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Vogelfrei

von

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Raben und Krähen

Er hatte Felsfall kaum hinter sich gelassen, aber Therion konnte bereits eins sagen: Er hasste den Wald von S‘waarki.
 

Hasste, wie die Äste unter seinen Füßen ächzten, wie Tiere und Monster von allen Seiten aufschreckten und seine Position verrieten. Hasste das Plätschern, wenn er über den regennassen Moosboden trat und den Fakt, dass die Schritte seiner Verfolger mit dem Geheul und Gezwitscher der restlichen Waldbewohner im Hintergrund untergingen.
 

Am meisten hasste er jedoch die elende Eisenkette an seinem Handgelenk, die bei jedem seiner Schritte gegen seine Seite schlug und klimperte.
 

Der Pfad verwob sich im Geäst, ließ ihn in dem falschen Glauben im Schatten der Bäume Schutz zu finden. Sein Atem rasselte. Sein Blick schnellte von einer Seite zur nächsten. Seine Finger verkrampften sich um den Dolch in seiner Hand, stetig konzentriert auf das Geräusch der Pfeile, die hinter ihm in die Bäume schlugen.
 

Als Codelia ihm angeboten hatte, ihn bis zum Stadtrand zu begleiten, hatte er es für nichts weiter als eine noble Geste gehalten, die ihm zeigen sollte, wie edelmütig und toll sie doch war. Es hatte jedoch nur ein paar Meter zwischen ihm und Felsfall gebraucht, um ihm zu zeigen, dass ihre Sorge durchaus einen Grund hatte.

Obwohl er erst von den Drachensteinen erfahren, geschweige denn überhaupt einen in der Hand gehalten hatte, war bereits irgendjemand auf ihn aufmerksam geworden.
 

Ein Messer schoss an ihm vorbei. Nah genug, dass sich seine Nackenhaare aufstellten und er schlug eine Flanke, wechselte die Richtung. Zickzack. Hinter die Bäume. Weg vom Pfad.
 

Es waren drei, wenn seine Sinne ihn nicht täuschten.
 

Ein Bogenschütze, weit im Hintergrund. Seine Schritte waren fester als die der anderen. Laut und unbedacht. Therion konnte die Sehne seines Bogens surren hören, wenn er schoss.
 

Er war unvorsichtig, ein Anfänger wahrscheinlich und damit ungefährlich – für ihn zumindest. Doch mit den anderen beiden zusammen…
 

Der Zweite war groß, wenn das Knacken der Äste, die er gelegentlich streifte, ein Indikator war. Und den Dritten hatte Therion bisher nur ein einziges Mal überhaupt wahrgenommen.
 

Er wagte einen Blick zurück und wurde begrüßt von einem neuen Messer, das er mit dem Dolch parierte und zu Boden schlug. Der Bogenschütze verriet seine Position durch das Blitzen seines Pfeils im Sonnenlicht. Therion ließ die Flammen kurz über seine Finger tanzten, ehe er sie in seine Richtung entließ und auf dem Weg die übrigen Pflanzen in Brand steckte.
 

Er hatte keine Zeit, um zu prüfen, ob er getroffen hatte.
 

Trotz der noch regennassen Blätter breitete das Feuer sich gierig aus. Rauch stieg in den Himmel, vernebelte seine Sinne und griff sich den moosigen Untergrund, um seine Spuren zu verwischen.

Hinter ihm rauschten Pfeile, doch der Bogenschütze war mittlerweile zu weit weg, um ihn durch den Rauch zu sehen, geschweige denn zu treffen.

Ein unterdrückter Schmerzlaut verriet, dass der Große dicht hinter ihm war.
 

Die Hand um den Dolch lockerte sich und er fasste nach einem versteckten Messer an seinem Gürtel. Er hielt einen Moment die Luft an, um zu lauschen.

Konzentrierte sich auf das Rauschen des Feuers. Knackende Äste. Ein unterdrücktes Husten.

Mit einer fließenden Bewegung, wandte sich Therion im Sprint um und schleuderte das Messer in die entsprechende Richtung. Entzündet von den Flammen entdeckte er einen schwarzen Umhang und ein Aufschrei verriet, dass er getroffen hatte.

Ein weiteres Messer, diesmal in seine Richtung, ließ ihm keine Zeit, sich darüber zu freuen.

