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Die Wander-Geisha

von

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Hochseil-Akt

„Langsam fühle ich mich von diesem elenden Schnee verfolgt“, seufzte Zaku, lehnte sich im Wasserbecken zurück und schaute in den nachtschwarzen Himmel hinauf. Inzwischen musste es fast Mitternacht sein. Sie saßen im lokalen gemischten Onsen, wo Männer und Frauen zusammen im gleichen Becken badeten. Es war nicht überdacht, nur eine heiße Quelle mit ein paar Sichtschutzwänden drum herum. Es war schweinekalt und Schneeflocken stoben durch die Luft. Das behaglich heiße Wasser, in dem sie saßen, dampfte in dieser nächtlichen Kälte, als würde man in einem Kochtopf sitzen. Zaku stützte sich mit den Ellenbogen hinterrücks auf den Rand. „Jeden Tag laufen wir dem Schnee davon, immer weiter nach Süden. Und jede Nacht holt er uns wieder ein.“

O-Shikara brummte nur zustimmend in sich hinein und schloss die Augen. Er schien tatsächlich in diesem heißen Becken ein Nickerchen halten zu wollen. Seine mächtigen Muskeln glänzten nass im Fackellicht. Zaku hatte ihn noch nie ohne Kleider gesehen. Erst jetzt fiel ihr auf, was für ein Kraftpaket der Mann wirklich war. Sonst versteckte er seine imposante Statur immer unter Yukatas und Umhängen.

Ryuka dagegen wirkte neben ihm fast schmächtig, auch wenn er objektiv betrachtet durchaus eine sportliche Figur hatte. Er hatte seine langen Haare locker hochgesteckt, damit sie nicht ins Wasser titschten, wodurch seine Schultern noch ein wenig männlicher und breiter aussahen.

Und ihr Neuzugang Yoji ... naja ... ein notgeiler 15-Jähriger eben, der sich an Zakus Oberweite die Augen ausglotzte und sich nur nicht getraute, sie anzufassen, weil links und rechts von ihm zwei stattliche Kerle im Wasser dümpelten, die ihn dafür in Stücke gerissen hätten. Er begnügte sich also damit, bis zur Oberlippe im Wasser zu versinken und kindische Blasen zu blubbern.

Was allerdings ein wenig befremdlich war, war der Pandabär, der ebenfalls mit im heißen Wasser planschte und sich genüsslich aufwärmte. Wie Zaku den hier rein gekriegt hatte, wusste keiner. Der Betreiber von diesem Onsen hatte das sicher nicht erlaubt.

„Wieso hast du deine Schminke erneuert, bevor du baden gehst?“, wollte Ryuka wissen, dem durchaus nicht entgangen war, daß Zaku längst wieder eine makellos sitzende Frisur und ein schneeweiß bemaltes Gesicht mit roten Lippen hatte. „Das wird dir hier im Wasser sowieso alles wieder zerlaufen.“

„Ich will damit ja nicht tauchen“, gab sie unbekümmert zurück.

„Soll ich nachhelfen?“, grinste O-Shikara, doch noch munterer als gedacht.

Zaku spritzte ihm mit den hohlen Hand eine Ladung Wasser ins Gesicht, als wolle sie ihm da zuvorkommen.

Er quietschte protestierend auf. „Schade, ich hatte gehofft, du versuchst dich mal als Perlentaucher“, alberte er dann weiter und hob seine Hand über der Wasseroberfläche, damit man sah, daß er zwischen seine Beine zeigte. Damit wollte er klarstellen, welche Perlen er meinte.

Ryuka warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Lass solche Witze heute mal bleiben“, bat er so ernst, daß man ihm auf jeden Fall Gehör schenkte. Sicher war Zaku nach dem heutigen Abend nicht mehr in der Stimmung für sowas. Sie hatte O-Shikara und Yoji nicht gesagt, woher sie den Sack Reis hatte. Und Ryuka würde es ihnen auch nicht erzählen.

„Na schön“, wechselte der Hüne bereitwillig das Thema. „Wie mir scheint, haben wir den Kerl mit dem Tempelgold hier in Shirakawa-Go nicht gefunden. Wie sehen unsere weiteren Pläne aus? Weiß jemand, wo er hin ist?“

„Wir sollten hier bleiben und üben. Ein vernünftiges Bühnenprogramm einstudieren und so. Auf unserem derzeitigen Stand wäre es erfolgversprechender, zu betteln, als vor den Leuten aufzutreten“, schlug Zaku vor.

