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Spiel ohne Limit

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo,
wie der Name des Kapitels schon verrät :D ist das hier ein Filler zur Zeitüberbrückung und rollt ein bisschen die Beziehung zwischen Rin und ihrer vermeintlich großen Liebe auf. Natürlich dürfen ein paar Duele nicht fehlen und der ein oder andere Charakter schleicht sich auch heimlich in die Geschichte.
Ich wollte es jedem freistellen, ob er sich das "antun" möchte, ich habe es ein wenig übertrieben, das ais einer kleinen Idee wieder mal ein Riesenfass aufgemacht wurde .xD
Wer das nicht liest, verpasst lediglich ein paar Insider.

Es ist der erste von 3 Fillern - ich betrachte meine Geschichte im Aufbau ein wenig als Serie, deshalb dürfen Filler nicht fehlen.

Liebe Grüße und eine schöne Weihnachtszeit Komplett anzeigen

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Filler-Episode/ Vor vier Jahren

Rin seufzte. Die Schultasche auf den Boden abgestellt, wartete sie, dass die U-Bahn sich endlich in Bewegung setzte. Eine schöne Bescherung war das! Nachdem sie noch schnell mit Lumina bei Iruka-Nudeln eine ordentliche Portion Ramen verputzt hatte, weil sie glaubte noch genug Zeit zu haben, war sie schließlich zur Haltestelle geeilt und in den Bus gestiegen, der sie zum Busbahnhof und schließlich von dort in die Innenstadt bringen sollte. Dort angekommen kräuselte sie die Lippen. Der Busbahnhof war heute wegen Umbauarbeiten gesperrt, nicht ein Bus stand an dem sonst so überfüllten Busbahnhof. Stattdessen war das gesamte Areal mit Absperrbändern versehen.
 

Sie klammerte sich an den Halterungen über ihrem Kopf fest und schaute auf die Eingangstür.
 

Ihre Mutter schien nichts davon gewusst zu haben. Sonst war sie immer so korrekt und informierte ihre Tochter, sobald sich die Verkehrsbedingungen geändert hatten.
 

Ihr Mund wurde zu einem einzigen geraden Strich. Sicher würde sie sich nachher noch vor ihrer Mutter erklären müssen, warum sie denn so spät heimgekehrt war. Das mit der Sperrung würde sie ihr ja noch abkaufen, aber weshalb sie nicht früher gemerkt hatte, dass was nicht stimmte, brachte Rin sicher in die Bredouille. Sie müsste ihr gestehen, dass sie mit ihrer Freundin essen und deshalb so ins Trödeln gekommen war. Danach wusste Rin, was folgen würde: Sie bekäme wiede einmal zu hören, welch schlimmen Einfluss Luminas Freundschaft auf das Mädchen hätte, und so weiter und sofort. Dabei war es Rins eigene Entscheidung gewesen, noch ein bisschen mit ihrem Lieblingswuschel zu plaudern.
 

Die U-Bahn kam zum stehen; noch eine Haltestelle. Dann würde sie eilig durch die Stadt flitzen, Richtung Wochenmarkt. Die Gasse, die Rin und ihre Mutter sonst immer besuchten, konnte sie vergessen. Es war bereits kurz vor fünf, und wenn ihre Mutter nicht so dringend die Zutaten benötigte, hätte sie längst die Bahn nach Hause genommen. Aber ihre Mutter brauchte die Zutaten. Nicht vom Supermarkt um die Ecke, sondern die Guten vom Fleischer, wenn das heutige Abendessen ein voller Erfolg werden sollte. Der Chef ihres Vaters erwies sich mit seiner Frau die Ehre, da würde ihre Mutter sich hüten, das billige Fleisch von nebenan zu den Okonomiyakis zu servieren.
 

Endlich erreichte sie ihr Halteziel. Die Türen öffneten sich und Rin beugte sich gerade zu ihrer Tasche, als zwei flinke Hände nach dem Henkel griffen. Ein Kerl mit grauer Kapuzenjacke rannte aus der U-Bahn, dass Rin nur noch ein entsetztes >hey< hinterher rufen konnte. Der Dieb war so schnell, und Rin noch völlig neben sich, dass sie erst spät bemerkte, wie jemand die Verfolgung aufnahm. Ebenfalls ein Kerl, der deutlich schneller als sein Vordermann war. Geradezu athletisch, dass ihn schließlich nur eine Armlänge von dem Dieb trennte. Er machte einen Satz, warf den Kerl zu Boden und entriss ihm die Tasche. Das Spektakel schauten sich rund hundert Passagiere an. Die meisten gafften nur wie blöde, während Rin allmählich zu sich fand und in die Richtung der beiden rannte. Derweil hatte es der Dieb geschafft, sich aus der Misere zu ziehen, als der andere ihm die Tasche entwendet hatte und nach der Besitzerin Ausschau hielt. Aber das war Rin herzlich egal. Sie war froh, dass die Tasche in Sicherheit war. Schließlich hatte sie heute mehr Geld als sonst im Portemonnaie und - was noch viel wichtiger war - steckte ihr hart zusammengestelltes Deck im Seitenfach.

"Vielen Dank", Rin tat eine tiefe Verbeugung, als sich der Junge erhoben und ihr die Tasche ausgehändigt hatte. Seine Augen sahen jetzt zu Rin, die den Kopf gesenkt hielt.

"Tut mir leid, dass mir der Mistkerl entwischt ist", sagte er und fasste sich durch die Haare. Sie erhaschte einen Blick auf den großgewachsenen Kerl. Er trug die schwarze Schuluniform der östlichen Domino-City-Oberschule. Dazu die blonden, zerzausten Haare, die ihn irgendwie wild erscheinen ließen, waren sie ein völliger Kontrast zu seiner Aufmachung. Zwei türkisfarbene Augen strahlten sie an. Dabei war ihm noch immer der Ärger anzusehen, dass er den Dieb so einfach entkommen lassen hatte.

"Und dir ist nichts passiert?" Sie merkte, dass sie ihn regelrecht anstarrte und versuchte ihre eindringlichen Blicke zu erklären. Zumal noch immer dutzende Schaulustige um sie herum standen. Nur langsam löste sich die Gruppe auf und die Normalität des Feierabendverkehrs kehrte zurück in die Hallen der U-Bahnstationen.

Mit einem Lächeln erwiderte er: "Alles in Ordnung. Ich hoffe nur, dass du keinen allzu großen Schrecken davongetragen hast."

Mit glühenden Wangen schüttelte sie den Kopf.

"Zur Sicherheit", erwiderte er, "würde ich dich trotzdem noch ein Stück begleiten. Soweit das für dich in Ordnung ist. Vielleicht setzen wir uns kurz in ein Café. Du siehst ziemlich blass um die Nase aus. Ich heiße übrigens Takeshi Kawai." Das war eine Lüge. Rin war gerade alles andere als blass. Aber es schmeichelte ihr, dass er eine Ausrede suchte, um noch etwas bei ihr bleiben zu können. Das passierte nicht sehr oft - eigentlich war es sogar das erste Mal, dass Rin nur zaghaft nickte und dabei versuchte, nicht wie ein verschrecktes Reh auszusehen.

Mit langsamen Schritten verließen sie die U-Bahnstation.
 

Der Weg zum nächsten Café war nicht weit. Sie plauderten ein wenig und als er ein passendes kleines Eiscafé entdeckte, hatten sie bereits ein angeregtes Gespräch begonnen, dass es sich so anfühlte, als würde sie ihn bereits ewig kennen. Takeshi war sportlich und klug. Ein ehrgeiziger, ambitionierter Kerl, der ganz genaue Vorstellungen vom Leben hatte. Genau wie Rin besuchte er das letzte Jahr an der Oberschule und wusste, was er nach seinem Abschluss machen wollte.

"Gerade arbeite ich an ein paar kleineren Aufträgen, aber nach der Schule will ich unbedingt ein duales Studium am Theater oder einer anderen künstlerischen Einrichtung beginnen." Er zeigte ihr seine Werke - Tische, Stühle wie sie ein Tischlermeister kaum besser herstellen konnte. Rin war beeindruckt. Und fasziniert. In seinem Alter war er den meisten Idioten aus ihrer Klasse um Meilen voraus. Sie hing an seinen Lippen, nippte an ihrer heißen Schokolade und versuchte sich auf seine stählernen Augen zu konzentrieren. Dabei stieg immer wieder die Hitze in ihr hoch. Sein Lächeln war zum niederknien, die selbstsichere, coole Stimme, dazu sein Auftreten, das seine Wirkung auf Rin nicht verfehlte. Sie blühte langsam auf. Ließ sich sogar dazu hinreißen, von ihren eigenen Träumen zu schwärmen.

"DuelMonsters?! Wie cool! Und dann hast du es auch noch bis ins Finale geschafft."

Zaghaft nickte Rin. Ihr war es peinlich darüber zu reden. Die regionalen Juniorenmeisterschaften waren nichts Besonderes. Seit die DuelMonsters Kommission die Top-Turniere auf achtzehn Jahre hochgestuft hatte, blieb dem Mädchen nichts anderes übrig als sich in Geduld zu üben und in den eher bescheideneren Kreisen nach würdigen Gegnern zu suchen. Dass Takeshi so viel Begeisterung zeigte und Rins Idee nicht ins Lächerliche zog, gefiel ihr ungemein.
 

Wie sie von einem Gesprächsthema ins nächste rutschten fragte er schließlich, was Rin in die Innenstadt gezogen hatte und auf einmal kehrte die Erinnerung an das Abendessen zurück, sowie der Blick ihrer Mutter, die wohl schon ungeduldig auf sie wartete. Vor Schreck ließ sie beinahe die Tasse fallen. Sie entschuldigte sich bei Takeshi für ihren plötzlichen Aufbruch, doch er sah ihr bloß tief in die Augen und bestand darauf, sie zu begleiten. Schließlich wäre es ja seine Schuld, da er Rin solange aufgehalten hatte. Bei seinen Worten ging eine Gänsehaut von ihr aus, dass sie nur schüchtern nickte und kein Dank der Welt genügte, der ihre Freude zum Ausdruck gebracht hätte. Schnell rannten sie über die Hauptkreuzung in Richtung Wochenmarkt. Die ersten packten bereits ihre Waren zusammen. Rin überkam Panik. Wenn sie jetzt ohne ein vernünftiges Stück Fleisch nach Hause käme…zum Glück blieb Takeshi die Ruhe in Person, arbeitete systematisch die Einkaufsliste mit ihr ab. Ohne ihn wäre sie definitiv aufgeschmissen.

"Wie kann ich das nur je wieder gut machen?" Rin nahm die Beutel entgegen. Sie standen an der Straßenbahnhaltestelle. Takeshi hatte auf den Weg dorthin den Einkauf getragen.

"In dem ich dich wiedersehen darf", antwortete er ohne Umschweife, dass Rin beschämt zur Seite sah. Sein Lächeln war aber auch zum dahinschmelzen!

"Okay", hauchte sie, bevor die Straßenbahn auch schon um die Ecke bog. Sie stieg ein. Takeshi sah ihr noch hinterher, bis die Bahn hinter der nächsten Kreuzung verschwand. Mit klopfendem Herzen rutschte Rin auf einen der freien Plätze.
 

~
 

"Du hast keine Vorstellung! Es war wirklich so wie in einem dieser Bücher. Ich kann jetzt noch kaum das Zittern unterdrücken."

"Man hört es dir an", schmunzelte auf der anderen Leitung ihre beste Freundin.

Nachdem Rin heimkehrt war und ihre Mutter bezüglich ihres späten Erscheinens beruhigt hatte, war sie umgehend zum Telefon geeilt und hatte Lumina auf den neuesten Stand gebracht. Rin hatte ihrer Mutter von der Sperrung erzählt, ebenso von dem missglückten Überfall. Zweites hatte ihre Mutter in Unruhe versetzt, kaufte ihrer Tochter jedoch diese Ausrede ab, da sie erst von ihrer Nachbarin eine ähnliche Geschichte gehört hatte.

"Zum Glück kam dieser höfliche Oberschüler. Du solltest besser nicht mehr so spät mit der U-Bahn fahren." Dass dieser höfliche Oberschüler Rin zu einer Tasse heißer Schokolade eingeladen hatte, verschwieg das Mädchen. Mit dieser abgemilderten Version der Geschichte war sie nochmal glimpflich davongekommen. Hausarrest konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.
 

"Wie ging's weiter?", bohrte Lumina nach, nachdem Rin nur verlegen rumgedruckst hatte.
 

Anfangs war Rin noch unsicher, ob sie ihre beste Freundin wirklich damit behelligen wollte. Noch immer hatte Lumina an ihrer letzten Schwärmerei zu knabbern - ein älterer, verheirateter Mann, der Luminas Kopf ganz schön verdreht, aber eine ebenso tiefe Wunde in ihr Herz gerammt hatte. Das ließ sich die Schwarzhaarige nur nicht anmerken und Rin war so aufgeregt, dass sie nach dieser Aufforderung nicht anders konnte als alles bis aufs kleinste Detail nachzuerzählen.

"Also seht ihr euch bald wieder?"

Rin nickte sich selbst zu und starrte aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien. Die dicke Schneeschicht, die sich im Vorgarten gebildet hatte, würde Rin wohl den nächsten Vormittag kosten.

"Ich hoffe es", hauchte sie und stellte sich vor, wie Takeshi vor ihrem Fenster stünde. So eine schmalzige Phantasie kannte sie sonst gar nicht von sich.

"Hast du ihm deine E-Mail Adresse gegeben?" Luminas Frage riss das Mädchen aus ihrem Tagtraum.

"I-ich", sie hielt inne. Verdammt! Sie hatten doch gar keine Adressen ausgetauscht!

