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Taffer kleiner Orca

von

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Law's Sicht

„Lass das!“

Fast habe ich das Gegenteil bewirkt. Der Typ erschrickt, fällt fast, bevor er mich erstaunt ansieht.

„Denk doch an den armen Menschen da unten, den du zwingen willst, deine vielleicht noch nicht ganz tote Leiche zu überfahren!“

Das hat gesessen. Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit. Seine Hand, klammert sich fester an die Laterne. Er blickt mich fast schon neugierig an.

„Der wird sich dann ein Leben lang Vorwürfe machen. Vielleicht verreißt er auch das Lenkrad und baut einen Unfall. Und dann sitzen da vielleicht auch noch seine Kinder mit im Auto. Was, wenn diese Kinder durch dich sterben, was, wenn sie überleben, verletzt sind, aber der Vater oder die Mutter oder beide sterben? Was, wenn das nächste Auto in den Unfall rein rauscht, noch mehr Verletzte, Tote, nur weil du keine Lust mehr auf dein Leben hast!“

Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Kein Ton kommt heraus. Sein Blick wird unscharf, er krallt sich etwas fester an die Laterne.
 

„Vermutlich sieht dich das Auto und kommt rechtzeitig zum Stehen. Alle kommen mit dem Schrecken davon. Aber weil du ja sicher nicht mit dem Kopf voran springst, wirst du dir nur beide Beine, die Hüfte und die Lendenwirbel gebrochen haben, vielleicht auch die Arme und ein paar Rippen. Innere Verletzungen sind nicht auszuschließen. Wenn du wirklich stirbst, dann in vielleicht zwei oder drei Tagen im Krankenhaus, nachdem etwa fünf Ärzte und zwölf Schwestern durchgearbeitet haben, um dich zu retten. Wahrscheinlicher ist es, dass du querschnittsgelähmt aus der Klinik entlassen wirst und wieder genau an dem Punkt ankommst, an dem du jetzt bist, nur noch wehrloser.“

Das war zu viel Text. Er wankt leicht und ich bereite schon mal einen „Room“ vor, um ihn notfalls hochholen zu können. Aber er fängt sich wieder, setzt sich auf das Brückengeländer.
 

Wir schweigen. Solange er noch nicht springt, kann ich auch etwas üben. Ich erschaffe meinen „Room“. Ich versuche, jeden Gegenstand, jedes Lebewesen, jedes Detail zu erfassen. Versuchsweise vertausche ich einige Steine, Blätter, beobachte, ob man etwas beobachten kann…

Eigentlich würde ich gerade viel lieber Gedanken lesen können. Kann ich das auch tauschen? Ich forme das möglichst genaue Bild einer niedlichen Katze, kann ja nicht schaden, ihm etwas schönes zu schicken. Dann: „Shamples!“

Was ich zurückerhalte, ist ein ziemliches Knäuel an Gewalt, Schmerzen, Scham und Angst. Auch Einsamkeit und Versagen sind da mit drin verwickelt. Aber kein: ‘Bitte hilf mir!‘

„Es geht um Sex!“ Einfach mal drauf los raten, außerdem hat er das richtige Alter, in dem es immer um Sex geht.

Er blickt mich an, fühlt sich ertappt.

„Täter oder Opfer?“, frage ich, ihm in die Augen schauend. Für den Spott, den ich da plötzlich sehe, muss ich keine Gedanken lesen können.

„Wieso sollte ein Täter sich hinterher umbringen wollen?“ - „Man war sich eigentlich einig, dann hat er sich hinreisen lassen, die Kontrolle verloren und aus einem schönen Abend wurde eine Vergewaltigung, die er jetzt bereut.“

Er schaut wieder zu den Autos, die unter uns hindurch rauschen. „Ja, die Kontrolle über sich haben sie öfter verloren, aber bereut haben sie nie etwas...“ Er spricht so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. Sie, also mehrere. Und offensichtlich nicht nur einmal. Ich wage es nicht, einen weiteren seiner Gedanken zu rauben, wer weiß, ob ich damit umgehen könnte.
 

Der nächste Wagen, der uns entgegenkommt, fährt nicht auf seiner Spur sondern mittig, zum Teil sogar Schlangenlinien. Durch meinen ‚Room‘ weiß ich, dass ihm ein Kleinbus entgegenkommt ohne die geringste Chance auszuweichen.

„Shamples!“ Schon sind sie an einander vorbei, machen beide eine Vollbremsung, wissen nicht, warum sie noch leben. Beide Fahrer steigen aus und sehen sich entsetzt an. Auf der Beifahrerseite des Busses steigen eine Frau und drei Kinder aus.

„Siehst du, es ist nie nur ein Mensch, der stirbt. Wäre ich heute nicht mehr am Leben, was wäre dann aus ihnen geworden?“

„Aber ich gehe nicht zurück. Und da es keinen Ort gibt, wohin ich sonst gehen könnte… Noch zehn Minuten. Ich hoffe, bis dahin sind die Kinder außer Sichtweite.“

Ich hebe einen Stein auf und tausche ihn gegen einen Apfel der Familie. „Hier, iss erst mal was und winke ihnen freundlich zu!“ Ich muss meinen ‚Room‘ unterbrechen, neue Kräfte sammeln, wenn ich in zehn Minuten voll für ihn da sein will. „Wenn du magst, kannst du mit mir mitkommen. Sicher kannst du mir bei meinen Plänen helfen.“

Er hatte nur kurz die Hand gehoben, kaut aber jetzt genüsslich, als wäre dieses Obst ein Festmenü. „Ich denke nicht, dass du mich dabeihaben willst, was auch immer du vorhast. Ich habe nie etwas gelernt, ich kann nichts und die ...“ Selbst das Kauen hört auf, ich kann sein Gefühl der Hilflosigkeit fast sehen.

