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Was einen Engel ausmacht

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Herzlich Willkommen … Und ein verspätetes frohes Neues Jahr!

Ich schwöre hoch und heilig, ich hatte mir so fest vorgenommen, keine Projekte mehr zu veröffentlichen, bevor sie nicht ganz und gar zu 100% in sich abgeschlossen sind!
Nun ist es nun aber so, dass ich den ganzen Dezember und den Januar bis heute hindurch geschrieben habe – ich weiß nicht, wie viele Entwürfe, Anfänge und Szenen insgesamt (Okay, ich weiß es doch: Es waren 4 Weihnachtsgeschichten, 2 lange Oneshots, 1 Wettbewerbsprojekt und 1 längere Kurzgeschichte! Und an Gnadenlos habe ich nebenher auch noch gearbeitet.) … Und nichts davon ist bis dato so weit, hochgeladen zu werden, was mich unaussprechlich FRUSTRIERT.
Ich sprudele über vor Schreibwut, wurde u.a. von SquirrelFeathers mit unglaublichen Ideen und Inspiration gefüttert – ich MUSS heute etwas hochladen, sonst platze ich.


Widmung & besonderer Dank:
SquirrelFeathers (auf fanfiktion.de)! Mit vielen Themen, die ich hier anschneide, beschäftige ich mich seit einigen Wochen schon, aber du hast den Grundgedanken für diese Geschichte erst so richtig ins Rollen gebracht! Herzlichen Dank dafür!


Trigger, sensible Themen und sonstige Hinweise:
Abgesehen vom üblichen Supernatural-Grundton an Drama etc. ist die Geschichte relativ flauschig und unproblematisch. Es wird eine Identitätskrise thematisiert, die sich grob mit Fragen von Selbstwert und Zugehörigkeit befasst.


‚Slash‘ (Boys Love)/ Destiel:
Diese Geschichte ist in erster Linie friend-shippy angelegt. Wenn im letzten Kapitel doch noch alle Regenbogeneinhörner mit mir durchgehen, werde ich die Angabe natürlich umgehend ändern. Alles darüber hinaus ist der Interpretation der Leser überlassen!


Inspiration und Credits:
1. Ein kürzlicher Rewatch der ersten Folge von Staffel 7, in der die Winchesters mal eben den Tod mit einem Fluch in Handschellen legen (Und versuchen, ihn mit Pickle Chips zu bestechen – wirklich, Dean?!).

2. Mein inzwischen schon viertes(!) Rodeo mit NorthernSparrows* (AO3) Fanfic Flight**, in der ein ziemlich fieser Engel ganz besonders viel Freude daran hat, TFW wiederholt gefangen zu nehmen und zu fesseln, und in der es vor allem um Engelsflügel und -Federn geht.

3. Ein Austausch mit SquirrelFeathers (auf fanfiktion.de) darüber, dass Cas keine Memme ist, sondern ein verdammter ENGEL und ein SOLDAT, der auch dann nicht zum Weichei mutiert, wenn er mal Hilfe braucht oder Dean seinetwegen die fürsorglicheren Seiten an sich selbst entdeckt.

4. Ein recht aktueller Oneshot von almaasi (AO3), der mir frisch ins Gedächtnis gerufen hat, dass sich Schreib- und Lesefreude auch in plusminus 10.000 Worten verpacken lässt, und man nicht jede Gegebenheit bis ins Detail herleiten muss, um fanfreundlichen Lesestoff zu liefern. Wird hier aus Gründen der Hausregeln nicht verlinkt. Stattdessen gibt es almaasis Profil.


*NorthernSparrow ist, bezogen auf FFs, mein mit Abstand größtes Vorbild, was Handlungsaufbau, Schreibausdauer und Detailliebe zu selbst erdachter Engelskunde angeht. Ich erwähne sie seit meiner ersten SPN-Fanfic hier, werde aber leider auch in Zukunft nicht die Klappe darüber halten können, wie sehr sie mich inspiriert.

