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Willkommen im Bittersweet

von

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Hibiskus

Aiden blieb fast den ganzen Sonntag über bei Reel, vertrieb sich mit ihm die Zeit und vergaß für ein paar Stunden seine Sorgen.

Gegen 16 Uhr musste er dann aber doch der bitteren Realität ins Auge blicken.

„Soll ich dich direkt nachhause fahren, oder lieber irgendwo in der Nähe absetzen?“, fragte Reel unsicher. Er wollte Aiden nicht in die Verlegenheit bringen, erklären zu müssen, warum er vom Motorrad eines zwielichtigen Typen wie Reel stieg, aber Aiden schien diese Gedanken überhaupt nicht gehabt zu haben.

„Wieso nur in der Nähe? Ich weiß wo du wohnst, dann kannst du auch wissen, wo ich wohne. Ausgleichende Gerechtigkeit.“ Aidens Unbedarftheit traf Reel völlig unvorbereitet und für eine Sekunde starrte er ihn nur perplex an. „Reel, alles okay?“

„Ja, ich hatte nur nicht mit so einer leichtfertigen Antwort gerechnet.“

„Wieso?“

„Wer weiß. Vielleicht brech ich ja heimlich bei dir ein und entführe dich. Du kennst mich schließlich kaum“, neckte Reel ihn, um seine eigene Verlegenheit zu überspielen, und entlockte Aiden so ein überraschtes Lachen.

„Ich bin seit gestern Abend ohne Handy und völlig wehrlos in einem fremden Stadtteil in deiner Wohnung. Ich glaube, wenn du mich entführen wolltest, hättest du schon genügend bessere Gelegenheiten gehabt.“

„Punkt für dich.“ Aidens offenherziges Lachen riss alle Mauern um Reels Herz nieder und ließ selbiges mühelos dahinschmelzen.

Und Reel verstand nicht so recht warum. Irgendetwas hatte dieser Junge an sich, dem Reel sich beim besten Willen nicht erwehrten konnte.

Aidens Sachen waren inzwischen vollständig getrocknet und so schlüpfte er wieder in seine Jeans und das langweilige, einfarbige Marken-Shirt. Seine Turnschuhe waren leider noch immer nass und fühlten sich eklig kalt an, als Aiden sie anzog.

„Hier.“ Reel hielt ihm den Pullover ihn, den Aiden auch schon in der Nacht getragen hatte. „Sonst frierst du mir auf dem Motorrad fest.“ Mit einem schiefen Grinsen nahm Aiden den zu großen, schwarzen Pullover mit den dekorativen Aufnähern entgegen und schlüpfte dankbar hinein.
 

Unbeholfen kletterte Aiden von dem Motorrad, wand sich ungeschickt aus dem schweren Helm und reichte ihn seinem Schutzengel.

„Danke.“ Reel schenkte ihm ein schiefes Grinsen.

„Kein Ding. Komm mal her.“ Nonchalant griff er nach Aidens Handgelenk, schob seinen Ärmel hoch und zückte einen Kugelschreiber. „Hier. Wenn was sein sollte, ruf einfach an oder schreib mir.“ Etwas perplex starrte Aiden die Zahlen auf der Innenseite seines Unterarms an. „Lass dich nicht unterkriegen.

Ich hab morgen übrigens wieder Schicht im Bittersweet. Du kommst doch und spielst wieder mein Versuchskaninchen, oder?“ Mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen nickte Aiden und verabschiedete sich von ihm.

„Dann bis morgen.“ Geschickt wendete Reel auf der Stelle, winkte Aiden noch einmal zu und fuhr dann durch die beschauliche, gutbetuchte Nachbarschaft zurück ans anderen Ende der Stadt.

Melancholisch schaute Aiden ihm nach und verspürte beim Anblick des wegfahrenden Reels einen seltsamen Stich in der Brust. Schweren Herzens riss er sich von der kleiner werdenden Gestalt in der Ferne los und schlurfte missmutig die gepflegte Einfahrt zu seinem Elternhaus hoch.
 

Zögerlich steckte er seinen Hausschlüssel ins Schloss, drehte ihn und öffnete möglichst lautlos die Haustür. Zaghaft lauschte er, aber hörte niemanden. Seine Eltern waren wohl nicht da.

Mit einem erleichterten Seufzen schloss er die Tür hinter sich, zog seine Schuhe aus und stellte sie zum trocknen unter die Heizung, bevor er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg.

Lustlos zog er Reels Pullover aus, faltete ihn ordentlich zusammen und legte ihn fein-säuberlich auf seine Kommode. Er hatte völlig vergessen ihm den wiederzugeben, also würde er ihn morgen in die Schule und danach ins Café mitnehmen müssen.

