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Easy Street II ~ walk on ...

von

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walk on I

Da war sie, seine Chance den verdammten Drecksack verrecken zu lassen. Er hielt die Eisenstange mit beiden Händen fest und hob sie entschlossen über seinen Kopf.

Er sah genau, wie Fat-Joey alle Farbe aus dem Gesicht wich. Es erfüllte ihn beinahe mit Genugtuung, sein Flehen zu hören. Seine Erinnerungen ließen ihn noch einmal die unwürdigen Momente der letzten Tage sehen. Beinahe glaubte er wieder in der stockfinsteren Zelle zu sein. Am Boden kauernd, während dieser fette Bastard sich an ihm zu schaffen machte.

Er hörte in Gedanken diesen Mistkerl albern lachen, als es ihm die Beine wegriss. Hörte das Gröhlen der Männer. Redneck, Redneck all alone - Redneck, Redneck never go home.

Spürte den brennenden Schmerz, die nahende Ohnmacht, als die schwere Eisenkette, über die er hatte springen müssen, ihn hart am Rücken traf und er für quälende Momente glaubte, sie hätten ihm die Wirbelsäule zerfetzt.

Dies war sein Moment für eine allererste Rache! Adrenalin strömte durch seine Adern und mobilisierte seine Kräfte. Dennoch schoss ein gleißender Schmerz durch seinen Körper, als die Eisenstange Fat-Joey traf. Dennoch hieb er wie von Sinnen auf den Mann ein. Blut spritzte in sein Gesicht und er bemerkte kaum, dass Paul Rovia vor ihm aufgetaucht war.

"Daryl! Wir müssen weg", zischte der Langhaarige gehetzt und konnte sein Entsetzen über Daryls Tat kaum verbergen. Ungläubig schaute er auf den Mann am Boden, bevor er sich einen Ruck gab und dem Armbrustschützen von Alexandria folgte.

Rasch stieg er hinter Daryl auf das Motorrad und sofort jagten sie in hoher Geschwindigkeit über das Gelände der Saviors.

"Wo lang?", brüllte Daryl, als sie die Straße erreichten.

"Rechts!"

Paul presste sich unwillkürlich an Daryl, als dieser die Maschine erneut zu hohem Tempo peitschte. Der langhaarige Mann aus Hilltop bemerkte besorgt die schwere Atmung des Bikers und das Beben von dessen Muskeln.

"Daryl! Lass mich fahren. Halt an!", rief er, doch der Angesprochene zeigte keine Reaktion.

Paul fluchte, als das Motorrad mehrfach ins Schlingern geriet und es für den verwundeten Daryl kaum möglich schien, die Maschine und sie beide im Gleichgewicht zu halten. Er war bereits jetzt schweißgebadet und sie hatten noch eine weite Strecke vor sich.

"Willst du uns umbringen, verdammt? Halt an!"

Daryl schüttelte den Kopf, was ein weiteres gefährliches Schlingern zur Folge hatte. Paul fluchte laut und redete weiter auf seinen Begleiter ein.

"Komm schon, Mann! Ich hab echt kein Bock hier auf der Scheiß-Straße zu krepieren. Ich kann fahren."

Nur zögernd drosselte der Armbrustschütze das Tempo und schien immer größere Schwierigkeiten zu haben, die Maschine auszubalancieren. Als sie beinahe standen, verlor er den Kampf mit dem schweren Motorrad und sie fielen hart auf den Asphalt.

Paul rappelte sich sofort auf und wandte sich nach seinem Gefährten um. Daryl hockte auf allen Vieren am Boden. Sein Atem ging schwer und angestrengt.

Paul legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Hey?"

Mit einem gequälten Laut übergab Daryl sich. Immer wieder schien sein Magen sich aufzubäumen. Paul ging mit besorgter Miene neben ihm in die Hocke und stützte ihn.

Mit einem beinahe schluchzenden Laut ließ Daryl sich zur Seite fallen und blieb vollkommen erschöpft liegen.

Paul musterte ihn besorgt. Sie mussten hier weg. Die Straße war von überallher einsehbar und sobald die Saviors Daryls Verschwinden bemerkten, würden sie die gesamte Umgebung nach ihm absuchen. Sie saßen hier auf dem Präsentierteller!

"Ver - verdammte Erdnussbutter ...", keuchte Daryl gepresst und hielt sich den Bauch.

Paul lachte wenig amüsiert auf. "Kannst du aufstehen?" Er griff nach der Hand des Mannes, zog ihn in eine sitzende Position und stützte ihn fürsorglich, während er mit der freien Hand in seinem Rucksack wühlte. Schließlich holte er eine Flasche Wasser und ein Tuch hervor. Er benetzte das Tuch und reichte Daryl dann die Flasche. "Spül dir den Mund aus und wasch dir das Gesicht!"