** Es ist das Sequel zu einer anderen, auch sehr empfehlenswerten Fic, die es beide als ganz hervorragende Podfics von Badfinch auf AO3 zu hören gibt. Badfinch‘s SPN Podfics findet ihr hier.

Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße
Dino Komplett anzeigen

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Fesselnde Fragen

„Ich hasse Hexen!“, verkündete Dean finster und gab sich Mühe, seinem leidenschaftlichen Ekel mit jeder einzelnen Silbe Ausdruck zu verleihen. Wobei es Ekel in Rowenas Fall nicht ganz traf – aber Hexe war und blieb eben Hexe.
 

„Und Crowley“, fügte Sam grimmig von der Beifahrerseite aus hinzu, seine normalerweise so ruhige Stimme von etwas verzerrt, das tatsächlich annähernd wie Hass klang.
 

„Und Crowley!“ Dean nickte verbissen.

Er konnte schließlich schlecht zugeben, dass er auch ein bisschen beeindruckt vom König der Hölle war. Ein klitzekleines Bisschen. Fies war Crowley ja schon immer gewesen, und ein Experte in Sachen doppeltes Spiel sowieso. Dean war nur leichtsinnigerweise davon ausgegangen, dass sie es inzwischen (insbesondere nach seiner Zeit als Crowleys bester Dämonenkumpel) vielleicht eine Spur einfacher mit ihrem mal-Feind-mal-Verbündeten hatten.
 

Tja, falsch gedacht …
 

Wie um sich zu vergewissern, dass Cas sich nicht ohne Weiteres in Luft aufgelöst hatte, warf Dean beim Fahren einen schnellen Blick in den Rückspiegel. Nicht, dass es ihm unter gegebenen Umständen so einfach möglich gewesen wäre, mir nichts, dir nichts aus dem Impala zu verschwinden, aber die Erfahrung hatte Dean auf die harte Tour gelehrt, die Gesellschaft des Engels nicht immer als selbstverständlich hinzunehmen. Sogar dann, wenn Crowleys und Rowenas Hinterhalt aus einem Fluch in Form von magischen Fesseln bestanden hatte, die es ihm unmöglich machten, zu fliegen. Aber ja – Cas saß unbewegt auf seinem angestammten Platz, mittig der Rückbank, und er erwiderte Deans prüfenden Blick aus ernsten Augen, sein Ausdruck dabei seltsam gequält, was Dean in noch höhere Alarmbereitschaft versetzte. Selbst das schwindende Tageslicht in der bereits einsetzenden Dämmerung konnte nicht über die aschfahle Blässe in Cas‘ Gesicht hinwegtäuschen, und Dean drückte noch eine Spur härter aufs Gas. Er hätte Cas gern aufmunternd auf die Schulter geklopft, was vom Fahrersitz aus natürlich nicht ging, oder wenigstens irgendetwas gesagt, einen blöden Spruch, um seine Laune etwas zu heben, aber ihm fiel nichts ein. Was sollte man auch schon zu einem Seraph sagen, der vom König der Hölle und dessen Hexe von Mutter verflucht worden war?
 

„Spürst du schon irgendwas, Cas?“ Die Stimme seines Bruders neben sich rüttelte Dean in diesem Moment wach, was dafür sorgte, dass er den Blick wieder fest auf die Straße richtete.

Sie sicher und so schnell wie möglich zum Bunker zu fahren, war das einzige, was er im Augenblick für Cas tun konnte, und wenn er jetzt einen Unfall baute, nur weil er zu lange mitleidig in den Rückspiegel gestarrt hatte, würde er sich das unter Garantie nie verzeihen. Das Ächzen, das Cas hinter ihm auf Sams Frage hin ausstieß, gefiel ihm jedenfalls überhaupt nicht.
 

„Ich kann nicht mehr fliegen, wie du weißt“, antworte Castiel mit unverhohlener Bitterkeit.