"Rin?!"

"Nein", wimmerte sie, "nein, nein, nein!"

"Echt jetzt?! Du hast vergessen, ihm deine Adresse zu geben? Nicht mal deine Festnetznummer?"

"Es…es ging plötzlich so schnell. Wir mussten uns beeilen und da…" Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen. Ihr war nach heulen zumute. Wie konnte das nur passieren? Jetzt hatte sie schon mal einen tollen Kerl kennengelernt, der sie genauso zu mögen schien, und scheiterte bei so einer wichtigen Sache.

"Naja", kam schließlich aus der anderen Leitung, als Rin ihren Kopf gar nicht mehr aus dem Kissen heben wollte, "wenn er schlau ist, sollte er deine Uniform erkannt haben und dich damit finden können."

"Vielleicht", nuschelte Rin und drehte den Kopf.

"Rin?!", drang von unten die Stimme ihrer Mutter.

"Ja?"

"Die halbe Stunde ist rum."

"Ich leg' gleich auf", rief sie und sah auf den Wecker neben sich. Eine halbe Stunde telefonieren war eindeutig zu wenig für einen Teenager, aber ihre Mutter wollte einfach nicht höher gehen.

"Lumina?"

"Hab's schon mitgekriegt", stöhnte ihre beste Freundin, die das Spiel bereits kannte. "Mach' dir erstmal keinen Kopf. Wenn er dich mag, wird er dich finden. Das hier ist schließlich Domino-City und nicht Tokyo."

"Ich hoffe, du hast recht", seufzte das Mädchen.

"Konzentrier' dich jetzt erstmal voll und ganz auf das Finale am Wochenende. Wie ich hörte, soll der Erfinder von DuelMonsters bei der Siegerehrung dabei sein - und wer weiß, vielleicht hast du ja Glück und er nimmt dich nach der Schule unter Vertrag."

"Jetzt bist du es aber, die sich da ganz schön was zusammen spinnt-"

"Rin Yamamori!"

"Ich muss Schluss machen. Sonst lässt sie mich womöglich nicht zum Spiel gehen." Was ihrer Mutter wohl gut in die Karten gespielt hätte. Also verabschiedete sie sich schnell von ihrer Freundin und brachte das Telefon nach unten. Ihre Mutter stand bereits herausgeputzt vor dem Herd. Streng sah sie zu ihrer Tochter und nahm das Telefon.

"Du solltest dir wirklich bessere Freunde suchen." Ohne ihren Satz zu kommentieren holte Rin die großen Teller aus dem Hängeschrank. Als ob jemand anderes mit ihr befreundet sein wollte! In der Schule war sie als Klassenstreberin und Musterschülerin gebrandmarkt. Und seit sie mit dem Kendo aufgehört hatte, sprachen auch ihre ehemaligen Mitstreiter nicht mehr mit dem Mädchen. Ihre vielen zusätzlichen Leistungskurse und dazu der Nachhilfeunterricht in den Ferien hatten nicht gerade Pluspunkte bei ihren Mitschülern gesammelt. Lumina war die einzige, die sich die Mühe gemacht hatte, hinter die Fassade der perfekten Schülerin zu blicken, und nicht einmal ihre Mutter würde sie davon abhalten können, Zeit mit ihrem Lieblingswuschel zu verbringen.
 

Den Rest des Tages versuchte sie die brave Tochter zu sein, die vor dem Chef ihres Vaters eine gute Figur machte. Herr Hashimoto war ein älterer, freundlicher Herr, der ihren Vater in den höchsten Tönen lobte. Er war weniger streng und Rin kannte ihn schon seit Kinderbeinen, dass sie den alten Herren ins Herz geschlossen hatte. Trotzdem konnte sie sich nur schwer auf seine Fragen konzentrieren. Sie dachte an diesen süßen Jungen, den sie womöglich nie wieder sehen würde. Die Enttäuschung vermischte sich mit der Aufregung ihres morgigen Duells. Keine gute Mischung, wie Rin fand. Alles, was ihr blieb, war, sich ganz auf das Finale zu konzentrieren.
 

~
 

Die Nacht bekam Rin kein Auge zu. Ihr war übel. Sie verfluchte das Schicksal, verfluchte ihre Dummheit.

Es war kurz vor vier, als sie schließlich die Augen schließen konnte. Aber der Wecker ließ sie nicht lange schlafen. Sie sah auf ihre gepackte Tasche, in die sie ihre Kleider für das Duell hineingestopft hatte. Rin würde sich erst bei Lumina umziehen. Ihre Mutter hätte ein derartiges Outfit sicher nicht gebilligt. Diese hielt sehr wenig von Rins rockigem Kleidungsstil und wenn sie die neue Lederhose ihrer Tochter entdeckt hätte, wäre sie wohl im Dreieck gesprungen und hätte das Teil eigenhändig in den Ofen geworfen.

"Ich find, du siehst Hammer aus", bestätigte Lumina ihre eigenen Gedanken. "Es soll ja keiner denken, du würdest zimperlich mit deinem Gegner umspringen." Die Schwarzhaarige zwinkerte ihr zu. Rin rollte bloß mit den Augen und zuppelte an ihren Haaren. "Ja ja, schon verstanden, ich bin ein Arsch."

"Ein verdammt heißer in der Hose, Fräulein", legte Lumina noch einen nach. Die beiden Mädchen lachten sich an, dann wurde Rin ganz ernst. Sie war aufgeregter als bei allen Kendo-Wettkämpfen zusammen. Einmal mehr spürte sie, wie sehr sie eine richtige Duellantin sein wollte.
 

"Viel Glück", umarmte sie ihre Freundin und klopfte ihr auf den Rücken. "Zeig' diesem Dinosaurier-Heini, wo es langgeht."

"Okay", murmelte Rin und bestieg den Duellring. Ihr Herz schlug wie wild. So viele Zuschauer hatte sie nicht erwartet. Das Duell fand in einer ehemaligen Lagerhalle statt, gut fünfhundert Menschen konnten sich um den Duellring sammeln. Fünfhundert Menschen auf einen Fleck - das kam ihr doch sehr viel für ein so nichtiges Event vor. Zwar strahlte der regionale TV-Sender die Juniorenmeisterschaften aus, aber dass sich die wirklich jemand anschaute, hatte Rin doch immer stark bezweifelt. Abgesehen von ein paar DuelMonsters Fanatikern wie Rin, die jede Gelegenheit nutzten, um neue Strategien und Karten kennenzulernen.
 

Ein Kommentator in türkisfarbenem Anzug kündigte die Finalisten an. Zuerst stellte er die siebzehnjährige Rin vor. Ihr Gegenüber der amtierende Champion Ty Rex Ryuzaki. der als Glücksbringer die Mütze seines Bruders trug. Ein unangenehmer Zeitgenosse, der Rin nicht einmal begrüßt hatte. Sein Gehabe ließ keinen Zweifel, dass er dieses Duell als Heimspiel betrachtete. Gleich bekäme sie die Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
 

~
 

"Ich spiele Melodie des erwachenden Drachen! Wenn ich eine Karte abwerfe, darf ich mir zwei Drachen von meinem Deck auf die Hand nehmen. Gleich stehst du der ultimativen Zerstörungsmaschine gegenüber! Dafür brauche ich nur meine Zauberkarte aufdecken: Fusion!"

"Was?!" Der Dino-Duellant zuckte zusammen. Auf Rins Spielfeldseite leuchtete Polymerisation auf."

"A-aber", stotterte der Braunhaarige, dessen Mütze ihm ins Gesicht gerutscht war. "Ich habe deinen blauäugigen weißen Drachen aus dem Spiel verbannt. Wie kannst du da den ultimativen Drachen spielen?"

"Das tue ich auch gar nicht", grinste Rin und wedelte mit ihren zwei Weißen vor ihrem Gesicht herum.

"Wa-?!"

"Du scheinst dich aber nicht gut auszukennen", schüttelte Rin gespielt den Kopf. "Zwei weiße Drachen lassen sich auch zu einem Monster vereinen." Damit eröffnete sie den Startschuss für ihre neueste Kreatur. "Blauäugiger Zwillingsausbruch-Drache!" Ein doppelköpfiger Drache breitete sich auf der gesamten Spielfläche aus. Zufrieden betrachtete Rin ihr Monster. Das viele Rumprobieren hatte sich gelohnt. Mit Staunen sahen die Zuschauer zur Bestie hinauf. Populär war dieses Fusionsmonster noch nicht, die dazugehörige Karte existierte erst seit ein paar Monaten, das nächste große Turnier fand erst im Frühjahr statt - also der perfekte Zeitpunkt, ihr neues Lieblingsmonster vorzustellen.

Nachdem das Publikum seine erstaunten Ausrufe eingestellt hatte, war es Ryuzakis Schnauben, das sie als erstes heraushörte.

"Das soll's gewesen sein? So viel Tamtam für ein Monster, das nicht einmal stärker als sein Original ist?!" Er lachte auf. "Mehr hast du nicht zu bieten? Hast du etwa vergessen, dass mein Tyranno mit 3500Atk stärker ist als dein missratener Zwillingsdrache?" Er rückte seine Mütze zurecht. "Mal ganz zu schweigen von Tyrannos Spezialeffekt: sobald du versuchst, mich anzugreifen, brauche ich nur meinen Riesen-Rex opfern und dein hübsches Monster landet in der verdeckten Verteidigungsposition."

"Ach, meinst du?"

"Was soll das heißen, hä?", blaffte ihr Gegner.

"Das soll heißen, dass du ganz schön schwer von Begriff bist. Sonst wüsstest du, dass du erledigt bist. Oder hast du meine verdeckte Karte vergessen?"

"D-das…aber-"

"Zeig' dich", Rin streckte die linke Hand aus, schwarzer Dunst blies auf dem Spielfeld, wirbelte Rins Haare umher. "Diese nette Karte", begann sie zu erzählen, "nennt sich verschwundener Wind und annulliert die Effekte deines kleinen Dinos."

"Das darf nicht sein!"

"Warte, es kommt noch besser", rief Rin, "obendrein werden die Angriffspunkte deines Monsters halbiert."

"Nein!"

"Jetzt ist dein Tyranno meinem Drachen nicht mehr so überlegen."

"Für diesen Zug", knurrte Ryuzaki, "aber glaub' nicht, dass ich dich damit davonkommen lasse. In der nächsten Runde werde ich meinen Dinosaurier zurückholen und deinen Drachen vernichten."

"Irrtum", entgegnete Rin ganz gelassen, "ich sagte doch bereits, dass du erledigt bist, denn mein Blauäugiger ist nicht irgendein Monster." Sie deutete auf die fliegende Kreatur über sich. "Seine besondere Fähigkeit erlaubt es mir, zweimal anzugreifen."

"T-trotzdem…dein, dein Monster hat immer noch nicht genug… b-bleiben noch sechshundert LP übrig."

"Und schon wieder liegst du falsch." Sie zeigte ihre letzte Karte in ihrer Hand vor. "Mit Elfenlicht erhöht sich die Power meines Drachen um vierhundert." Der Drache streckte sich. Nur ein Befehl seiner Herrin und das Duell war beendet. Das virtuelle System schaltete sich ab, die Monster verschwanden und Rin stand einer jubelnden Menge gegenüber, die dem Mädchen applaudierte. Die Arme vor der Brust verschränkt suchte sie nach einem vertrauten Gesicht, als zwei türkisfarbene Augen direkt zu Rin herüber sahen. Takeshi. Ihr Herz machte einen Aussetzer. Er war gekommen, hatte sich an ihr Gespräch erinnert. Das war ohne Übertreibung der beste Tag ihres Lebens! Sie lächelte scheu zu dem Blonden, bevor sie ihre Freundin in der Menge erblickte. Beide Mädchen nickten einander zu. Mehr Zeit gab man ihr nicht. Es folgte die Siegerzeremonie. Der Erfinder von DuelMonsters hatte sich auf die Tribüne begeben. In der Hand hielt er den Pokal, den sich Rin viel kleiner vorgestellt hatte. Ebenso den Chef von Industrial Illusions, der sich ihr mit einem sanften Lächeln näherte. Zum ersten Mal begegnete sie Pegasus J. Crawford - seine Erscheinung war imposant. Allein wegen des Wissens um seines revolutionären Durchbruchs in der Spielewelt. Als er direkt vor der Oberschülerin stand, beugte er sich leicht herunter und gratulierte ihr. "Ein gelungenes Finale, Sie können stolz auf sich sein." Er überreichte ihr den Pokal. Rins Finger waren so rutschig, dass sie fürchtete, er würde ihr sofort wieder aus den Händen fallen. "Wirklich eine nette Abwechslung, dass Sie den blauäugigen Zwillingsausbruch-Drachen gespielt haben. Es war klug, diesen letzten Trumpf bis zum Schluss in der Hinterhand zu behalten." Er klatschte in die Hände. Dann, im Schatten des Applauses, die Stimme des Firmenchefs, die nur Rin zu hören bekam: "Ihnen wird hoffentlich klar sein, dass sie mit diesen Karten niemals eine Zukunft haben werden."
 

...niemals eine Zukunft haben werden

Dieser Satz riss ein tiefes Loch auf.
 

