühl zu ersticken. Wie ein Fisch an Land schnappt er panisch nach Luft, schafft jedoch keinen einzigen vernünftigen Atemzug. Er droht in Ohnmacht zu fallen, doch dagegen kann sich Eren gerade noch so wehren. Diese Schande will er nicht auch noch auf seinen Schultern haben. So hält er lieber die Qualen und durchbohrenden Blicke seines großen Bruders aus.
 

Während Eren mit seinem Bewusstsein kämpft, setzt Ajax die Standpauke fort: „Noch etwas, du lässt dich zu leicht ablenken und denkst zu viel nach. Du musst viel intuitiver kämpfen, verstehst du? Kämpfen ohne zu denken. Verlass dich mehr auf dein Bauchgefühl. Außerdem verlässt du dich viel zu sehr auf deine Heilkraft. Du setzt dich Gefahren aus und nimmst Verletzungen in Kauf, nur um einen kleinen Schnitt zuzufügen. Du hast keinerlei Gedanken an deine Verteidigung verschwendet. Du warst diesbezüglich schon mal besser. Ich hoffe es war heute nur ein schlechter Tag, sonst müssen wir mit dem Training noch einmal von ganz vorne beginnen."
 

Eren hört die Rede nur durch dichte Schichten Watte und Blutrauschen. Es fällt ihm schwer überhaupt ein Wort zuverstehen.
 

„Aber, ich muss zugeben, jeden anderen hättest du womöglich schon mit dem ersten Angriff besiegt. Also ist noch nicht alles verloren." Ajax säubert die zwei Dolche an Erens Hose und erhebt sich dann. „Komm rein, wenn du aufstehen kannst. Aber zieh dich vorher aus. Du weißt ja, Vater will kein Blut im Haus sehen."
 