„Und ich empfange die Stimmen der anderen Engel nicht mehr. Bis eben gerade konnte ich sie noch hören.“
 

Dean fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Der Fluch, der Cas getroffen hatte, wirkte seit kaum einer Stunde – und sollte schon derart gravierende Folgen haben? Na schön, die Flugunfähigkeit war, unter gegebenen Umständen, vermutlich nicht zu vermeiden, und hatte sich bereits unmittelbar nach der Freisetzung von Rowenas Magie bemerkbar gemacht. Aber das stumm geschaltete Engelsradio …
 

„Sind das nicht sozusagen zwei deiner wichtigsten Eigenschaften, so als Engel?“, fragte er über die Schulter. „Fliegen und Engelsfunk? Abgesehen vom Mojo allgemein, dem Heilen, natürlich, und dem anderen … typischen Zeug?“
 

Dean musste nicht in den Rückspiegel sehen, um zu wissen, dass Cas mit den Augen rollte, und eigentlich war auch Sams Seufzen keine wirkliche Überraschung.
 

Ja, Dean, die Art der Fortbewegung und die Kommunikation mit Artgenossen sind zwei der elementarsten Eigenschaften für die allermeisten Spezies!“, sagte Cas, sein Tonfall für seine Verhältnisse erstaunlich säuerlich. Dean konnte sich nicht daran erinnern, wann Cas, jenseits von Apokalypse und manipulativen, übernatürlichen Einflüssen, zuletzt so die Fassung vor ihm verloren hatte, und er musste sich beinahe Mühe geben, keine schweren Konter aufzufahren. Doch wer verflucht war, galt natürlich als entschuldigt – ganz besonders Cas.
 

„Die Art der Fortbewegung und der Kommunikation bestimmen den Lebensraum und die soziale Struktur“, murmelte Sam zustimmend, „Oder andersrum. Je nachdem, von welchem Standpunkt aus betrachtet.“
 

Dean hätte ihn für seine Klugscheißerei gern strafend in die Seite geknufft, wenn die Straße nicht ausgerechnet in diesem Moment einen scharfen Knick gemacht hätte, und seine rechte Hand deshalb an den Schaltknüppel zwang. Sam war nicht verflucht und verdiente keine Sonderbehandlung – aber Dean sah ein, dass es sie nicht weiterbrachte, wenn er jetzt auch noch einen Streit vom Zaun brach.
 

„Schon gut, schon gut. Bin schon still“, blaffte er deshalb etwas ruppig über das Aufdonnern des Motors hinweg, als er Baby nach der Kurve wieder beschleunigen ließ.

„Ich fahre, ihr klärt die Lage.“
 

„Okay.“

Sam räusperte sich, drehte sich auf seinem Platz halb herum; vermutlich, um Cas über die Rücklehne der Vorderbank hinweg ansehen zu können.
 

„Wie geht es dir körperlich, Cas? Deiner Hülle, meine ich?“
 

Eigentlich zwei außerordentlich gute Fragen. Bisher hatte Dean sich ausschließlich auf sein optisches Ermessen und das eigene Bauchgefühl verlassen, da Cas nicht so wirkte, als würde er jeden Moment … nun ja, einfach tot umfallen. Bei so viel Erfahrung mit dem Übernatürlichen vergaß man bisweilen schlichtweg, ein Fluchopfer einfach nach dessen persönlicher Einschätzung zu fragen. Sogar, wenn es sich dabei um einen Seraph und den eigenen besten Freund handelte.
 

Da Cas nicht unmittelbar auf seine Frage antwortete, setzte Sam schließlich nach: „Der Fluch betrifft doch nur deine Hülle direkt, oder? Er wirkt von der Hülle aus auf deine Fähigkeiten als Engel. Oder haben wir vorhin vielleicht was übersehen? Etwas, das wir gar nicht sehen können?“
 

Ein schneller Blick in den Spiegel verriet Dean, dass Cas den Kopf betreten hatte sinken lassen.

