Anrufe in Abwesenheit
Schwer seufzend schloss Hiromi ihre Augen und massierte sich mit den Fingerkuppen ihre leise pochenden Schläfen. In der Abteilung herrschte eine rege Betriebsamkeit, so wie es in einem Grossraumbüro eben üblich war. Weit über 80 Menschen auf engstem Raum, die Hälfte davon so gut wie kontinuierlich telefonierend, derweil die Anderen laut und ununterbrochen mit- und übereinander redeten. Wie um Himmels Willen sollte sie sich also konzentrieren können, wenn sie bei dieser Lautstärke noch nicht einmal ihr eigenes Wort verstand? Und nebst alledem drückte ihr auch noch diese unmögliche Deadline für heute Nachmittag aufs Gemüt.
Als sie sich die Worte ihrer Kommunikationschefin in Erinnerung rief, verspürte sie ein vielsagendes und gemeines Piksen in ihrer Magengegend. Würde sie die Arbeit heute Nachmittag nicht abliefern können, so würde sie Morgen unausweichlich wieder mit ein und demselben Auftrag konfrontiert werden – ganz zu schweigen von dem Ärger den sie sich mit dem Nichteinhalten des Abgabetermins einhandeln würde. Ihre Devise für heute war folglich schnell und einfach definiert: Augen zu und durch.
Sich innerlich Mut zusprechend, hörte sie den Vibrationsalarm ihrer Mobiltelefons erst, nachdem bereits mehrere Sekunden verstrichen waren. Unvermittelt schrak sie aus ihren Gedanken auf, hob ihre Tasche vom Boden hoch auf den Schoss und durchwühlte die Seitenfächer mit ungeahnter Hektik.
Erfolgreich gefunden, hielt sie ihr Mobiltelefon zunächst jedoch erst mal mit einem wunderlich fragenden Blick in den Händen. «… Takao?» murmelte sie in Gedanken mit sich selbst redend. Er war einer dieser wenigen Menschen, von denen sie nie und nimmer einen Anruf erwarten würde.
Den eingehenden Anruf verdutzt betrachtend, zögerte sie einen Moment, ehe sie das Mobiltelefon wieder zur Seite legte und ihren Blick auf den Bildschirmmonitor vor sich richtete. Sie hatte keine Zeit zum plaudern, dafür hatte sie just in diesem Moment einfach viel zu viel zu tun. Kurz noch blieb sie mit ihren Gedanken bei ihrem alten Schulfreund hängen, immerhin war es schon gut drei Jahre her, seit sie das letzte Mal in Kontakt gestanden hatten.
So schnell wie die Gedanken gekommen waren, schüttelte sie diese aber auch wieder ab und fand sich sogleich in ihrem Berg aus Arbeit wieder. Es dauerte jedoch gerade mal fünf Minuten, da wurde sie in ihrer neu erlangten Konzentration erneut von einem eingehenden Anruf gestört. Ein kurzer Blick bestätige, dass es schon wieder Takao war. Sie ignorierte den Anruf gekonnt, doch kaum wurde die Sprachbox aktiviert, kam auch schon der nächste Anruf rein.
Sie schnaubte – seine Hartnäckigkeit verärgerte sie schon jetzt. Begriff Takao denn nicht, was es zu bedeuten hatte, wenn jemand seinen Anruf mal nicht direkt entgegennahm? Sie rollte mit den Augen und versuchte sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren.
Typisch Takao.
Als aber nach weiteren fünf Minuten der nun schon siebte Anruf bei ihr einging, riss ihr dann schliesslich doch der Geduldsfaden. Sie schnappte sich das Mobiltelefon vom Tisch und wollte den Anruf gerade mit einem bissigen «Was?!» entgegennehmen, da stand ihre Kommunikationschefin, wie aus dem nichts, plötzlich neben ihr und musterte Hiromi mit einem abschätzenden Blick. «Liebe Hiromi, bist du nicht auch der Meinung, dass es zielführend wäre, wenn du dich nun umgehend um die Präsentationsvorlagen für heute Nachmittag kümmern würdest? Ich vertrete nämlich die Meinung, dass private Angelegenheiten definitiv nichts an deinen Arbeitsplatz zu suchen haben.»