Daryl stieß ein atemloses Geräusch aus - nicht ganz ein Lachen. "Bist du meine Mutter, oder was?"

"Nein, dann hätte ich dir schon längst den Arsch versohlt, Mann!"

Daryl folgte Jesus’ Aufforderung schließlich und legte sich mit einem Stöhnen das kalte, feuchte Tuch auf das Gesicht.

"Hey, es dauert nicht ewig bis Hilltop. Aber hier können wir nicht bleiben." Es war offensichtlich, dass Daryl eine Pause brauchte, doch es war schlicht zu gefährlich. "Früher oder später werden Negans Leute hier vorbeikommen. Und ich lasse es nicht zu, dass sie dich noch einmal in die Finger kriegen. Lass uns weiterfahren, Daryl. In Hilltop kannst du dich ausruhen!"

"Ich muss nach Hause. Nach Alexandria. Er hat Carl", brummte Daryl mit heiserer Stimme, während er sich von Paul auf die Beine ziehen ließ. Er musste sich an dem Langhaarigen festhalten. In seinem Kopf drehte sich alles.

"Alter, mach mir hier nicht schlapp!", murmelte Paul besorgt und spürte die Hitze, die von dem anderen ausging.

"Mir geht's gut. Ich muss zu den anderen. Carl hat zwei oder drei von Negans Leuten erschossen. Er ... er wird -" Daryl sprach nicht weiter, doch Jesus erkannte, wie das geschundene Gesicht seines Gegenüber eine Spur blasser wurde und sah das Grauen in dessen Blick. Dennoch würde er dem Wunsch des Armbrustschützen nicht entsprechen können.

"Nein! Ich werde dich nicht nach Alexandria bringen. Daryl! Verdammt. Du kannst ihnen nicht helfen, ohne dass Negan dich erneut mitnimmt. Ich ... ich kann nur raten, was sie dort mit dir gemacht haben. Aber ... Nein! Wir fahren nach Hilltop. Dort kann Harlan dich untersuchen und dir helfen. Dir geht es beschissen."

Daryl senkte den Blick, wankte, und Jesus erkannte den inneren Kampf, den er auszufechten hatte. Doch Daryl konnte sich kaum auf den Beinen halten - er würde niemandem eine Hilfe sein.

"Ich kann ... kann nicht noch jemanden von ihnen verlieren." Seine Stimme war kaum mehr als ein raues Wispern.

"Ich weiß. Gott, Daryl, ich weiß. Aber sie brauchen dich in altgewohnter Stärke. Es wird niemandem helfen, wenn du vor Negan zusammenbrichst und dich erneut von ihm gefangen nehmen lässt."

Daryl nickte bekümmert und ließ sich von Paul in Richtung des Motorrades dirigieren.

Schließlich setzten sie ihre Flucht fort.

Daryl lehnte schwer an Jesus’ Rücken und schien kaum bei Bewusstsein. Der Langhaarige spürte, wie der Kopf des Armbrustschützen immer wieder auf seine Schulter sank und er hoffte, dass Daryl nicht vom Bike rutschen würde. Schließlich wandte er den Kopf leicht. "Daryl! Hey!", rief er gegen den Fahrtwind und hörte als Reaktion das leise Brummen dicht an seinem Ohr. "Umfass mich mit deinen Armen, Mann. Hörst du mich?"

Daryl stieß ein schwaches Schnauben aus. "Willste kuscheln, Jesus?"

"Mach es einfach, oder ich hänge dich in einen verdammten Baum!"

Nur langsam schoben sich die Hände des Mannes an seinen Seiten entlang, bis er ihn komplett umfasst hatte. Paul legte eine Hand auf die ineinander verschränkten Hände des Armbrustschützen, in dem Versuch ihn festzuhalten. "Wir haben es gleich geschafft, Daryl! Nur noch ein paar Meilen."

"Bin ok", kam es undeutlich und ließ Jesus resigniert auflachen.

"Alter, deine Selbstwahrnehmung hinkt gewaltig!"
 

Als sie die asphaltierte Straße verließen, musste Paul beide Hände an den Lenker der schweren Maschine nehmen, um sie sicher über den unebenen Boden manövrieren zu können. "Hey? Bist du da? Da vorne ist es. Wir haben es geschafft."

"Alles gut", murmelte Daryl wieder, doch Paul spürte, dass er nicht einmal seinen Kopf gehoben hatte.

