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Die Wander-Geisha

von

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Straße nach Shirakawa-Go

„Übrigens, wenn ich das mal erwähnen darf: wir werden verfolgt.“

Ryuka und O-Shikara fuhren schlagartig herum. Beide starrten eine Weile vergeblich zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Auf die Schnelle sahen sie niemanden. Dann stapfte der Muskelprotz plötzlich mit einem Brummen los, auf eine etwas entfernte Hecke zu. Die Hecke begann sich zu schütteln. Dahinter tauchte ein Junge mit einem geschnürten Bündel auf und ergriff die Flucht. O-Shikara beschleunigte seine Schritte, um ihn trotzdem einzuholen und zu schnappen. Und da er sehr viel größere Schritte machen konnte, erwischte er ihn auch ziemlich schnell.

„Lass mich los, du Grobian! Ich hab dir gar nichts getan!“, jaulte Yoji, als er zu der fahrenden Theater-Truppe zurückgeschleift wurde.

Ryuka erwartete die beiden mit verschränkten Armen und humorloser Mimik.

„Dann erklär mir mal, warum du wegrennst!“, verlangte O-Shikara zu wissen.

„Weil du hinter mir her warst! Da würde jeder Angst kriegen!“

Ryuka maß ihn mit einem geradezu richterlichen Blick und fragte dann ruhig: „Warum folgst du uns?“

„Tu ich nicht“, erklärte der Bauernjunge trotzig. „Ich kann ja nichts dafür, wenn ihr unbedingt in die gleiche Richtung reisen müsst wie ich.“

„Das glaub ich dir auf´s Wort, nachdem du uns heute früh gefragt hast, ob du dich uns anschließen kannst, und wir dich abgewiesen haben.“ Ryuka seufzte still in sich hinein. Was sollte er mit dem Jungen machen? „Geh wieder nach Hause“, bat er ernst. Auch wenn er vermutete, ihn zurück zu schicken würde genauso wenig fruchten wie die Anweisung heute morgen, gar nicht erst mitzukommen.

„Ich geh nicht zurück. Und ihr könnt mich auch nicht dazu zwingen. Selber Schuld, wenn ihr zufällig die gleiche Route einschlagt wie ich.“

Ryuka und O-Shikara tauschten vielsagende Blicke. Dann brummte der Chef der Theater-Truppe ein leises 'meinetwegen' und machte sich übergangslos wieder auf den Weg, um weiter zu gehen.

„Lass mich eins klarstellen, Junge“, meinte O-Shikara. „Du bist ein Paria! Wenn irgendjemand auftaucht, der nach dir sucht, werden wir dich verleugnen. Wenn einer fragt, wissen wir nicht, wer du bist oder woher du kommst. Wir haben keine Lust, unseren Kopf für dich hinzuhalten.“ Mit diesen Worten stapfte er Ryuka nach, ohne auf eine Antwort oder einen Einwand zu warten.

„Ein 'willkommen bei uns' hätte es auch getan“, maulte Yoji.

„Du BIST nicht willkommen!“

„Schon klar.“ Yoji wandte sich Zaku zu und strahlte sie freudig an, in der Hoffnung, daß wenigstens sie ihm wohlgesonnen wäre. Sie war ja schließlich eine Frau. Frauen hatten immer irgendwie Mutterinstinkte, wenn sie jemanden zum beschützen hatten. Aber auch die ging nur missmutig weiter.
 

Die Truppe war den ganzen Nachmittag unterwegs, nur unterbrochen von kurzen Rasten. Gelegentlich zogen Zaku und Ryuka gemeinsam den Karren, damit O-Shikara sich etwas ausruhen konnte. Dann übernahm er das Gefährt wieder. Ohne Pferd war es doch recht mühsam, so einen Karren quer durch das halbe Land zu zerren. Aber die alte Chirobi wollten sie damit nicht belasten. Ihr Neuzugang Yoji bildete allzeit das einsame Schlusslicht. Keiner redete mit ihm. Nicht darüber, ob er etwas Bühnentaugliches konnte oder wie er sich die Arbeit in einer Theater-Truppe überhaupt vorstellte, und auch sonst über nichts. Sie waren immer noch ein wenig sauer darüber, daß er sie so dreist vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.

