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Die Wander-Geisha

von

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Orakelhalle

„Ah. Hallo, Frau Tanaka.“

„Hallo, Natsuo.“

„Was führt euch denn in meinen Tempel?“, wollte die junge Priesterin irritiert wissen, als das Mütterchen mit einem großen Weidenkorb auf dem Rücken vor der 'Orakelhalle' auftauchte. Die betagte, buckelige, gebrechliche Frau war eine einfache Bäuerin und verkaufte, was ihre bescheidenen Felder ihr bescherten. Aber Lieferservice war neu.

„Es ist Dienstag. Ich will meinen kleinen Verkaufsstand heute eher schließen, ich kann nicht auf dich warten. Aber du musst essen, Kind. Daher dachte ich, ich bringe dir noch etwas vorbei, bevor ich für heute Schluss mache.“

„Meine Güte, das ist zu freundlich“, bemerkte Natsuo hingerissen. Die Öffnungszeiten ihres Tempels erlaubten es ihr für gewöhnlich nicht, Lebensmittel einkaufen zu gehen, bevor die Stände von den Straßen verschwanden. Daher ließ Mütterchen Tanaka ihren Stand dienstags gern immer extra lange geöffnet, bis Natsuo angehechtet kam und schnell noch etwas kaufte.

„Und außerdem will ich auch gleich noch beten, wenn ich schonmal hier bin“, fügte die Alte an und zeigte ein fast zahnloses Grinsen.

Natsuo nahm ihr den Korb ab und begann den Inhalt auszuleeren. „Wofür könntet ihr denn zur Göttin der Künste beten wollen?“, wollte sie amüsiert wissen. Dieser Tempel hier war einer lokalen Gottheit, Zaku, der Göttin der Kunst, geweiht, die sich über die Grenzen des Dorfes hinaus kaum einen Namen gemacht hatte.

„Für meinen Jüngsten“, erklärte Mütterchen Tanaka.

„Will er sich etwa immer noch einer fahrenden Theater-Truppe anschließen?“

„Ja, will er.“

„Zaku wird ihn sicherlich beschützen“, lächelte die junge Priesterin, die selbst kaum alt genug war, um eigene Söhne zu haben.

„Das soll sie aber nicht!“, maulte Mütterchen Tanaka griesgrämig. „Ich bin hier, um Zaku um ihre Missgunst anzuflehen. Theater-Leute haben kein sicheres Auskommen. Und sie kümmern sich nicht um ihre armen, alten Eltern daheim. Sie sind Vagabunden und oftmals zum Betteln, Hausieren und gar Rauben gezwungen, um nicht zu verhungern. Das ist kein erstrebenswertes Leben. Zaku soll ihm diese Flausen austreiben.“

Natsuo seufzte. So konnte man das natürlich auch sehen. Erstaunlich viele besorgte Mütter kam mit ähnlichen Anliegen in diesen Tempel. Nur wenige gönnten ihren Sprösslingen ein müßiges Leben als Künstler.

Die grauhaarige Alte stapfte zur Orakelhalle, um sich ihrem Gebet zu widmen. Natsuo wollte sich derweile aufmachen, um etwas Geld aus der Tempelkasse zu holen, damit sie dem Mütterchen die mitgebrachten Lebensmittel bezahlen konnte. Aber die Alte rief ihr aufhaltend nach. „Natsuo, komm doch mit! Du musst mir den Reis und das Gemüse nicht bezahlen. Deute mir stattdessen lieber die Zeichen, ob Zaku meiner Bitte nachkommen wird!“

„Herrje ...“, seufzte die Priesterin unglücklich und trottete hinterdrein. Das mit dem 'Deuten der Zeichen' war nicht so einfach, wie die Leute sich das gemeinhin vorstellten. Die Gottheit Zaku stand ja nicht 24 Stunden am Tag zur Verfügung, um in der Orakelhalle zu sitzen und über die Befindlichkeiten ihrer Anhänger Gericht zu halten. Man konnte beten – und Zaku durchaus auch Fragen stellen –, aber die Antwort ließ oft lange auf sich warten. Natsuo hatte sich schon lange auf die Taktik verlegt, zu behaupten, die Zeichen seien wage und Zaku habe sich noch nicht entschieden, und versprach, an der Sache dran zu bleiben. Eindeutige Aussagen ad hoc machte sie nur selten.
 