"Ich habe eigentlich nicht vor, noch einmal so abzusteigen wie vorhin auf der Straße. Denkst du wir kriegen das jetzt eleganter hin?"

Daryl lachte rau. "Nein, ich denke nicht."

Als man Jesus erkannte, wurden umgehend die Tore von Hilltop geöffnet.
 

Daryl hob mühevoll den Kopf, als Jesus das Motorrad in den Hof der kleinen Siedlung fuhr. Er roch das Holzfeuer der Schmiede und hörte den Klang des Hammers, der auf Metall traf. Doch es war etwas anderes, das ihn sofort einzuhüllen schien: Das friedvolle Leben einer Gemeinschaft. Er hatte beinahe vergessen, wie sich dies anfühlte. Doch er war nur ein Zuschauer - in ihm behielt Negans Schreckensherrschaft die Oberhand. Die Bedrohung, die hinter jeder Ecke lauerte. Der Willkür eines Soziopathen und dessen Schergen ausgeliefert zu sein. Unwillkürlich fragte er sich, ob er diesen Schatten jemals von seiner Seele würde vertreiben können.

"Ich habe vor gar nichts Angst!", hatte er Beth vor langer Zeit einmal an den Kopf geworden. Doch das stimmte nicht mehr. Negan hatte ihm gezeigt, was es bedeutete vor Angst zu zittern. Doch er würde Negan nicht gewinnen lassen! Ganz gleich, ob die Furcht ihn auffraß - seinen Willen würde dieser Bastard nicht brechen können. Er würde sich seine Würde zurückholen. Er hatte in Sanctuary überlebt. Negan hatte ihm das Fürchten gelehrt - doch damit hatte er sich einen gewaltigen Feind herangezogen.

"Hey! Daryl - hey! Fuck!", fluchte Jesus, als er es nicht schaffte, das stehende Bike mitsamt dem benommenen Armbrustschützen auszubalancieren. Wie nasse Sandsäcke kippten die Männer zur Seite und blieben nebeneinander am Boden vor dem Barrington House liegen.

Aus dem Augenwinkel erkannte Daryl, dass eine Handvoll Leute auf sie zugelaufen kam und spürte eine Bewegung neben sich. Paul hatte sich aufgesetzt und musterte ihn forschend.

"Alles klar, Mann?"

"Bin ok", nuschelte Daryl und fuhr sich mit einer Hand über den schmerzenden Kiefer. Gott, wie gerne würde er einfach hier liegen bleiben ...

Doch schon griffen Hände nach ihm, richteten ihn auf, während die Stimmen der Leute in seinen Ohren summten wie Bienenschwärme. Daryl schaute orientierungslos in fragende Gesichter und senkte den Blick rasch wieder, als sie vor seinen Augen verschwammen.

"Schon gut, Leute. Ich kümmere mich um ihn! Wir kommen zurecht. Wenn einer Harlan zu meinem Container schicken könnte? Und ... Wo sind Maggie und Sasha?"

Er wollte Jesus am liebsten k.o. schlagen. Sollte der Typ doch die Klappe halten und ihn einfach von hier wegbringen. Die Leute, so gut ihre Absichten auch waren, machten ihn nervös und ihre Stimmen verklangen in seinem Kopf zu einem Lautstarken Summen. Er hielt das kaum aus und machte schließlich eine wegwerfende Handbewegung. Daryl riss sich von seinem Begleiter los. Er brauchte nichts - außer einem ruhigen Platz in der Sonne, an dem er sich für eine Weile ausruhen konnte.

"Ach guck! Geht ja doch." Jesus folgte ihm schwadronierend. "Wo soll es hingehen? Meine Bude ist da drüben!"

Daryl nickte. "Dann gehe ich da hinten hin!", murrte der Armbrustschütze und deutete in die entgegengesetzte Richtung.

"Deine Dankbarkeit, dafür, dass ich dich bei Negan eingesammelt habe, hält sich scheinbar auch in Grenzen."

Daryl hörte den reservierten Unterton des Scouts und schüttelte den Kopf, wobei er unbeholfen gegen die Wand eines Containers taumelte. "Nein ... Nein, Bruder! Ich brauche einfach eine Pause. Alleine ..."

Paul nickte verständnisvoll. "Verstehe. Komm. Ich bringe dich trotzdem zu mir. Da kannst du dich waschen und ausruhen. Aber vorher sollte wirklich Harlan nach dir sehen. Du hast Fieber und augenscheinlich ziemlich heftige Schmerzen." Er rollte mit den Augen, als Daryl zu einer Erwiderung ansetzen wollte. "Und sag nicht schon wieder, dass du ok bist!"