„Der Fluch befällt nur meine Hülle, ja, aber er bindet mein wahres Ich auch an sie. Deshalb kann ich die Hülle nicht wechseln und … auch nicht mehr fliegen.“
 

Also kein plötzliches Abhauen aus fahrenden Autos. Großartig, dachte Dean bissig und realisierte einen Moment später mit einem Anflug von Scham, was er da eigentlich genau gedacht hatte.

Dass Cas nicht einfach so verschwinden würde, war natürlich eine gute Sache, stand aber in keinerlei Verhältnis zu dem Preis, den er für Deans emotionale Absicherung zahlen musste.
 

„Man sollte meinen, nach so langer Zeit hätte ich mich daran gewöhnt, meine Flügel nicht benutzen zu können … Da sollte die Bewegungseinschränkung meiner Hände-“

Cas unterbrach sich und Dean sah im Spiegel, dass er den Kopf zur Seite wandte, wohl um aus dem Fenster zu starren, anstatt Sam weiter anzusehen. Eine merkwürdig Cas-untypische, wenig subtile Geste des Ausweichens, die ihm bei dem Engel bisher nie aufgefallen war. Und die Tatsache, dass ihm der erneute Verzicht aufs Fliegen so schwer zu schaffen machte …
 

Vielleicht irgendein besonderes Engelsding, dachte Dean und hütete sich dieses eine Mal davor, seine Vermutung laut auszusprechen.

Wenn Fliegen für Engel eben wie, hm … Fahren für mich ist … Oder sogar noch wichtiger.

Eigentlich logisch. Klar, dass ihn das fertig macht. Hat‘s vermutlich immer, jedes Mal, wenn wieder irgendwas mit seinen Flügeln war. Hab ihn bloß nie danach gefragt.
 

Wie auch diesmal nicht. Aber das schien auch gar nicht nötig.
 

„Das muss die erste Stufe des Fluchs sein, deine Kräfte magisch zu schwächen“, schlussfolgerte Sam wenig hilfreich. „Rowena hat gesagt, sie hätte sich ‚schon immer an der Macht eines Engels bedienen wollen‘ …“

Er ahmte den schottischen Akzent der Hexe erschreckend gut nach und Dean verbarg ein aufkommendes Lachen hastig hinter einem abfälligen Schnauben.
 

„Nicht fliegen zu können und in dieser Hülle festzusitzen, bedeutet doch, dass du bereits eine Menge Kraft verloren hast, oder?“
 

„Einiges“, bestätigte Cas.

„Ich habe natürlich immer noch meine Gnade; sogar einen recht großen Teil davon, im Anbetracht der Umstände. Meine Macht schwindet exponentiell zur Dauer des Fluchs. Ich-“

Erneut hielt er inne, räusperte sich, wobei er merkwürdig menschlich, nahezu verletzlich klang, was Dean einen kleinen Stich versetzte. Schließlich sagte Cas: „Ich kann fühlen, wie ich schwächer werde. Es fühlt sich an, als würde ich versuchen, meine Gnade mit bloßen Händen zu halten, aber sie … sie entgleitet mir.“
 

Darauf folgte für einen Moment betroffenes Schweigen. Die Unbeständigkeit von Cas‘ Gnade, seit der Engel sich ihrer Freundschaft zuliebe gegen den Himmel gewandt hatte, war erschreckend, obwohl Dean nach wie vor der Meinung war, dass Cas ohne den Einfluss seiner sogenannten ‚Familie‘ nur besser dran war. Und trotzdem brachte ihn seine Verbindung zu den Winchesters immer und immer wieder in derartige Schwierigkeiten …

Allerdings wirkte Cas nach wie vor nicht, als schwebte er in unmittelbarer Lebensgefahr. Fairerweise sorgte das aber lediglich dafür, dass Dean nicht in den Jäger-Autopilot verfiel, der ihn sonst Himmel und Hölle in Bewegung setzen ließ, um seine eigene Familie zu retten; das Tempo verringern oder gar eine Pause nach einer anstrengend Jagd machen, ließ es ihn nicht.