Mit den Worten macht sich sein Bruder auf den Weg zum Anwesen, um sich für seine Mission vorzubereiten, die heute nochbeginnen soll. Frustriert, beschämt und wütend auf sich selbst bleibt Eren zurück. Er hasst es zu verlieren. Besonders wenn er so bescheuerte Anfängerfehler macht. So wird er nie gegen seinen großen Bruder gewinnen. Könnte er seine Stimme nutzen, würde er jetzt laut schreien, aber so bleibt ihm nur sauer die tanzenden Punkte am Himmel anzustarren und dabei über die Worte seines Bruders nachzudenken.
 

~~~
 

Lange dreißig Minuten später waren die Wunden soweit verheilt, dass Eren ebenfalls ins Haus gehen konnte, ohne eine Blutspur zu hinterlassen. Selbstverständlich musste er dafür seine blutgetränkte Kleidung ausziehen. Sein Vater würde ausflippen, wenn er auch nur den kleinsten Blutstropfen im Haus finden würde. Die Klamotten landen im Müll, er hat mehr als genug in seinem überdimensionalen Kleiderschrank, um den Aufwand betreiben zumüssen, das Blut aus den Sachen zu waschen. Oder waschen zu lassen. Schließlich nehmen die Angestellten des Anwesens jeden überflüssigen Handgriff ab. Egal ob Eren das nun will oder nicht.
 

Nachdem er in seinem persönlichen, an sein Zimmerangrenzendem Badezimmer in der Dusche war, Zähne geputzt und sich einen Pyjama angezogen hat, kann er endlich seine paar freien Stunden genießen. Die Dolchverletzungen sind mittlerweile vollständig verheilt, ohne auch nur eine Narbe zu hinterlassen. Seine Selbstheilungskräfte sind so übernatürlich stark, dass es schon angsteinflößend ist. Auch seine Geschwindigkeit und Kraft ist die eines normalen Menschen weit überlegen. Und dennoch hilft ihm das alles nichts gegen seinen Bruder. Erschöpft lässt er sich rücklings aufs Bett fallen, legt einen Arm über die Augen und genießt die Ruhe. Endlich hat er Freizeit, was allerdings bedeutet, er sollte schlafen, um für die morgige Mission ausgeruht zu sein.
 

Aber er kann jetzt nicht schlafen, dafür nagt die Niederlage noch zu deutlich an ihm. In einem Ruck richtet er sich auf und lässt seine blauen Augen durch das Zimmer schweifen. Einige Regale mit haufenweise Büchern reihen sich neben den unterschiedlichsten Waffen aus beiden Welten an der gegenüberliegenden Wand entlang. Ein begehbarer Kleiderschrank quillt nur so über vor Stoff und Leder, ebenfalls ordentlich nach den Welten sortiert, damit er für jeden erdenklichen Anlass die passende Kleidung parat hat. Spielzeug oder andere Gegenstände, die man erwartet in einem gewöhnlichen Kinderzimmer eines Zwölfjährigen zu finden, sucht man hier vergeblich. Die Bücher handeln auch hauptsächlich nur von Kämpfen, Waffen und der Anatomie menschlicher und tierischer Körper. Schulbücher, die er für den Privatunterricht braucht.
 

Da sein Zimmer im oberen Stockwerk liegt, besitzt er auch einen eigenen Balkon, den er über eine Glastür betreten kann. Dort steht er oft und sieht nachts einfach nur in den Himmel auf oder über den Zaun hinweg zur Stadt. Beinahe jedes mal erfasst ihn dabei eine Sehnsucht. Er will aus diesem goldenen, mit Stacheldraht umgebenen Käfig raus und wie ein gewöhnlicher Junge leben. Doch das wird nie geschehen. Eren ist kein gewöhnlicher Junge. Nichts in seinem Leben ist gewöhnlich. Weder seine Familie, noch die Art wie er aufgewachsen ist oder wie seine Familie Geld verdient. Von den Kräften und Reisen in die andere Welt ganz zu schweigen.
 

Das erinnert ihn an etwas. Eren senkt die Augen, dabei dreht er den Arm bis er die Tätowierung sieht. Sein Vater hat ihm erklärt, dass das eine Art Kennzeichnung für seine Fähigkeiten sei. Genaueres konnte er aus dem schweigsamen Mann nicht herausbekommen. Jedes Mal wenn der Junge auf dieses Thema hinlenkt, blockt Turano sofort ab. Allerdings ist ihm aufgefallen, dass jeden, mit dem er auf Missionen geht, so eine Nummerierung ziert. Doch auch sie verraten ihm nichts oder wissen von nichts. Alles irgendwie seltsam.
 

Genau wie die Armreife. Der Weiße am linken Handgelenk hat mittlerweile eine Breite von gut zwei Zentimetern, die Ränder weisen bereits leichte Wellen auf. Doch das ist alles noch unbedenklich. Beim rechten Handgelenk sieht es etwas anders aus. Hier hat sich das Schwarz schon etwa fünf Zentimeter den Unterarm hinaufgearbeitet und berührt auch das Sattelgelenk des Daumens. Anders als beim Weiß sind hier die Ränder ausgefranst, zackig, zerrissen. Er muss aufpassen, dass sich die Farben nicht zu weit ausbreiten, sonst passiert etwas schlimmes.
 

Ich weiß, dass dich meine Kraft reizt, Junge.
 

Schnell schüttelt Eren den Kopf, um die raue Stimme zu verscheuchen. So lange er denken kann, hört er in unregelmäßigen, unvorhersehbaren Abständen diese Stimmen, die ihm alles mögliche einreden wollen. Nicht immer ist es schlecht, teilweise sind es sogar ganz gute Ideen. Aber ... Wenn eine der Stimmen zu laut wird, die Farbe zu viel Platz einnimmt, dann kann es vorkommen, dass er –unfreiwillig – die Kontrolle über seine Kräfte verliert. Als es das erste Mal passiert ist, blieb von einem großen Teil des Anwesens und Gartens nur Asche und Trümmer übrig. Das möchte er nicht wiederholen.
 

Seufzend lässt er sich zurück auf die Matratze sinken, dreht sich auf die Seite und sieht durch das Glas hinaus. In der Ferne kann er die Lichter der Stadt über den Baumwipfeln erkennen, auch die wenigen Sterne am Himmel und einen kleinen Teil des Mondes. Im Garten huschen Schatten herum. Wachmänner, die dafür sorgen sollen, dass keine Unbefugten das Gelände betreten. Vorausgesetzt die Eindringlinge konnten den Wald durchqueren, die Sicherheitsvorkehrungen und die Alarmanlagen überlisten. Soweit Eren weiß, ist das noch nie vorgekommen. Das wissen auch die Wachen, weshalb sie eher gemütlich herumwandern.
 

Herumwandern. Das erinnert ihn jetzt unfreiwillig an die morgige Mission. Zusammen mit Igor und Viktor. Toll. Einfach nur toll.
 

Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, muss er auch noch doofe Dagonoeier besorgen. Diese riesigen Vögel leben hoch oben in Gebirgen und verstecken ihre Nester in Felsspalten, die schwer zu erreichen und noch schwerer zu finden sind. Noch dazu werden die Eier aggressiv von ihren Müttern verteidigt, was die ganze Aktion noch schwieriger macht. Der Grund, weshalb Turano die Dagonoeier möchte, ist, dass deren Schale eines der härtesten Materialien ist, dass es gibt. Um einiges Härter als ein Diamant. Die Schalen werden in den Laboren weiterverarbeitet. Zu was, keine Ahnung. Das ist nicht mehr Erens Aufgabe. Er soll nur diese Eierschalen besorgen.
 

Naja, zumindest weiß er was ihn erwartet, da er schon mehrmals die Dagonoeier besorgen musste. Allerdings ist dies die erste Mission ohne Ajax. Etwas mulmig ist ihm deshalb schon zu Mute. Aber andererseits heißt das auch, dass er nicht sofort ein Messer im Bauch hat, wenn er einen kleinen Fehler macht oder sich etwas zu aufmüpfig verhält. Mit anderen Worten, er muss nicht ständig überlegen was er sagt, was er tut, wie er sich zu benehmen hat. Er kann etwas entspannter sein. Und eine Pause von all den Tests und Abhärtungen ist auch nicht verkehrt. Außerdem gefällt ihm Flaurana sehr. Es ist ein komplett anderes Land, zwar mit einigen Parallelen, aber auch mit vielen Unterschieden.
 

Vielleicht wird die Mission ja doch nicht nur ätzend. Ein leichtes, verstohlenes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen als er die Decke zum Kinn hochzieht und die Augen schließt.
 