Als Priesterin hatte Natsuo nicht unbedingt ein leichtes Los gezogen. Die Mehrheit der Japaner gingen nur noch um der Tradition Willen in die Tempel, um gewohnheitsmäßig zu irgendwelchen Göttern zu beten, an die sie schon lange nicht mehr wirklich glaubten. Und in der Tat, sie hatten auch keinen Grund mehr dazu. Die allermeisten Götter hatten sich von den Menschen abgewandt, hatten schon vor Jahrhunderten ihre Tempel verlassen und scherten sich nicht mehr um das, was die Welt ihnen zu sagen oder von ihnen zu erbitten hatte. Die Menschen brauchten die Götter nicht mehr. Sie waren erwachsen geworden und hatten sich von den Göttern abgenabelt wie Kinder, die ihr Elternhaus verließen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Und die Götter hatten es hingenommen und mit dem Aufgeben ihrer Pflichten darauf reagiert. Zaku war eine der wirklich, wirklich wenigen Götter, die noch in ihren Tempeln gegenwärtig waren und mit ihren Orakeln und Priestern in Kontakt standen.

Natsuo, selbst eine gute Shamisen-Spielerin, hatte sich zunächst gefreut, Priesterin einer wahrhaftigen Gottheit sein zu dürfen, die auch noch ihren Hang zur Musik unterstützte. Sehr bald hatte sie aber eingesehen, daß schweigsame Tempel, weiße Kleider und ein Leben ohne eigene Familie nicht ganz das waren, was sich ein Musiker unter dem Himmel auf Erden vorstellte. Sie warf sich bisweilen in zivile Kleider und ging auf Konzerte, probte regelmäßig mit ihrer eigenen Kapelle und hatte durchaus Freunde und ein Leben außerhalb der Orakelhalle. Aber das war eben nur eine zeitweilige Flucht aus dem einsamen Tempelleben in grün und weiß. Ob sie wollte oder nicht, sie musste immer wieder hier her zurückkehren und sich gewissenhaft und ernsthaft um die Besucher kümmern, die jeden Tag in Zakus Tempel kamen, um zu beten. Und man durfte staunen, wieviele Möchtegern-Musiker und -Schauspieler herkamen, um den Segen der Göttin der Künste zu erbitten. Und wieviele besorgte Mütter herkamen, um das genaue Gegenteil zu erflehen, weil ihre Kinder eine unsichere Karriere in irgendwelchen Vagabunden-Horden anzugehen drohten, von der sie sie lieber fernhalten wollten. Es gab nur denkbar wenige feste Theater in großen Städten, wo man gegen Bezahlung angestellt wurde, um auf der Bühne zu stehen. Und nur wenige hohe Würdenträger, die sich zum privaten Vergnügen eigene Haus-Kapellen leisteten, die zumeist aus ihren Kammerdienern bestanden.
 

Am nächsten Spätnachmittag fegte Natsuo mäßig gelaunt die Treppe und den Schotterhof vor ihrem Tempel mit einem Besen aus gebundenen Zweigen. Es war Herbst und es fiel eine Menge Laub. Natsuo mochte zwar die bunten Farben der Blätter, doch dreimal am Tag kehren zu müssen, nervte sie dann doch. Sie hatte ja schließlich noch anderes zu tun. Aber ihre alte Tempeldienerin schaffte das eben nicht allein. Die war gerade mit einem Eimer Wasser zu Gange und putzte die hellen Steinstufen.