Momentan schien die Bedrohung jedenfalls viel zu abstrakt, nicht greifbar genug für die menschlichen Gefährten eines Seraphs, die, rein äußerlich, nicht mehr von dessen Leid erkennen konnten, als das feingliedrige magische Silberband, das Cas Handgelenke unlösbar aneinander gekettet hatte.
 

Wahnsinn, was so ein unscheinbares kleines Ding für Auswirkungen haben kann!
 

Dean konnte es vom Fahrersitz aus nicht sehen, nicht einmal durch den Rückspiegel (inzwischen war es ohnehin zu dunkel geworden, um viel im Innenraum des Autos zu erkennen), aber er hatte die Fessel noch deutlich vor Augen, und er musste zugeben, dass sie in ihrer filigranen, beinahe Schmuck ähnlichen Beschaffenheit eindeutig Rowenas Handschrift trug.
 

„Du könntest sie also benutzen? Deine Gnade, trotz Fessel?“, fragte Sam schließlich behutsam und Dean konnte deutlich heraushören, dass er versuchte, dabei nicht allzu hoffnungsvoll zu klingen.

„Wenn du versuchst, mit deinem Mojo die Kette zu lösen …?“
 

Die Frage klang so einleuchtend, dass Dean sich kurz ins Gedächtnis rufen musste, warum ihnen das nicht schon viel früher eingefallen war. Sein Hirn fand die Antwort darauf jedoch umgehend, tief verankert in der Kategorie Das kleine Hexen-Einmaleins für Jäger, und erstickte von dort aus auch den eigenen Anflug von Hoffnung direkt im Keim.
 

Weil man für einen Fluch einen Gegenfluch braucht.
 

Die altkluge Stimme in seinem Bewusstsein klang dabei lästigerweise genau wie Sam. Und vermutlich war der auch schon von selbst auf die Idee gekommen, wie unglaublich dämlich seine letzte Frage eigentlich gewesen war.
 

Oder man verbrennt den Hexenbeutel, falls es einen gibt. Oder die verantwortliche Hexe.
 

Der letzte Gedanke ließ ihn unangebracht grinsen, wenn auch nur kurz. Die Vorstellung, Rowena zu überwältigen und ihr ein wenig Feuer unter dem Hintern zu machen, war …
 

Erstaunlich einschüchternd.
 

Ja, man wollte Rowena unschädlich wissen, ihr am liebsten bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Hals umdrehen ... Aber seltsamerweise schien es keine Option zu sein, ihr den Gar auf die Art auszumachen, wie sie es üblicherweise mit Hexen taten. Was einerseits natürlich an Rowenas unvorhergesehen großen Macht lag, andererseits überhaupt die Ursache für ihren derzeitigen Schlamassel war.

Dean schaltete jetzt endlich, viel zu spät, Babys Fernlicht ein. Bisher war ihnen kein einziges anderes Fahrzeug auf der Landstraße begegnet. Die Landstraße, das letzte Stück Weg, das sie noch vom Bunker trennte, und ein alberner Fluch, der ihnen die Heimkehr gründlich verdarb.
 

„Der Fluch bezieht seine gesamte Macht aus meiner Gnade, Sam. Sein einziges Ziel ist es, mich vollständig zu schwächen. Je stärker ich bin, desto stärker ist seine Wirkung. Wenn ich keine Gnade mehr habe, löst sich auch die Kette“, antwortete Cas geduldig, der Tonfall seiner Stimme diesmal absolut sachlich, wenn auch ungewöhnlich leise. Er wiederholte damit mehr oder weniger Rowenas Worte, bevor sie und Crowley sich vom Acker gemacht hatten, aber im Gegensatz zu Sam imitierte er dabei natürlich nicht ihren schweren, schottischen Zungenschlag.
 