~
 

"Ach, vergiss' den Kerl. Was weiß der schon." Leider eine ganze Menge. Aber Takeshi wollte sie nur trösten und momentan tat es gut, seine sanfte Stimme zu hören. Rin lächelte zaghaft und hauchte ein leises >danke<. Dann wandte sie sich dem Bildschirm rechts von ihnen zu. Auf sämtlichen Leinwänden der Domino-Mall war das Gesicht des Chefs der Kaiba Corporation zu sehen. Dieser kündigte neben seines neuesten Duellanten - Hiro Hacharui - das kommende Event an. Deswegen war also der Busbahnhof neulich gesperrt gewesen! Man hatte das große, runde Gebäude als künftigen Schauplatz ausgewählt. Wie sie die Kaiba Corporation einschätzte, würde wieder einmal eine phänomenale Show stattfinden und dieser Profispieler sollte nun an Seto Kaibas Stelle die Firma präsentieren. Ein bisschen beneidete sie den jungen Mann, der höchstens zwei, drei Jahre älter als Rin sein konnte. Wer würde wohl nicht gerne für Seto Kaiba arbeiten. Seine Duelle waren allesamt legendär gewesen und ein Liebhaber ihrer weißen Drachen war er auch noch.

"Für den Typen willst du nicht arbeiten", sagte Takeshi und deutete mit einem Nicken auf den Chef der Kaiba Corporation. "Das ist ein riesen Arschloch. Der würde glatt deine weißen Drachen mit eiskaltem Blick klauen."

Verdutzt sah das Mädchen zu ihrem Gegenüber. Sein Blick war todernst. Dabei konnte sie sich nicht vorstellen, dass Seto Kaiba Interesse an ihrer Zweitauflage der weißen Drachen mit eiskaltem Blick hatte. Und überhaupt. Der Kerl hatte sicher genug Geld, dass ihm Rins kleiner Schatz wohl kaum interessierte. Vielleicht früher, zu Beginn, als es lediglich vier Exemplare des blauäugigen weißen Drachen gab. Aber heute, seit dem Königreich der Duellanten, hatte es einen regelrechten Ansturm von weißen Drachen gegeben. Aber Takeshi blieb bei seinem Standpunkt. "Mein Cousin", begann er schließlich, "ging mit Seto Kaiba in eine Klasse. Wir haben zwar seit Jahren keinen Kontakt mehr, aber von seiner Schwester weiß ich, dass er nichts Gutes über ihn zu erzählen hat. Er soll ziemlich kalt und berechnend sein."

"Ach so", Rin legte die Hände auf den Schoß. Sie wollte nicht urteilen. Schließlich redeten ihre Klassenkameraden kaum anders über sie. Wer weiß, was wirklich dahinter steckte. Ein versöhnliches Lächeln von Takeshi und ihre Gedanken wurden zerstreut.

"Tut mir leid, das wird sicher das Letzte gewesen sein, worüber du reden wolltest." Er beugte sich nach vorne und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
 

Es war ihr drittes Treffen, und Rin wurde von Mal zu Mal aufgeregter. Dieser Kerl war einfach nur wundervoll, nahm Rücksicht auf das Mädchen und konnte sie leicht auf andere Gedanken bringen. Sie wusste, dass er genauso von ihr angetan war und das ließ die Schmetterlinge in ihrem Bauch vor Freude im Dreieck hüpfen. Sie kamen sich emotional in einem Tempo näher, dass Rin ins taumeln geriet. Doch Takeshi fing sie auf. Ein Kuss zum Abschied und sie fühlte sich in seiner festen Umarmung sicher und geborgen. Von seinen Küssen konnte sie nicht genug bekommen. Seine vollen, weichen Lippen, die sich auf ihre legten. Er strahlte so viel Selbstbewusstsein aus, dass Rin sich mitreißen ließ. Sie spürte, wie sie ihm alles geben wollte.
 

~
 

Am Valentinstag war es dann soweit. Takeshi hatte sie zu sich nach Hause eingeladen.

"Du weißt, was das heißt", in Luminas Stimme klang ein bedeutungsschwangerer Ton mit.

"Ich bin doch nicht blöd", entgegnete Rin und fummelte an dem Geschenkpapier herum. Sie hatte einen Schokoladenkuchen gebacken. Nach einem halben Tag harter Arbeit in der Küche war sie mit dem Ergebnis recht zufrieden. Backen lag ihr weniger als kochen, aber ihre Mutter war so lieb gewesen und hatte bei dem Teig geholfen. Rin hatte ihr von Takeshi erzählt, hatte es so dargestellt als wären sie sich zufällig wieder über den Weg gelaufen. Seine heldenhafte Aktion hatte Pluspunkte bei ihr gesammelt, dass Rin zuversichtlich hinsichtlich Yukikos Einverständnis war. Zumindest, was eine Beziehung ganz im Sinne ihrer prüden und konservativen Einstellung betraf. Alles andere lag wohl außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie wusste ja noch nicht einmal, dass Rin keine Jungfrau mehr war. Dafür hätte sie Yuichiro wohl persönlich vor den Traualtar gezerrt.
 

Rin blickte auf die dunkelrote Schleife und lächelte. Sobald sie das Geschenk überreicht hätte, wäre sie vielleicht schon in seiner Wohnung.

Takeshi wohnte seit Kurzem alleine. Seine Eltern waren vor Monaten auf eine Dienstreise aufgebrochen.

Bisher hatte er noch keinen offensichtlichen Schritt in diese Richtung gemacht. Erst gestern hatte er sie eingeladen - ganz romantisch zum Essen, am Valentinstag. Dass sich Rin daraus mehr versprach, ließ sie Takeshis versteckte Absichten verzeihen. Aber das brauchte er vorerst nicht zu wissen. Lieber spielte Rin die Rolle des naiven Mädchens, das sich einen unschuldigen Abend mit ihrem Liebsten versprach. Dabei konnten beide kaum noch die Finger voneinander lassen. Selbst auf dem Heimweg, wenn Takeshi sie von der Schule abholte, - extra den weiten Weg von seiner eigenen Schule zurücklegte, um Rin nach Hause bringen zu können - selbst da fiel es ihnen schwer, anständig zu bleiben. Wenn er sie auf seinen Schoß zog und sämtliche Passagiere mit brüskierten Blicken zu ihnen herüber starrten, vergaß Rin so manches Mal die Etiketten, die sie von Zuhause eingebläut bekommen hatte. Dabei schob er ganz beiläufig eine Hand unter ihren Rock. Rin, die den blauen Faltenrock brav bis zu den Knien trug, erschauderte bei der Berührung seiner warmen Hände, die erst bei ihren Oberschenkeln inne hielten, dort über die blanke Haut streichelten, dass Rin am liebsten rittlings auf seinen Schoß geklettert wäre, wenn da nicht die Kleinigkeit mit dem Bus gewesen wäre. Oder die Tatsache, dass sie bisher nicht miteinander geschlafen hatten. Dafür war der Zeitpunkt nie dagewesen. Und Rin war im Stillen auch froh darüber, dass sie es nicht gleich überstürzt hatten.
 

Lumina schüttelte lächelnd den Kopf.
 

Die beiden Mädchen saßen auf der Mauer, direkt vor der Bushaltestelle. Es war Freitag und die meisten Schüler hatte es bereits in das Wochenende verschlagen.
 

"Und du meinst, deine Eltern kriegen davon nichts mit?"

"Wie gesagt", Rin schubste sich von der Mauer ab, "ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich heute bei dir übernachte. Sie denkt, ich bringe dir etwas über die Yayoi-Periode bei."

"Und darauf wird sie reinfallen?" Aus der Tasche ihres Blazers zog Lumina eine Zigarette heraus. Die entsetzten Blicke der Erwachsenen ignorierte der kleine schwarzhaarige Wuschel, ebenso die geschockten Gesichter, sobald sie das lederne Halsband entdeckten. Damit hatte sie Rins Mutter nicht zum ersten Mal vor dem Kopf gestoßen, dass die Schwarzhaarige es seitdem sein ließ, ihre offenen Bekundungen während einer ihrer Besuche zur Schau zu stellen.

"Sie weiß, dass für nächste Woche eine Abfrage ansteht-"

"Und ich eine absolute Niete in Geschichte bin." Lumina nahm einen kräftigen Zug und blies genüsslich die Luft aus.

"Ich habe ihr gesagt, dass ich eine Abschrift mitbringen werde."

"Du glaubst doch nicht, dass du heute noch zum Schreiben kommst."

"Nein", Rin steckte das Geschenk zurück in die Tüte und klappte ihre Schultasche auf, "deshalb habe ich ein wenig vorgearbeitet." Sie zog ein kleines Bündel Papiere heraus und wedelte damit vor Luminas Gesicht herum. "Eine Abschrift ist für dich", sagte Rin so beiläufig, dass ihrer Freundin die Zigarette aus dem Mund fiel.

"Rin Yamamori", schüttelte Lumina breit grinsend den Kopf, "du wirst deinem Ruf gerecht. Du notgeile Streberin, du."

"Doch nicht deswegen", nuschelte Rin und fühlte sich dennoch ertappt. Ihre Freundin drückte die Zigarette aus, dann warf sie sich den Rucksack über die Schulter.

"Du gehst schon?", fragte Rin, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Seit Takeshi sie abholte, hatte es die Schwarzhaarige eilig nach Hause zu kommen.

"Du kriegst das schon ohne mich hin."

"Du weißt, dass du nicht gehen musst. Takeshi würde dich wirklich gerne kennenlernen."

"Ich hab' ihn doch schon kennengelernt."

"Die zwei Minuten", Rin verleierte die Augen. Ihre beste Freundin blieb unverbesserlich. "Ich muss doch wissen", damit sprach Rin etwas versöhnlicher und hakte sich bei Lumina unter, "ob du ihn als würdig erachtest."

"Würde das denn noch deine Meinung ändern?" Skeptisch hob Lumina eine Augenbraue. Rin grinste nur. "Sei doch nicht so. Du bleibst immer meine Liebste. Es heißt doch so schön: >Bruder vor Luder< und Schwester vor…" Mit der freien Hand tippte sich Rin ans Kinn.

"Keine Ahnung", zuckte Lumina lediglich mit den Schultern, "vielleicht >Geschwister vor Fister<?" Darauf gab es einen leichten Seitenhieb von Rin. "Also wirklich, Miss Phoenix! Sie hängen eindeutig zu viel in ihren Chatportalen herum."

"Wenn du wüsstest", säuselte Lumina und lächelte in sich hinein.

"Pass' mir nur ja auf, hast du verstanden?", mimte Rin die große Schwester und bemühte sich, Autorität in die Stimme zu bringen, "nicht, dass dich am Ende so ein Sadist in die Finger bekommt."

"Nein, Yami liebt es bloß zu provozieren, mehr nicht."

"Meinst du?" Rin seufzte. Ihre Freundin war zu stur, um sich irgendetwas sagen zu lassen. Umso überraschender war es damals für Rin gewesen, dass Luminas Vorlieben ausgerechnet darin bestanden, das devote Mädchen zu spielen.

"Denk' du lieber an deine eigenen Grenzen", Lumina nickte in Richtung Fußgängerüberweg. "Wenn man vom Teufel spricht." Mit lässigen Schritten lief Takeshi über die Straße. Seine Augen funkelten Rin bereits von Weitem an, dass dem Mädchen die Schamesröte ins Gesicht stieg.

"Ich lass' euch zwei Turteltäubchen dann mal alleine", damit entwischte ihr Lumina aus dem Klammergriff und huschte in die nächste Seitengasse.

Dieser menschenscheue kleine Flummi

Sie konnte verstehen, dass Lumina nicht unbedingt das fünfte Rad am Wagen sein wollte. Schon allein, weil sie sich damit ihrer eigenen Lage bewusst wurde, und wie sehr sie sich insgeheim eine Beziehung wie diese wünschen würde. Dabei nahm Rin Rücksicht, wenn Takeshi aufkreuzte, ersparte ihrer Freundin das viele Geknutsche und die schmachtenden Blicke. All das half nur nichts. Half nicht über Luminas schüchterne Art, die jeden Fremden einbezog. Und Rin wollte nicht betteln. Machte Lumina bereits genug Kompromisse wegen Takeshi. Heute hielt sie ihr sogar den Rücken frei - wenn Rin auch bereits dasselbe für Lumina getan hatte.

Bei dem Gedanken wurde ihr ganz flau im Magen. Daran zu denken, was nachher womöglich passierte - was nachher wohl sicher passierte…Sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Obwohl es nicht ihr erstes Mal sein sollte, war sie genauso aufgeregt.
 

Rin nahm die Schultasche und ließ sie mitsamt der Geschenktüte vor ihrem Schoß baumeln.

"Entschuldige die Verspätung", rief Takeshi ihr zu, noch bevor er das Mädchen erreicht hatte. Seine Stimme verriet, dass er den Weg über gerannt sein musste.

"Nicht schlimm", entgegnete Rin, die sich dazu zwingen musste, ihm wenigstens ins Gesicht zu sehen. Seine Haare lagen heute noch wilder als sonst. Das lag sicher am Training, freitags hatte er seinen Leichtathletikkurs, dass er es meist nicht schaffte, sie abzuholen. Nur heute, da hatte er eine Ausnahme gemacht.

Er machte einen Satz, dass er direkt vor Rin stand, zog sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund, dass Rin keine Zeit blieb, die Augen zu schließen.

"Na", grinste er sie an, dass Rin nur schüchtern die Lider senkte. Sein Jackett, das unter der offenen Jacke hervor lugte, machte sie schon nervös. Die Uniform der östlichen Domino-City-Oberschule sah viel erwachsener aus als die der westlichen Oberschule. Dass sie eine Schwäche für derartige Kleidung hatte, machte es nicht besser. Zudem waren die ersten zwei Knöpfe seines Jacketts aufgeknöpft, dass er nicht nur lässig, sondern auch verdammt heiß aussah.
 

Den einen Arm um sie gelegt, drückte er sie eng an sich und lief mit ihr über die Straße. Sie mussten die Bahn Richtung Hafen-City nehmen. Takeshi wohnte am anderen Ende der Stadt, also knapp eine dreiviertel Stunde Fahrt von Rin entfernt.