Irgendwann schloss Ryuka zu Zaku auf, die stets energiegeladen vorweg eilte, wenn sie nicht gerade half, den Karren zu ziehen. „Hör mal, Mädchen. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber wer bist du wirklich? Oder sollte ich besser fragen 'was'?“

Sie warf ihm einen prüfenden Seitenblick zu. „Präzisiere die Frage!“

„Naja ... Wo soll ich anfangen? Du bist mit einem Tiergeist unterwegs, du kannst Musikinstrumente aus dem Nichts herbeiholen – und ich kaufe dir nicht ab, daß das ein Taschenspieler-Trick ist! – du kannst tanzen und Instrumente spielen, wie es kein profaner Tempeldiener können sollte ...“ Ryuka deutete mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. „Du kannst Leute mit einem einzigen Blick einschätzen. Und du bemerkst Dinge, die keinem anderen Menschen auffallen. Wie hast du mitbekommen, daß Yoji uns folgt?“

Zaku atmete nur tief durch und wirkte dabei ein wenig ertappt.

„Jedes für sich genommen würde mich vielleicht gar nicht skeptisch machen. Aber die schiere Masse der seltsamen Fähigkeiten, die du hast, macht mich hellhörig. Du scheinst normalen Menschen irgendwie auf undefinierbare Weise überlegen zu sein. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du bist eine Dämonin, eine Yokai“, fuhr Ryuka überzeugt fort. Nun hatte er das Thema einmal angeschnitten, nun würde er es auch bis zu Ende mit ihr ausdiskutieren.

Zaku schaute kurz zurück zu O-Shikara und Yoji, um einzuschätzen, ob die beiden in Hörweite waren. „Hast du manchmal Lust, der neue Priester unserer Göttin Zaku, der Gottheit der Kunst, zu werden?“

„Gott, nein, das wäre mein Albtraum“, lachte Ryuka auf. „Ich bin nicht dafür gemacht, in einem Tempel eingesperrt zu werden. Ich brauche die Freiheit, das weite Land, das Reisen, die Bühne und mein Publikum, sonst bin ich totunglücklich.“

Zaku nickte verstehend.

„Außerdem ist das Priestertum matriarchalisch geführt. Das ist Frauensache. Da habe ich nichts zu suchen“, fügte er an. „Warum fragst du? ... Und überhaupt, was hat das mit dem Thema zu tun?“

„Komm heute Nacht in mein Zelt. Dann erkläre ich dir alles, was du wissen willst. Pass nur auf, daß dir keiner der beiden folgt“, bat sie mit Deut auf O-Shikara und Yoji.

Ryuka verengte argwöhnisch die Augen. „Du und ich, alleine, nachts? Will ich wissen, worin das enden wird?“

„In nichts, was du nicht auch wollen würdest. Versprochen“, schmunzelte Zaku ihn verschwörerisch an.

„Du bist echt komisch“, stellte der junge Chef fest. „Du wirst immer mysteriöser.“
 

Weil sie Shirakawa-Go heute ohnehin nicht mehr erreichen würden, richteten sie sich bereits am frühen Nachmittag ihr Lager ein, stellten die Zelte auf und nutzten die Zeit bis Sonnenuntergang dazu, an einem neuen Bühnenprogramm zu arbeiten, das sie zu zweit oder zu dritt bestreiten konnten, denn ihr Neuzugang zählte ja hochwahrscheinlich noch nicht als bühnenreif.

Zaku spielte für Ryuka das Shamisen, damit der sich einen neuen Tanz choreographieren konnte, der es ihm erlaubte, seine Tengu-Rolle pantomimisch darzustellen. Denn alleine auf der Bühne zu stehen und einfach nur Märchen zu erzählen, machte so ganz ohne alles eben nichts her. Da die beiden damit gut beschäftigt waren, blieb es an O-Shikara hängen, den Nachwuchs unter seine Fittiche zu nehmen.