"Ok ...", murmelte Daryl und folgte dem Langhaarigen nun ohne weiteren Protest. Tatsächlich schien es wirklich das Vernünftigste zu sein, Pauls Vorschlag nachzugehen. Mittlerweile konnte er sich selbst riechen - er stank bestialisch. Es war ein Wunder, dass es jemand in seiner unmittelbaren Nähe aushielt.

Anstatt Daryl in den Container zu führen, ging Paul mit ihm um die Behausung herum. An der Rückseite, für neugierige Blicke nicht einsehbar, gab es so etwas wie ein behelfsmäßiges Freiluft-Badezimmer. Er dirigierte den Armbrustschützen zu einem niedrigen, hölzernen Hocker, der vor der Wand des Containers stand und deutete ihm an, sich zu setzen.

"Ich besorge dir warmes Wasser - ich habe hier nur kaltes. Zieh du dich schon einmal aus. Es wird niemand hierher kommen."

"Danke", murmelte Daryl, während er sich langsam daran machte die gestohlenen Klamotten von seinem Körper zu streifen. Mühsam stemmte er sich noch einmal auf die Beine, um auch aus der Hose steigen zu können. Die Klamotten würde er verbrennen - die Unterhose allerdings nicht. Er hatte schon ewig keine mehr gehabt und diese hier schien beinahe neu zu sein.

Damit würde er Rick vorführen können. Ein schmales Grinsen ließ seine Mundwinkel zucken bei dem Gedanken an die Plündertouren, die er mit Rick unternommen hatte. Zahnpasta und Unterwäsche. Jeder schrieb es auf die Liste - doch in letzter Zeit hatten sie kaum etwas davon finden können.

Er ließ sich wieder auf den Hocker sinken.

Abraham, Glenn, Rick, Aaron.

Es war ihre geheime, alberne Challenge gewesen. Wer fand die beste Unterhose?

Minutenlang saß er still da, während er versuchte den sengenden Schmerz niederzuringen, den die Gedanken an Glenn und Abraham ihm verursachten. Schuld brannte ihm vernichtend auf der Seele.

Diese verdammte Unterhose spielte keine Rolle mehr. Er würde sie mit Dwights anderen Klamotten verbrennen. Und irgendwann ... Irgendwann würde Dwight seinen Klamotten ins Feuer folgen!

Daryl beugte sich runter, um die dreckigen Verbände von seinen Füßen zu lösen. Einige Schnitte öffneten sich erneut, als er den Mullverband harsch abriss. Auf Armeslänge entfernt stand der Eimer, in dem Jesus kaltes Wasser aufbewahrte. Er wollte ihn zu sich heben, doch schaffte es nicht die Kraft dazu aufzubringen. Sein Körper schmerzte beinahe unerträglich.

Daryl sank mit einem kaum hörbaren Stöhnen zusammen und war sich seiner beinahen Nackheit plötzlich deutlich bewusst. Es schien ihn noch verwundbarer zu machen und er war drauf und dran erneut nach Dwights Klamotten zu greifen.

Seine Erinnerung ließ ihn den modrigen Geruch der kalten Zelle noch einmal wahrnehmen. Ließ ihn noch einmal Scham und Elend spüren, die er im Quartier der Saviors hatte erdulden müssen. Er presste sich die Faust fest auf die Brust, als er glaubte sein rasendes Herz müsse seinen Brustkorb sprengen. Angestrengt versuchte er ruhig zu atmen, zwang sich seine Umgebung wahrzunehmen - der aufsteigenden Panik keinen Raum zu bieten.

Sich nähernde Schritten ließen ihn zusammenfahren. "Hey - ich bin es nur!", ertönte die ruhige Stimme von Jesus, noch bevor er um die Ecke bog. Daryl holte keuchend Luft. Er war in Sicherheit - fürs Erste jedenfalls!

Jesus ließ seinen Blick vollkommen ungeniert über Daryls Körper gleiten und der Armbrustschütze sah, wie dem anderen alle Farbe aus den Wangen wich. Unbehaglich widerstand er den Drang aufzuspringen und die Flucht zu ergreifen. Jesus war ein Freund. Nicht Rick. Nicht Carol. Aber einer von den Guten. Und selbst Daryl wußte, wann der Moment gekommen war, an dem er auf Hilfe angewiesen war.

"Ich mach das!", murrte er finster und wandte den Blick ab. Jesus stellte den Eimer direkt neben Daryl und ging zu einem kleinen Regalbord hinüber, von dem er zwei Schwämme nahm. Einen reichte er dem Armbrustschützen, den anderen tauchte er selbst in das dampfende Wasser und gab eine bräunliche, seifige Flüssigkeit direkt auf den Schwamm.