Er lenkte das Geschoss mit einem Feuerball ab, duckte sich zur Sicherheit darunter hinweg und machte einen Sprung zur Seite.

Seine Füße schlitterten über den plötzlichen Schlammboden. Rutschten.

Er verlor das Gleichgewicht, als er versuchte, einem Baum auszuweichen und schlug hart auf dem Boden auf. Seine Rippen ächzten unter einem altbekannten Schmerz und mit einem Mal wurde alle Luft aus seinen Lungen gepresst.
 

Doch für Erinnerungen war keine Zeit.

Kaum setzte das dumpfe Geräusch seines Herzschlags ein, der gegen sein Trommelfell vibrierte, tastete er eilig nach seinem Dolch und kämpfte sich auf die Beine.
 

Gerade rechtzeitig, wie sich herausstellte, da ein weiterer schwarzer Umhang zusammen mit einem metallenen Blitzen in sein Sichtfeld trat. Er ruderte zurück, griff statt Dolch nach dem Schwert an seinem Gürtel und parierte die nächsten Hiebe.
 

Klinge stieß auf Klinge. Das Klirren ihrer Schwerter hob sich nun endgültig ab von den Stimmen des Waldes, während das Knistern des Feuers langsam verebbte.

Therion suchte eine Lücke in der Verteidigung, wann immer er und sein Gegenüber zum nächsten Schlag ausholten. Eine Finte erkannte er schnell, sein Gegner jedoch genauso und so fanden nur die Schwerter immer und immer wieder zueinander.
 

„Rück ihn einfach raus“, brachte der Mann nach einem Schlag hervor, der Therion ein paar Schritte zurückdrängte. Ihre Blicke trafen sich und die Arroganz in den Augen seines Gegners, ließ ihn die Hände um den Griff seines Schwertes festigen.

„Tut mir ja wirklich leid, dich enttäuschen zu müssen…“, sagte er, weiterhin auf der Suche nach einem Fehler, einem Schwachpunkt. „Aber die Sache ist die: Ich hab‘ ihn nicht.“

Er preschte vor, versuchte sich an einem Schlag gegen die Seite, um dann an ihm vorbei zu kommen. Aber sein Gegenüber war nicht blöd, das war von Anfang an klar gewesen. Auch diesmal parierte er seinen Schlag gekonnt, drängte ihn weiter zurück in die Bäume, in den Schlamm und hielt seine Gedanken konzentriert darauf, seinen Hieben auszuweichen. Er ließ ihm nicht die Zeit, die Umgebung nach einem Ausweg zu durchsuchen.

„Verkauf mich nicht für dumm, Junge.“ Er lachte kehlig, als Therion nach einem Schlag kurz strauchelte. „Keiner kommt in Haus Ravus rein und wieder raus, wenn er erwischt wurde.“

Therion antwortete nicht, speicherte jedoch die Information, dass sie von seinem Deal mit Heathcote scheinbar nichts wussten, für später.

Im Moment war sein größtes Problem die Klinge, die seinem Kopf gefährlich nahe kam.

„Wir sind störrisch, was?“ Der andere Dieb schnaufte verachtend. „Fein, dann eben so.“

„Du redest zu viel.“

Diesmal war er es, der sich mit einem gezielten Schlag ein wenig Luft nach vorn machen konnte.

Zuallererst stellte er sicher, aus dem Schlamm rauszukommen, ehe der Boden unter seinen Füßen ihn ein zweites Mal im Stich ließ.

Weit kam er nicht, aber jetzt, da er wieder auf mehr oder weniger festem Grund stand, war es leichter, den Schlägen Stand zu halten.

Nicht mehr darauf bedacht, sein Fuß könnte unter einer zu schnellen Bewegung abrutschten, gelang ihm schließlich, mit seinem Schwert die Schläfe seines Gegners zu streifen. Ein schwarzer Mantel segelte zu Boden, offenbarte eine blutige Wunde, doch schon im nächsten Moment fand sich Therion wieder der Klinge gegenüber und wich zurück.

Schweiß rann seine Stirn hinab und er musste zu seiner Schande gestehen, dass er langsam müde wurde.

Seine Bewegungen wurden hektisch. Er brauchte einen Ausweg, aber zu seinem Glück wurde sein Gegner ebenso schlampig. Die Wunde setzte ihm mehr zu, als er durchscheinen lassen wollte.
 