"Tut mir leid, dass ich mich nicht umziehen konnte. Ausgerechnet am Valentinstag", murmelte das Mädchen, als sie sich ans hintere Ende der Bahn gesetzt hatten.

"Du siehst doch süß in deiner Uniform aus", meinte Takeshi und zupfte an dem Saum ihres Rockes herum. Sie lehnte sich an ihn und ließ den Kopf auf seine Schulter fallen. Rin wollte nicht süß sein - ganz besonders heute nicht. Süß sagten auch ständig ihre Verwandten, dass sie es nicht mehr hören konnte. Nur bei Takeshi machte sie eine Ausnahme. Er wollte ihr schließlich nur ein Kompliment machen.
 

Je näher sie der Haltestelle kamen, umso höher schlug ihr Herz. Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, ließen sie kaum auf das Wesentliche konzentrieren. Als sie schließlich ausstiegen und den Wohnblock ansteuerten, schossen die Bilder nur so durch ihren Kopf.
 

Takeshi wohnte in einem zwölf stöckigen Hochhaus, in der elften Etage. Die Wohnung war klein, der Flur gerade einmal so groß, dass beide hineinpassten. Vorsichtig streifte sie sich die Schuhe ab, Takeshi half ihr bei dem Mantel. Sogleich bemerkte sie einen eigenartigen Geruch.

"Meine Überraschung", lächelte Takeshi, "ich werde heute für uns kochen." Das sagte er voller Überzeugung, obwohl Rin Zweifel kamen. Zwar lebte er seit einiger Zeit alleine, ernährte sich jedoch ausschließlich von Fertignudeln und dem Pizzaservice um die Ecke. Manchmal aß er auch bei seiner Tante - aber auch nur gelegentlich an den Wochenenden.

Rin versuchte sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen. Wenn er extra für sie kochen wollte, würde sie ihn nicht daran hindern. Zumal es schon süß war, den Blonden hinterm Herd stehen zu sehen. Er hatte Spaghetti auf dem Speiseplan stehen. Nicht gerade das erste, das ihr einfiele, um sich ans Kochen zu probieren. Takeshi meinte, der Koch aus dem Internet hatte es ganz einfach zubereitet. Rin nickte, machte gute Miene zum bösen Spiel. Ihr Magen knurrte schon heftig. Ausgerechnet heute hatte sie die ganze Bentobox gleich in der ersten Pause verputzt. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder. Der gedeckte Tisch war schon liebevoll eingerichtet. Takeshi hatte sogar Servietten und einen Kerzenständer in die Mitte des Tisches gestellt. Sie nahm die Streichhölzer zur Hand, entzündete drei rote Kerzen. Wenigstens etwas wollte sie dazu beisteuern. Im Moment kam sie sich eher nutzlos vor - auch wenn der leicht verbrannte Geruch ihr etwas anderes sagte.

"Die Soße habe ich gestern Abend vorgekocht", sagte er, während er eifrig in den Topf rührte, dass die rote Flüssigkeit nicht hochkam. Die eine Wand war bereits mit Spritzern versehen. Mit einem Lächeln beobachtete sie ihn dabei, wie er das heiße Wasser der Nudeln abgoss. Sie entschied sich, den Schokoladenkuchen aus dem Flur zu holen. In der Bahn hatte sie Takeshi ihr Valtentinstagsgeschenk überreicht und Takeshi hatte wie ein Honigkuchenpferd gegrinst.

Falls das Essen nicht seinen Vorstellungen entsprach, hatten sie ja wenigstens noch den Kuchen. Das stimmte ihren Bauch ein wenig zufrieden.
 

"So, bella donna", damit stellte er ihr ganz wie ein professioneller Kellner den Teller auf den Platz. Lecker sah es wirklich aus. Noch dazu, wie Takeshi die Nudeln mit der Soße drapiert und ein wenig Grünzeug darauf gestreut hatte, ließen sie kurz die Zweifel vergessen.

"Buon appetito", erwiderte Rin mit einem Lächeln. Sie sah auf die Essstäbchen neben sich.

[l]Soll ich ihm sagen, dass Gabeln besser wären…? Aber dann bringe ich ihn vielleicht in Verlegenheit…nein, ich zieh' das jetzt so durch.

Die Nudeln in den Mund geschoben hielt Rin inne.

"Hm", machte Takeshi und sah sich die Nudeln ganz genau an, "irgendwas stimmt nicht. Sollen die Nudeln so hart sein?" Er legte den Kopf schief.

"Naja", druckste Rin, "wie lange waren sie denn im Wasser?"

"So wie immer", antwortete er, "zwischen drei und fünf Minuten - hat meine Mom auch immer so gemacht."

Rin sah ihn an. Sie konnte nicht anders und unterdrückte sich ein Lachen so gut es ging. "Bei Udon oder Soba stimmt das schon. Die italienischen Nudeln brauchen etwas länger."

"Echt jetzt?!", stöhnte Takeshi und ließ die Essstäbchen sinken. "Ich bin doch echt zu blöd zum Kochen."

"Das konntest du doch nicht wissen."

"Das stand ja so auf der Packung, aber ich dachte, sie hätten es falsch übersetzt." Takeshi fing an zu lachen und auch Rin konnte nicht mehr in sich halten.

"Dabei wollte ich doch was Schönes für dich kochen."

"Der Wille zählt", entgegnete Rin. Schließlich war es das erste Mal, dass ein Junge für sie kochte. Ihrem ersten Freund wäre das nie im Leben eingefallen. Yu steckte da zu tief in dem Rollenbild zwischen Mann und Frau.

"Ich weiß das zu schätzen", ergänzte sie, "du hast dir wirklich Mühe gegeben. Trotzdem sollten wir lieber keine weiteren Nudeln essen. Das würde uns unser Magen nie verzeihen."
 

Sie aßen noch ein wenig von der Soße und einigten sich darauf, künftige Abendessen Rin zu überlassen. Ihr gefiel, dass er es als selbstverständlich sah, Rin öfter bei sich zu haben. Sie beide alleine in der Wohnung fühlte sich fast so an, als lebten sie zusammen. Die Vorstellung verdrehte ihr ganz schön den Kopf.

"Lass' mich wenigstens den Abwasch übernehmen", sagte sie und erhob sich. Nach einem leichten Protest willigte Takeshi ein und kümmerte sich derweil um die restlichen Kleinigkeiten in der Wohnung. Schmutzig war es nicht, aber Takeshi schien ein ziemlicher Chaot zu sein. Hier und da stapelten sich Holzteile und Schrauben. Sie mussten wohl in letzter Minute noch zusammengeschoben worden sein. So sah es zumindest aus. Auf der Couch hatte sich noch die ein oder andere einzelne Socke verirrt, die er auch noch zusammen sammelte. In der Zwischenzeit kümmerte sich Rin um den Abwasch. Die halbe Kücheninsel war mit gebrauchten Töpfen und Schüsseln von gestern. Sie kratzte die verbrannten Fleischstücke von der Pfanne und lächelte stumm vor sich hin. Noch nie hatte ihr Abwaschen so viel Spaß gemacht. Sie war schneller als sonst mit dem Abtrocknen fertig und brauchte nur noch die Gläser polieren. Das machte sie so routiniert, dass sie gar nicht merkte, wie sich Takeshi vor sie gestellt hatte. Er nahm ihr das Glas ab, dann legte er das Geschirrhandtuch auf den Boden. Mit der freien Hand hatte er ihr Handgelenk gegriffen und zog sie zu sich heran. Seine Lippen legten sich auf ihre. Sein Kuss war zärtlich, wie seine Zunge um Einlass bat, kam sie ihrer Bitte ohne Zögern nach. Ein Prickeln bedeckte ihren Körper, sein Kuss wurde fordernder. Während er sie enger an sich drückte, sie gerade zu an seinen Körper presste, stieg Rin die Hitze ins Gesicht, bis sie sich langsam nach unten arbeitete. Noch nie waren seine Küsse so intensiv gewesen. Die Aufregung wuchs. Mit seinen Händen packte er Rin an ihr Hinterteil, hob sie ruckartig an und setzte sie auf die frisch polierte Arbeitsfläche. Vor Schreck riss sie die Augen auf, bevor sie sich erneut von seinen Küssen bezirzen ließ und ganz darin verloren ging. Mehr denn je spürte sie, wie sehr sie es wollte; wie sehr sie ihn wollte. Sie spreizte die Beine ein wenig, wollte sie um seine Hüften schlingen, sich wie eine Schlange um ihn wickeln. Doch Takeshi hielt sie an den Waden fest. Seine Lippen lösten sich von ihr, der Blick wanderte hinunter zu ihren Beinen. Die plötzliche Reaktion ließ Rin den Atem anhalten. Hatte sie womöglich etwas falsch gemacht?

"Ich", Takeshis Stimme hatte sich verändert - sie klang rau und tiefer als sonst, "ich konnte dir noch gar kein richtiges Valentinstagsgeschenk geben." Während er das sagte, sah er nicht einmal zu ihr auf. Dabei hätte sie so gerne in seine Augen gesehen. Wenigstens kurz, um sich zu vergewissern, dass alles gut war. Seine Worte verwirrten das Mädchen.

"Das ist", setzte Rin an und wurde schlagartig wieder still, als er sie mit den Beinen näher zu sich ranzog. Rin rutschte auf dem Holz herum, geriet ins Wanken und stützte sich in letzter Sekunde mit den Unterarmen an der Arbeitsfläche ab. Dadurch war ihr Oberkörper ein wenig nach hinten gewandert, dass Rin ihren Kopf recken musste, um Takeshi richtig sehen zu können. Dieser hatte ihre Beine erst angewinkelt, dann auseinander gespreizt, dass der brave Rock nach unten rutschte, und schließlich ihre Füße auf die Arbeitsfläche postiert. Erst jetzt blickten seine Augen zu Rin, der es langsam dämmerte, was er vorhatte. Die sonst so strahlenden Augen ihres Freundes bekamen etwas Dunkles. So hatte er sie noch nie angesehen. Ein wohliger Schauer breitete sich in ihr aus, obwohl noch immer die Aufregung dominierte. Ohne von ihren Seelenspiegeln zu lassen, die selbst etwas Düsteres in sich trugen, spürte sie, wie seine Hände ihre Beine hinauf fuhren, die Innenseite ihrer Schenkel streiften und langsam das Stück Stoff unter ihrem Rock erreichten. Rin konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. So sehr der Anblick seiner Seelenspiegel sie erregte, war es ihr nicht mehr möglich, ihm weiter dabei zuzusehen. Nicht mit dem Wissen, was er vorhatte.

Ihre Wangen schienen Feuer fangen zu wollen, während er einfach weiter machte, den Saum ihres Spitzenhöschen fasste und wortlos herunterzog. Rin biss sich auf die Lippen. Die Vorstellung, welcher Anblick sich ihm gerade bot, ließ sie eine Mischung aus Scham und Erregung spüren. Eine aufwühlende Kombination, die sie nicht klar denken ließ. Sie schloss die Augen, biss die Zähne so tief in die Unterlippe, dass es schmerzte. Lediglich Takeshis tiefen Atemzüge drangen zu ihr durch. Sie wusste nicht warum, aber sie war sich sicher, dass sein Blick unter ihren Rock gewandert war. Eine Bewegung seinerseits bestätigte Rin in ihrer Vermutung. Er hatte sein Gesicht zwischen ihre Beine geschoben. Sein wildes Haar kitzelte ihre Scham. Rin drehte der Kopf. Als er dann noch einen Kuss auf einen ihrer Schenkel drückte - ganz sanft und behutsam - war es um sie gänzlich geschehen.

"Du bist wunderschön", raunte er. Rin wäre am liebsten im Boden versunken, während gleichzeitig eine Stimme in ihr sagte, sie solle es einfach geschehen lassen. Eine Stimme, die sich in ihren Kopf eingenistet hatte, sobald seine Lippen zwischen ihre Beine gingen. Dass es sich so intensiv anfühlen würde, damit hatte Rin nicht gerechnet. Das Gefühl ließ sie beinahe ihre Verlegenheit vergessen - weich fühlten sich seine Lippen an ihrer empfindsamsten Stelle an. Als würden sie mehrere nadelbreite Stiche gleichzeitig stimulieren wollen. Die Lippen fühlten sich weicher an, als wenn er sie bloß auf den Mund küsste. Dann erst noch seine Zunge, die geradezu magisch auf sie wirkte…

Lumina hatte ihr einmal erzählt, dass es genauso viel Spaß machen konnte wie konventioneller Sex. Dass es sie derart den Verstand kostete, hatte ihr niemand gesagt. Damit hatte sie bisher einfach keine Erfahrung gehabt. Yu hatte sie nie geleckt - höchstens ein wenig mit den Fingern stimuliert, das war aber auch schon alles gewesen. Takeshi schien nicht nur ein feineres Fingerspitzengefühl in Sachen erogener Zonen zu besitzen, sondern auch erfahrener im Umgang mit Frauen zu sein. Sie hatte nie nach seiner Vergangenheit gefragt und gerade interessierte es sie wenig, woher er diese Erfahrung hatte. Dafür war sie viel zu sehr in Besitz seiner Lippen genommen worden, die sie langsam auf den Gipfel zusteuern ließen. Noch nie hatte sich ein Orgsamus so genussvoll in ihr aufgebaut. Rin versuchte ihre Beine zusammen zu pressen, ihre Hüften rhythmisch zu Takeshis Zungenspiel zu bewegen. Immer weiter driftete sie ab, immer tiefer schien sie dieses Kribbeln einnehmen zu wollen. Laute drangen zu ihr durch, fremde Laute, die Rins Lippen verließen, aber nicht wie Rin klangen. Sie windete sich so gut es ging, bäumte sich in einem letzten Kraftakt auf, als sie der Höhepunkt mit voller Wucht traf. Alles drehte sich. Sie stöhnte laut auf - das einzige, wozu sie noch in der Lage war. Ihre Beine wurden wie Pudding, als Takeshi sie auch schon vorsichtig an den Knöcheln festhielt und behutsam ihre Füße herunter zog, dass sie wieder knapp über dem Boden baumelten. Allmählich öffnete Rin ihre Augen. Takeshi grinste sie schief an.