Der Muskelprotz verschränkte die Arme und musterte Yoji finster. Der Junge war für sein Alter recht klein und – wie die meisten unter Entbehrung und Armut leidenden Bauernjungen – dürr wie ein Gerippe. Seine Haare waren herausgewachsen und verwildert. Er hatte ein kräftiges, breites Kinn und eine verwegene Nase, die nach einer langen Raufbold-Karriere aussah. Ein kleiner Giftzwerg also, der kein Eltern hatte, die ihm Manieren hätten beibringen oder auf ein gepflegtes Äußeres hätten achten können. „Na schön, Kamerad“, meinte O-Shikara. „Dann erzähl doch mal, wie du dir das Leben bei uns vorgestellt hast. Was willst du machen? Zu was bist du zu gebrauchen?“

„Ich weiß nicht“, gab er grinsend zu. „Aber ich bin lernfähig. Sagt ihr mir, was ich können soll, und ich lege los!“

O-Shikara stöhnte missmutig in sich hinein. Auch das noch. Der Junge konnte noch nichtmal irgendwas und musste erst alles beigebracht kriegen. „Gut. Ich bin groß und stark, du bist klein und leicht. Versuchen wir eine Akrobatik-Nummer. Ich werfe dich durch die Luft und fange dich wieder auf.“

„Und was soll ich machen?“, hakte Yoji schockiert nach. Er wurde schlagartig ziemlich grün um die Nase.

„Einen Salto meinetwegen. Versuch dir einfach nicht das Genick zu brechen“, legte der bärtige Hüne fest, packte den Jungen mit beiden Händen um die Taille und hob ihn mühelos hoch, um ihn in der Luft zu wenden und ihn sich auf die Schulter zu setzen wie einen Papagei.

„Ach du heiliges bisschen Reisfeld!“, keuchte der Junge überfordert.

„Gib mir deinen Fuß. Ich werfe dich nach vorn-oben und du kommst mit einem Salto wieder auf dem Boden auf!“

„Bitte was!?“

O-Shikara wartete gar nicht erst auf Proteste, sondern holte Schwung.

Yoji begann schreiend zu zappeln und zu rudern, wodurch er durch O-Shikaras Griff rutschte und ungelenkig zu Boden klatschte. „Aua ...“

„Du Pflaume! Stillhalten musst du schon! Wie soll ich dich sonst werfen?“, maulte der Muskelprotz ihn voll.

„He, O-Shikara, lass den Jungen leben!“, verlangte Ryuka aus einigen Metern Entfernung, der das Spektakel mitbekommen hatte.

Yoji stöhnte und rieb sich den angeschlagenen Ellenbogen. „Ich glaube, ich bleibe lieber bei Bodenakrobatik.“

„Nagut!?“, erwiderte O-Shikara sichtlich zweifelnd. „Einen Kontorsionisten können wir immer gut brauchen.“

„Einen was?“

„Kontorsionistik ist die Fähigkeit, alle seine Körperteile wie wild zu verdrehen und zu verbiegen. Schlagenmenschen quasi.“

„Das kann ich nicht ...“, jammerte der Neue in böser Vorahnung.

„Oh, wenn ich mit dir fertig bin, kannst du das, verlass dich drauf! Ist nur eine Frage der Dehnung!“, drohte O-Shikara und zog ihn wieder vom Boden hoch. „Beginnen wir mit ein paar leichten Aufwärm-Übungen wie dem Fleischerhaken!“ Er verdrehte Yojis Arme nach hinten und mangelte sie ihm auf dem Rücken zu einem handlichen Paket zusammen. Der Junge schrie schmerzerfüllt auf.

„O-Shikara, lass ihn bitte in einem Stück!“, rief Ryuka wieder herüber.

„Die Mimose soll sich nicht so anstellen!“, gab der nur sorglos zurück. „Der ist doch kein Mädchen!“
 

Inzwischen war es dunkel geworden und der erste Schneefall hatte eingesetzt. Dieses Jahr wurde es verdammt zeitig kalt, dachte Zaku beunruhigt und stocherte im Lagerfeuer herum, damit es höher brannte. Sie hoffte inständig, daß sie ihre Reise nicht wegen des Wintereinbruchs vorzeitig abbrechen mussten. Ihr selbst machte die Kälte ja nichts aus, als Göttin war sie immun dagegen, aber die Männer würden vor dem Frost sicher schnell kapitulieren. Ryuka lief jetzt schon in dem am dicksten gefütterten Gewand herum, das er in die Finger bekommen hatte, und verkroch sich so viel wie möglich im windgeschützten Zelt. Dabei hatte der Winter noch gar nicht richtig begonnen.