"Das ist Jodseife. Du hast so viele Wunden und Abschürfungen ... Dachte es wäre besser die Wunden wirklich sauber zu kriegen, als wie ein Rosengarten zu duften. Unser Wasser ist zum Großteil aufgefangenes Regenwasser. Es ist zwar abgekocht, aber wer weiß schon welche Keime sich hier um uns herum gerade kultivieren. Unsere Antibiotika-Vorräte gehen bald zur Neige."

Tatsächlich fand Daryl es weniger schlimm als befürchtet, dass Jesus hier bei ihm war. Dennoch versteifte er sich unwillkürlich, als der andere sich daran machte ihm den Rücken zu waschen. Er rang das Bedürfnis nieder, den Langhaarigen wegzustoßen und ihn zum Teufel zu jagen. Stattdessen stellte er nach einer Weile fest, wie angenehm sich das warme Wasser auf seiner Haut anfühlte. Er beschloss alles Unbehagen auszublenden und selbst seinen Teil beizutragen.

Vorsichtig machte er sich daran, die Ränder des Pflasters an seiner Brust zu lösen. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen riss er die verschmutzte Wundauflage ab, griff dann selbst nach der Jodseife und wusch sich gründlich. Carol wäre stolz auf ihn.

"Die Austrittswunde der Schußverletzung ist aufgebrochen. Sieht nicht schön aus. Ich bin vorsichtig, aber das kann jetzt vielleicht wehtun."

Daryl lediglich einen unartikulierten Laut, der wenigstens dreißig Worte problemlos ersetzen konnte. Es brannte tatsächlich ein wenig, aber dies war kein Schmerz, der ihm wirklich etwas ausmachte.

Nachdem sie eine Weile schweigend an seiner Körperhygiene gearbeitet hatten, ging Jesus vor Daryl in die Hocke und reichte ihm eine Wasserflasche. "Fühlst du dich etwas besser?"

Daryl setzte die Flasche an seine aufgesprungenen Lippen und zuckte nur mit den Schultern. Das Wasser ließ seinen leeren, wunden Magen krampfen und er krümmte sich leicht zusammen. Gab jedoch keinen Ton von sich.

Jesus musterte ihn besorgt und nahm ihm die Flasche wieder ab, bevor er den Schwamm noch einmal aus dem Wassereimer fischte.

"Deine Füße ... War das Negan mit seinem Baseballschläger?", fragte Jesus leise, während er den vollgesogenen Schwamm über Daryls rechtem Fuß auswrang.

Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, als das Seifenwasser in den aufgebrochenen Schnitten brannte. "Nein. Glasscherben", murmelte er mit gesenktem Blick.

Nun war es Daryl doch unangenehm, dass Paul vor ihm kniete und seine Füße wusch. Dennoch ließ er es über sich ergehen und spürte sogar so etwas wie Dankbarkeit. Paul machte es ihm sehr leicht mit seiner ruhigen, scheinbar wertfreien Art. Das war etwas, das er an den meisten Menschen sehr vermisste. Er hasste es, wenn man über ihn urteilte. Das hatte Paul noch nie getan. Oder doch, aber auf eine angenehm neutrale Weise, die ihn nicht persönlich getroffen hatte.

Vollkommen erschöpft lehnte er sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Die Sonne war mittlerweile herumgewandert und wärmte ihn sanft.

"Was hat Negan mit dir gemacht?" Pauls Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. "Was ist dir dort widerfahren?"

Daryl zuckte die Schultern. "Negan .... hat eigentlich nichts getan."

"Er hat dich seinen Männern überlassen?"

Daryl nickte und versuchte die aufkommenden Bilder von sich zu schieben. "Sie haben ... Ich habe die meiste Zeit in einer kleinen Zelle gesessen."

Eigentlich hatte diese Erläuterung die Zeit in Sanctuary verharmlosen sollen, doch selbst in Daryls Ohren klangen seine Worte lediglich wie die Spitze des Eisberges, die sie schließlich auch nur waren. Er schauderte und spürte das Zittern, das seine Glieder überfiel.

Schweigend legte Jesus ihm ein weiches, sonnengewärmtes Handtuch um die Schultern.

"Ich habe hier ein paar Klamotten für dich, die wohl passen dürften. Brauchst du Hilfe beim Anziehen? Sonst würde ich noch einmal nachsehen, wo ich Harlan finde. Und die anderen."

"Ich komme klar", murmelte er leise und sah Jesus hinterher. "Hey! Danke", fügte er mit rauer, tonloser Stimme an und hielt sekundenlang den Blickkontakt aufrecht.