Das sass. Mit gesenktem Blick legte Hiromi ihr Mobiltelefon zurück auf die Tischfläche und schaute mit ehrlich beschämtem Gesichtsausdruck zu ihrer Vorgesetzten hoch. «Bitte entschuldigen Sie meine Nachlässigkeit, Frau Yamamoto. Ich werde mich sofort an die Arbeit machen.» Und als wäre die Demütigung nicht schon gross genug gewesen, rief Takao sie in exakt diesem Moment ein achtes Mal an. Mit strengem Blick fixierte ihre Vorgesetzte das penetrant vibrierende Mobiltelefon, ehe sie sich auf dem Absatz umkehrte und sich von Hiromis Arbeitsplatz entfernte.
Hiromi selbst, durch die harsche Zurechtweisung von Frau Yamamoto gekränkt und zeitgleich ziemlich verärgert, drückte Takaos Anruf einfach weg.
Was will der überhaupt?! Dachte sie wütend.
Und noch bevor Takao überhaupt ein weiteres Mal anrufen konnte, aktivierte Hiromi den Flugmodus und legte das Mobiltelefon kurzerhand zurück in ihre Tasche. Schulfreund hin oder her, sie hatte zu tun und er musste nun erst mal hinten anstehen. Und jetzt mal ehrlich, Takao konnte doch wohl nicht ernsthaft von ihr erwarten, dass sie ihm nach drei Jahren totaler Funkstille sofort ihr Ohr leihen würde, wenn er plötzlich auftauchte und etwas von ihr wollte, oder?
Sie seufzte. Sie kannte Takao und seine Ungeduld, und ja, sie hatten sich deswegen schon oft genug in den Haaren gelegen. Doch trotz ihres Ärgers war sie nicht in der Lage, das ungute Bauchgefühl über diesen plötzlichen, sprichwörtlichen Telefon-Terror komplett beiseitelegen.
—
Der Morgen im Grossraumbüro war grauenerregend gewesen, der Nachmittag noch weit schlimmer, und als Hiromi gegen 19 Uhr endlich Feierabend hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gehen und in ihren wohligen Trainer zu schlüpfen.
Als sie aus der grossen Eingangshalle des 14-stöckigen Bürogebäudes heraustrat, wurde sie von den ersten Schneeflocken des frühen Winters überrascht. Frech zerrte der Wind an ihrer Jacke, woraufhin sie diese noch ein wenig enger um ihren Körper schlang.
Wie jeden Tag waren auch heute viele Menschen auf den abendlichen Strassen Tokios unterwegs und einige von ihnen hatten das gleiche Ziel wie Hiromi, die nächstgelegene U-Bahnstation nur wenige Strassen von hier.
Sie setzte sich in Bewegung und in der Hoffnung eventuell eine gute Anschlussverbindung zu finden, fischte sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und stellte sogleich überrascht fest, dass sie den Flugmodus aktiviert hatte.
Stimmt, Takao hat heute früh angerufen. Schoss es dir durch den Kopf.
Sie deaktivierte den Flugmodus und schaute im nächsten Augenblick äusserst ungläubig wenn nicht gar ziemlich verdattert drein.
43 Anrufe in Abwesenheit?! Du meine Güte!
Und zusätzlich noch stolze drei Nachrichten auf ihrer Sprachbox. Sie schlug sich die Hand vor die Stirn und schüttelte den Kopf. Ihr Ärger von heute Vormittag war mit einem Male zurückgekehrt. Ja, Takao und die Geduld, dass war eine Sache für sich, aber das hier schlug nun wirklich alles.
Sie beschloss zuerst die Sprachbox abzuhören ehe sie ihn zurückrufen würde, vielleicht hatte sich sein Anliegen ja schon lange erledigt. Sie führte das Mobiltelefon zu ihrem Ohr und hob augenblicklich die Augenbrauen, als sie Takaos wohlbekannte Stimme hörte, welche jedoch anders als gewohnt, mit einer unüberhörbaren Unruhe durchsetzt war.
9:02 Uhr
«Hey Hiromi, ich bin’s Takao. … Du hör mal, ruf mich doch bitte zurück wenn du das hier hörst, ja? Es ist total dringend. … Danke dir.»