Natsuo dachte eben daran, daß es langsam Zeit wäre, die Tore zu schließen und den Tempel für heute abzusperren, als draußen eine größere Prozession bunt gekleideter Männer lachend und lärmend daher kam. Wie ein Schwarm Heuschrecken fielen sie in die Tempelanlage ein. Sie warfen ihren großen Haufen Gepäck mitten in den Hof. Drei von ihnen rupften Blumen aus einem Beet und steckten sie sich als Schmuck in die Haare und Gürtel. Mehrere trampelten mit ihren schlammigen Schuhen die eben gewischte Treppe zur Orakelhalle hinauf und machten damit die mühsame Arbeit der alten Tempeldienerin wieder zunichte. Andere stürzten sich auf den Koi-Teich, um sich darin zu waschen, obwohl es tatsächlich ein steinernes Waschbecken für die rituelle Reinigung gab. Alles in allem mussten es um die 13 oder 14 Leute sein. Einer mit weißer, langnäsiger Holzmaske blieb vor Natsuo stehen. „Sind wir hier richtig, im Tempel der Kunst-Göttin? Der Tempel hat doch noch geöffnet, oder?“

„Oh, ihr ungehobelten ... !“, ereiferte sich Natsuo entrüstet und musste aufpassen, nicht mangels passender Worte ihren Besen zu gebrauchen, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Was bildeten die sich ein?

„Bist du die Priesterin hier? Komm, bete für uns, Mädchen!“, lachte der Mann und zog sich die hölzerne Maske vom Gesicht, um etwas höflicher zu erscheinen. Er war noch recht jung und sogar auffallend hübsch, was von seinem fröhlichen Schmunzeln noch betont wurde. Er hatte reine Haut, fein geschwungene Gesichtszüge, große, sanfte Augen, volle Lippen und lange, offene Haare.

Natsuo atmete tief durch, um ihren Ärger wieder in den Griff zu kriegen, und hielt sich an ihrem Besenstiel fest.

„Tut mir leid, wir wollten sicher keine Umstände machen. Wir sind gerade erst in diesem Dorf angekommen und leider etwas spät dran. Wir dachten, wir würden das Dorf eher erreichen. Dann wären wir natürlich auch eher in den Tempel gekommen.“

„Seid ihr Theater-Leute?“, hakte Natsuo nach. Die bunten Kleider und die Masken dieser Kerle waren da ebenso selbstredend wie ihre unverschämte Art.

„Ja. Wir wollen heute Abend noch hier auftreten. Und das natürlich nicht ohne den Segen von Zaku. Wenn wir schonmal in die Gegend der Gottheit der Kunst kommen, sollten wir ihr auch Achtung zollen. Immerhin ist sie unser Schutzpatron“, lächelte er.

„Ihr beweist hier gerade das komplette Gegenteil von Achtung“, gab Natsuo säuerlich zurück und deutete auf einen der Kerle, der sich den Inhalt einer Keramik-Flasche gönnte, wie sie ausschließlich für Sake gebraucht wurden.

„Horibe, lass das! Du bist hier in einem Gotteshaus!“, ging der Sprecher sofort selbst fassungslos dazwischen und ließ Natsuo einfach stehen.

„Oh Mann ...“, seufzte Natsuo unmotiviert und machte sich auf den Weg in die Orakelhalle, um das Treiben der Truppe zu überwachen. Jetzt wusste sie auch, warum Mütterchen Tanaka gestern hier gewesen war und um Zakus Missgunst für ihren jüngsten Sohn gebetet hatte. Die Alte hatte gewusst, daß eine fahrende Theater-Gruppe hier aufschlagen würde. Sicher würde ihr Sohn noch heute bei denen vorstellig werden, um sich zu bewerben.
 