„Wenn ich versuche, mich mithilfe meiner Gnade zu befreien, speise ich den Fluch dadurch nur noch mehr und beschleunige damit sein Fortschreiten.“
 

Das Problem war natürlich auch, dass Rowena einen Weg gefunden hatte, über die Gnade, die Cas wahrscheinlich sekündlich verlor, frei zu verfügen, wie sie ihnen großzügigerweise mitgeteilt hatte. Es machte keinen Sinn, sie gezielt aufzugeben, um anschließend eine Möglichkeit zu finden, sie zu regenerieren. Und allein die Vorstellung, was Cas‘ vollständige Gnade in Rowenas Händen alles anrichten konnte –
 

Was für'n Alptraum.
 

Aus dem Augenwinkel konnte Dean Sam nicken sehen; bloß nicken – und erstaunlicherweise hielt er dabei den Mund. Eine passende Lösung für Cas‘ Problem wusste also anscheinend nicht einmal sein überschlauer Bruder.
 

Eigentlich war die ganze Angelegenheit so unbeschreiblich lächerlich gewesen, dass die verheerenden Folgen, die sie nun auszubaden hatten, in keinem Verhältnis dazu standen. Sam, Castiel und Dean waren einem eher unscheinbaren schwarzmagischen Hexenzirkel auf der Spur gewesen, der in Rowenas Aufstreben eine Bedrohung gesehen hatte, die den Coven wiederum als eine Art persönliche Beleidigung empfunden zu haben schien. Wie es der Zufall wollte, hatten sich ihre und Rowenas Wege beim Stellen des Zirkels gekreuzt, und für einen winzigen Moment hatte es so ausgesehen, als sei ihr gemeinsames Ziel, das Zerschlagen des Covens, in dieser Sache ausreichend, um es vereint mit einem Gegner aufzunehmen. Als Verbündete hatten sie den Coven bis auf die letzte Hexe ausgelöscht und waren gerade dabei gewesen, sich beinahe friedlich wieder voneinander zu trennen – als plötzlich Crowley auf der Bildfläche erschienen war.
 

Und ab da ging‘s erst so richtig den Bach runter.
 

Weil Rowena sich urplötzlich mit Crowley verbündet und sich dann mit ihrem Sohn aus dem Staub gemacht hatte. Äußerst verdächtig, wenn man bedachte, wie sehr sich die beiden normalerweise verabscheuten, aber die Gründe dafür zu entschlüsseln, stand derzeit nicht sehr weit oben auf Deans Prioritätenliste.
 

Natürlich hatten sie unmittelbar nach Einsetzen des Fluches alles versucht, was ihnen auf die Schnelle in den Sinn gekommen war – zumindest alles, was die Kette, die gegenständliches Symbol für den Fluch zu sein schien, auf mechanischem Wege hätte zerstören können: Das Dämonenmesser. Eine von den Hexen tötenden Kugeln, aus unmittelbarer Nähe auf die Fessel abgefeuert, genau auf das zwei Finger breit lange Kettenstück zwischen Cas‘ Handgelenken.

Eine Silberklinge, ein Engelsschwert, diverse andere Klingen, Messer, Schneiden, wahlweise bestrichen mit Lammblut, Weihwasser, Graberde … Ab einem gewissen Punkt waren sie selbst für einen Bolzenschneider verzweifelt genug gewesen.

Alles, was heilig und unheilig war, kombiniert mit einem Werkzeug oder einer Waffe, das oder die in der Lage schien, ein unscheinbares Schmuckkettchen zu durchtrennen, hatten sie ausprobiert – mit anderen Worten so ziemlich ihr gesamtes Arsenal, das der Kofferraum des Impalas eben hergab.