"Hat dir mein Valentinstagsgeschenk gefallen?", fragte er, wobei sein Grinsen noch breiter wurde.

"Ich..", stöhnte Rin, "liebe…es."

"Und ich liebe dich."

Rin richtete sich auf. Perplex starrte sie zu dem Blonden hinauf. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Er legte eine Hand auf ihren Nacken. Ihre Gesichter waren nun dicht an dicht. Wo noch vor Minuten seine Lippen sie geneckt hatten, drückten sie Rin einen Kuss auf ihren trockenen Mund.

"Ich liebe dich", wiederholte er hauchend.

"I-ich", Rin schloss die Augen, schlang die Arme um seinen Hals, "ich liebe dich auch."
 

~
 

"Wann ziehst du zu ihm?", feixte Lumina und legte den Kopf schief, während ihre Augen die Karten in ihrer Hand verschlangen.

"Lenk' nicht ab", entgegnete Rin trocken und zog eine Karte, "oder glaubst du ernsthaft, dass ich mich von so einem dummen Teenagergequatsche ablenken lasse?" Ihre Augen starrten angriffslustig zu ihrem Gegenüber. Die Schwarzhaarige grinste breit. "Und ich dachte schon, die Duell-Rin wurde von ihrer niedlichen Zwillingsschwester, Miss Rosarote-Brille, verschlungen."

"Denkst du, ich nehm' das hier nicht ernst?!" Allein ihre Stimme verriet, dass sie ihr Duell sehr wohl ernst nahm und dass sie keine weiteren Verzögerungen duldete. Schon gar nicht durch so einen billigen Trick.

Lumina hob eine Augenbraue. Sie hatte aufgehört zu grinsen und wartete, dass Rin ihren Zug machte. Wenn Rin so ernst drein blickte, strahlte sie so viel Dominanz aus, wie die Schwarzhaarige von ihrer zurückhaltenden Freundin gar nicht gewohnt war; und irgendwie traute sich Lumina dann nicht, ihr etwas entgegen zu bringen. Zumindest für diesen Moment.
 

Rin drehte eine ihrer Karten zu Lumina: "Ich spiele Topf der Gier-"

"Ja, ja, schon klar, du ziehst zwei Karten," stöhnte der schwarzhaarige Wuschel, "als ob es jemanden auf der Welt gibt, der das noch nicht geschnallt hätte."

Rin wusste, dass Lumina gerne einmal die Formalitäten ignorierte und ihre Schritte unkommentiert ließ. Nicht selten führte dies zu Diskussionen, die damit endeten, dass beide die Meinung des anderen umgingen. Bei DuelMonsters verstand Rin einfach keinen Spaß und Lumina war viel zu dickköpfig, als dass sie sich von ihrer besten Freundin etwas vorschreiben ließe. Dafür kamen Lumina die Regelungen einfach viel zu hirnrissig vor.
 

Mit einem kühlen Blick, der Rins Augen ganz besonders funkeln ließ, zog sie zwei Karten.

"Ich spiele die Zauberkarte Extra törichtes Begräbnis." Die Karte landete auf der Zauber- und Fallenkartenzone ihrer Spielmatte.
 

Die Mädchen hockten in Luminas Zimmer auf dem Fußboden. Die Beine zum Schneidersitz verhakt saßen sie bereits seit Stunden in ein und derselben Pose. Es war das sechste Spiel in Folge. Allmählich knurrte den Siebzehnjährigen der Magen. Der Sieger würde über das Abendessen entscheiden dürfen. In dieser letzten Runde legte sich die Schwarzhaarige ganz besonders ins Zeug - es hatte lange kein gutes Sushi mehr gegeben und die Pizza Margherita hing Lumina bereits bis zum Hals raus.
 

"Und was soll das sein?" Lumina beugte sich zu der Karte herüber.

"Extra törichtes Begräbnis lässt mich ein Fusionsmonster von meinem Deck auf den Friedhof legen."

"Aha", murrte Lumina, da sie bereits wusste, von welchem Fusionsmonster die Rede war. Rin spielte seit jeher nur mit einem Fusionsmonstertyp, dass ihr Zug keine große Überraschung war.

"Und jetzt", Rin knallte den nächsten Zauber auf die Matte - Wiedergeburt.

"Nicht so voreilig, meine Liebe", säuselte Lumina und deckte ihre eigene Zauberkarte auf, "ich hab' hier noch eine Kleinigkeit - mystischer Raum Taifun. Damit puste ich deine Wiedergeburt vom Feld."

Daraufhin legte Rin die Karte auf den Friedhof ab.

"Da habe ich wohl deinen Plan vereitelt, nicht wahr?" Lumina stand die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben. "Und wo wir schonmal dabei sind: Hier ist noch ein netter Schnellzauber." Die Karte erkannte das Mädchen. Es war die Zauberkarte waghalsig voranstürmen, die dem auserwählten Monster 700 zusätzliche Punkte verlieh. "Mit dieser Karte rüste ich meinen Magier des schwarzen Chaos aus." Damit stieg die Angriffskraft ihres Hexers um 3500 Atk - somit war er um genau fünfhundert Punkte stärker als Rins weiße Drachen mit eiskaltem Blick.

"Tja, Pech für deine Drachen", lächelte Lumina und spielte an ihrer Zigarette herum, die sie sich hinter ihr linkes Ohr geklemmt hatte.

Rin ließ das Ganze jedoch kalt. "Glaubst du ernsthaft, dass dein Sadomaso Kumpel mir entkommen könnte?" Damit deckte sie ihre letzte verdeckte Karte auf. "Als ob ich nichts in der Hinterhand hätte - ich aktiviere Burg der Drachenseelen. Wenn ich ein Drachemonster von meinem Friedhof aus dem Spiel verbanne, bekommt einer meiner Weißen einen Bonus von siebenhundert Angriffspunkten!" Sie legte Kindmodo Drache von ihrem Stapel. "Deine Zauberer Heinis werden nie gegen meine starke Drachentaktik ankommen. Gib' doch endlich zu, dass das hier nicht mehr als eine billige Hokus-Pokus-Show ist", Rin schüttelte müde lächelnd den Kopf. Dann gab sie das Startsignal zum Angriff.

"Nun", murmelte Lumina, "meine Monsterkarten sind vielleicht nicht so stark wie deine Weißen, aber-" Sie hatte ebenfalls noch eine Fallenkarte parat. "Wie schmeckt dir das?!", die Schwarzhaarige leckte sich die Lippen, "meine Macht des Spiegels vernichtet deine Weißen! Keiner kann dieser Fallenkarte entkommen. Nicht einmal deine ach so starken Drachen!" Mit aufgerissenen Augen wartete sie, dass Rin ihre Monster auf den Friedhof legte. Das tat sie dann auch.

"Ich weiß, dass das vorhin deine einzige Wiedergeburt war. Dann würd' ich mal sagen, es ist gelaufen."

"Wie recht du doch hast", lächelte Rin. Ihr Blick hatte sich verändert. Dieses Dunkle in ihren Augen, das sogar Lumina von Zeit zu Zeit unheimlich war, und nicht einmal von Rin bemerkt wurde - es war wieder da. "Sieh' deiner Niederlage ins Gesicht!" Das Mädchen zückte eine Karte aus ihrer Hand. Ein Drachemonster, wie Lumina auf den ersten Blick erkennen konnte. Aber kein blauäugiger weißer Drache, soviel stand fest. Diese waren nämlich allesamt auf dem Friedhof.

Dieser Kreatur begegnete Lumina zum ersten Mal. "Na los", säuselte Rin wie die Hexe aus Hänsel und Gretel, die die Kinder in ihr Lebkuchenhaus lockte, "lies'." Dieser Aufforderung kam Lumina nur zögerlich nach. Mit jeder vorangeschrittenen Zeile wuchs das Entsetzen in ihren Augen.

"Das-", der Schwarzhaarigen blieb der Mund offen stehen.

"Du hast dich nicht verlesen", las Rin die Gedanken ihrer Freundin. "Diese Karte ist so mächtig und sie wird dieses Duell dem Garaus machen. Ich schwöre dir, so eine Niederlage wie diese hast du noch nie erlebt."

"Tiefäugiger weißer Drache", murmelte Lumina fassungslos, "was für eine kranke Scheiße ist das denn?!"

"Ein nettes kleines Extra, das ich mir im Finale der Juniorenmeisterschaft verdient habe", entgegnete Rin mit einem diabolischen Grinsen.
 

Es war die Belohnung ihres Sieges gegen Ryuzaki. Statt eines Preisgeldes war den minderjährigen Teilnehmern eine seltene Karte versprochen worden, die exklusiv von Pegasus J. Crawford ausgesucht wurde. Nachdem Rin ihren Preis per Sonderkurier zugestellt bekommen hatte, hatte sie ihren Augen nicht trauen können. Das war nicht nur eine Karte der Secret Rare Stufe - der seltensten und wertvollsten Stufe in DuelMonsters. Sie war eine Zerstörungsmaschine, wie sie Rin noch nie zuvor erlebt hatte.
 

Gelassen legte sie die Karte auf die Monsterzone.

"Ich wusste, dass du es dir nicht entgehen lassen konntest, meine weißen Drachen mit Spiegelkraft anzugreifen. Das war die perfekte Gelegenheit, meinen neuen Schatz auszuprobieren. Sobald ein blauäugig Monster auf dem Spielfeld zerstört wird", fasste Rin zusammen, "kann ich tiefäugiger weißer Drache direkt von meiner Hand beschwören. Aber es kommt noch besser", tiefe Schatten bildeten sich unter Rins Augen, während ihr Lächeln immer breiter wurde. "Für jedes unterschiedliche Drachemonster in meinem Friedhof verlierst du 600 Lebenspunkte. Das macht bei vier Drachemonstern-"

"Zweitausendvierhundert", schluckte Lumina, deren Lebenspunkte auf vierhundert herunter geschraubt wurden.

"Und nun kommen wir zum Besten", Rin deutete auf ihren Friedhof, "wie du sehen kannst, besitzt mein Tiefäugiger gerade überhaupt keinen Angriffspunkt. Aber das wird nicht von Dauer sein, glaube mir. Denn seine dritte spezielle Fähigkeit lässt mich ein Drachemonster von meinem Friedhof wählen. Von ihm bekommt mein Drache dann seine Angriffspunkte. Na, kannst du dir denken, welches Monster ich mir ausgesucht habe?"

Lumina blickte wie hypnotisiert zu ihrer Freundin herüber. "Du…deswegen hast du den ultimativen Drachen auf den Friedhof gelegt! Du wolltest ihn gar nicht mit Wiedergeburt beschwören. Das war bloß eine Falle, damit ich meine verdeckten Karten spiele."

"Ich wusste, du würdest dich in Sicherheit wiegen, sobald du meine Zauberkarte Monsterreanimation zerstört hättest. Mir ist klar, dass du einen Großteil meiner Karten kennst und dass Wiedergeburt nun mal zu den seltenen Karten zählt, weswegen ich auch nur eine in meinem Deck besitze. Aber das ist nicht der einzige Grund." Rin wedelte belehrend mit dem Zeigefinger. "Schließlich kaufen einem so die Gegner ab, man könne nicht mehr auf seinen Friedhof zurückgreifen. Ein ziemlich einfältiger Gedanke."

Lumina gab ein Knurren von sich. Ihre Freundin wusste ganz genau, wieso. Lächelnd sah sie zu dem Magier des schwarzen Chaos. "Lass' mich raten: deine letzte verdeckte Karte ist Ruf der Gejagten, mit dem du entweder deinen Chaosmagier oder deinen dunklen Magier wieder aufs Feld holen wolltest-"

"Das könnte dir so passen", funkelte sie Lumina an, bevor sie eine Hand schützend um die Karte des Magiers legte. "Du würdest doch absichtlich nicht angreifen, nur um mich meinen schwarzen Magier noch einmal beschwören zu lassen, damit du dann beide endgültig vernichten kannst… Ich lasse nicht zu, dass du sie zerstörst! Ich gebe auf."

"Vergiss' es", lachte Rin und riss die Augen auf, "du bist nicht in der Position zu kapitulieren. Das ist immer noch mein Zug und ich will sehen, wie mein Tiefäugiger deinen Hexer vom Feld räumt! Lumina. Wenn du noch einen Funken Duellantenstolz in dir trägst, lässt du mich dein Monster erledigen. Sieh' dem Tod direkt in die Augen!"

"Niemals", Lumina warf sich auf ihre Karte, "mach' das mit diesen Duellantenschnöseln, aber ich weigere mich, meine Lieblinge für deine perversen Machtspielchen zu opfern." Die beiden Mädchen sahen sich lange an.

"Spielverderber", gab Rin schließlich seufzend nach, dann packte sie ihre Karten zusammen.

"Obwohl ich zugeben muss", sagte schließlich Lumina etwas versöhnlicher, "dass mich diese Karte echt umhaut. Mit der könntest du die Profis allesamt vom Feld pusten", mit einem finsteren Grinsen fügte sie hinzu: "ich würde dir nur zu gerne dabei zusehen, wie du damit Seto Kaiba eine vor'm Latz haust."