~~~
 

Eren.
 

Eren.
 

Vom Klang seines Namens geweckt, schlägt der Zwölfjährige die Augen auf. Er liegt auf der Seite, genauso wie er eingeschlafen ist. Nur liegt er nicht mehr in seinem Bett. Verwundert richtet er den Oberkörper auf und sieht sich um. Viel gibt es gerade nicht zu sehen. Alles um ihm herum ist ausnahmslos grau. Es gibt keine Wände, keine Türen, keine Decke. Gar nichts. Es ist nur grau. Sogar das einfache ärmellose Shirt und die Bermuda sind grau. Beides hat er nicht getragen, als er eingeschlafen ist. Er weiß noch nicht einmal ob er auf etwas sitzt oder irgendwo in der Luft schwebt.
 

„Oh nein. Nicht schon wieder", murmelt er alles andere als glücklich vor sich hin.
 

Er weiß genau was dieses einfarbige Grau zu bedeuten hat. Er war hier schon ein paar Mal. Deshalb steht er auf und sucht nach etwas Bestimmtem. Es dauert auch gar nicht lange bis er es findet, nur eine halbe Kopfdrehung. Wenn alles leer und einfarbig ist, springt einem jede noch so kleine Abweichung regelrecht ins Gesicht. Eren hebt das Kinn und marschiert direkt auf die zwei Standspiegel in einigen Metern Entfernung zu.
 

Die Spiegel stehen leicht schräg nebeneinander, sodass sich Eren in beiden gleichzeitig sehen kann als er davor stehenbleibt. Der Rahmen des linken Spiegels ist strahlend weiß mit goldenen, gewellten Verzierungen darin. Der obere Teil wurde in Form weicher, gefiederter Flügel geschnitzt, deren Federn silbrig und golden funkeln. Hinter dem Spiegelglas wabert weißer Rauch umher, wie bauschige Wolken am Himmel. Der rechte Rahmen dagegen ist tiefschwarz mit roten, zackigen Verzierungen und ausgefransten Fledermausflügeln, die rote Details aufweisen, als Zierde am oberen Rand. Genau wie im hellen Spiegel, wabert auch hier Rauch im Inneren. Allerdings ist dieser hier schwarz und ähnelt somit mehr gefährlichen Gewitterwolken.
 

Hallo, Eren.Lange nicht mehr gesehen.
 

„Nicht lange genug", gibt Eren grimmig zurück.
 

Sieh mal einer an. Wer lässt sich da denn mal wieder blicken?
 

„Ganz bestimmt nicht freiwillig." Der Junge verschränkt die Arme vor der Brust. Wenn er es kontrollieren könnte, wäre er ganz sicher nicht in diesem leeren Raum.
 

In den Spiegeln lichtet sich der Rauch etwas. Eine menschenähnliche Silhouette bildet sich aus ihnen heraus. Im Weißen bleibt diese jedoch weitestgehend verschwommen, nur goldene Augen starren ihn deutlich durch den Rauch an. Im schwarzen Standspiegel wird die Gestalt schärfer, jedoch immer noch nicht klar genug, um sie richtig sehen zu können. Man kann aber schon dunkle Haare erkennen, rote Augen leuchten dem Kind entgegen und Kleidung in derselben Farbe wie der Rauch hüllt die Figur ein.
 