Zaku spazierte mit einem fröhlichen Lächeln durch ihre Tempelanlage. Der Komplex bestand im Wesentlichen aus einem weiträumigen Park mit einem großen, grünen Teich in der Mitte und geräumigen Rasenflächen, die hier und da von Pfaden aus weißen Steinplatten durchzogen waren. An den weißen Wegen standen viele uralte Trauerweiden, deren lange Girlanden bis auf den Boden herabhingen und sanft im Wind wiegten. Es war ein sonniger Tag, die warmgoldene Sonne war noch nicht ganz untergegangen, und nur ein wenig Vogelgezwitscher unterbrach die Stille. Diese Mischung aus Weiß und Grün dominierte im Sommer alles hier. Es ließen sich kaum andere Farben finden. Nur im Herbst wurde es kurzzeitig etwas bunter. Folgte man den Wegen, erreichte man hinter dem Teich ein verziertes Holzgebäude mit Pagodendächern, gleichfalls überwiegend weiß gestrichen, was für japanische Tempel untypisch war. Ihre Orakelhalle. Da drin lebte und wirkte ihre Priesterin Natsuo, ein junges, sanftes Ding, das auch ohne Schminke ganz reizend und natürlich aussah. Am Rande, etwas versteckt, stand noch ein kleiner Bretterschuppen, in dem eine Tempeldienerin wohnte, die die Orakelhalle, den Park, den Teich und die Wege Tag ein Tag aus makellos hielt. Diese beiden, Natsuo und sehr viel seltener auch die Tempeldienerin, waren die einzigen, die Zaku jemals als das gesehen hatten, was sie wirklich war: eine Gottheit. Zaku war die Göttin der Kunst, vor allen Dingen der Musik.

Zaku hatte, wenn sie sich als das zeigte, was sie wirklich war, hüftlange, wilde stachelnde, rubinrote Haare und ebensolche Augen – im Gegensatz zu sterblichen Japanern. Dann strahlte sie Autorität und Macht aus und war von einem seltsamen Lichtschein umgeben. Aber Zaku mischte sich auch ganz gern mal unter das Volk, vor allen Dingen um Auftritte von Musikkapellen zu sehen oder einfach nur auf dem Markt allen möglichen Schnickschnack einzukaufen. Dann konnte man sie nicht mehr von jedem anderen, gewöhnlichen Tempelmädchen unterscheiden. Keiner wusste, wo Zaku für gewöhnlich wohnte, woher sie das Geld für ihre Einkaufstouren nahm, oder wo sie all die Sachen hortete, die sie sich während selbiger zulegte. In ihrem Tempel jedenfalls nicht, denn dort ließ sie sich nur dann und wann sehen, um zu schauen, ob noch alles seine Ordnung hatte. Ob die Dienerin die Anlage zu ihrer Zufriedenheit in Schuss hielt, ob Natsuo artig das vorgeschriebene, weiße Gewand trug, denn Zaku liebte Weiß, oder ob es irgendwas Neues zu berichten gab.
 

Zaku entging nicht, daß die alte Tempeldienern Chirobi zu so später Stunde noch mit dem Wischen der Treppen beschäftigt war, ließ sie aber nach einem grüßenden Lächeln links liegen und suchte weiter. Sie fand ihre Priesterin hinter der Orakelhalle auf einer abgeschiedenen Parkbank, wo sie eine melancholische Melodie auf einem dreisaitigen Shamisen zupfte.

Natsuo sah auf, als ihr die lichtumhüllte Erscheinung aus dem Augenwinkel auffiel, und unterbrach ihr Musikstück. „Zaku, du auch mal wieder hier?“, grüßte sie die Göttin ungezwungen lächelnd. Als Priesterin konnte sie es sich leisten, so vertraute Töne mit einer Gottheit anzustimmen. In der Tat war das Verhältnis zwischen ihnen ein so freundschaftliches, daß sie sogar gemeinsam irgendwelche Dinge unternahmen. Nicht wenige Konzerte besuchten sie zusammen.

„Was heißt denn hier 'auch mal wieder'?“, wollte Zaku wissen. Und wie immer hallte ihre Stimme dabei ein wenig nach wie ein Glockenschlag.

„Es ist ganze drei Woche her, daß du dich hast sehen lassen.“

„Na immerhin. Andere Götter lassen sich jahrhundertelang nicht blicken. Habe ich denn was verpasst?“

„Nein, nicht wirklich. Es war dieser Tage sehr ruhig hier.“

Zaku nickte und setzte sich neben sie. „Du bist aufgebracht“, bemerkte sie, womit sie Natsuos Behauptung, es sei alles ruhig gewesen, negierte.