Auf dem Nachtschrank lag noch sein Handy, dass er am Vortag beim fluchtartigen Verlassen des Hauses dort vergessen hatte. Prüfend löste er die Tastensperre und wurde von einem leeren Screen begrüßt. Keine Nachricht und kein Anruf von seinen Eltern – ihnen war also wirklich nicht aufgefallen, dass ihr einziger Sohn das ganze Wochenende über ohne ein Wort und ohne sein Handy verschwunden war.

Warum überraschte ihn das eigentlich nicht mehr?

Entmutigt biss er sich auf die Unterlippe um seine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, und wechselte schnell in sein digitales Telefonbuch. Mit zittrigen Fingern tippte er die Zahlen von seinem Unterarm ab und schickte Reel ein unverfängliches „Hier ist Aiden. Danke nochmal.“, damit er seine Nummer hatte.

Pflichtbewusst wandte er sich anschließend seiner Pinnwand zu und konzentrierte sich lieber erst mal auf seinen Stundenplan. Übermäßig gewissenhaft packte er seine Schultasche für den nächsten Tag und griff sich anschließend sofort seine Videospielkonsole, um sich weiter abzulenken.

Irgendwann hörte er dann wie im Erdgeschoss sein Vater das Haus betrat. Er telefonierte lautstark mit irgendwem von der Arbeit und sofort spürte Aiden wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Eilig kramte er seine Kopfhörer raus, schloss sie an seine Konsole an und drehte die Lautstärke hoch.
 

Eine Weile später wurde Aidens Zimmertür ohne Vorwarnung geöffnet und seine Mutter stand mit verschränkten Armen um Türrahmen.

Widerwillig setzte Aiden seine Kopfhörer ab um sich den Ermahnungen seiner Mutter zu ergeben.

„Aiden, du kannst doch nicht das ganze Wochenende nur in deinem Zimmer herumgammeln. Ich weiß, dass ist für dich auch nicht leicht, aber wenn du dich nur hier einschließt, geht’s dir auch nicht besser.

Geh doch lieber mal raus. Unternimm was mit Freunden oder geh in die Bibliothek zum Lernen.“ Aiden nickte nur stumm und ließ den endlosen Wortschwall seiner Mutter über sich ergehen. Sie sah abgekämpft und müde aus, und hatte gerade offensichtlich ganz andere Sorgen als Aidens Sozialleben.

Von Unten ertönte plötzlich erneut die verärgerte Stimme seines Vaters – aber dieses mal lauter. Sofort versteinerten die Gesichtszüge seiner Mutter. „Hier. Hol dir morgen vor der Schule was beim Bäcker. Ich war nicht einkaufen und dein Vater garantiert auch nicht.“ Fahrig legte sie ein paar Geldscheine auf Aidens Schreibtisch. „Könntest ruhig mal wieder aufräumen“, meckerte sie über drei Stifte, ein Buch und ein paar Blätter Papier, die nicht ordnungsgemäß weggeräumt waren. Hastig machte sie sich wieder auf den Weg durch die Tür. „Ach, und Aiden? Setz´ die Kopfhörer ruhig wieder auf.“ Mit erschöpfter Miene verließ sie Aidens Zimmer und tippelte die Treppe hinunter, die sein Vater bereits zu erklimmen begonnen hatte.

Laut und wütend schalten die Stimmen seiner Eltern durch das ganze Haus und Aiden sperrte sie mithilfe seiner Kopfhörer aus, doch es war zu spät. Seine Augen wurden schon wieder nass. Hilfesuchend ließ er den Blick durch sein Zimmer wandern und blieb an dem schwarzen Haufen Stoff hängen, der hier eigentlich nicht hingehörte. Ohne weiter nachzudenken krabbelte Aiden aus seinem Bett, holte Reels Pullover und zog ihn wieder über.

Er roch noch immer nach ihm und dem gemütlich chaotischen Zimmer – nach Tee, Papier, ein wenig nach Staub – und Aiden fühlte sich sofort in die tröstliche, kleine Wohnung zurückversetzt. Etwas beruhigter zog er sich die Kapuze über den Kopf, wechselte von der Konsole auf Musik und bemerkte dabei eine Nachricht auf seinem Handybildschirm.

„Kein Problem. Melde dich einfach, wenn irgendwas ist.

Zur Not komm ich vorbei und entführe dich. Ich weiß ja jetzt, wo du wohnst ;)“ Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf Aidens Lippen. Reel war ein Engel, auch wenn er nicht unbedingt so aussah. Er war der einzige, den es wirklich kümmerte, wie es Aiden ging, und der wirklich für ihn da war. Und dabei kannte er Aiden im Grunde genommen gar nicht.

Andererseits versetzte dieser Gedanke ihm einen tiefen Stich. Irgendein Kellner, den Aiden nur ein paar mal im Café getroffen hatte, war der einzige, an den er sich wenden konnte. Keiner von Aidens Freunden würde in seiner aktuellen Situation für ihn da sein. Und wenn er ehrlich war, wollte er auch mit keinem von denen reden oder vor ihnen einen derartigen Gefühlsausbruch haben, wie er es sich bei Reel erlaubt hatte.