"In welchem Universum duelliere ich mich mit Seto Kaiba?", schüttelte Rin den Kopf, "mal davon abgesehen, dass er gar nicht mehr spielt."

"Wenn das Herz der Karten es so will", entgegnete Lumina in ihrem völlig übertriebenen Singsang.

"Vergiss' nicht", wandte Rin ein und steckte die Karten zurück in ihre Box, "du hast mir verboten, für die Kaiba Corporation zu arbeiten."

"Du sollst ja auch nicht für ihn arbeiten. Wenn du für Industrial Illusions oder sonst wen spielst, wirst du ihn knallhart zum Duell herausfordern. Dann wird sich ja zeigen, wer der wahre Meister der weißen Drachen ist."

"Für Crawford werde ich sicher nicht arbeiten", murmelte Rin und erinnerte sich nur schmerzlich an die letzten Worte des Firmenchefs. Sie sah auf ihre Deckbox.

"Nimm' dir das nicht so zu Herzen", Lumina faltete die Spielmatten zusammen, "als ob der sich in ein paar Jahren noch daran erinnern wird, was er mal zu einem Mädchen aus der Oberstufe gesagt hat. Und wer weiß: vielleicht wird Kaiba ja sein Status als eiskalter Drachenbezwinger eines Tages aberkannt."

"Du hasst diesen Kerl wirklich, oder?"

Lumina ballte die Hände zur Faust. "Ich werde ihm niemals verzeihen, dass er meine geliebten Kapselmonster eingestanzt hat! Aber genug davon", ihr Blick schweifte zu dem Fensterbrett, auf dem ein paar ihrer liebsten Sammlungen standen. Seit Rin denken konnte war ihre beste Freundin ein begeisterter Sammler dieser kleinen Kapselfiguren gewesen. Wie eine Süchtige war sie von Automat zu Automat gewandert, um die seltensten Figuren in die Finger zu bekommen. Die Krieger-Minifiguren hatten es ihr bei dem Spiel besonders angetan gehabt. Damals sollte ein ganz besonderes Monster herauskommen. Lumina war in der Mittelstufe ganz aufgeregt gewesen. Doch dann hatte die Kaiba Corporation - kurz nach ihrer Übernahme - das Ende von Capsule Monsters bekanntgegeben.
 

Die Matten zurück unters Bett geschoben, griff Lumina nach ihrem Handy.

"Also Pizza?", fragte der schwarzhaarige Wuschel und tippte bereits die Nummer ihres Pizzalieferanten ein.

"Sushi klingt auch gut", entgegnete Rin und zückte ebenfalls ihr Handy. "Mit Takeshi musste ich die Woche auch schon Pizza essen. Etwas Abwechslung schadet nicht."

"Da sag' ich doch nicht nein", rieb sich Lumina die Hände und lauschte dem Telefonat ihrer Freundin, wie diese eine große Sashimi-Box für sie beide bestellte.

"Wirklich großzügig von deinem Freund gewesen, dir dieses Handy zu schenken." Lumina erhaschte einen Blick auf das Display. Rin hatte noch nicht einmal die Tastensperre aktiviert, als ihr die Schwarzhaarige das Handy entriss.

"Hey", rief Rin, als Lumina auch schon los prustete. "Typisch Rin: das erste, was sie sich aufs Handy packt, ist die DuelMonsters-App! Schön zu sehen, dass sich manche Dinge nicht ändern - selbst mit Freund."

"Hm", murmelte Rin und wurde ein wenig rot an den Ohren.
 

Takeshi hatte das Handy eines Tages mitgebracht, und Rin war überglücklich darüber gewesen, dass sie sich von nun an jederzeit sprechen konnten. Zwar trafen sie sich mittlerweile fast täglich und Rin wohnte an den Wochenenden quasi bei Takeshi, aber unter der Woche hatte sie dann doch Sehnsucht nach ihm. Besonders abends vor dem Einschlafen. In seiner Nähe kam sie einfach immer noch am besten zur Ruhe. Sie hatte sich schon so daran gewöhnt, dass ihre Hand ganz automatisch nach dem Blonden suchte. Das Telefonieren - oder hin und wieder eine süße Textnachricht von ihm - halfen dem verliebten Mädchen, die einsamen Stunden zu überstehen.
 

Flüchtig überflog Rin die letzte Nachricht. Takeshis Tante hatte ihn und Rin für morgen zum Mittagessen eingeladen. Da seine Tante in der Abwesenheit ihrer Eltern als Mutterersatz herhielt, empfand es Rin als Riesenschritt, dass man sie dabei haben wollte. Deswegen war sie schon die ganze Woche aufgeregt gewesen.
 

~
 

An diesem Sonntagvormittag putzte sich Rin besonders heraus. Sogar ihre Mutter hatte ihr bei der Frisur geholfen und eine hübsche Spange ins Haar gesteckt. Das Mädchen hatte ihr von der Einladung erzählt. Takeshi hatte bei Yukiko bereits ein Stein im Brett, da sie ihm für sein vortreffliches Benehmen während des Überfalls zutiefst dankbar war. Das erste offizielle Treffen, bei dem das Mädchen ihren Freund hatte vorstellen können, lag auch noch nicht lange zurück, aber Yukiko war so begeistert von Takeshi, dass er seitdem regelmäßig zum Abendessen eingeladen wurde.
 

"Hast du das Geschenk für seine Tante eingepackt?", fragte ihre Mutter und klemmte eine letzte wirre Strähne zwischen eine der schwarzen Klammern.

"Ja, Mutter." So lieb gemeint die Fragereien ihrer Mutter waren, brachten sie das Mädchen völlig aus dem Konzept. Zum Glück traf Takeshi bald ein. Er hatte sie etwas eher abgeholt, damit sie in aller Ruhe durch die Innenstadt kämen.
 

Das Event der Kaiba Corporation hatte wieder einmal halb Domino lahm gelegt. Busse und Bahnen fuhren zu den chaotischsten Zeiten. Mehrere Straßen, allen voran der Busbahnhof, blieben bis auf Weiteres gesperrt. Um was für ein Event es sich nun genau handelte, wurde jedoch nicht verraten. Dabei hatte die Kaiba Corp. zu Beginn ein riesiges Spektakel versprochen, das am Ende wegen technischer Fehler ins Wasser gefallen war. Es hatte etwas mit den Ereignissen der letzten Wochen zutun. Als bei einigen Spielern die DuelDisc's außer Kontrolle geraten waren, hatte es keine weiteren Details für die Öffentlichkeit gegeben. Hin und wieder sah man aus der Ferne ein Monster aufsteigen oder einen Feldzauber aktivieren. Der Rest blieb geheim.

Warum auch immer diese Profis so ein Geheimnis um ihre Duelle machen müssen
 

Trotz Staus schafften sie es rechtzeitig zur Bushaltestelle. Takeshis Tante lebte mit ihrer Tochter in einem Vorort von Domino-City. Sie wohnten in einem kleinen Haus, das die Tante nach der Scheidung hatte behalten dürfen. Es gab einen winzigen Vorgarten, der den Weg zum Eingang mit Frühjahrsblühern schmückte. Rin lief ein Stück hinter Takeshi. Auch wenn sie noch lange kein so menschen scheues Reh wie Lumina war, fühlte sie sich in Anwesenheit Fremder unsicher. Takeshi ergriff von hinten ihre Hand. Ihr Freund strahlte so viel Selbstsicherheit aus, dass auch Rin sich einen Ruck gab, als die Türen sich öffneten und Masago Kawai ihre Gäste mit einem freundlichen Lächeln empfing. Dahinter stand ihre Tochter, die ein Jahr jünger als Rin war, und lächelte ebenfalls.

"Endlich lernen wir uns kennen", das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren nahm Rins Hände und strahlte übers ganze Gesicht, "Takeshi hat mir schon viel über dich erzählt. Rin, richtig? Ich bin Shizuka."

Angesprochene lief rot an und nickte. Die warmherzig offene Art der Jüngeren war für Rin ungewohnt, dass ihr Magen zu rebellieren begann. Doch es half, dass sie schnell warm mit den beiden wurde.

Mit einer tiefen Verbeugung bedankte sie sich für die Einladung und überreichte der Tante das Geschenk. Diese freute sich über das selbstgemachte Gesteck, von dem das meiste ihre Mutter gemacht hatte; Rin hatte ihr lediglich assistiert.

"Was für eine liebe Freundin du hast", sagte seine Tante. Sie saßen zusammen im Esszimmer. Rin schöpfte aus ihrem Repertoire an gepflegter Konversationen am Essenstisch. Sie wusste, dass sie bei den Erwachsenen gut ankam - ein gebildetes Mädchen, das höflich und bescheiden war, kam eben immer gut an. Während sie auf Frau Kawais Fragen antwortete, spürte sie Takeshis Blicke von der Seite, dass sie sich kaum mehr richtig konzentrieren konnte.

Wenn er dabei nur nicht so heiß aussehen würde…

Beinahe flüchtig berührte er ihren Unterarm, dann nahm er sich noch Nachschlag vom Eintopf, wobei er mehr Fleisch als Gemüse auf den Teller packte - eben typisch Takeshi.
 

"Ihr seid ein süßes Paar", schwärmte Shizuka, die Rin mit auf ihr Zimmer genommen hatte. Ihre Mutter hatte Probleme mit dem Abfluss der Spüle, dass Takeshi notdürftig als Klempner herhalten musste. Nicht das erste Mal, dass der Blonde sein handwerkliches Können unter Beweis stellte.
 

"Danke", entgegnete Rin, obwohl sie sich blöd vorkam, keine bessere Antwort auf die Reihe zu bekommen. Warum musste sie auch so steif sein?!

Um von diesem - für Rin - peinlichen Moment abzulenken, lief sie auf den Schreibtisch zu und betrachtete die dort aufgestellten Fotos. Darauf waren ein kleiner Junge und ein noch jüngeres Mädchen zu sehen. Die beiden lächelten in die Kamera. Das Mädchen wirkte unbeschwert, der Junge feixte mit dem Fotografen. Auf einem der Bilder war das Meer abgebildet. Rin griff nach dem Foto und betrachtete die glücklichen Gesichter. Der kleine blonde Junge mit der Wuschelmähne erinnerte sie stark an Takeshi.

"Das ist mein großer Bruder", verkündete Shizuka stolz.

"Takeshi hat ihn einmal erwähnt", erinnerte sich Rin und stellte das Foto zurück an seinen Platz. "Er lebt bei seinem Vater, richtig?"

"Früher, ja. Er hat inzwischen eine eigene Wohnung gefunden. Mein Bruder hatte es nicht leicht. Unser Vater…", sie sah zur Seite, "wenn er getrunken hat, kann er sehr schnell aus der Haut fahren. Mein Bruder hat von uns allen am meisten einstecken müssen. Ich weiß gar nicht, wie er es solange mit ihm aushalten konnte." Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. "Er hat immer einen auf stark und cool gemacht - damit ich mir keine Sorgen mache. Aber so einfach war das gar nicht. Ich wusste ja, was los ist, obwohl mir nie jemand die Wahrheit sagen wollte. Nicht einmal Mama - dabei hat es sie mehr verletzt als sie zugeben mag." Eine Träne huschte über ihre rechte Wange. Mit einem Lachen wischte sie diese aus ihrem Gesicht. "Entschuldige, manchmal gehen die Gefühle mit mir durch. Dabei habe ich längst keinen Grund mehr, mir Sorgen zu machen. Ich weiß, dass mein Bruder nicht alleine ist. Er hat die tollsten Freunde, die man sich nur vorstellen kann", sie strich über das Foto, "und ich habe den tollsten Bruder."

"Man merkt, dass du deinen Bruder liebst."

"Er ist einfach der Beste", sie legte den Kopf schief, "ich weiß gar nicht, warum ich kein aktuelles Foto habe. Dabei haben wir uns erst vor zwei Jahren wiedergesehen."
 

Rin hatte schon immer die Leute in ihrer Klasse beneidet, die einen Bruder oder eine Schwester hatten. Das Mädchen wuchs von Anfang an als Einzelkind auf, dass sie nicht wusste, was sie der Jüngeren sagen sollte.
 

Shizuka wandte sich von dem Foto ab. Sie sah jetzt eindringlich zu Rin, die nicht wusste, ob die Braunhaarige eine Reaktion von ihr erwartete.

"Rin", sprach sie schließlich ihren Namen, wobei sie das Wort wie eine verängstigte Grundschülerin künstlich in die Länge zog. "Kann ich dich etwas fragen?"

"Natürlich."

Die Jüngere wurde schlagartig rot im Gesicht. "Ich weiß, wir kennen uns noch gar nicht so lange, aber wie ich Takeshi und dich zusammen gesehen habe…er hat mir schon so viel über dich erzählt, dass ich das Gefühl habe, dir vertrauen zu können, und…naja…dass du mir bestimmt einen guten Rat geben könntest."

Dass Takeshi so viel über Rin erzählt hatte, war dem siebzehnjährigen Mädchen irgendwie unangenehm. Wer weiß, was für ein Bild sie gegenüber der liebevollen Cousine abgeben musste. Schließlich war sie bloß ein unscheinbares Mädchen, das wegen ihrer guten Noten und der stillen zurückhaltenden Art eher unbeliebt war. Erst das Finale der DuelMonsters Juniorenmeisterschaft hatte bei den männlichen Klassenkameraden für Aufsehen gesorgt. Einer der Jungs hatte Rin im Fernsehen gesehen, dass innerhalb einer Woche die ganze Schule Bescheid wusste. Seitdem fragte sie der ein oder andere Schüler, ob sie nicht Lust auf ein Duell hätte - ganz in klassischer Battle-City-Manier, wo der Sieger die seltenste Karte des Verlierers bekam. In den Wochen hatte Rin eine beachtliche Anzahl an neuen Karten hinzugewonnen. Sicher nicht das, was sich die Jungs unter einem Duell mit dem Mädchen vorgestellt hatten.
 