„Hm.“ Die Priesterin legte ihr Shamisen beiseite. „Heute ist eine Gruppe fahrender Gaukler hier gewesen, noch kurz vor Torschluss. Ich war nur ein bisschen erschüttert von ihren schlechten Manieren, das ist alles.“

„Ach, es sind heimatlose Wandergesellen. Sieh es ihnen nach.“

„Sie haben im Tempel wesentlich mehr Räucherwerk abgebrannt als sie bezahlt haben!“

Zaku lachte. „Sei doch froh, wenn sie überhaupt was bezahlt haben. Das sind bettelarme Hunde, weißt du? Sie haben nichts.“

Natsuo verschränkte mit einem beleidigten 'hampf' die Arme.

Die Gottheit legte ihr versöhnlich einen Arm um die Schultern und drückte sie spielerisch an sich. „Lass uns heute Abend ins Dorf gehen und uns ihre Vorstellung ansehen. Ich bin wirklich gespannt auf sie.“

„Mütterchen Tanaka war wieder hier“, wechselte Natsuo das Thema.

„Ja?“

„Sie bittet immer nachdrücklicher darum, daß du ihren Jüngsten davon abhältst, sich der Gruppe anzuschließen.“

„Warum? Der Junge hat Talent. Er würde da gut hinpassen.“

„Mütterchen Tanaka wird böse auf dich sein!“, versuchte Natsuo es ihr auszureden.

„Na und? Ich bin eine Gottheit!“, lachte Zaku. „Soll sie doch böse auf mich sein. Was soll sie mir mit ihrem Groll anhaben?“

„Aber sie war immer so gut zu mir! Ohne sie wäre ich verhungert, wenn sie nicht jeden Dienstag ihren Stand länger für mich geöffnet gelassen hätte.“ Eigentlich erstaunlich, daß sie es sich als Priesterin herausnehmen konnte, die Entscheidungen einer Göttin in Frage zu stellen. In der Tat war ihre Freundschaft außergewöhnlich tief, das merkte Natsuo in solchen Situationen immer wieder.

Zaku seufzte leise. „Lass uns gehen und die Vorstellung anschauen. Dann werden wir ja sehen, ob die Zuwachs brauchen oder nicht.“
 

Es war bereits dunkel, als Zaku und Natsuo auf dem großen Platz in der Mitte des Dorfes ankamen. Natsuo war immer etwas befremdet, wenn sie mit der rothaarigen und rotäugigen Göttin unterwegs war, von der niemand Notiz nahm. Sicher verbarg Zaku ihr Aussehen vor den gewöhnlichen Dorfbewohnern. Nur Natsuo selbst konnte sehen, wer sie wirklich war.

Bei Nacht hatte das Bauerndorf etwas unglaublich Romantisches an sich. Überall waren Lagerfeuer entfacht worden, die die strohbedeckten Hütten in ein magisches Glühen tauchten. Mitten auf dem Platz hatte man eine provisorische Bühne errichtet und dahinter Stoffbahnen als blickdichte Kulisse und Hintergrund aufgehangen.

Das gesamte Dorf musste hier versammelt sein. Jedes Kind und jeder Greis, alles was Beine hatte, war hier zusammengekommen. Ein alter Mann, der es sich bereits in der ersten Reihe mitten vor der Bühne auf dem besten Platz bequem gemacht hatte, sprang diensteifrig hoch, als er Natsuo und ihre Begleiterin sah. „Nehmt doch hier Platz, ihr beiden!“, bat er. Sein Tonfall klang, als würde er durchaus ahnen, wer die Mädchen wirklich waren, auch wenn er sicherlich einfach nur Respekt vor einer Priesterin hatte.

„Ich bitte euch, Väterchen. Es ist genug Platz für alle. Setzt euch wieder“, gab Zaku nur zurück und nahm mit einem Außenplatz Vorlieb.

Zu längeren Diskussionen um die Platzwahl kam es nicht mehr, denn da wurden auch schon die meisten Feuer um die Bühne abgedunkelt und Musik setzte ein. Die Vorstellung begann. Es wurde still im Publikum.

„Das ist Ryuka, der Kopf der Theater-Truppe“, raunte Natsuo der Göttin leise zu, als zuerst ein Mann mit weißer, langnäsiger Holzmaske erschien, um das Publikum zu begrüßen. Mit dem Kerlchen hatte sie ja heute Nachmittag im Tempel bereits das Vergnügen gehabt.