11:24 Uhr
«Seufz… Hiromi, ich weiss du hast bestimmt viel los, aber du musst mich unbedingt zurückrufen … es ist wirklich, wirklich dringend hörst du. …»
Schrittweise verlangsamte Hiromi ihren Gang, auch wenn wohl eher unbewusst. Takaos Stimme hatte sie hellhörig gemacht. Was war da bloss passiert, dass er so neben sich zu stehen schien? Irritiert runzelte sie die Stirn, als sie die dritte und letzte Nachricht auf der Sprachbox abspielte.
17:37 Uhr
«… Hiromi hör mal … ich weiss nicht recht wie ich dich erreichen soll … habs den ganzen Tag versucht und bin irgendwie grad am Ende mit meinem Latein … tut mir leid. Ich, ich wollte dir das wirklich persönlich sagen, aber da ich nicht weiss, wann und ob ich dich heute überhaupt noch erreiche, hoffe ich, dass du zumindest deine Sprachbox abhörst. … Ich weiss auch nicht genau, aber vielleicht weisst du ja auch schon lange bescheid. …
Mit ehrlich besorgten Gesichtszügen lauschte sie jedem Wort, das Takao an sie richtete. Ihre Beine hatten aufgehört sie voranzutragen. Inmitten einer bewegenden Menschenmasse, wartete sie bangend auf die nächsten Zeilen.
… In der Yomiuri Shimbun, da, da war heute ein Artikel auf der Titelseite … und in dem stand … da stand drin, dass Kai, also unser Kai, du weisst schon wen ich meine … er, ja also er hatte einen, einen schweren Unfall. … Keine Ahnung, Manabu hat den Artikel heute gesehen und das Ganze gleich auf seine Gegebenheiten überprüft. … Frag mich nicht wie, aber er hat Yuriy in Russland erreicht und der, ja der hat … hat es bestätigt. …
Was folgte war eine lange, lange Stille. Takao schluckte schwer und kämpfte hörbar mit seinen Emotionen.
… M-Manabu und ich, wir t-treffen uns heute Abend im Suke6 Dinner und wollen besprechen, ob wir nach Russland aufbrechen sollen. … W-wir alle, wir waren mal das beste Team der Welt u-und du hast auch dazu gehört. Deswegen wollte ich dich einfach informieren und ja … b-bitte ruf mich doch k-kurz zurück wenn du das hier abhörst, o-okay? …
Takaos Schluchzen war herzzerreissend. Hiromis Augen waren derweil mit dicken Tränen gefüllt, ihre Hand vor Schock und Ungläubigkeit vor ihrem Mund platziert.
… E-entschuldige Hiromi. …»
Und dann war es still.
«Oh Gott, nein. Bitte nicht.» wisperte sie leise, als sie ihre Stimme wieder fand. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Allesamt mussten sie sich getäuscht haben.
Wie aus dem nichts, stiess ein mit schnellen Schritten hinter ihr herannahender Passant im Vorbeigehen grob und völlig unvermittelt mit ihr zusammen, wodurch ihr das Mobiltelefon aus ihrer erstarrten Hand glitt. Trotz des tiefsitzenden Schocks über die eben gehörten Worte reagierte sie sofort und ging in die Knie um das Gerät vom kalten Asphalt hochzuheben. Die böse Bemerkung des anderen Passanten entging ihr dabei gänzlich.
Durch den unbarmherzigen Aufprall auf den Boden, war das Display ihres Mobiltelefons unweigerlich zu Bruch gegangen. Wie dicke Lebensadern zogen sich die langen Risse über den gesamten Touchscreen.
Immer noch am Boden kniend öffnete sie die News-App der Yomiuri Shimbun und fügte Kais Vor- und Nachnamen fast schon routiniert aber mit zittrigen Fingern in das Suchfeld der Benutzeroberfläche ein. Ihre Suche ergab einen einzigen Treffer.
Unaufhaltsam rollten dicke Tränen über ihre geröteten Wangen, als ihr ihr Kai hinter dem geborstenen Display kühl entgegenblickte – direkt darunter die wohl schlimmste Schlagzeile, die sie in ihrem Leben je gelesen hatte.