„Du willst hier Winterquartier beziehen?“, übersetzte Ryuka skeptisch.

„Warum nicht?“

„Was ist mit den Kerlen, die wir jagen?“

„Die können wir im Frühjahr suchen. Der Schnee wird es innerhalb der nächsten Tage sowieso jedem unmöglich machen, weiter zu reisen. Weit werden die also auch nicht mehr kommen.“

„Und wovon sollen wir bis dahin leben?“, wollte O-Shikara wissen.

Zaku zuckte gleichmütig mit den Schultern, was ihr einiges an schauspielerischem Talent abnötigte. „Da, wo ich den Sack Reis her habe, gibt es noch mehr.“

„Ooooh nein!“, hielt Ryuka sofort vehement dagegen. „Du wirst uns nicht den ganzen Winter lang ernähren! Nicht so!“

„Der Mann ist sehr großzügig.“

„Nein!“

„Bis zum nächsten Dorf sind es drei bis vier Tage Fußmarsch! Ich habe keine Lust, auf halber Strecke vom Wintereinbruch überrascht zu werden und verloren zu gehen, weil wir im Schnee den Weg nicht mehr finden!“

„Wir werden schneller sein als der Schnee!“

O-Shikara und Yoji ließen den Blick zwischen Ryuka und dem Mädchen hin und her wandern, waren aber beide klug genug, nicht dazwischen zu quatschen.

„Wir ziehen weiter, solange wir noch können! Wir finden ein besseres Winterquartier als das hier“, legte Ryuka streng fest. Und dabei blieb es.

Zaku nahm die Ellenbogen von der Beckenkante, weil ihr langsam kalt wurde, und tauchte wieder bis zum Kinn im Wasser unter. „Aber ich will morgen gefälligst ordentlich ausschlafen, bevor wir weiterziehen!“, verlangte sie.

„Damit kann ich leben.“

„Gut.“

„Und tu sowas wie heute nie wieder, verstehst du mich?“

Zaku schaute mürrisch zur Seite. Als ob sie das gern gemacht hätte! Sie verstand nicht, warum Ryuka ihr Vorwürfe dafür machte, daß sie nur hatte helfen wollen.
 

In den frühen Morgenstunden, als es gerade ansatzweise hell wurde, wurde Ryuka von gepressten, würgenden Geräuschen geweckt. Hellhörig kämpfte er sich aus seiner dicken, warmen Decke frei und tappte aus dem Zelt heraus.

Draußen sah er zuerst Zakus Hintern, der hinter ihrem Zelt hervorragte. Sie übergab sich ein weiteres Mal in die Wiese. Danach kam sie mit mattem Gesicht wieder hervor und atmete betont durch.

„He, ist alles okay bei dir?“, wollte Ryuka besorgt wissen.

Zakus Gesicht verdunkelte sich etwas, als sie ihn bemerkte. Sie war gar nicht begeistert davon, daß er das mitbekommen hatte. Sehr göttlich war das schließlich nicht. „Das ist nur ein Hitzschlag. Ich war zu lange im heißen Onsen. Sowas passiert.“

„Du hast so hart für dein Essen gearbeitet und dann spuckst du es wieder aus?“

„Halt bloß die Klappe ...“

Ryuka kicherte leise. „Ich dachte, du wolltest lange ausschlafen!?“, zog er sie weiter auf.

„Sei ruhig, hab ich gesagt!“, maulte Zaku beleidigt.

„Schon gut“, meinte der junge Chef erheitert. Er schaute sich suchend um. „Wo ist eigentlich Chirobi?“

Zaku sah ebenfalls in die Runde. Der alte Panda-Tiergeist schlief sonst immer an der Feuerstelle, halb Wachhund, halb Feuerhüter, damit der Wind aus der wegfliegenden Glut keinen Flächenbrand machte. Aber jetzt war ihr Schlafplatz verwaist. „Sie ist weg“, stellte Zaku verwundert, aber korrekterweise, fest.

„Wohin?“

„Ich weiß nicht.“

Er zog die Stirn in Falten. „Macht sie das häufiger?“

„Nein. Das ist das erste Mal“, murmelte die Göttin und grübelte dabei sichtlich, was das bedeuten könnte.