Zaku musterte ihre Priesterin schmunzelnd. „Er gefällt dir!“

Natsuo wurde schlagartig knallrot. „N-Nein, tut er nicht! Er ist ein grober Klotz ohne jede Manier!“

„Im Gegenteil, er ist ein ganz feiner und tadelloser Mensch. Und ein großartiger Schauspieler“, beharrte die Göttin leise und bedeutete Natsuo mit einem Fingerzeig Richtung Bühne, daß sie die Vorstellung weiter verfolgen sollte.

Mit einem unterschwelligen Grummeln konzentrierte sich die junge Priesterin wieder auf das, was vorn passierte. Sie hasste es, von Zaku immer so anstandslos durchschaut zu werden. Aber dafür war sie halt eine Gottheit. In irgendwelchen Dingen musste sie den Sterblichen ja überlegen sein. Angeregt fummelten ihre Finger an dem Tuch herum, in dem sie Äpfel und etwas Fisch eingeschlagen hatte. Die Sitte gebot es, den fahrenden Künstlern im Gegenzug für ihren unterhaltsamen Auftritt etwas zu essen zu bringen, denn von irgendetwas mussten die ja auch leben. Selbst wenn jeder Dorfbewohner nur einen lächerlich kleinen Beitrag leistete, der ihm nicht weh tat, kam alles in allem doch genug zusammen, um die ganze Theater-Truppe satt zu bekommen und ihnen noch etwas Proviant für den Weg zu garantieren, bis sie im nächsten Dorf ankamen.

Die Musik wechselte und ein weiterer Schauspieler kam auf die Bühne, um sich mit Ryuka in einem durchchoreographierten Schaukampf zu messen. Er trug die Maske des alten Mannes Sanko-jo. Ein weiser Mensch gegen einen Tengu. Man konnte sich ausmalen, wie das enden würde. Natsuo wusste, daß die Männer im No-Theater eigentlich nur Masken trugen, wenn sie Frauen, Götter oder Ungeheuer spielten. Für männliche Charaktere trugen sie keine Masken. Nur, wenn sie wirklich betont und ausdrücklich einem bestimmten Stereotyp gerecht werden mussten. Die Manöver sahen teilweise echt schwer und akrobatisch aus. Ryuka und sein Partner warfen und wirbelten sich gegenseitig meterweit, mitunter sogar in Saltos, durch die Luft oder balancierten in schwierigen Hebefiguren aufeinander herum. Unwillkürlich hielt Natsuo den Atem an, in Erwartung des Ausgangs des Kampfes. Sie hoffte, Ryuka würde nicht verlieren ...
 

Einige Stunden später, inzwischen konnte man schon fast von 'Nacht' sprechen, stieß Natsuo mürrisch die Türen ihrer Orakelhalle auf. Sie würde heute Nacht also Gäste haben. Zaku hatte die ganze Theater-Truppe eingeladen, in ihrem Tempel zu übernachten. Da die herbstlichen Nächste zunehmend kalt, nass und ungemütlich wurden, hatte die Göttin der Kunst ihre neuen Günstlinge nicht unter freiem Himmel und in Zelten schlafen lassen wollen. Sie sollten ein festes, beheiztes Dach über dem Kopf haben. Natsuo hatte es der Göttin nicht wieder ausreden können und hatte den Pulk lauter, feiernder, unzivilisierter Kerle mitnehmen müssen. Und feiern taten sie durchaus. Einer der Bauern, der heimlich hobbymäßig Sake braute, hatte eine ganze Menge Alkohol für sie springen lassen, der von den Darstellern auch gern und umgehend wieder vernichtet wurde.

Ryuka stand mit verschränkten Armen am Rand und überschaute seine Bande von Mitstreitern, ob alle da waren, ob pfleglich mit dem Gepäck umgegangen wurde und sich im Tempel keiner ungebührlich aufführte. Dann musste er amüsiert lächeln, als er auf Natsuo neben sich schaute.

Die einen halben Kopf kleinere Priesterin beaufsichtigte den Trubel, der in ihrem sonst so ruhigen Tempel Einzug hielt, sichtlich unzufrieden.