Als Jesus zurück kam, hatte Daryl sich bereits die Hose und das Hemd angezogen und war auf nackten Füßen langsam um die kleine Behausung herum gelaufen.

"Der Doc ist auf dem Weg und einer unserer Scouts ist rausgegangen um nach Sasha, Maggie und Enid zu sehen. Sie werden außer sich sein vor Freude, dich hier zu haben.“

Stirnrunzelnd hob Daryl den Blick und musterte Jesus aus zusammengekniffenen Augen. "Wer?"

"Was?", antwortete Jesus mit einer Gegenfrage.

Daryl rollte mit den Augen. "Wer ist hier? Sasha und Enid?", fragte er nach.

"Sasha, Enid und Maggie. Maggie war sehr krank, als sie nach ... nach Glenns Tod ... als sie hier eintrafen. Sasha hat sie hergebracht. Harlan musste sie operiert und nun geht es ihr scheinbar bereits so gut, dass sie Ausflüge ..."

Daryl hob abwehrend eine Hand und schüttelte den Kopf. "Ich habe in Alexandria an ihrem Grab gestanden! Maggie ist tot."

Jesus schüttelte langsam den Kopf und fuhr sich mit einer Hand nachdenklich über das Kinn. "Dann haben sie das gesagt, um Negan nicht darauf zu bringen, dass sie hier sein könnte. Oder? Nein, Maggie ist definitiv am Leben. Ihr und dem Baby geht es recht gut."

Noch einmal schüttelte Daryl den Kopf und versuchte gegen dieses infernalische Brennen hinter seinem Brustbein anzukämpfen. Er sollte froh sein über diese Nachricht! Er sollte vor Freude außer sich sein - er hatte nicht noch einen Freund verloren. Maggie war am Leben. Doch er empfand nur noch größere Schuld an Glenns Tod, als es ohnehin der Fall war.

Doch ihm blieb keine Zeit, diese Nachricht mit sich auszumachen. Der Doc kam auf sie zu geeilt. Und dicht hinter ihm liefen Sasha, Maggie und Enid.

Daryl wich einige Schritte zurück und fühlte sich wie ein Tier in der Falle. Er spürte wie ihm der Schweiß ausbrach. Vor seinen Augen tanzten schwarze Punkte und in seinen Gedanken sah er die Maggie aus seinem Traum, die mit Lucille auf ihn losging, weil er Glenn auf dem Gewissen hatte. Weil sie seinetwegen Hershel verloren hatte und er es nicht geschafft hatte, Beth an einen sicheren Ort zu bringen.

"Hey, alles klar?" Er spürte wie Jesus hinter ihn getreten war und ihm nun besorgt eine Hand auf die Schulter legte.

Schweiß rann ihm über das Gesicht - rasch wischte er mit seinem Hemdsärmel darüber. Dann sah er sich Sasha gegenüber, die ihn in eine Umarmung zog. In deren Augen Tränen glänzten. "Was hat dieser Scheißkerl mit dir gemacht? Gott, Daryl." Sie stand vor ihm und weinte, doch er schaffte es nicht, irgendetwas zu ihr zu sagen.

Und schon war Maggie da, wischte ihm sanft über die Wangen und sagte ihm, er solle nicht weinen. Wieder fuhr er sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Weinte er?

Und Enid, die dicht an Maggies Seite stand und ihm mit ihrem breiten Lächeln entgegen strahlte. "Gut, dass du wieder bei uns bist!"

Das Blut rauschte in seinen Ohren und er wollte, dass sie aufhörten alle auf ihn einzureden. Noch immer lag Pauls Hand auf seiner Schulter, wie ein Anker, der verhinderte, dass er einfach davon schwamm.

"Herrschaften! Es reicht fürs Erste. Ich müsste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass dieser Mann hier schleunigst in die Waagerechte gehört. Besuchszeit ist morgen wieder!", entschied Harlan Carson energisch, griff nach Daryls Arm und dirigierte ihn behutsam in Jesus’ Wohncontainer. "Setzen Sie sich dort auf den Sessel. Jesus, hilf ihm das Hemd auszuziehen."

Der Mediziner öffnete seine Tasche und holte ein paar Gegenstände heraus.

Während Jesus Carsons Aufforderung folgte und ihn beinahe auszog wie ein Kind, lag Daryls Blick fest auf der geschlossenen Eingangstür. Das Unbehagen in ihm wuchs, bis es unerträglich wurde.

"Macht ... macht einer mal die verdammte Tür auf!", knurrte Daryl atemlos und spürte wie seine Hände anfingen zu zittern. Jesus musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, während er das schwarze Hemd über eine Stuhllehne hängte. Dann folgte er der unwirschen Bitte mit ahnendem Blick.