Ryuka ließ den Blick wieder schweifen, entdeckte den Pandabären aber nirgends. Es war allerdings auch noch viel zu dunkel, um recht weit sehen zu können.

„Ich werde sie suchen gehen“, entschied Zaku.

„Du meinst: 'WIR werden sie suchen gehen'.“

„Das wollte ich nicht voraussetzen. Es ist lieb, wenn du mitkommen willst, aber du musst es nicht. Ich kann auf mich aufpassen.“

„Das habe ich gesehen“, kommentierte Ryuka zynisch.

Zaku rollte mit den Augen. „Du vertraust mir nicht.“

„Für eine Göttin bist du jedenfalls recht schutzbedürftig.“

Sie zeigte auf die Spuren am Boden. „Zum Glück hat es geschneit“, meinte sie nur, um das lästige Thema zu umgehen.

„Erstaunlich. Ich wusste gar nicht, daß Geister im Schnee Spuren hinterlassen.“
 

„Ich hätte mir was Wärmeres zum Anziehen mitnehmen sollen“, maulte Ryuka, der krampfhaft die Arme vor der Brust verschränkt hatte, um seine Körperwärme beisammen zu halten. Er hatte sich zwar immerhin noch Schuhe angezogen und einen Yukata übergeworfen, bevor sie losgelaufen waren, aber in der Schneelandschaft war das bei weitem zu wenig, wie er jetzt merkte. „Frierst du nicht?“, wollte er von Zaku wissen, die im leichten Kimono entspannt neben ihm herwanderte, mit Schneeflocken in den Haaren, und sich an dem eisigen Wind gar nicht zu stören schien.

„Nein. Wir Gottheiten sind halbwegs resistent gegen die Kälte.“

Ryuka nickte nur.

„Wir sind schon ganz schön weit vom Dorf weg“, meinte sie.

„Ja. Und es hat wieder angefangen zu schneien. Wenn wir Chirobi nicht bald aufspüren, werden wir den Rückweg nicht mehr finden, weil der Schnee alle Spuren zudeckt.“

„Wenigstens ist es inzwischen hell.“

„Hör mal, willst du ernsthaft in diesen Wald rein?“, sprach Ryuka endlich das Thema an, das ihm schon die ganze Zeit auf der Seele brannte. Den Wald auf der Anhöhe hatten sie schon eine ganze Weile aus der Ferne gesehen. Und langsam war klar, daß die Spuren des Pandas, denen sie folgten, direkterweise darauf zuhielten.

„Warum nicht?“

„Weil es ein Wald ist, und Winter?“

„Ach was. Der Schneefall hat erst gestern eingesetzt. Der Wald ist noch schneefrei und passierbar.“

„Um so schlimmer. Wenn da drin noch keine geschlossene Schneedecke liegt, werden wir Chirobi da drin erst recht nicht finden. Weil wir dann keine Spuren mehr haben, denen wir folgen könnten.“

Zaku winkte ab und deutete stattdessen vor sich in den Schnee. „Sieh dir das an. Fußspuren von einem Menschen.“

Tatsächlich, stellte Ryuka erstaunt fest. „Ist Chirobi in Begleitung?“

„Ich glaube eher, sie hat jemanden verfolgt“, überlegte Zaku und schaute zurück, um abzuschätzen, seit wann die Fußspuren sich schon dazugesellt hatten. Chirobi war direkt über die Fußspuren des Menschen gelaufen und hatte sie damit halb verwischt, so daß sie beide gar nicht bemerkt hatten, daß sie eigentlich schon seit einer Weile zwei Fährten verfolgten.

„Zaku, ehrlich, wir sollten umdrehen. Wer weiß, mit wem Chirobi sich da angelegt hat. Ich habe keine Lust, es heraus zu finden. Wir sollten zurückgehen, solange unsere Spuren noch sichtbar sind.“

„Chirobi wird uns zurückführen, wenn wir sie gefunden haben.“

„Woher willst du wissen, ob sie überhaupt noch lebt?“, verlangte Ryuka ein wenig hysterisch zu wissen.

Zaku warf ihm einen Blick zu, der an seine Vernunft appellierte. „Sie ist ein Geist. Geister können nicht so einfach getötet werden. Jedenfalls nicht von euch Menschen.“ Ungerührt ging sie weiter.