„Es ist nett von dir, daß du uns Unterkunft gewährst“, meinte Ryuka und versuchte dabei, ein Lachen zu unterdrücken.

„Mh. An mir lag diese Entscheidung nicht“, meinte sie nur.

„Es tut mir leid, wenn wir dir Umstände machen. Ich weiß, daß wir fahrenden Schauspieler manchmal ein bisschen laut und ungezügelt sind.“

„Ist schon okay ...“

„Wo ist denn deine Freundin hin, die uns eingeladen hat?“, hakte der Kopf der Schar interessiert nach und schaute sich suchend um. Er hatte gar nicht bemerkt, wie das andere Mädchen sich von der Gruppe getrennt hatte und verschwunden war.

„Sie wird uns heute Nacht keine Gesellschaft leisten“, erklärte Natsuo. Zaku war noch nie über Nacht in ihrer Orakelhalle geblieben.

„Sie wohnt wohl draußen in dem Bretterschuppen, den wir am Teich gesehen haben?“

„Nein, sie lebt gar nicht hier im Tempel. Im Schuppen findet ihr nur meine alte Dienerin Chirobi. Und ich wäre euch verbunden, wenn ihr Chirobi nicht belästigen würdet“, stellte Natsuo schnippischer als nötig klar und wandte sich dann ab, um zu gehen. Sie wollte nicht erklären müssen, warum sie Zaku weder beim Namen nennen, noch sagen konnte, wo die nun eigentlich wohnte. Sie konnte den Theater-Leuten ja schwerlich sagen, daß ihre Begleitung während der Vorstellung im Dorf wahrhaftig die Göttin der Kunst gewesen war. Wenn man ihr das überhaupt geglaubt hätte, wäre sie der darauf folgenden Belagerung nicht mehr Herr geworden. Das Prinzip der Götter war es, sich tot zu stellen und sich niemals als das zu offenbaren, was sie wirklich waren. Niemals sichtbar tätig zu werden, sondern immer nur aus den Schatten des Hintergrundes die Fäden zu ziehen. All ihre Macht und ihren Einfluss auf die Menschen schöpften sie aus Mythen und Legenden. Wäre irgendwo in Japan ein handfester Beweis für die Existenz einer echten Gottheit aufgetaucht, hätte das die Welt aus den Angeln gehoben. Die unterschiedlichsten Leute mit den unterschiedlichsten Absichten wären aktiv geworden, sowohl für als auch gegen Zaku. Kriege wären vom Zaun gebrochen worden, im Namen einer Göttin, die sich für die Gründe nichtmal interessierte. Wohlmöglich sogar Überfälle der Gläubigen auf die Ungläubigen, denen man jetzt nachweisen konnte, daß sie um Unrecht waren. Kranke hätten sich Hoffnung auf Heilung gemacht, Witwen und Waisen Hoffnung auf den Zurückerhalt ihrer Verstorbenen, Bauern hätten künftig jede Missernte Zaku zugeschrieben, denn sie war ja schließlich eine Göttin. Kaiser wären mit Armeen angerückt, um Zaku für ihre Machtinteressen zu gewinnen oder sie in den Kerker zu werfen, wo sie nicht mehr ins Wohl und Wehe der Welt eingreifen konnte. Manch einer hätte vielleicht sogar versucht, Zaku zu töten, nur um zu beweisen, daß die Gottheiten der alten Zeit nicht allmächtig waren und nichts gegen die Kraft der Menschen ausrichten konnten. Natsuo war sehr wohl bewusst, was die Offenbarung einer Gottheit nach sich gezogen hätte. Pures Chaos im ganzen Land. Und Erwartungen und Forderungen, denen eine Gottheit in Art und Menge nicht gerecht werden konnte. Denn Götter konnten nicht überall gleichzeitig sein und waren ganz sicher nicht unfehlbar. Und die Menschen waren unsagbar dumm und egoistisch. - Aber das alles wollte Natsuo nicht mit dem Kopf einer Vagabunden-Horde ausdiskutieren.
 