Schnitte war er gewohnt. Trotzdem machte jeder weitere den Kampf schwerer als nötig und er keuchte erschöpft, als er ein weiteres Mal kurz genug Luft hatte, um zu Atem zu kommen.

Und endlich war er da. Der Ausweg.

Ohne dem Mann vor ihm, der bereits zum nächsten Schlag ausholte, weitere Beachtung zu schenken, duckte er sich an ihm vorbei und huschte schwungvoll über eine Anhöhe.

Blätter segelten um ihn herum zu Boden, ein grollender Fluch des Diebs folgte ihm in den Schatten der naheliegenden Bäume.

Doch seine Schritte stoppten abrupt, als ein stechender Schmerz sich von hinten durch seinen Brustkorb bohrte und der Schwung des Stoßes ihn zu Boden riss.

Die Haut um die Wunde begann augenblicklich zu brennen, setzte ihn in Brand und betäubte ihn für einen Moment, ehe er die nötige Kraft sammeln konnte, um sich auf die Beine zu stemmen.

Ein Fuß drückte ihn an der Brust zurück auf den Boden und er unterdrückte ein schmerzvolles Keuchen.

Der Bogenschütze, stellte er frustriert fest.

Er hatte gehofft, dass sein Feuerzauber ihn ausgeschaltet hatte und die Brandwunde in seinem Gesicht bewies, dass er zumindest eine Weile damit kämpfen musste.

Offensichtlich nicht lange genug.

Therion versuchte sich an einen Tritt in seine Magengrube, aber seine Beine waren plötzlich schwer wie Blei. Übelkeit stieg in ihm auf, als Trägheit ihn übermannte.

Worin auch immer der Pfeil getaucht worden war, es war effektiv.
 

Er fasste mit der freien Hand nach einem Messer an seinem Gürtel, wurde aber erneut von einem Fuß gestoppt und antwortete mit einem erstickten Röcheln.

Der zweite Dieb trat zu ihm, beugte sich mit einem Lächeln über seine erbärmliche Gestalt und verpasste ihm schließlich einen Tritt in den Magen, der ihn stöhnend zur Seite rollen ließ.

„Für die Schläfe“, sagte er barsch.

Der noch intakte Teil seines Kopfes wollte ihn darauf hinweisen, dass er mit der Narbe in Zukunft sicher besser aussah, aber der andere Teil kämpfte damit, ihn bei Bewusstsein zu halten, während die restlichen Zellen seines Körpers ihren Dienst verweigerten.
 

Und plötzlich war er wieder im Klippenland.

Blutend, verletzt, zerschmettert.

Röchelnd nach Luft, während jeder Atemzug drohte, seine Lunge aufzuschneiden.

Die Umgebung tanzte vor ihm, während er sich innerlich anschrie, bei Sinnen zu bleiben, sonst wäre es vorbei, sonst hätte er gewonnen, sonst…
 

Er wurde zurück in die Realität geholt, als sich eine feste Hand um seinen Kiefer legte und ihn herum riss.

„Wo ist er?“, spuckte ihm der Dieb ins Gesicht und Therion kam um ein herzloses Lachen nicht herum, obwohl seine Brust durch das Beben fast einfiel, wie ein Kartenhaus.

„Das hab‘ ich dir schon gesagt.“

„Verflucht!“ Sein Gegenüber ließ seinen Kopf unsanft zurück auf den Boden fallen und Therion spürte die Galle in seinem Magen aufsteigen. Trotz der Hitze, die seinen ganzen Körper in Brand setzte, war ihm eiskalt. Mit den Fingern tastete er träge nach seinen Messern, aber obwohl der Fuß ihn mittlerweile nicht mehr zu Boden drückte, war seine Hand nicht im Stande sich weit von ihrem jetzigen Standort zu entfernen.

„Und jetzt?“ Die Stimme des Bogenschützen schien weit, weit weg, aber Therion konzentrierte sich auf das, was er hörte. Darauf, wie sein Atem durch seine Zähne zischte, wenn er Luft holte; darauf, wie sein Körper bei jeder Bewegung kribbelte. Auf alles, was ihn bei Bewusstsein bleiben ließ.

Er war nicht fertig.

Nicht mit diesem verfluchten Narrenarmreif an seinem Handgelenk.