"Um was geht es denn?", Rin schluckte ihre negativen Gedanken herunter. Schließlich war sie bisher herzlich aufgenommen worden. Das Mädchen, das Rin direkt gegenüberstand, machte nicht den Eindruck, als würde sie ihr etwas vorspielen. Das machte ihr Mut.

"Es geht um einen Jungen", nach längerem Rumdrucksen war Shizuka mit der Sprache rausgerückt.

Als Antwort blinzelte Rin sie an. Damit hatte sie nicht gerechnet. In Sachen Jungs war sie nun wirklich keine Expertin.

Oder vielleicht doch?

"Wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt. Damals hat er mir seine Nummer gegeben. Er sagte, dass er mich mag und dass ich mich jederzeit melden kann, wenn ich mich bereit dafür fühle-"

Zwei Jahre?! Rin machte große Augen. "Und du? Magst du ihn auch?"

Was für eine doofe Frage. Sonst würde sie mir wohl kaum davon erzählen

"Ja", hauchte die Braunhaarige und steckte sich eine Strähne hinters Ohr. Ihre Kopf war hochrot angelaufen. Rin kannte dieses Gefühl nur zu gut. Die Jüngere schien ihn wohl mehr als nur zu mögen, Rin erwiderte nur nichts in diese Richtung, damit Shizuka schnell weiter erzählte: "Ich habe den Zettel mit der Nummer immer bei mir", aus der Tasche ihrer Shorts holte sie ein vergilbtes Blatt Papier hervor. Diesen hielt die Sechzehnjährige wie einen Schatz zwischen den Fingern. Ihre Augen strahlten, während sie das Papier betrachtete. "Ich muss ständig daran denken, was er damals zu mir gesagt hat. Ich möchte mich so gerne bei ihm melden, Rin, aber-," sie zerdrückte den Zettel in ihren Händen und schaute zu dem Mädchen hinauf, "er ist doch ein Freund meines Bruders! Noch dazu drei Jahre älter als ich-" Das aufgeschlossene Mädchen wirkte plötzlich scheu und unsicher. "Was ist, wenn wir feststellen, dass wir gar nicht zusammenpassen? Mein Bruder würde das Gefühl haben, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Was, wenn ich dadurch ihre Freundschaft aufs Spiel setze, nur weil ich den Freund meines Bruders mag?" Geknickt steckte sie den Zettel zurück in die Hosentasche. "Immer wenn ich kurz davor bin, die Nummer einzugeben, sagt mir eine Stimme, dass ich es bereuen könnte. Und sobald ich den Zettel weg lege, habe ich das Gefühl, dass ich einen großen Fehler mache. Ach, Rin, ich bin so verwirrt. Weißt du vielleicht, was ich tun soll? Ich will nicht, dass du denkst, ich würde die Entscheidung auf dich abwälzen, aber wenn ich dich und Takeshi sehe, - wie toll ihr zusammen passt, obwohl ihr so unterschiedlich seid… - dann glaube ich, dass du dich am besten in meine Lage hineinversetzen kannst."

Rin verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie die Geschichte sie aufgewühlt hatte. Seit zwei Jahren trug Shizuka den Zettel mit seiner Nummer bei sich. So eine Geschichte hätte auch Rin ähnlich gesehen. Statt sich wegen ihres Bruders schlecht zu fühlen, wäre aber Rin zu feige gewesen, sich nach so langer Zeit noch zu melden. Immerhin lagen zwei Jahre dazwischen. Es konnte sich vieles verändert haben. Gefühle konnten sich mit der Zeit verändern. Der Junge von damals konnte nicht ahnen, dass Shizuka Tag für Tag mit sich und ihrer Entscheidung haderte - jedoch nicht an ihren Gefühlen. Genauso wenig schien die Braunhaarige an den Gefühlen des Jungen zu zweifeln, oder daran, dass er womöglich nicht mehr so wie damals empfand. Ihre eigenen Grübeleien behielt Rin für sich. Sie wollte Shizuka nicht noch mehr verunsichern.

"Ich denke", entgegnete sie schließlich, "dass du dir keine Gedanken um deinen Bruder machen musst", sie lächelte, "du hast doch selbst gesagt, dass er die besten Freunde überhaupt hat. So jemand würde nicht das Risiko eingehen, seine Freundschaft zu gefährden. Er muss sich schon sehr sicher sein, dass er mit dir zusammen sein will. Ich hab' mal gehört, dass große Brüder ihre kleinen Geschwister bis aufs Blut beschützen. Kein Junge würde sich wohl freiwillig verprügeln lassen."

"Oh", machte ihr Gegenüber, "so habe ich das noch gar nicht gesehen", ihre glühenden Wangen kehrten zurück, "also meinst du, ich soll ihn anrufen?"

"Deine Angst kann ich dir nicht nehmen. Auch nicht deine Entscheidung. Aber du wirst dich ewig fragen, ob es ein Fehler ist oder nicht. Und manchmal…naja manchmal muss man vielleicht auch einfach damit leben, dass man einen Fehler gemacht hat. Aber dass du die Freundschaft der beiden aufs Spiel setzt, glaube ich wirklich nicht. Hab' einfach ein bisschen Vertrauen in deinen Bruder und seine Freunde - so wie sonst auch."

Wieder wischte sich Shizuka eine Träne aus dem Gesicht. "Danke für deine Worte."

"Keine Ursache." Rin war ebenso erstaunt, wie selbstsicher ihre Antwort herausgeschossen kam. Dabei wusste sie nichts über ihren Bruder, noch über dessen Freunde. Vielleicht richtete sie mehr Schaden damit an, als dass sie eine Hilfe war. Am liebsten hätte sie ihre Worte zurückgenommen. Nichts zu sagen, wäre eindeutig die bessere Lösung gewesen. Zumindest für Rin. Schließlich wollte das Mädchen nicht verantwortlich sein, wenn das Ganze nach hinten losging. Doch es gab kein Zurück. Spätestens als Takeshi ins Zimmer kam und die Mädels zurück in das Wohnzimmer beorderte, trottete Rin den beiden hinterher, während Shizuka nicht entschlossener hätte aussehen können und Rin sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte.
 

"Alles in Ordnung?", fragte Takeshi, der Rin auf der gesamten Heimreise dabei beobachtete, wie sie seufzend aus dem Fenster blickte.

"Ich hätte meine Klappe nicht aufreißen dürfen", murmelte sie.

"Ich verstehe nur Bahnhof", lächelte Takeshi entschuldigend. Daraufhin drehte sich Rin zu ihm um und fasste das Geschehene zusammen.

"Mach' dir keinen Kopf", er umfasst ihr Kinn und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen, "Shizuka ist alt genug, das selbst zu entscheiden. Außerdem hat deine Antwort genau ins Schwarze getroffen. Der Kerl wird nicht so dumm sein, seine Freundschaft wegen der Schwester seines Kumpels aufs Spiel zu setzen. Und wenn, dann ist er sowieso ein Arsch und hätte eine Tracht Prügel verdient. Es heißt doch >Bruder vor-"

"Ich weiß schon", Rin sah zur Seite. Sie lächelte jetzt ebenfalls. Ihr Magen grummelte auch nicht mehr so schlimm. Dafür machte ihr Herz einen Hüpfer. "Es war schön…heute", sagte sie und lehnte ihre Stirn an seine.

"Fand ich auch", er legte einen Arm um sie, "ich freue mich schon, dich irgendwann meinen Eltern vorstellen zu können."
 

~
 

Sie starrte auf die Tafel. Jetzt waren seine Eltern seit vier Tagen von ihrer Dienstreise zurück und Rin hatte seitdem kaum etwas von Takeshi gehört. Natürlich wusste sie, dass die drei sich viel zu erzählen hatten. So viele Monate voneinander getrennt zu sein, konnte sich Rin überhaupt nicht vorstellen - egal wie anstrengend ihre Mutter oder wie streng ihr Vater sein konnten. Trotzdem machte es das Mädchen nervös, ihren Freund so lange nicht zu Gesicht zu bekommen.
 

"Schlagen Sie Kapitel drei in Ihren Lehrbüchern auf", sagte der Geschichtslehrer, dass Rin nach links zu der Lektüre griff. Sie war darin so routiniert, dass sie nicht bemerkte, wie sie die richtige Seite umblätterte.

Hoffentlich liegt es nicht daran, dass sie mit mir als Freundin nicht einverstanden sind.

Sie sah auf den Text.
 

Takeshi und sie hatten bereits ihre Pläne für den Sommer festgelegt: Nach dem Abschluss wollten sich beide eine gemeinsame Wohnung suchen. Rin hatte bereits in einem Modegeschäft nach einem Job gefragt und Takeshi sparte schon fleißig für ihr erstes Mobiliar. Da der Blonde ganz genau wusste, welche Universitäten für ihn in Frage kamen und er mit hundertprozentiger Sicherheit die Stelle in Domino bekommen würde, stand ihrer gemeinsamen Zukunft nichts im Wege. Rin würde sich sowieso nur aus Verpflichtung gegenüber ihren Eltern an der Universität einschreiben. Mit Rins Notenspiegel nahm sie jede Fakultät mit Kusshand auf. Sie würde eh nur solange an der Uni bleiben, bis die Aussicht auf eine Einstellung als Profiduellant winkte.
 

"...Frau Yamamori?", hatte der Lehrer die Frage an Rin weitergereicht.

Das Mädchen erhob sich: "Die Zokujōmon-Zeit."

"Richtig. Danke, Sie können sich wieder setzen."
 

"Echt, Rin", stöhnte Lumina, riss das Plaste auf und schob den Onigiri aus der Verpackung. Genussvoll nahm sie einen großen Bissen ihres Reisbällchens. "Du hascht nischt ma tschugehört und trotschdem rischtig geantwortet."

"Tja, das ist eben meine Superkraft", zuckte Rin mit den Schultern und stocherte in ihrem Mittagessen herum.

"Was war denn vorhin überhaupt los?"

"Nichts Wichtiges. Nur meine typische Grübelei. Ist sowieso Schnee von gestern." Sie kramte aus ihrem Blazer das Handy heraus. "Kannst du mir lieber sagen, was das zu bedeuten hat? Mir schwirren nämlich nur die verrücktesten Fantasien herum. Ich brauche deinen kühlen Kopf." Sie öffnete den Chatverlauf zwischen sich und Takeshi. Lumina griff nach dem Telefon und las den Text. Der schwarzhaarige Wuschel schluckte schwer.

"Und?", Rin riss die Augen auf. Wie Lumina sie so ansah, wurde ihr ganz flau im Magen.

"So wie ich das sehe…also-"

"Nun sag' schon!"

"Es sieht danach aus, als würde er dir einen Antrag machen." Die beiden Mädchen starrten sich fassungslos an. Selbst Lumina wurde rot im Gesicht. "Ich meine", Lumina warf die leere Verpackung in den Eimer neben sich, dann griff sie die Zigarette hinter ihrem Ohr und drehte sie wie verrückt zwischen die Finger. "Ich meine, er will dich heute unbedingt an eurem Lieblingsplatz treffen. Dann sind seine Eltern erst kürzlich nach Hause gekommen. Vielleicht musste er noch ein paar Dinge vorbereiten und hat sich deshalb kaum bei dir gemeldet. Schließlich ist der Kerl verrückt nach dir. Der hat sicher einen triftigen Grund, wenn er dich nicht sehen kann."

"Und ich dachte, ich reime mir da was zusammen", ihre Hände begannen zu zittern. Ein Antrag? Das kam selbst Rin zu überraschend. Beide hatten vor Längerem übers Heiraten gesprochen. Dabei waren sie sich einig gewesen, damit noch ein- zwei Jahre zu warten. Takeshi wollte Rin eine Hochzeit mit allem drum und dran bieten, die ihre derzeitige finanzielle Lage nicht hergeben konnte. Aber allein, dass er sich so viele Gedanken machte, hatte Rin in spannende Vorfreude versetzt.
 

Wenn ihre beste Freundin jedoch sagte, dass er heute Nachmittag um ihre Hand anhalten würde - im Stadtpark, neben der Trauerweide, ihrem Lieblingsplatz - dann musste es stimmen. Lumina war nicht der Typ, der sich aus ein paar belanglosen Sätzen etwas zusammen sponn.

"Und? Wirst du seinen Antrag annehmen?" Luminas Satz verfolgte sie den gesamten Weg über. Sie hatte sich noch schnell Zuhause umgezogen - die biedere Uniform gegen ein niedliches Frühlingskleid getauscht, von dem sie überzeugt war, dass es Takeshi gefallen würde. Mit zittriger Stimme hatte sie ihrer Mutter erzählt, sie würde sich noch schnell in der Mall das neue DuelMonsters-Pack kaufen. Kopfschüttelnd hatte Yukiko die Ausrede hingenommen: "Wegen so einem Quatsch sein Geld verschwenden-"

Heute hatte sie ihr geliebtes DuelMonsters nicht verteidigt. Sie wollte nur schnell weiter, zum Stadtpark, der gut eine Stunde von ihr entfernt war. Dort hatte sie ihr erstes offizielles Date mit ihm gehabt. Stunden hatten sie spazierend in der Kälte zugebracht - dabei ausschließlich geredet. Noch nie hatte sie so schnell einen Draht zu jemandem finden können. Dabei hatte seine Cousine neulich recht gehabt: sie waren verschieden - charakterlich wie in ihren Interessen. Und trotzdem passte es. Ihr wurde ganz heiß im Gesicht, wenn sie daran dachte, dass er womöglich auf die Knie gehen würde. Mit einer Rose oder einem Strauß Gänseblümchen - ihren Lieblingsblumen. Das sähe Takeshi ähnlich - ganz romantisch, während die Trauerweide ihre Äste hin und her schwenken würde…
 

Der Eingang zum Domino-City-Park lag unweit des Banken- und Geschäftsviertels der Stadt, dass sie von Weitem das Kaiba Building ausmachen konnte. Heute interessierte sie jedoch nur eines.