Lukas war sein bester Freund, aber mit solchen Dingen war selbst der hoffnungslos überfordert, und seine Eltern würden sofort bei Aidens Vater sturmklingeln, wenn er bei ihnen klitschnass und verheult vor der Tür gestanden hätte. Mal ganz zu schweigen von Lukas' Freundin, die sofort davon gewusst und diesen neuen Klatsch und Tratsch in der ganzen Schule verteilt hätte.

Unbewusst vergrub sich Aiden immer tiefer in Reels Pullover und versank sehnsüchtig in dem weichen, schwarzen Stoff.
 

Reel schloss die Wohnungstür hinter sich und sofort drang ungewollt ein tiefes, trübsinniges Seufzen aus seiner Kehle.

„Du bist hoffnungslos in den Kleinen verliebt“, begrüßte ihn Ravens verständnisvolle Stimme vom Türrahmen der Küche aus. Reel nickte stumm. „Und du hast keine Ahnung, ob du überhaupt Chancen bei ihm hast.“ Dieses mal schüttelte er bestätigend den Kopf und sah dabei frustriert zu Boden. „Och Brüderchen.“ Fahrig stellte Raven ihre Kaffeetasse auf die Kommode im Flur und schlang tröstend ihre Arme um ihn.

„Er gibt mir auch keine Hinweise. Er kommt nicht von sich aus auf mich zu, aber er weist mich auch nicht ab. Mit seinen gemischten Signalen kann ich einfach nichts anfangen.“

„Du musst das mit ihm klären. Sag ihm einfach was Sache ist, oder mach deine Absichten anderweitig klar. Dann weißt du endlich, woran du bist.“

„Ich weiß, aber...“ Reel ließ seine Stirn auf Ravens Schulter sinken. „Ich hab Angst, dass er nicht nur kein Interesse an mit hat, sondern es sogar eklig findet.“

„Wenn er deine Zuneigung eklig findet, dann ist er´s nicht wert, dass du dir solche Gedanken um ihn machst. Dann ist bei ihm eh Hopfen und Malz verloren und es würde nichts mir euch werden.

Leg deinen Standpunkt offen. Du kannst dabei nur gewinnen – entweder er fühlt genauso wie du und ihr versucht es zusammen, oder es wird nichts, aber du weißt immerhin woran du bist. Beides ist besser als weiter im Dunkeln herumzustochern.“

„Du hast ja recht.“

„Weiß ich. Hab ich immer“, antwortete Raven verschmitzt und drückte ihn noch einmal enger an sich.

„Aber...“ Wieder ein geschlagenes Seufzen von Reel. „Ich will ihm jetzt nicht den Boden unter den Füßen wegziehen. Er hat gerade eh so viel um die Ohren und verlässt sich auf mich. Wenn ich ihn jetzt vor vollendete Tatsachen stelle, hab ich das Gefühl, ich würde seine Situation und sein Vertrauen ausnutzen. So wie...“

„So wie Corvo das früher immer gemacht hat?“ Er nickte in ihre Schulter hinein. „Und Corvo hat trotzdem sein passendes Gegenstück gefunden.

Und dann auch noch so ne gute Partie.

Aber ich versteh schon was du meinst. Also, was willst du machen? Mit ihm reden, das Risiko eingehen und endlich wissen, was Sache ist? Oder lieber abwarten, deine eigenen Gefühle hinten anstellen und weiter mit der Ungewissheit klarkommen?“

„Weiß ich doch auch nicht.“

„Oh man, Reel. Du bist echt zu lieb.“

„Verrats keinem.“ Raven unterdrückte ein liebevolles Lachen und auch Reel musste ganz unwillkürlich schmunzeln.

„Ich backe gerade Zimtschnecken. Willst du uns ´nen Tee dazu machen und mit zu mir rüber kommen? Ich hab die neue Staffel von 'Mercucio' noch nicht gesehen.“

„Ich auch noch nicht.“

„Perfekt. Noch circa 10 Minuten, dann können die Schnecken aus dem Ofen.“

„Raven? Danke.“ Reel kuschelte sich noch einmal kurz in die braunen Locken, bevor er sie wieder losließ und mit neuem Mut in die vertrauten, smaragdgrünen Augen blickte.

„Nicht dafür, Brüderchen. Im Vergleich zu Corvos katastrophalem Beziehungschaos bist du doch absolut pflegeleicht. Und wenn ich sogar meinen bindungsgestörten Zwilling erfolgreich unter die Haube bringen konnte, dann schaff ich das auch bei dir.“ Mit einem aufmunternden Lächeln drückte sie Reel einen geschwisterlichen Kuss auf die Wange und zog ihren kleinen Bruder mit sich in die Küche.



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