„Das wird dem Boss nicht gefallen“, grummelte der zweite, aber der Rest seiner Worte verfing sich in einem undefinierbaren Raunen. Vereinzelte Wörter wie die Drachensteine und etwas von einer Krähe konnte er noch ausmachen, ehe seine Sicht zu einem weißen Nebel überglitt. Therion klammerte sich verbissen an die Wortfetzen, die er vernehmen konnte. An das Rasseln seines Atems. Das wohlbekannte Stechen der Wunde in seiner Brust.

„Gib schon auf“, hallte eine Stimme in seinem Kopf, die nicht ganz seine war. „Ist nicht so, als würde dich irgendwer vermissen.“
 

Und, für einen kleinen Moment, gab er dem Recht.

Das hieß trotzdem nicht, dass er sich kampflos geschlagen geben würde.
 


 


 

Aufwachen war für Therion schon immer schwierig gewesen.

Meist war es ruckartig, erschrocken von einem lauten Geräusch, das ihn daran erinnerte, dass sein Versteck für die Nacht vielleicht doch nicht so versteckt gewesen war. Manchmal war es gewaltig, paralysierend, entrissen aus einer Erinnerung, die er seit Jahren vergessen wollte. Wenn er Glück hatte, war der Übergang fließend. Ein hin und her zwischen Wachen und Ruhen, ehe die Entscheidung gewann, dass er weiter musste, ehe ihn jemand in diesem Zustand fand.

Doch niemals war es langsam.

Er erinnerte sich nicht mehr daran, wann er seinen Körper das letzte Mal Stück für Stück erwachen spürte. Das Kribbeln in seinen Füßen, die Trägheit seiner Augenlider, die sanfte Umarmung des Schlafes, der noch immer an ihm zupfte und ihn sicher sofort wieder einholte, wenn er es zuließ. Ihm war ungewöhnlich kalt. Kein Schal, der an seinem Hals rieb, stattdessen ein fester Druck um seinen Oberkörper unter dem dünnen Stoff seines Hemds.

Dann erwachte der Schmerz und Therion krümmte sich keuchend zur Seite.

Da war die Intensität, die er sonst kannte.

Vom einen Moment auf den nächsten zurückkatapultiert in die kalte, harte Realität. Er atmete angestrengt durch die Zähne, um die austeigende Übelkeit zurückzuhalten und stützte sich zittrig auf den Unterarmen ab, die, Aeber sei Dank, endlich wieder seinen Anweisungen folgten.
 

„Whoa, hey!“
 

Zwei raue Hände fasste ihn an den Schultern, doch ehe Therion genauer darüber nachdenken konnte, was genau sie eigentlich vorhatten, riss er die Augen auf, fuhr herum und stieß seinen Ellbogen eilig in die Richtung, in der er ein Gesicht erwartete.

Stattdessen erwischte er ein Schlüsselbein, aber der Fremde wich mit einem überraschten Laut zurück und Therion hatte genug Zeit, um nach seinem Dolch zu tasten.

Zumindest, um dann festzustellen, dass er nicht da war.
 

„Ganz ruhig!“
 

Der Fremde hob abwehrend seine Hände und ging ein wenig auf Abstand. „Du bist in Sicherheit.“
 

Eine andere Person, zwei sogar, traten an ihn heran und Therion war sich wegen deren Blicke nicht ganz sicher, ob er die Wahrheit sagte, aber der Schmerz in seiner Schulter erinnerte ihn daran, dass er andernfalls längst tot wäre.

Zähneknirschend fasste er sich an die Schulter und versuchte sich auf die Beine zu kämpfen.

„W-warte! Hey!“

„Alfyn!“
 

Trotz des warnenden Tonfalls des älteren Mannes, kam der erste wieder auf ihn zu und drückte ihn zurück auf die Matte.

„Mit der Wunde solltest du dich für ´ne Weile erst mal nicht zu schnell bewegen.“

„Pfoten… weg.“ Unwirsch drückte er den Kerl von sich, hielt sich aber an den Rat und atmete einmal tief durch. Sein Kopf bebte und er hatte immer noch Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten. Irritiert tastete er über den Verband an seinem Oberkörper und fand endlich die Zeit, sich umzusehen, während sein Atem sich beruhigte und das Brennen in seiner Brust einem einfachen Ziehen wich.
 

Immer noch Wald – prickelnd.

Wenigstens kam ihm die Stelle nicht allzu bekannt vor, was zumindest ein bisschen Fortschritt bedeutete. Hoffentlich.