Der Chef der Theater-Truppe stöhnte resignierend und ging notgedrungen mit. Er schlang die Arme fester um seinen kälteschlotternden Körper und machte sich dabei eine gedankliche Notiz, Zaku in Zukunft nicht mehr ständig retten und beschützen zu wollen. Es brachte ihm nichts als Ärger. Seine anfängliche Ehrfurcht vor der Tatsache, daß sie eine leibhaftige Gottheit war, war angesichts ihrer bodenständigen, viel zu menschlichen Züge schnell wieder gewichen.
 

„Oh“, machte Zaku nach ein paar Metern. „Siehst du, was ich sehe?“

„Das da wäre?“

„Eine Schlucht. Da vorn steht eine Hängebrücke ... oder was davon noch übrig ist.“

Ryuka musste gehörig die Augen anstrengen, um durch den Schleier sanft dahinrieselnder Schneeflocken etwas zu erkennen. Aber beim Näherkommen sah er es auch. Von der hölzernen Hängebrücke war nicht viel mehr übrig als ein einzelnes Hanfseil, das einst als Handlauf zur Sicherung gedient haben musste. „Warum baut jemand eine Brücke mitten ins Nirgendwo?“

„Wahrscheinlich war das früher kein Nirgendwo. Die Gegend scheint bloß seit einer ganzen Weile nicht mehr bewandert zu werden. Vielleicht gab es hier früher sogar eine Handelsstraße, die inzwischen unter Gras verschwunden ist. Wenn ich die Karten von Japan richtig im Kopf habe, liegen in dieser Richtung Hida und Takayama, beides wichtige Handelsposten.“

Der junge Mann stutzte. „Dazu müsste man tagelang quer durch´s Gebirge“, hielt er dann ungläubig dagegen. Als fahrender Künstler, der sein Leben lang auf Reisen gewesen war, hatte er natürlich auch ein bisschen Ahnung von den geographischen Gegebenheiten des Landes. „Das wäre total gefährlich.“

„Das ist vielleicht der Grund, warum man die Strecke aufgegeben hat und die Handelsstraße heute einen Umweg nach Süden macht.“

„Na schön. Aber egal wie man es dreht, ein Pandabär wird über diese Schlucht wohl kaum drübergekommen sein.“

„Doch, durchaus. Chirobi kann verschwinden und drüben auf der anderen Seite wieder erscheinen“, erzählte das Mädchen derart selbstverständlich, als wäre das was ganz Normales. „Sie ist ein Geist“, fügte sie dann auf Ryukas dummen Blick hin noch an. „Und ja, ich kann das auch, verschwinden und wo anders wieder erscheinen. Ich bin eine Gottheit.“

„Aha. Also seid ihr Gottheiten uns Menschen doch irgendwie überlegen.“

„Hast du daran gezweifelt?“, zog Zaku ihn mit einem albernen Grinsen auf. Inzwischen waren sie an der Schlucht angelangt und schauten sich die Misere aus der Nähe an. Der Schnee war aufgewühlt, als hätte es einen Kampf gegeben. Es leuchteten sogar ein paar rote Blutflecken im Eis. Aber die Fußspuren gingen auf der anderen Seite der Schlucht weiter und führten in den Wald hinein. „Tja, wer auch immer das war, Chirobi hat ihn offenbar erwischt.“

„Er hat sich wohl über das Seil nach drüben gerettet.“

„Das dürfte ihm nichts genützt haben“, überlegte Zaku leise und schaute in die Schlucht hinunter. Unten floss ein kleiner Bach, der noch nicht zugefroren war, und es lag ein herrenloses Bündel am Ufer. „Ich geh mal gucken, was das ist.“

Ein Wimpernschlag und sie war spurlos verschwunden, als hätte sie nie hier gestanden. Erstaunt schaute Ryuka nach unten und fand die Gottheit unten am Wasser, wie sie sich gerade nach dem Bündel bückte und es öffnete. Sie betrachtete kurz den Inhalt und ... stand plötzlich wieder neben Ryuka, der sich tierisch erschreckte.

„Das ist ein Teil meines Tempelgoldes“, berichtete sie und ließ ihn einen Blick auf den blitzenden Inhalt werfen, bevor sie das Tragetuch wieder verschnürte. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Chirobi jagt den Kerl mit der Narbe im Gesicht.“

„Dann sollten wir wohl weiter nach ihr suchen.“

„Kommst du denn da rüber?“, fragte sie mit Deut auf das Seil nach, das als letztes Überbleibsel der Hängebrücke noch die schmale Schlucht überspannte.