Mit einem müden 'Hallo' ließ Yoji sich neben ihr auf den Boden plumpsen und wärmte sich die Hände am Feuer.

Zaku schaute auf ihn herunter. „Hi. Na, wie läuft es?“

„Was?“

„Deine Akrobatik-Übungen. Konnte O-Shikara dir schon einiges beibringen?“

Der Junge winkte nur ab. Wie er da am Feuer auf dem blanken Boden hockte und sich die Hände wärmte, wirkte er wieder wie der 15-Jährige, der er war. Noch ein halbes Kind. Auch wenn das Leben ihn schneller hatte erwachsen werden lassen. „O-Shikara sagt, bei mir reicht es bestenfalls zur Witzfigur.“

Zaku lachte leise.

„So hab ich mir das Leben in einer fahrenden Theater-Truppe ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Ich wollte kein Akrobat werden und Kunststückchen aufführen. Ich wollte schauspielern. Echtes Theater, weißt du?“, fuhr er traurig fort.

„Ja, ich weiß. Aber dazu ist unsere Gruppe im Moment zu klein. Wir sind zu wenig Leute für ein vernünftiges Theaterstück.“

„Verstehe.“ Einen Moment war es ruhig zwischen ihnen beiden. Nur das Knacken des brennenden Holzes durchbrach die Dunkelheit.

„Es ist noch gar nicht so lange her, da war diese Truppe viel größer“, begann Zaku sentimental zu erzählen. „Vierzehn Männer hat sie gezählt. Und sie waren verdammt gut. Aber sie sind alle verloren gegangen, in einer einzigen Nacht. Die beiden sind die letzten, die noch übrig sind. Sieh es ihnen nach, wenn sie manchmal etwas launisch wirken oder ungeduldig mit dir sind. Sie haben viel durchgemacht.“

„Stimmt es, was O-Shikara mir erzählt hat? Ihr habt in einem Tempel übernachtet und der wurde überfallen und niedergebrannt? Und alle, die drin waren, sind gestorben oder in alle Himmelsrichtungen versprengt worden?“

„Ja, das stimmt“, seufzte sie. „Nichtmal die Priesterin des Tempels wurde verschont. ... Das hat er dir erzählt? Warum?“

„Ach ...“, druckste der Junge etwas verbittert herum. „Er sagte, du stammst aus diesem Tempel. Der Tempel der Gottheit der 'Schönen Künste' soll es gewesen sein. Und ich soll dich fragen, ob du die große Göttin Zaku um ihren Segen bittest. Er meint, ich wäre dermaßen talentfrei, daß nur noch ein Gott mir helfen könnte, ein halbwegs passabler Schauspieler zu werden.“

Zaku verkniff sich ein Lachen. Wenn O-Shikara nur wüsste, wie richtig er mit dieser Einschätzung lag. Und Ryuka schien es auch langsam zu begreifen.

„Was bedeutet eigentlich 'Schöne Künste'?“, wollte Yoji wissen, als er von der Geisha keine Antwort erhielt. „Ist Kunst nicht immer schön? Das muss doch nicht extra dazugesagt werden, oder?“

„Oh, doch, es gibt auch andere Künste als die 'Schönen Künste'. Die schönen Künste sind alles das, was man nur zum Vergnügen und wegen der Ästhetik macht, um sich daran zu erfreuen oder sich zu verwirklichen. Malen, Singen, Flöte spielen. Es gibt aber auch so Künste wie das Bushido, die Kriegskunst. Du kannst sagen was du willst, schön ist die nicht. Oder ganz praktische Künste wie das Holz-Zimmern oder das Metall-Schmieden. Das macht man nicht der Ästhetik wegen, sondern um gute, verwendbare Nutzgegenstände herzustellen. Um Häuser oder Werkzeuge zu bauen. Selbst der Ackerbau ist in gewisser Weise eine Kunst. Das kann nicht jeder, das muss man lange und mühsam erlernen.“
 