Die Gruppe schien hier ihr Lager aufgeschlagen zu haben. Zwar stand die Sonne noch am Himmel, senkte sich aber bereits am Horizont und kündigte die ersten Abendstunden an. Trotzdem… Er fuhr mit dem Auge unsicher über das offene Terrain, weg vom Schutz der Bäume, offen für jede Art von Beobachter. Eine Lichtung wie diese schien ihm reichlich ungeeignet für eine Übernachtung, zumindest angesichts der vielen Monster, die in diesem Wald hausen mussten.

Andererseits…

Sein Blick traf den des großen Mannes.

Ein Berg von einem Kerl mit breiten Schultern und harten Gesichtszügen, gezeichnet von Narben und Prellungen. An seinem Gürtel befestigt war ein geradezu gigantisches Breitschwert und Therion konnte es gar nicht erwarten, möglichst viel Distanz zwischen sich und diesen Kerl zu bringen. Er musterte Therion mit zusammengekniffenen Augen und verschränkten Armen, daher wandte er sich ab. Auf Monster war die Gruppe auf jeden Fall vorbereitet.
 

Auf sicherem Abstand zu ihm stand eine Frau, gekleidet in rote Seide und glänzenden Schmuck. Das volle, braune Haar, roten Lippen und die rasselnden Kettchen an ihrer Kleidung deuteten auf eine Künstlerin hin, die besser zu einer Karawane passte als zu einem stoischen Söldner wie dem Großen. Ihr Blick jedoch war kühl, verschleiert von Skepsis und Vorsicht, aber dennoch von einer Entschlossenheit ergriffen, die Therion von Spielern und Schauleuten sonst nicht kannte. Er mochte sie nicht, also würde er sie im Auge behalten.
 

Der letzte im Bunde war neben ihm in die Knie gegangen und musterte ihn besorgt.

Er war ebenfalls ein halber Baum, groß gewachsen und mit breiten Schultern, doch die Haltung und Kleidung war eher einfach und zerschlissen. Das dunkelblonde Haar wurde irgendwann heute Morgen wahrscheinlich in einem vergeblichen Versuch es zu bändigen, zu einem Pferdeschwanz gebunden, jetzt jedoch konnte Therion außer Zotteln nicht viel davon erkennen. Das lächerlichste jedoch war dieses verdammte, geduldige Lächeln, das er ihm schenkte, als er seinen Blick bemerkte.
 

Therion schluckte die Übelkeit herunter.

„Wer seid ihr?“

Er verfluchte sich dafür, dass seine Stimme zitterte, obwohl es eher an seiner Schwäche als an der aufsteigenden Panik lag. Hoffte er.

Von den drei Dieben, die ihn überfallen hatten, war keine Spur zu sehen. Er atmete tief durch.

„Wo bin ich?“
 

„Wir sind auf das Feuer aufmerksam geworden“, erklärte ihm der Kerl, der vor ihm kniete – Alfyn, wenn er richtig verstanden hatte. Er lachte leise auf und fuhr sich verlegen über den Nacken. „Sind grade noch rechtzeitig gekommen, würd‘ ich sagen. Das war ein echt fieses Gift an dem Pfeil.“

Therion fasste sich instinktiv an die Wunde und schnaubte.

„Gutes Stichwort.“ Die Frau trat nun ebenfalls näher. Ihre Kettchen klimperten bei jedem Schritt und Therion konnte nicht fassen, dass sie noch immer am Leben war, wenn ihre Kleidung sie so schnell verraten würde.

Sie musterte ihn unter dunklen Wimpern argwöhnisch.

„Warum genau waren diese drei eigentlich hinter dir her?“

Er wollte den Arm mit dem Narrenreif reflexartig unter seinen Mantel ziehen, obwohl sie ihn längst gesehen hatten, verzog aber nur frustriert das Gesicht, als ihm einfiel, dass man ihm den wahrscheinlich abgenommen hatte, um die Wunde zu versorgen. Er wandte den Blick ab.

„Wüsste nicht, was euch das angeht.“

„Oh, ich schon.“ Sie verschränkte die Arme und verlagerte ihr Gewicht so, dass ihm unmöglich der Dolch entgehen konnte, der versteckt an ihrem Bein im Licht schimmerte. „Ich habe euch über die Krähen reden hören. Was weißt du über sie?“

Die Aussage traf ihn tatsächlich unvorbereitet. Dass sie von den Drachensteinen wüssten, hätte er ja noch verstanden – Heathcote hatte zwar sichergestellt, dass die Gerüchte nur von einem „Schatz“ sprachen, aber da die ersten drei bereits entwendet wurden, gab es sicher den ein oder anderen, der genau wusste, welchen Schatz Haus Ravus genau hütete.