„Das macht nichts, ich habe noch viel Zeit. Ich werde dir alles erklären und beibringen, was du wissen musst. Dann gibt es wenigstens ...“ Nein, sie haben ihm schon Fehler beigebracht, nicht zuletzt die Lüge, dass er wertlos sei. „...keine Missverständnisse.“ Miese Ausrede. Der Satz macht keinen Sinn. Aber wenigstens kaut er wieder.

Als selbst der Stiel verschwunden ist, scheinen seine Gedanken zu einem Ergebnis gekommen zu sein: “Was ist mit Sex?“

Hat er jetzt Angst, dass ich seinen Körper als Bezahlung verlange? War das in seinem bisherigen Leben die Währung? Jetzt will ich ihn erst recht da rausholen und ihm eine andere Welt zeigen. „Falls du willst, wann du willst und mit wem du willst, vorausgesetzt, der oder die andere will auch!“ Meine erste Grundregel ist aufgestellt.

„Und was willst du dann von mir?“ - „Dass du zuhörst, wenn ich etwas erkläre, dass du tust, was ich dir sage, dass du versuchst zu überleben!“ Ja, Überleben ist die zweite Grundregel.
 

Gerade als er übers Geländer zurückklettern will, hören wir Stimmen. Er verliert den Halt und fällt … ungelenk auf den Boden hinter mir. Gut, dass kein Auto kam und den Stein abbekommen hat.

Dann liegen überall auf der Brücke Körperteile. Keiner von ihnen ist tot, aber sie werden es auch nicht einfach haben, sich ohne fremde Hilfe wieder zu sortieren.

Und plötzlich passiert etwas unerwartetes: Er steht auf, nimmt sich einen herumliegenden Finger und stellt mir eine Frage: „Ich kenne diesen Finger, ich habe ihn gebrochen, als ich ihn gebissen habe. Warum ist er noch immer so krumm?“

Der Finger windet sich, als wäre er ein Wurm auf der Flucht. Ich teile ihn längs durch den Knochen und zeige dass er nicht exakt wieder zusammengesetzt wurde, die zerstörten Knochenbänkchen, die teilweise abgerissenen Sehnen, die verdrehten Muskeln.

Er scheint jeden einzelnen der Männer zu kennen und jetzt keine Angst mehr vor ihnen zu haben. Er hebt weitere Körperteile auf, fragt nach Verletzungen, Erkrankungen… Seine Neugierde scheint unerschöpflich, ich bin stolz auf meine erste Unterrichtseinheit.

Nach einer Weile wird er still, schaut in die Richtung, aus der die Männer kamen.

„Da sind noch mehr, oder?“ Als Antwort erhalte ich nur ein schüchternes Nicken, dann einen bittenden Blick: „Beides!“

Das genügt um mich loslaufen zu lassen. Sofort ist er an meiner Seite, gibt mir die Richtung. Als wir in der Villa ankommen, muss ich ihn nicht fragen, wer Täter oder Opfer ist, er war wohl der einzige, der noch genug Kraft und Stolz besaß auszubrechen. Sein Blick geht suchend durch den Garten, in jeden Winkel, als wir das Gebäude durchstreifen. Dann höre ich ein Jammern.

Der Junge kann sich nicht mehr bewegen. Viele seiner Verletzungen sind keine halbe Stunde alt. Sofort hebe ich ihn auf einen Tisch und gebe Anweisungen, was ich für meine Operation alles brauche. Eine Stunde später bin ich mir sicher, ich habe den Tätern nicht genug angetan.

Ich brauche eine Pause. Dafür, dass ich eigentlich nur den Tag rumbringen wollte, bevor am Abend mein neues U-Boot abfahrbereit ist, bin ich jetzt wieder an dem Punkt, wie nach dem Tod meiner Eltern: ich möchte die ganze Welt in die Luft sprengen.

Er hat noch ein paar Opfer zusammengesucht. „Kannst du sie auch behandeln? Die anderen habe ich schon weggeschickt. Wir haben Geld gefunden, damit können sie hier wegkommen, irgendwohin, zu ihren Familien oder...“

Sein Blick wird noch etwas trauriger. Er hat keine Familie mehr.

Während ich mich um meine neuen Patienten kümmere, stellt er sich zu dem Jungen auf dem Tisch. Er spricht leise mit ihm, berührt ihn vorsichtig. Ich beobachte die beiden auch noch eine Weile, nachdem uns die anderen schon verlassen haben.

Sie sind es wehrt, dass die Welt weiter besteht. Für sie und mit ihnen werde ich weiterkämpfen. Ich gebe uns noch zwei Stunden Ruhe, um Kraft zu tanken, dann nehme ich den Jungen auf meine Arme und trage ihn vorsichtig zum Hafen.

Bepo erwartet mich schon. „Ab heute passen wir auf die beiden auf!“ Er nickt, mehr Worte brauchen wir nicht, um loszufahren, weg von hier.

Als die Stadt langsam außer Sicht ist, kommt er zu mir: „Warum tust du das für mich?“

Weil ich nicht zusehen kann, wie jemand Selbstmord begeht, weil ich will, dass du lebst, weil ich das Gefühl habe, ich wäre hinterher gesprungen. „Weil das jemand für mich getan hat und ich ihm anders nicht mehr danken kann.“ Außerdem bin ich mit dir, mit euch nicht mehr allein.



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