Bei ihren Versuchen hatten sie tatsächlich nur Heiliges Feuer ausgelassen. Das Risiko schien zu hoch, dass Cas in Kontakt damit kam und die Folgen – sein Tod – waren bei weitem schlimmer, als sämtliche himmlische Fähigkeiten Stück für Stück zu verlieren …
 

Oder?
 

In den letzten Minuten wuchs in Dean der Verdacht, dass Cas seine Situation möglicherweise ein wenig anders beurteilte.
 

Der Spruch mit den Spezies und was sie ausmacht war schon nicht ohne. Und so, wie er aus der Wäsche guckt … Scheint für ihn gerade wirklich der Weltuntergang zu sein. Mal wieder.
 

Was vielleicht auch daran liegen mochte, dass sie bislang keine Idee hatten, wie sich der vollständige Verlust von Cas‘ Gnade infolge des Fluchs auf den Engel auswirken würde. Würde es ihm genauso ergehen, wie als Metatron ihm seine Gnade gestohlen hatte? Wäre er danach einfach bloß … menschlich? Sterblich? Oder würde das Ende seiner Gnade auch das Ende seines … seines Lebens bedeuten?
 

„Und, denkst du, dass du am Ende so bist, wie beim letzten Mal ohne Gnade?“, fragte Sam in diesem Moment, fast so, als hätte er Deans letzten Gedanken gehört.

„Denkst du, du bist dann einfach … menschlich?“
 

Oh, Sammy …
 

Betretenes Schweigen war die Folge auf die Frage und diesmal war es an Dean, mit den Augen zu rollen. Er hatte seine Gründe gehabt, eben genau diese eine Frage in Cas‘ Gegenwart nicht laut zu stellen. Und zu seiner Schande mochte seine Zurückhaltung eher in Scham als in Rücksicht auf Cas‘ Gefühle begründet liegen.

Nein, er verbrachte vielleicht nicht so viel Zeit damit, der wahren Natur der Engel auf den Grund gehen zu wollen, die Sam schon so sehr fasziniert hatten, noch bevor sie überhaupt gewusst hatten, dass Engel tatsächlich existierten. Und nein, Dean war mit Sicherheit nicht mit einem Übermaß an Taktgefühl gesegnet. Aber wenigstens konnte er sich noch ausmalen, dass der Akkustand von Cas‘ Mojo über die Jahre hinweg wirklich zu einem sensiblen Thema geworden war. Und vor allem, dass er das Leben als Mensch alles andere als genossen hatte.
 

Was natürlich auch meine Schuld war. Vor allem meine Schuld.
 

„Immer gleich mit der Tür ins Haus, Sam“, brummte Dean, entgegen seines Vorsatzes, sich in erster Linie aufs Fahren zu konzentrieren. Was nicht bedeutete, dass ihn die Antwort auf die Frage nicht brennend interessierte: War Cas so ganz ohne sein Mojo eigentlich wirklich ein … ja, ein Mensch?
 

Der Zeitraum, innerhalb dessen Dean auf eine Antwort von Cas wartete, dehnte sich unaufhaltsam immer weiter aus, während Cas‘ Kräfte gleichzeitig immer mehr in sich zusammenfallen mussten, gleichgültig, ob sie schwiegen oder wilde Spekulationen anstellten.

Vor Deans geistigem Auge erschien das vergleichsweise harmlose Bild einer ablaufenden Sanduhr, das mit jedem Körnchen ihres stetig rieselnden Stroms an Bedrohung gewann.
 

„In zehn Minuten sind wir da“, sagte er rau in das konstante Surren von Motor, Fahrtwind und Straße hinein, als jede Chance auf eine Antwort von Cas vorüber schien.
 

„Endlich“, sagte Sam in einem Tonfall, der, genau wie Cas' Stimmung, wieder einmal das Ende der Welt vorherzusagen schien. Zumindest fühlte es sich für Dean genau so an. Und Cas hinter ihnen schwieg, bis Dean den Impala in der Garage des Bunkers geparkt hatte.



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