Krähen jedoch…

„Nicht viel.“ Angesichts der Tatsache, dass sowohl sie als auch der Riese jederzeit ihre Waffen auf ihn richten könnten und er noch nicht herausgefunden hatte, wo seine Ausrüstung abgeblieben war, gab er sich geschlagen. Für’s erste. „Der Kerl hat was von ihnen erwähnt. Sind wahrscheinlich auch hinter dem Schatz von Haus Ravus her.“

„Ein Schatz?“ Alfyns Augen leuchteten auf, kaum hatte er die Worte ausgesprochen. „Prim, wusstest du davon?“

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Die Nachricht weist auf nichts dergleichen hin“, sagte sie und legte eine Hand ans Kinn. „Aber das könnte es uns erleichtern, sie aufzuspüren. Was sagt Ihr, Olberic?“

Sie wandte sich zu dem Söldner um, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.

Er schloss die Augen und kam ein paar Schritte näher. Therion fixierte ihn mit seinem Blick, um nicht selbst von einer plötzlichen Bewegung überrascht zu werden.

„Ihr habt bisher nur den Aufenthaltsort eines Mannes, also könnte es unsere Suche voranbringen“, sagte Olberic. Seine Stimme war tief und ruhig, doch ob sie nur einen Sturm verbarg, konnte Therion nicht genau sagen. Dann wandte der Mann sich plötzlich an ihn. „Was ist das für ein Schatz? Ich wage zu bezweifeln, dass Leute, wie Primrose sie beschreibt, sich mit simplen Goldmünzen zufrieden geben.“

„Tch.“ Therion presste die Lippen zusammen, ehe er schließlich seufzend den Arm mit dem Narrenarmreif anhob. „Seh‘ ich so aus, als hätte ich das rausgefunden?“ Vielleicht nicht sein klügster Schachzug angesichts dessen, dass der Kerl wahrscheinlich nur nach einem Grund suchte, ihn den nächsten Wachen auszuliefern, aber er konnte nicht riskieren, dass noch mehr Leute ihm ins Handwerk pfuschten als sowieso schon. Die Drachensteine waren schon begehrt genug.

Alfyn hatte den Anstand, wenigstens mitleidig die Augenbrauen zusammenzuziehen, aber die beiden anderen tauschten einen skeptischen Blick aus. Für einen Moment glaubte er, sie würden sich flüsternd zurückziehen, um sich zu beraten, doch dann wandte sich Primrose wieder an ihn.

„Offenbar nicht.“ Sie schenkte ihm ein gezuckertes Lächeln, das Therion ihr keine Sekunde lang abkaufte. „Aber beschäftigt es dich nicht, dass sie dir trotzdem gefolgt sind?“

„Was mich beschäftigt…“, Therion versuchte ihren gespielt höflichen Tonfall zu imitieren und hielt ihrem Blick entschieden stand, „ist diesen elenden Armreif loszuwerden.“

Sie pfiff einmal beeindruckt. „Ich habe gehört, ohne den Schlüssel ist das fast unmöglich.“

„Du sagst es“, bestätigte er entschieden. „Fast.“

„Also was ist der Plan?“, fragte Alfyn neugierig, als ob sie von einer spaßigen Abenteuerreise sprechen würden. Das schlimmste daran war, dass er das im Gegensatz zu seiner kleinen Freundin auch noch todernst meinte. Wenn Therion vorher nicht schon zum kotzen zumute gewesen wäre, wäre das spätestens jetzt der Fall gewesen.

„Edelhof“, antwortete Therion grob, damit sie ihn in Ruhe ließen. „Ich hab von einem Kerl gehört, der etwas hat, das-“ Er ließ den Satz in der Luft stehen, als er bemerkte, wie Primrose schluckte.

„Edelhof?“, wiederholte sie vorsichtig und Therion hatte das Gefühl, auf ein Mienenfeld gestoßen zu sein. Großartig.