„Ich hab früher mal Hochseiltanz gelernt. Bei der fahrenden Theater-Truppe hatte ich bloß keine Verwendung mehr dafür. Man kann so eine Seilkonstruktion auch unterwegs aufbauen. Damit die das Gewicht eines Menschen trägt, ohne zusammen zu klappen, wäre das zwar ein ziemlich aufwändiges Konstrukt aus Fixierungsleinen, die nur haltbar genug verankert werden müssen, aber wir wollten so eine Anlage nicht ständig mit uns rumschleppen. Unsere Bagage und das ganze Bühnenholz waren auch so schon schwer genug.“ Ryuka schaute wieder in den Abgrund hinunter und blies die Wangen auf. „So hoch war ich mit meinem Seil allerdings noch nie.“

„Du hast ja immerhin die Göttin der Künste an deiner Seite. Ich pass schon auf dich auf, daß du heil da rüber kommst, ohne abzustürzen. Ich versichere dir, daß dir der Seiltanz gelingen wird.“

„Deine moralische Stütze alleine wird mich auch nicht auffangen“, grinste Ryuka. „Ich sollte mich besser kopfüber hängend rüber hangeln, so wie es der andere Kerl vermutlich auch gemacht hat.“

„Du weißt doch, worauf es beim Seiltanz ankommt. Nicht auf das Seil schauen, sondern auf das gegenüberliegende Ende drüben. Den Fuß längs auf das Seil setzen, nicht quer. Und am besten leicht in die Knie gehen, für die Balance.“

„Ja, ist mir alles klar. Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn ich zumindest eine Balance-Stange hätte.“

Zaku streckte ihm beide Hände hin. „Komm her, ich halte dich“, schlug sie vor. Langsam wurden ihre Haare und Augen wieder weinrot und sie wurde in einen leichten Lichtschein eingehüllt. Sie zeigte sich wieder als die Gottheit, die sie war, um ihm Vertrauen zu geben. Sie war die Göttin der Kunst, das hier war ihr Metier. Ihr Handwerk. Sie konnte nicht abstürzen. Und selbst wenn er straucheln sollte, würde er es nicht schaffen, sie mit sich in die Tiefe zu reißen. Sie würde ihn in jedem Fall halten können, das sollte er spüren. Ruhig und zwanglos ging sie rückwärts auf das Seil zu und zog den Schauspieler einfach mit sich. Ohne, daß sie hinsehen musste, fand ihr Fuß das Seil, das ein Jô weit von der Schlucht entfernt mit einem massiven Holzpflock in den Boden getrieben war und beinahe auf der Klippenkante auflag, so daß man bequem aufsteigen konnte.

„Das Seil ist nicht sehr straff gespannt ...“, bemerkte Ryuka unwohl, ließ sich aber trotzdem widerstandslos mitziehen.

„Ich weiß. Mach dir keine Sorgen darum“, gab Zaku mit warmer Stimme und einem zuversichtlichen Lächeln zurück und zog ihn auf das Seil hinauf.

„Zu zweit auf dem Seil zu stehen, macht es nicht gerade einfacher, die schaukelnden Bewegungen des Seils auszubalancieren.“

„Es wird nicht schaukeln.“

„Na, du bist ja optimistisch ...“

Sicher und gelassen setzte Zaku einen Fuß hinter den anderen und spazierte förmlich blind rückwärts über das Seil, die ganze Zeit Ryuka mit beiden Händen stützend. Und anfangs nahm er es auch vertrauensvoll an. Als sie mittig über der Schlucht waren, konnte er es allerdings doch nicht mehr unterlassen, sich umzusehen. Sofort packte ihn ein Schwindelgefühl und er verwackelte seine Balance. Sein Gleichgewicht sackte ins Leere, als das Seil unter ihm zur Seite wegschwang. Aber Zaku stabilisierte ihn auf der Stelle wieder, scheinbar ohne große Mühe damit zu haben.

„Wuuoooh!“, stöhnte der junge Mann schockiert und pendelte sich wieder aus.