Eine halbe Stunde später klopfte es höflich an der Schiebetür zu Natsuos privatem Wohnraum. Sie hatte gerade begonnen, ihren Futon auszubreiten und sich für die Nacht einzurichten, da es in der Orakelhalle schon merklich stiller geworden war. Die Theater-Leute waren also ebenfalls so langsam zur Ruhe gekommen. Die dünnen Papierwände hier ließen ja ungehindert jeden Lärm durch.

„Wer da?“, rief Natsuo in Reaktion auf das Klopfen.

„Ich bin es. Ryuka.“

Die Priesterin rollte mit den Augen. Auch das noch. Aber das Gebot der Gastfreundlichkeit untersagte es ihr leider, ihn abzuweisen. „Ja, komm ruhig rein.“

Mit einem schleifenden Geräusch wurde die Schiebetür aufgezogen und dahinter kniete der hübsche, langhaarige Mann neben einem Tablett mit zwei Keramik-Schüsselchen und einer Kanne. „Hallo. Wir haben unsere Vorbereitungen für die Nacht abgeschlossen. Ich dachte, du trinkst vielleicht zum Dank für die Unterkunft noch einen Tee mit mir, bevor wir uns alle schlafen legen.“

Natsuo zog ein ziemlich dummes Gesicht.

„Der Tee ist wirklich gut. Ein Kaufmann aus Edo hat ihn mir geschenkt, als wir dort aufgetreten sind“, fügte Ryuka an, da er nicht wusste, wie er diesen Gesichtsausdruck deuten durfte.

„Darum geht es nicht. Ich habe mich bloß gerade gefragt, wo ihr in meiner Orakelhalle Feuer hergenommen habt, um Wasser zu kochen.“

„Jaaaaa~“, machte Ryuka gedehnt, unschlüssig, wie er ihr das plausibel erklären sollte.

„Ihr habt doch hoffentlich kein Lagerfeuer im Tempel gemacht!?“

„Das ... also ... Doch, haben wir“, lächelte der junge Mann verlegen.

Natsuo atmete tief durch. „Zaku soll euch verfluchen“, erwiderte sie scherzhaft und winkte ihm dann, mit dem Tablett endlich herein zu kommen und eines der Schälchen rüber zu reichen. Sie räumte den niederen Tisch wieder in die Mitte des Zimmers, den sie eigentlich schon zur Seite geschoben hatte, um Platz für ihren Futon zu haben.

„Das Feuer ist schon wieder gelöscht worden. Wir brennen deinen Tempel nicht nieder, keine Sorge.“ Der Schauspieler setzte sich ihr gegenüber. Ganz ungezwungen und locker, aber doch darauf bedacht, den gebührenden Abstand zu wahren und ihr nicht unsittlich zu nahe zu kommen. Er wollte ihr kein falsches Bild von seinen Absichten vermitteln. So einer war er nicht.

„Ich beneide dich ein bisschen. Du bist ständig auf Reisen und hast die Freiheit, zu gehen wo immer du hin willst. Ich bin hier in diesen Tempel eingesperrt und schaffe es kaum, noch Lebensmittel einzukaufen, bevor die Stände abends schließen. Erzähl mir: wie lebt es sich als fahrender Künstler? Und wie bist du dazu gekommen?“, hob Natsuo interessiert ein Gespräch an und schloss beide Hände um ihren Tee, um sich daran zu wärmen.

Weit kam Ryuka aber mit seinen Geschichten nicht, denn nach einer Weile wurden im Tempel Lärm, Gepolter und das Krachen von Holz laut, als würde jemand die Orakelhalle niederreißen. Männer schrien durcheinander. Erschrocken sprang Natsuo von ihrem Sitzplatz hoch und hechtete zum Fenster, um hinaus zu schauen. Draußen am Teich sah sie die Bretterbude ihrer Dienerin Chirobi in Flammen stehen. Unten vor dem Tempel rannten Männer herum, nicht nur Theater-Leute, aber einige von ihnen bewaffnet. Kämpfe waren ausgebrochen, wo sich Schausteller mit Bühnenrequisiten gegen Äxte und Schwerter zur Wehr zu setzen versuchten. Jemand warf johlend eine brennende Fackel aufs Pagodendach des Tempels ...



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