„Das scheint mir doch ein großer Zufall zu sein“, fügte Olberic hinzu und Therion fuhr sich seufzend durchs Haar. Die Kopfschmerzen durch das Gift machten die Situation nicht gerade besser und egal, was er versuchte, um das Thema zu umgehen, schien ihn nur noch tiefer in die Misere hinein zu reiten.

„Passt auf, ich weiß nicht, was ihr mit diesen Krähen zu schaffen habt und ich will es auch nicht wissen.“ Er schnaubte. „Wieso habt ihr die verdammten Assassinen nicht befragt, wenn euch das so wichtig ist?“

„Ah…“ Alfyn kratzte sich am Hinterkopf und lächelte. „Ich fürchte, das ist meine Schuld.“

„Ich hätte nicht anders gehandelt“, versicherte Olberic und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter. „Der Junge wäre ohne deine Hilfe gestorben.“

Er warf Therion einen Blick zu, der ihm wohl verdeutlichen sollte, dass er „der Junge“ war, aber er tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt.

Es war offensichtlich, dass sie ihm nur geholfen haben, um ihn über diese Krähen auszuquetschen, also ließ er sich sicher kein schlechtes Gewissen einreden.

„Du siehst, wir sind auf deine Hilfe angewiesen“, sagte Primrose schließlich und verlagerte noch einmal das Gewicht, was den Schleier an ihrem Rock so weit fallen ließ, dass ihre Beine gut sichtbar waren. Therion unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. Andere Männer fielen vielleicht auf diese Art von Trick rein, aber er hatte in seinem Leben genug Schwindler getroffen, um sie zu durchschauen.

„Ich bin geschmeichelt“, sagte er unbeeindruckt. „Sonst noch was?“

Sie schmunzelte, ließ die Scharade aber fallen.

„Weißt du, ich müsste früher oder später sowieso nach Edelhof“, erklärte sie ihm dann. „Vielleicht weiß dein Bekannter ja mehr?“

„Du willst ihn mitnehmen?“, stellte Alfyn überrascht fest und musterte Therion neugierig. „Ich meine, ich würde ihn mit der Wunde auch nicht allein weiterziehen lassen, aber…“ Er verzog das Gesicht, als er den Narrenreif betrachtete, sah aber eilig weg, als Therion ihn anfunkelte.

„Wenn das für Euch in Ordnung ist, Olberic.“ Sie sah prüfend zu dem Söldner, der nachdenklich die Augen schloss und dann nickte.

„Wenn es Euch hilft, will ich ein Auge auf ihn haben.“

„Wartet mal“, unterbrach Therion ihre fröhliche Reiseplanung. „Ich arbeite allein. Danke auch.“

Primrose schmunzelte. „Sagen wir so: Entweder das oder Olberic besteht darauf, dich in Victorskuhl an die Wachen zu übergeben.“
 

Therion fuhr sich genervt über die Schläfen. „Ist das eine Drohung?“
 

„Sieh es mehr als nett gemeinten Rat.“
 

Großartig.

Einfach. Großartig.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen!

Hier ein kleiner parallel Upload zu Fanfiktion.de. Dort heißt die Story aber noch "And the Crow once called the Raven black" - das werde ich beim nächsten Kapitel wahrscheinlich bearbeiten, weil der Titel doch etwas lang ist...

Diese Story ist ein Versuch, die acht Geschichten von Octopath Traveler sowie das wahre Ende des Spiels ein kleines bisschen zusammenzuweben (und den einzelnen Reisenden einen besseren Grund zu geben, miteinander zu reisen - was gerade bei Therion sonst irgendwie einfach keinen Sinn macht, haha).
Daher wird es kleine Änderungen im Vergleich zum Gameplay geben, auch wenn ich mich grundsätzlich an die Kapitel der einzelnen Charaktere halte. Aber wenn man bedenkt, dass Obsidian Lakaien sowohl in Tressas Kapitel vier als auch gelegentlich in Therions Kapiteln auftauchen... warum nicht die Krähen mit ins Boot holen? ;) Ich habe die Kapuzengestalten anfangs sowieso grundsätzlich für Obsidian Schergen gehalten, weil sie den gleichen Sprite haben - und das bot sich dann ja doch irgendwie an.
Ich hoffe, mit den kleinen Änderungen könnt ihr leben - ansonsten ist Kritik natürlich immer gern gesehen!
Und natürlich hoffe ich, ihr habt genauso viel Spaß beim lesen gehabt, wie ich beim Schreiben. :) Komplett anzeigen

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