Sie hielt den Atem an, als sie Takeshi nur unweit des Eingangs erblickte. Er lehnte an der Trauerweide, die Hände in die Hosentaschen gesteckt starrte er auf den Boden, dass er Rin erst gar nicht bemerkte. Langsam kam sie auf den Blonden zu. Mit jedem Schritt wurde sie wackeliger auf den Beinen. Ihr wurde schwindelig, die Lippen trocken, dass sie schnell mit der Zunge darüber fuhr. Dass er sie nicht zu sehen schien, machte den Weg zur Trauerweide zu einem Endlosmarsch. Doch schließlich blickte er auf. Noch nie hatte Rin ihren Freund so nervös erlebt. Er wischte die Erde zu seinen Füßen vor und zurück, während er Rin kaum in die Augen blicken konnte. Aus dem selbstsicheren Typen war ein unsicherer Junge geworden. Also gab es doch etwas, das ihn in Verlegenheit bringen konnte. Der Gedanke ließ Rin lächeln. Vermischt mit ihrem derzeitigen Gefühlsbad und den Bildern, die sich in ihrem Kopf abspielten, war es das hellste Lächeln, welches das Mädchen jemals über ihre Lippen gebracht hatte.

Takeshi kam ihr nun ein Stück entgegen. Am liebsten wäre sie losgerannt, in seine Arme gestürzt und hätte ihm einen Kuss auf den Mund gedrückt, der jegliche Unsicherheit aus ihm vertrieben hätte.

"Rin", seine Stimme war rau und kratzig. Das Mädchen blieb direkt vor ihm stehen und sah zu ihm auf. Seine Arme schlangen sich um sie, er drückte sie an seine Brust, dass Rin leicht nach vorne kippte. Daraufhin schmiegte sie sich an ihn, schloss die Augen und lauschte seinem unruhigen Herzschlag.

"Es-", seine Stimme versagte, doch Rin wartete ab, bis er sich gefangen hätte. Sie wollte es ihm nicht noch schwerer machen. Aufmunternd strich sie ihm über den Rücken. "Rin", seufzte er, "es tut mir leid."

Moment! Was?!

"Meine Eltern haben eine Stelle in Fukuoka angenommen. Nächsten Monat ist der Umzug."

Das Mädchen schlug die Augen auf, unsicher, ob sie sich verhört hatte.

Takeshi fasste sie bei den Schultern. Jetzt sah er ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. "Ich werde mit ihnen gehen."

Nein, sie hatte sich nicht verhört. Sein Gesicht sprach Bände.

"Oh", hauchte Rin, da sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie sich zu fühlen hatte. Das hier lief eindeutig nicht so ab, wie sie es sich vorgestellt hatte.

"Ich will ganz ehrlich zu dir sein", jetzt sah er wieder zur Seite, "Fukuoko und Domino liegen viel zu weit auseinander. Wir würden uns doch nur etwas vormachen-"

Halt!

"Eine Fernbeziehung kann einfach nicht funktionieren…eine Menge Kummer ersparen…die beste Entscheidung…"

Für Rin war die Zeit stehen geblieben. Takeshis Worte rauschten nur noch wie ein Schnellzug an ihr vorbei. Sie wollte bloß, dass es aufhörte, dass er aufhörte zu reden, dass es aufhörte wehzutun. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein. Das konnte er einfach nicht ernst meinen. Vielleicht machte er sich einen Spaß? Wollte Rins Reaktion prüfen. Der Blick Takeshis ließ keinen Zweifel offen - dies war weder ein Scherz, noch träumte sie. Dafür schmerzte es einfach zu sehr. Ihr wurde auf einmal auf eine ganz andere Weise schwindelig.

"Es tut mir leid", sagte er mehrere Male, aber Rin verstand die Bedeutung seiner Worte nicht.

"Soll ich dich noch nach Hause bringen?"

Bloß nicht!

Sie wollte nur noch, dass er ging. Rin wollte endlich allein sein, nicht länger in das beschämte Gesicht des Blonden blicken.

Daraufhin verabschiedete sich Takeshi von ihr. Er war unsicher, ob er sie umarmen sollte, doch Rin nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie die Arme um ihren Oberkörper schlang und ihm zunickte. Takeshi nickte ebenfalls, dann zog er langsam davon. Rin sah seine Jeansjacke im Wind flattern, bis die Sicht durch eine dicke Tränenschicht alles verschwimmen ließ. Als er endlich außer Sichtweite war, konnte sie nicht mehr in sich halten.
 

Das letzte Mal, dass sie so geweint hatte, war in ihrer Kindheit gewesen, als ihr Vater sie ausgeschimpft hatte. Damals hatte sie leise wimmernd in ihrem Zimmer gesessen, gewartet, dass er ihre Entschuldigung annähme, dass wieder alles gut wäre. Das hier fühlte sich weit schlimmer an. Takeshi würde nicht wiederkommen und es würde auch nichts wieder gut werden. Kraftlos, sich von der Stelle zu bewegen, weinte sie unter ihrem Lieblingsbaum, bis die Tränen in ihren Augen zu brennen anfingen. Ein Heulkrampf, der wie ein unterdrückter Schluckauf klang, ließ sämtliche Passanten auf das Mädchen starren. Es interessierte sie nicht, was die Leute dachten, Rin nahm sie überhaupt nicht wahr. Erst die tiefliegende Sonne ließ sie die Tränen von ihrem Gesicht wischen. Sie nahm ihr Handy aus der Jackentasche. Das Hintergrundbild von Takeshi und ihr versetzte ihr einen Stich, dass sie schnell die Nummer ihrer besten Freundin eingab.

"Na endlich", hörte sie Lumina am anderen Ende der Leitung, "ich ich dachte schon, du hättest mich vergessen-"

"Lumina", flennte Rin ins Telefon. Ihre Freundin verstummte augenblicklich, "er-", sie schüttelte den Kopf, "er hat-"

"Bist du noch im Park?"

"Ja."

"Warte, ich werd' zu dir kommen. Beweg' dich nicht vom Fleck." Wo hätte Rin auch hingehen sollen? Nach Hause hätte sie so unmöglich auftauchen können. Sie brauchte jetzt ihre Freundin. Die einzige, die sie verstand und den Trost gab, den sie brauchte.
 

~
 

In den nächsten Wochen konnte sie niemandes Nähe außer die ihrer besten Freundin ertragen. Die Schule war ein notwendiges Übel geworden, das ihr vor Augen führte, wie der Liebeskummer seinen Tribut forderte. Rin konnte kaum noch richtig schlafen. Seit neuestem hatte sie damit angefangen, Unmengen Kaffee in sich hineinschütten, damit sie wenigstens über den Tag kam. Das bittere, schwarze Getränk spiegelte ihre tiefsten Gefühle wider. Lachen tat sie jetzt noch seltener als ohnehin. Ablenken ließ sie sich nur noch von Luminas bizarren Szene-Geschichten oder wenn sie jemand zum Duell herausforderte. Mit ihren Eltern sprach sie kaum. Sobald sie aus der Schule heimgekehrt war, verschwand sie sofort in ihrem Zimmer.

"Abendessen ist bald fertig", verkündete ihre Mutter und sah ihrer Tochter dabei zu, wie sie die Treppe zum Kinderzimmer hinauf trottete.

"Hab' keinen Hunger", entgegnete Rin schon das dritte Mal in Folge."

"Was ist denn nur los mit dir", Yukiko konnte nicht mehr in sich halten. Den Kochlöffel in die Schürze gesteckt stemmte sie die Hände in die Hüften. "Rin Yamamori", rief ihre Mutter - nun etwas harscher, nachdem Rin keine Anstalten machte, stehen zu bleiben. "Dein Benehmen die Tage lässt zu wünschen übrig. Noch so ein ignorantes Verhalten und du hast eine Woche Hausarrest.

"Mir doch egal", entgegnete Rin trocken und starrte auf ihre Füße.

"Rin", ihre Mutter starrte sie mit hochrotem Gesicht an, "jetzt rede endlich mit mir!"

Rin krallte die Finger in das Geländer "Du willst also wissen, was los ist", knurrte das Mädchen. Ihre Stimme wurde lauter, sie drehte sich zu ihrer Mutter und blaffte: "Takeshi hat mit mir Schluss gemacht, das ist los! Bist du jetzt zufrieden?!"

Ihre Mutter blickte sie perplex an. "Aber-"

"Du brauchst dir also keine Sorgen mehr machen, dass ich die Schule vernachlässigen könnte. Ich werde meine gesamte Freizeit mit Lernen verbringen, um dichglücklich zu machen. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden."

"Das ist nicht fair", hauchte ihre Mutter, als Rin bereits in ihr Zimmer gerannt war, die Tür lauthals zugeschlagen hatte. Sie wusste, dass ihre Mutter nichts dafür konnte. Die letzten Tage war sie noch fürsorglicher und rücksichtsvoller gewesen. Aber das war nicht das, was das Mädchen brauchte. Die Schultasche auf den Boden geschmissen, lief sie aufs Bett zu und griff nach dem blau-weißen Kuschelkissen, das sie vor vielen Jahren von ihrer Freundin zum Geburtstag bekommen hatte. Eigentlich war das Kissen mit dem blauäugigen weißen Drachen nur ein Spaßgeschenk der Schwarzhaarigen gewesen. Lumina hatte zu Weihnachten ein ähnliches Kissen, bloß mit dem schwarzen Magier als Motiv, bekommen. Für den Moment, in dem sie am liebsten das Gesicht in das Kissen drucken wollte, bis sie keine Luft mehr bekäme, tat seine Wärme gut. Das flauschige Material schmiegte sich an ihre Wange, dass Rin gut ihre Tränen unter Kontrolle hatte. Sie tat einen tiefen Atemzug. Dann klopfte es an die Tür. Rin wollte ihre Mutter noch nicht sehen, dafür war sie eindeutig noch nicht bereit. Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Klinke herunter gedrückt und ihr Vater stand unter dem Rahmen.

Rin erhob sich augenblicklich von ihrem Bett und warf das Kissen auf die Decke.

"Hat sie dich geschickt?"

Ihr Vater schloss die Tür hinter sich, er kam ein paar Schritte auf sie zu. "Ich hielt es für besser, wenn ich mal nach dem Rechten sehe." Er stand nun direkt vor ihr. Trotz ihres Alters flößte seine große Statur gepaart mit seinem strengen Blick Rin einen enormen Respekt ein.

"Deine Mutter hat erzählt, was passiert ist." Das sagte er ganz friedlich, geradezu einfühlsam. Diese simplen Worte lösten in Rin einen Schalter um, der die unterdrückten Tränen der letzten Wochen wieder hervorbrachte. Zu ihrer Überraschung legte ihr Vater seine beiden Arme um das Mädchen, dass Rin bitterlich zu weinen begann.

"Ich verstehe es einfach nicht", nuschelte sie in sein Hemd. Ihr Vater trug noch die Arbeitskleidung, er musste selbst erst vor einigen Minuten nach Hause gekommen sein. Binnen Minuten hatte Rin einen riesigen nassen Fleck hinterlassen. "Ich verstehe nicht, wie ich mich so irren konnte. Ich dachte, ich dachte…" Saito Yamamori strich ihr über den Kopf - so wie früher, wenn Rin sich die Knie aufgeschürft oder den Kopf gestoßen hatte.

"Vielleicht hat er recht", sie schniefte, "und es war die vernünftigste Entscheidung, gleich Schluss zu machen. Fernbeziehungen sind schwierig, bis nach Fukuoka braucht man mehrere Stunden mit dem Zug…seine Entscheidung war-"

"Dumm", entgegnete ihr Vater. Rin hielt mit offenem Mund inne.

"Und kindisch", fügte er hinzu, "der Junge hat keine Ahnung, was Liebe bedeutet."

Mit dieser Antwort hatte Rin nicht gerechnet. Sie sah zu ihm auf. Seine tiefen, grünen Augen blickten wissend zu Rin. "Als deine Mutter und ich uns kennengelernt haben, war ich zu einem Außendienst in Tokyo beordert worden. Wir haben uns nur an den Wochenenden gesehen. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, bei ihr sein zu wollen. Rationalität sollte in diesem Fall keinen Platz haben. Außer man ist zu feige und flüchtet vor der Verantwortung als Mann."

Sie sah ihn mit großen Augen an. Seine Seelenspiegel strahlten so viel Überzeugung aus, dass sie ihm alles abgekauft hätte. Das Mädchen wusste, wie sehr Saito seine Frau liebte.

"Rin", sprach er sie nun wieder mit seiner gewohnten Strenge an, "es spielt keine Rolle, wie oft dir ein Mann sagt, wie sehr er dich liebt. Wenn er es dich nicht spüren lässt, sind seine Worte nichts wert. Und ich meine keine Zärtlichkeiten oder Ähnliches."

Ihr Blick verriet, dass sie nicht wusste, worauf er hinaus wollte. Etwas sanfter erwiderte er: "Du wirst es irgendwann verstehen."

"Danke", hauchte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt wurde es ihr allmählich peinlich, so aufgedunsen vor ihrem Vater zu stehen. Sie zwang sich zu einem Lächeln, dass auch Saito Yamamori lächelte. "Vergiss' den Jungen. So ein Feigling verdient meine Tochter nicht."



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