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Sünde

von

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Gregor

Winzige Bläschen blubberten durch meine Adern, brachten mein Blut zum Kochen und verhängten meinen Blick mit einem roten Wutschleier. Ich saß mit zu Fäusten geballten Händen auf Mels leise quietschendem Schreibtischstuhl und durchbohrte den Jungen auf der gegenüberliegenden Bettkante mit meinen Blicken. Mit mahlenden Kiefern schob ich meine Fäuste unter die Achseln, um zu verbergen, dass meine Hände zitterten. Das unkontrollierte Zucken meines Bizeps konnte ich leider nicht so einfach verstecken.

Mel warf mir einen besorgten Seitenblick zu, widmete sich dann aber gleich wieder ihrem Freund, der ihr gestenreich eine Anekdote aus seiner Kindheit erzählte und sie zum Lachen brachte. Am liebsten hätte ich diesen Kerl auf der Stelle wieder raus geworfen. Mit wütendem Blick starrte ich auf ihre in einander verschlungenen Hände, die neben Mels zierlichem Körper auf der blutroten Decke lagen. Dass dieser Wicht Mel mit seinen fetten Wurstfingern angrabbelte, widerte mich an.

Ich fuhr mir mit der flachen Hand übers Gesicht. Was war eigentlich mit mir los? Ich mochte Johannes!

Mit einem bitteren Schnaufen gestand ich mir endlich ein, dass ich eifersüchtig war. Rasend eifersüchtig. Doch dies war nicht die normale Eifersucht eines großen Bruders, dessen Schwester ihren ersten festen Freund nach Hause brachte, das war mir klar. Ich war nicht sauer auf das Schicksal, weil ich nicht mehr die erste Geige in Mels Leben spielte, weil sie nicht mehr zu mir, sondern zu ihrem Freund lief, wenn sie Probleme hatte.

Ich wollte derjenige sein, der Mels Hand hielt und sie zum Lachen brachte, den sie mit diesem verklärten Lächeln und diesem glücklichen Leuchten in den Augen ansah.

Ich atmete tief durch und beobachtete die beiden Turteltäubchen auf dem Bett aus den Augenwinkeln. Mel lag noch immer tief in ihre Kissen gekuschelt in der Mitte ihres breiten Bettes und Johannes saß mit dem Rücken zu mir auf der Bettkante, hielt ihre Hand und redete und redete als würde die Welt untergehen, wenn er mal für fünf Minuten still sein sollte.

Sie sahen aus als würden sie mich gar nicht beachten, doch jedes Mal, wenn ich hatte gehen wollen, um diesem schmerzenden Anblick zu entfliehen, hatte Mel so panisch reagiert, dass ich aufgegeben und mich in mein Schicksal gefügt hatte.

Wenn es Mel glücklich machte, würde ich die zärtliche Vertrautheit der Beiden ertragen, auch wenn ich das Gefühl hatte, mein Herz würde Säure statt Blut durch meine Adern pumpen.

Ein grimmiges Grinsen, das Mel irritiert ihre Stirn in Falten werfen ließ, huschte über mein Gesicht, als mir der Gedanke kam, dass wenigstens meine Mutter jetzt beruhigt sein müsste, seit Johannes da war.
 

Früher am Tag war ich kurz unten gewesen, um meinem knurrenden Magen etwas Beschäftigung zu verschaffen, doch als ich gerade die Türklinke zur Küche hatte herunter drücken wollen, hatte ich meine Eltern im Esszimmer nebenan gehört.

„Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee, die Beiden allein zu lassen, Paul?“, hatte meine Mutter in einem drängenden Ton gefragt. „Natürlich. Warum nicht?“ Paps hatte wie immer mit der ruhigen, gleichmäßigen Stimme eines Arztes gesprochen, der es gelernt hatte, mit Patienten zu reden, ohne sich anmerken zu lassen, wie schlimm es wirklich um sie stand.

„Ich meine ja nur... Was, wenn Gregor sich mal nicht in der Gewalt hat?“ Für einen kurzen Moment war das Geraschel von Papier zu hören gewesen. Vermutlich hatte Paps eine seiner geliebten Zeitungen zusammen gefaltet, um Mutter mit einem strengen Blick zu strafen. „Was soll das heißen?“ Noch immer hatte kaum Gefühl in seiner Stimme gelegen.

Kalter Schweiß war mir in breiten Bahnen den Rücken hinab gelaufen, während ich angestrengt gelauscht hatte. Es war endlich einmal eine Gelegenheit gewesen, um heraus zu finden, was meine Eltern wirklich von mir dachten.

„Na ja, Mel ist im Moment so hilflos. Das kann schon mal heftige Gefühle in einem jungen Mann wecken und Gregor –“ „Und Gregor was?“, hatte Paps Mutter das Wort abgeschnitten. „Margarethe, es tut mir leid, aber du redest Blödsinn.“ Die winzige Spur Ärger, die in seiner Stimme mitgeschwungen hatte, war kaum hörbar gewesen.