Als die Sonne in den Raum fiel, wurde Daryl gleich wohler.

"Was ist Ihnen passiert, Daryl?", fragte Harlan Carson mit leiser Stimme und deutete Jesus an, sie alleine zu lassen. Als sein Patient weiterhin schwieg, seufzte der Arzt leise und setzte sich auf einen der Stühle. Er wollte dem Mann nicht von oben herab begegnen. Es war sehr deutlich, dass dieser stattliche Kerl hart an all seinen Grenzen kratzte. "Es geht Ihnen scheinbar wirklich mies. Wenn Sie mir aber nicht sagen, was passiert ist, werde ich Sie nicht vernünftig behandeln können. Sie sollen mir nicht ihr Herz ausschütten. Sagen Sie mir nur, wo es weh tut."

Daryl schnaubte leise und hielt weiter den Blick gesenkt. "Vielleicht sind wir schneller durch, wenn ich Ihnen sage, wo es nicht wehtut."

Harlan nickte ahnend und musterte ihn prüfend. Irgendwo mussten sie anfangen. Die undeutliche Aussprache, die Asymmetrie seines Gesichts - das deutete auf eine Kieferverletzung hin. Als würde er damit beginnen. "Darf ich mir Ihr Gesicht ansehen? Ihr Kiefer hat was abgekriegt, richtig? Ein Faustschlag?"

Daryl nickte stumm und hob dem Arzt das Gesicht entgegen. "Vielleicht gebrochen, sagt Negans Arzt." Er deutete an seine rechte Wange.

"Darf ich?", fragte Harlan noch einmal, bevor er mit vorsichtigen Berührungen die Schwellung abtastete und dann nickte. "Ja, ich stimme meinem Bruder zu."

Daryl hob erstaunt die Augenbrauen. "Ihr Bruder?"

Harlan nickte mit traurigem Blick, ging dann aber nicht weiter auf das Thema ein. "Können Sie den Mund öffnen?"

"Geht so." Daryl zuckte mit den Schultern.

"Es wird eine Zeit brauchen, bis das verheilt. Zumal ich nichts tun kann, um die Bruchstellen zu stabilisieren." Er machte eine beinahe entschuldigende Geste. "Keine harten Nahrungsmittel. Suppen, weichgekochtes Gemüse, weiches Brot. Belasten Sie Ihren Kiefer so wenig wie möglich."

Carson ließ seinen Blick etwas tiefer sinken. "Jetzt Ihre Schulter. Das war ein glatter Durchschuss?" Langsam stand er von seinem Stuhl auf und betrachtete die Wunden an Brust und Rücken. "Heben Sie Ihren Arm mal an - nur so weit es schmerzfrei geht, Daryl! Das ist wichtig. Es ist wichtig, dass Sie das Schultergelenk in Bewegung halten, aber nur soweit es schmerzfrei möglich ist. Die Wunden werde ich noch einmal verbinden. Bisher sind sie nicht sehr schön verheilt. Hoffen wir, dass wir es mit Salben und sauberen Verbänden besser hinkriegen. Es muss eine ziemlich böse Entzündung darin gewütet haben. Das wird Sie noch eine Weile beschäftigen."

Harlan Carson musterte ihn mit forschendem Blick und zuckte die Schultern. "Ihr Oberkörper weist viele neuere und ältere Hämatome auf. Was ist mit Ihrem Rücken? Die Abschürfungen und Einblutungen scheinen sehr frisch."

Daryl nickte. "Kennen Sie das Kinderspiel in dem zwei Leute ein Seil schwingen und ein Dritter in der Mitte steht und darüber springen muss? Sie fanden Gefallen daran, es mit einer Eisenkette zu spielen."

Der Mediziner verzog das Gesicht. "Und die Kette hat Sie dann am Rücken getroffen?"

"Mhm", entgegnete er nur knapp.

"Stehen Sie kurz auf, damit ich einen Blick drauf werfen kann?", bat Harlan und reichte ihm die Hand.

Daryl folgte den Anweisungen des Arztes und stützte sich schwer auf den Esstisch. Er spürte die Hände des Arztes, der an seiner Wirbelsäule herumtastete und seine Seiten befühlte. Daryl stieß den Atem hart aus. Der Mediziner war vorsichtig gewesen, doch die Schmerzen schienen ihn schier zu erschlagen, jetzt wo seine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt waren.

"Die rechte Seite ist sehr schmerzhaft, was?" Daryl ließ sich von dem Arzt helfen wieder auf dem Sessel Platz zu nehmen. In seinen Ohren rauschte es unangenehm. Beinahe hätte er die Frage des Arztes nicht gehört.