„Nicht nach unten sehen.“

„Nein, lieber nicht, da hast du Recht.“ Einen Moment lang fragte er sich, wo Zaku eigentlich das gefundene Bündel mit dem Tempelgold hingepackt hatte, und ob O-Shikara schon wach war und nach ihnen suchte, ermahnte sich dann aber, sich wieder auf das Seil zu konzentrieren. Konzentration war das A und O auf dem Hochseil.

Als Ryuka sicher und heil auf der anderen Seite angekommen war, merkte er deutlich, wie eine ungeheure Anspannung von ihm abfiel. Über einen metertiefen Abgrund zu balancieren, war schon ein herber, psychologischer Faktor. Anders als auf der lächerlichen Seilanlage. „Oh Mann ... muss ich da nachher wirklich wieder zurück?“

„Was denn? Du hast das doch gut gemacht“, sprach Zaku ihm Mut zu, die inzwischen schon wieder ihre normalmenschliche Erscheinung angenommen hatte.
 

Trotz der kaum noch bunten, größtenteils schon kahlen Bäume lag kein Schneekörnchen im Wald. Der Wind hatte es noch nicht geschafft, den Frost ins Holz zu treiben. Alles wirkte irgendwie tot und trostlos. Obwohl sie keinerlei Spur mehr hatten, die sie hätten verfolgen könnten, marschierte Zaku zielstrebig weiter. Sie schien sehr genau zu wissen, wohin sie musste.

Plötzlich brach ein riesiges Tier durch die Büsche und stürmte brüllend auf sie zu. Ryuka machte schreiend einen Satz zur Seite, so daß der schwarz-weiße Bär Zaku erwischte und zu Boden riss. Auf allen Vieren über dem Mädchen stehend schlabberte er ihr quer durch das Gesicht.

Zaku lachte laut auf und begann sich zu winden. „Chirobi, hör auf, das kitzelt! Benimm dich!“, verlangte sie.

Ryuka versuchte hyperventilierend seinen rasenden Herzschlag wieder zu beruhigen. Mann, hatte der Tiergeist ihn erschreckt!

„Chirobi, du versaust meine ganze Schminke!“, jaulte Zaku gespielt protestierend weiter. Da ließ der Panda von ihr ab und sie konnte sich zumindest wieder aufsetzen. „Was tust du hier? Warum bist du aus dem Lager verschwunden?“

Chirobi quäkte bedauernd, dann schnaubte sie.

„Ich weiß. Wir haben das Tempelgold im Fluss gefunden. Hast du ihn erwischt?“, hakte sie nach. Sie konnte mit dem Pandabären tatsächlich reden???

Der Tiergeist machte Kehrt und trabte davon. Ryuka und Zaku hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Sie kämpften sich noch ein ganzes Stück weiter in die Tiefen des Waldes vor, bis Chirobi stehen blieb und nach oben schaute.

Zaku schlief kurz das Gesicht ein. Da oben in den Wipfeln baumelte ein Mann kopfüber an einem Bein aufgehangen.

„Meine Güte ... Ist der tot?“, keuchte auch Ryuka erschrocken.

Zaku nickte. „Er ist mit dem Fuß in eine Schlingfalle geraten. Hat sich wohl das Genick gebrochen, als er in die Höhe gerissen wurde.“

Chirobi heulte wieder wehleidig auf.

„Ich weiß, daß du ihn mir lieber lebend bringen wolltest, Chirobi“, murmelte Zaku abgelenkt und tätschelte dem alten Panda den Kopf. „Das ist nicht deine Schuld.“

„Wer baut hier mitten im Nirgendwo solche Fallen auf?“, empörte sich Ryuka. „Leben hier draußen noch wilde Naturvölker?“

„Ich glaube, wir sollten nicht hier bleiben, bis wir das rausfinden. Lass uns gehen“, trug sie ihm schaudernd auf, riss sich von dem Anblick des baumelnden Toten los und schlug den Rückweg ein.

Ryuka sah ein paar Mal zwischen Zaku und dem Toten hin und her. Wieso hatte Zaku es plötzlich so eilig, hier wieder weg zu kommen? Dabei fiel ihm auf, daß er Zaku ziemlich häufig nicht verstand. Schulterzuckend schloss er sich dem Mädchen also an. Was hätte er auch sonst tun sollen? Den Toten herunterholen? Da hatte er irgendwie keine Lust drauf.



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