„Ach, tue ich das? Willst du also abstreiten, dass er diese... abnormale Gesinnung hat?“ Ich hatte mich gefühlt, als ob mir jemand mit voller Wucht in den Magen getreten hatte. Wie erstarrt hatte ich da gestanden, die Klinke noch immer in der Hand, unfähig, mich zu bewegen, und hatte mir mitanhören müssen, dass meine eigene Mutter mich tatsächlich für ein abstoßendes Monstrum hielt. Obwohl ich es vorher gewusst hatte, hatte es heftiger geschmerzt, sie diese Worte aussprechen zu hören, als ich vorher gedacht hatte.

Dem nachfolgenden Knall nach zu urteilen hatte Paps seine Zeitung heftig auf den Tisch geschmissen. „Ehrlich, Margarethe, du redest Bullshit! Wenn Mel irgendein Mädchen wäre, würdest du doch auch nicht glauben, dass Greg sie gleich vergewaltigt!“ Allein bei der Aneinanderreihung dieser beiden Wörter – Mel, vergewaltigt – war ich heftig zusammen gezuckt. Ich hätte ihr niemals wehtun können, nicht so.

Die Stimme meiner Mutter hatte sich einige Oktaven in die Höhe geschraubt, bis sie mir in den Ohren geschmerzt hatte. „Sie ist aber nicht irgendein Mädchen! Sie ist seine Schwester!“ „Na und?“ Vor Zorn hatte jetzt auch Paps’ Stimme gebebt. Harmonisch dazu hatte ich draußen auf dem Flur zu zittern begonnen. „Nur weil er amouröse Gefühle für seine Schwester hat, heißt das noch lange nicht, dass er ein Monster ohne jede Moral und Anstand ist. Verdammt, Margarethe, denk doch mal nach, was du hier redest. Er ist dein Sohn!“

Dann war mein Vater so schwungvoll aufgestanden, dass sein Stuhl laut scheppernd auf den hell gefliesten Boden gekracht war. Doch anstatt ihn wieder aufzustellen, war Paps nach draußen gestürmt, wo er mich vorgefunden hatte, wie ich noch immer wie paralysiert vor der Tür gestanden hatte.

„Oh, Junge...“ Paps’ Gesicht war vor Schmerz und Mitgefühl ganz verzerrt gewesen, doch ich hatte mich – plötzlich wieder aus meiner Bewegungslosigkeit erwacht – einfach an ihm vorbei gedrückt und war die Treppe hinauf gestürmt, zurück in Mels Zimmer. Der Appetit war mir gründlich vergangen gewesen.
 

„Hey! Jemand zu Hause?“ Mel fuchtelte mir mit ihren dünnen Ärmchen vor dem Gesicht herum, während sie und Johannes mich aus sorgenvollen Augen musterten. Blinzelnd kam ich langsam wieder in der Gegenwart an und ich richtete meinen Blick auf Mel, die sich ängstlich auf die Unterlippe biss.

„Ja, klar doch. Alles prima.“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch es schien nicht ganz zu klappen. „Du warst vollkommen weggetreten. Wir haben dich mehrfach angesprochen, aber du hast nicht reagiert.“ Ich strich mir ein paar vorwitzige Strähnen aus der Stirn, während Mel sich wieder in ihre Kissen zurück fallen ließ. „Ich hab nur über etwas nachgedacht, das ist alles.“

„Aber doch nicht darüber, wann du uns wieder verlässt, oder?“ Sofort machte sich neue Panik auf ihrem hübschen Gesicht breit, was Johannes dazu veranlasste, ihr beruhigend über den Unterarm zu streichen und mir einen grimmigen Blick zuzuwerfen. Um zu erraten, was er dachte, musste man keine übernatürlichen Fähigkeiten haben: „Langsam reicht es! Meinst du nicht, du hast ihr in den letzten Stunden genug zugemutet? Hör auf, ihr immer und immer wieder Angst zu machen.“

Ich schüttelte träge den Kopf. „Nein. Ich hab darüber nachgedacht, was ich jetzt eigentlich mit meinem Leben anfange. Ich hab die Schule beendet und mein Zivildienst liegt auch hinter mir. Ich glaub, ich möchte Arzt werden – wie Paps.“ Die Idee war mir erst mit dieser kleinen Notlüge gekommen, doch sie gefiel mir. Ja, ich wollte wirklich Arzt werden.

Mel lächelte breit, während sie mit Jos Fingern spielte, der sie mit einem hirnlosen Gesichtsausdruck anhimmelte. „Das ist eine super Idee. Das kannst du bestimmt richtig gut.“ Dann wandte sie sich wieder ihrem Freund zu und erzählte ihm begeistert, wie toll ich schon immer darin gewesen wäre, sie gesund zu pflegen, und dass es bestimmt schon bald keinen Krankheitserreger geben würde, der sich nicht vor mir in Acht nehmen müsste.

Während ich ihrem überschwänglichen Enthusiasmus zuhörte und die Selbstverständlichkeit betrachtete, mit der Mel Jos Hand hielt und ihm in unregelmäßigen Abständen mit dem Daumen über den Handrücken streichelte, dachte ich mit einem bitteren Lächeln daran, wie schade es war, dass man kranke Herzen nicht genauso leicht heilen konnte wie kranke Körper.



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