Morgen ist wieder eine Mission, nicht? Die erste ohne Ajax.
 

Ja, dieser Mistkerl lässt uns einfach allein! Was hat der nur für ultrageheime Sachen vor, dass wir nicht mit dürfen?!
 

Aber das ist doch ein großer Vertrauensbeweis. Vater und Ajax glauben daran, dass wir ohne sie eine Mission abschließen können.
 

Natürlich können wir das. Das ist doch mehr als offensichtlich. Das ist kein Vertrauensbeweis, sie wollen uns einfach nur loswerden! Sie wollen nicht, dass wir erfahren, was sie geheimes vorhaben!
 

„Könnt ihr mal die Klappe halten? Ich versuche hier aufzuwachen", unterbricht Eren die Stimmen aus den Spiegeln scharf. Er hat die Augen zusammengekniffen, stellt sich sein Zimmer mit jeder Einzelheit vor, an die er sich gerade erinnert. Dabei zwickt er sich zusätzlich in die Oberarme. Das funktioniert zwar selten, aber er will alles versuchen, um so schnell wie möglich aus diesem Albtraum zu erwachen.
 

Das ist doch sinnlos. Du weißt, dass du zu schwach bist, um uns zu kontrollieren.
 

Jetzt hast du ihn gekränkt.
 

Pf. Wenn er sich so leicht unterbuttert lässt, hat er es nicht anders verdient.
 

Eren dreht den Spiegeln knurrend den Rücken zu, drückt die Hände auf die Ohren und versucht alles um sich herum auszublenden und sich nur auf das Bild seines Zimmers zukonzentrieren. Die Stimmen gehen ihm dabei dennoch auf die Nerven. Sie versuchen ständig ihm etwas einzureden, weshalb Eren immer bereit sein muss sie auszublenden. Egal, ob er nun träumt oder wach ist. Im wachen Zustand sind die Stimmen zwar nicht so laut, aber dennoch laut genug.
 

Wie kannst du nur so grausam sein?
 

Wie kannst du nur so langweilig sein?
 

Eigentlich hätte er schon lange Lust dazu die Spiegel einfach zu zerschlagen, er hat es sogar schon einige Male versucht, nur blöderweise sind sie unzerstörbar. Noch dazu werden die Gestalten darin stärker, wenn der Junge sie berührt.
 

Ich bin nicht langweilig. Ich bin mitfühlend und strategisch. Könntest du auch mal versuchen.
 

Nein, ganz bestimmt nicht. Dann wär ich ja ein mickriger Jammerlappen.
 

„Haltet die Klappe!", brüllt Eren zornig. Sein Geduldsfaden ist längst gerissen. In einer flinken Drehung wirbelter herum und funkelt die Spiegel an. Kommt er sich dabei irgendwie blöd vor? Ja, auf alle Fälle. Er redet hier immerhin mit Spiegeln! Aber es sieht ihn ja niemand und er kann die Stimmen einfach nicht mehr ausblenden. „Ich muss morgen ausgeruht sein. Doch das bin ich nicht, wenn ich nicht endlich NORMAL schlafen kann!"
 

Ach, wenn du meine Kraft benutzt, schaffst du es mit links.
 

Und mit meiner Kraft verheilen die Wunden schnell.
 

„Nein. Ich will eure Hilfe nicht", lehnt Eren sofort energisch ab.
 

Auch gut. Dann werde ich stärker und kann mich endlich mal wieder austoben.
 

Mit einem wütenden Schnauben presst er die Zähne zusammen. Er kann darauf leider nichts erwidern. Ein Blick auf seinen rechten Arm unterstreicht die Aussage der raueren, dunkleren Stimme. Das Schwarz hat sich noch ein Stückchen mehr ausgebreitet und hat jetzt schon den halben Unterarm eingenommen. Das ist noch ein gigantischer Grund, weshalb er diese Träume hasst. Sie lassen die Male wachsen. Je länger er sich hier aufhält, desto gefährlicher wird er in der realen Welt. Besonders, wenn er noch hier gefangen ist, während eine der Stimmen zu mächtig wird und die Kontrolle übernimmt.
 

Um die Male zurückzudrängen, muss er aber dummerweise genau die Kräfte einsetzen, die er unterdrücken möchte. Bei der weißen Kraft ist es einfacher und weitaus ungefährlicher. Da reicht es schon sich die Wunden heilen zu lassen. Aber die schwarze Kraft ... die ist zerstörerisch und unberechenbar.



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