Ryuka musste ein Gähnen unterdrücken. Dabei war es noch gar nicht so spät. Sicher, sie hatten sich bereits in ihre Zelte zurückgezogen, um langsam die Nachtruhe ins Auge zu fassen, aber es war nicht so, als ob sie schon alle im Tiefschlaf hätten sein sollen. Er hatte O-Shikara gebeten, den Jungen im Zelt festzuhalten, und auch selbst nicht heraus zu kommen. Und wie er O-Shikara kannte, gehorchte er solchen Anweisungen seines Chefs auch zuverlässig. Trotzdem blieb er noch eine Weile draußen stehen, teils um zu warten, ob sich bei den beiden was tat, teils um seine Gedanken zu sammeln. Er hatte keine Ahnung, was jetzt gleich auf ihn zu kam. Er konnte sich auf alles und nichts gefasst machen. Zaku hatte versprochen ihm 'alles zu erklären'. Das suggerierte Übles. Entweder sie hatte maßlos übertrieben, oder er konnte sich jetzt warm anziehen.

Nachdem bei O-Shikara und Yoji alles ruhig blieb, trat Ryuka also an das 'Frauenzelt' heran, das Zaku für sich alleine hatte, und puffte mit der flachen Hand gegen die Zeltbahne, um auf sich aufmerksam zu machen. „Zaku? Bist du da?“ Die Frage war nicht ganz unberechtigt, denn drinnen war es still und stockdunkel. Nichtmal eine Kerze hatte sie angebrannt.

„Ja, komm rein“, rief es halblaut.

„Bist du audienzfähig?“

„Natürlich“, gab Zaku empört zurück. „Glaubst du, ich würde dich reinbitten, wenn ich nicht ordentlich angezogen und hergerichtet wäre?“

„Man wird ja noch fragen dürfen“, grinste Ryuka amüsiert, als er seinen Kopf zum Zelteingang hereinsteckte. Als er wirklich nichts Anstößiges vorfand, folgte auch der Rest von ihm und er kam ganz herein. Immerhin, nachts mit ihr allein, das hatte ihm durchaus Grund zur Besorgnis gegeben.

„Kerle! Ihr denkt immer nur mit eurem edelsten Teil.“

„Wer hat mich denn um so eine Tageszeit herbestellt und drauf bestanden, daß ich ohne Begleitung erscheine?“ Ryuka schaute sich verstohlen um, in der Hoffnung, heraus zu finden, was sie hier getrieben hatte, bevor er gekommen war. Aber es lagen keine Gegenstände herum, die auf irgendwelche Aktivitäten hingedeutet hätten. Es schien, sie hätte tatsächlich auf ihrer Sitzmatte herumgesessen und einfach nur tatenlos gewartet, daß die Zeit verging. Vielleicht hatte sie ja meditiert, das würde ausnahmsweise mal zu einer Tempeldienerin passen. Er pflanzte sich unaufgefordert ihr gegenüber auf den Boden und schaute sie erwartungsvoll an. Vom Lagerfeuer draußen kam noch genug Licht herein, daß er sie auch ohne Kerzen problemlos erkannte. „Also, da bin ich.“

Zaku nickte. Und holte vernehmlich Luft. „Ich breche für dich jetzt ein Gebot. Ich werde dir etwas zeigen, was du nicht sehen solltest. Und ich bitte dich, ruhig zu sein.“

Ryuka runzelte die Stirn. „Wird das gefährlich?“

„Nein. Nur unerwartet.“

„Okay!?“ Der junge Mann mit den langen, offenen Haaren zog sogar in Betracht, es hier mit keinem Menschen, sondern einem überirdischen Wesen zu tun zu haben. Er wusste beim besten Willen nicht, was jetzt noch unerwartet sein könnte. Aber er war offen für Überraschungen.

Zaku legte die Hände aneinander, als wolle sie beten, und schloss die Augen.