"Haben Sie Blut im Urin?"

Er nickte nur knapp.

"Wir haben im Augenblick keinen Strom, aber sobald die Jungs den Generator wieder zum Laufen gebracht haben, werde ich einen Ultraschall Ihrer Nieren machen. Ich vermute nur eine Prellung, die mit Ruhe und viel Flüssigkeit leicht auszukurieren ist. Sorgen macht es mir, dass Sie Fieber haben. Es könnte sich eine Entzündung eingeschlichen haben oder noch immer von der Schussverletzung ausgehen. Das müssen wir unbedingt im Auge behalten. Zunächst werde ich Ihnen jetzt ein Schmerzmittel spritzen. Dann werden Sie ein paar Tage ein Antibiotikum nehmen. Ich mache mir keine Illusionen - ich weiß wie ihr Jungs so tickt. Aber wenn es nach mir ginge, würde ich Ihnen mindestens 5 Tage strenge Bettruhe verordnen."

Daryl schenkte dem Arzt ein humorloses Grinsen. "Wir werden sehen."

"Schlaf ist wichtig, Daryl. Wenn Sie nicht schlafen können, dann werde ich Ihnen ein Schlafmittel geben. Wann haben Sie das letzte Mal mehr als sechs Stunden am Stück geschlafen?"

Der Armbrustschütze zuckte die Schultern. "Wie lange war ich bei Negan? Ich ... zuletzt in meinem Bett in Alexandria."

Harlan nickte und blickte grimmig drein. "Sie haben Sie mit Schlafentzug gefoltert?"

"Ja."

"Haben Negans Leute Ihnen was zu essen gegeben?"

"An den meisten Tagen ja."

Harlan schnaubte mürrisch. "Man sollte den ganzen verfluchten Laden in die Luft jagen. Was haben Sie zuletzt gegessen und wann?"

Daryl lehnte erschöpft den Kopf gegen die Wand, während das warme Sonnenlicht durch die geöffnete Tür direkt auf ihn schien. "Erdnussbutter - bevor Jesus und ich das Sanctuary verlassen haben."

"Haben Sie es bei sich behalten können?"

Daryl schüttelte den Kopf.

"Magenschmerzen?"

Er nickte.

"Sie müssen vorsichtig wieder anfangen mit dem Essen. Vermutlich waren die Dinge, die man Ihnen zu essen gab nur bedingt genießbar. Ich kümmere mich darum, dass es täglich etwas gibt, das Sie problemlos essen können. Und trinken Sie reichlich - damit helfen Sie ihren Nieren am meisten."

Zuletzt verband der Mediziner noch Daryls Füße und erteilte Jesus einen Auftrag: "Lauf doch rüber zu Susan. Die hat Fleischbrühe gekocht - sie soll dir einen Liter in eine Thermoskanne abfüllen und mitgeben." Dann wandte er sich erneut an seinen Patienten: "Sie werden erst einmal mit der Brühe anfangen. Wenn der Hunger zu groß ist, dann weichen Sie etwas Brot darin ein. Experimente würden Ihnen hier nur schaden! Wirklich. Und Sie brauchen genügend Schlaf."

Der Mediziner packte seine Sachen zusammen. "Nehmen Sie sich Zeit, Daryl! Schlafen Sie. Werden Sie wieder gesund. Alexandria braucht Sie so dringend!"

Daryl hob lediglich seine Hand zum Abschied und schloss dann die Augen. Er hörte die Stimmen von Sasha und Maggie, die anscheinend aufgeregt auf den Arzt einredeten, und wie dieser sie anwies, ihm sofort Bescheid zu geben, sobald es Daryl schlechter gehen oder das Fieber steigen sollte.

"Hey?", hörte er Jesus, ihn leise ansprach.

Blinzelnd hob er die Augenlider. "Hm?"

"Leg dich ins Bett."

"Nein", brummte Daryl leise und schüttelte den Kopf. Er würde so schnell nicht wieder aus diesem Sessel aufstehen. Von hier aus konnte er auf den Platz vor dem Barrington House gucken und hin und wieder schaute die Sonne vorbei. Er hörte, wie etwas hin und her geräumt wurde, spürte, wie jemand seine Beine anhob und hochlegte. Und wie man ihn schließlich in wenigstens zwei Decken packte. Als würde tiefster Winter herrschen.

Eine Hand an seiner Wange ließ ihn aufschrecken.

"Schsch ...", machte Maggie leise und küsste ihn auf die Stirn. "Wir passen auf dich auf. Schlaf jetzt!"



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