Ryuka blieb akut die Luft weg, als ihre Haare plötzlich zu einer wilden Löwenmähne hochstachelten, eine rubinrote Farbe annehmen und sie von einem ursprungslosen Lichtschimmer wie von einer Aura umgeben wurde. Ihre Gesichtszüge waren plötzlich ebenmäßiger, auch wenn man sie immer noch wiedererkennen konnte. Der Theater-Kimono wirkte auf einmal unglaublich edel, einfach nur aufgrund ihrer gesamten Ausstrahlung.

„Du bist eine Gottheit“, keuchte Ryuka fassungslos und immer noch völlig außerstande, irgendwie adäquat zu reagieren. Er einzige Grund, warum er nicht schrie, war der, daß er nicht in der Lage dazu war.

„Ich bin Zaku. Die Göttin der Schönen Künste.“ Ihre Stimme hallte nach wie der Anschlag einer Glocke. „Normalerweise darf nur mein Orakel mich in meiner wahren Gestalt sehen. Oder überhaupt mit mir in Kontakt treten, in dem Wissen, daß ich es bin. Für die normalen Menschen, wenn ich mich unter ihnen bewege, bin ich gleichwohl ein ganz normaler Mensch.“

Ryuka hatte immer noch vor Staunen den Mund aufgesperrt. „Darum hast du mich gefragt, ob ich dein Priester werden will. Damit du dich mir zeigen darfst“, brachte er gerade so mit Mühe hervor.

„Das wäre schöner gewesen, ja.“

Endlich setzte bei dem Darsteller das klare Denken wieder ein. Er kippte aus seinem Kniesitz nach vorn, so daß er fast mit der Nase den Boden berührte, und begann ihr hektisch zu huldigen. Schlagartig legte ein paar Höflichkeitsstufen zu. „Es tut mir leid, daß ich Euch nicht eher erkannt habe, meine Göttin. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Begleitung ich mich befinde. Hätte ich auch nur den geringsten Verdacht gehabt, würde ich mich Euch gegenüber anders verhalten haben. Ich entschuldige mich tausendfach für mein unangemessenes Benehmen.“

„Unsinn. Setz dich wieder auf!“, verlangte Zaku. „Du hättest mich nicht erkennen können. Ich habe dafür gesorgt, daß du es nicht kannst. Keiner von euch. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn die anderen beiden es nicht mitkriegen. Also ändere bitte nichts an deinem Verhalten. Benimm dich vor den beiden so, wie schon die ganze Zeit, sonst werden sie skeptisch.“

„Dürfen sie es nicht wissen?“

„NIEMAND darf es wissen!“, betonte Zaku streng.

Ryuka setzte sich vorsichtig wieder auf. Er spürte, daß er zitterte. Vor Anspannung oder Ehrfurcht oder warum auch immer.

„Hör zu. Ich mag eine Gottheit sein, aber auch die Macht von uns Göttern ist sehr begrenzt. Wir sind nicht allmächtig. Und auch wir können nicht immer überall sein. Es gibt sehr vieles, worauf wir keinen Einfluss haben. Um diese Verbrecher zu finden, die Natsuo getötet und meinen Tempel niedergebrannt haben, brauche ich Hilfe. Deine Hilfe, Ryuka. Ohne dich schaffe ich das nicht. Wirst du mir helfen?“

„Natürlich werde ich das!“, beeilte er sich zu bekräftgen. „Und ich werde auch Euer Priester, wenn Ihr das wünscht.“

„Musst du nicht“, lächelte Zaku und nahm wieder ihre harmlose, unverfängliche Form als Mensch an. Schwarze Haare, dunkelbraune Augen, nichts besonderes. „Du hast gesagt, daß du in einem freien Leben glücklicher wärst, und das gönne ich dir. Um ehrlich zu sein, würde mir und der Welt viel verloren gehen, wenn du deine Theater-Karriere beenden würdest. Es wäre schade um dein Talent.“

„Was wirst du tun, wenn du meiner Hilfe nicht mehr bedarfst?“, wollte Ryuka vorsichtig, fast furchtsam wissen. „Du sagst, ich dürfte nicht wissen, wer oder was du wirklich bist. Bringst du mich dann um?“

„Nur wenn du nicht in der Lage bist zu schweigen.“

Ryuka verneigte sich wieder mit der Stirn bis zum Boden hinunter. „Ich habe verstanden.“



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