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Sünde

von

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Melanie

Die Wipfel der Bäume schwankten sacht im Wind hin und her, wobei ihre dunkelgrünen Blätter ein leises, raschelndes Lied sangen. Ich setzte mich auf die Fensterbank von Gregs geöffnetem Fenster und betrachtete das kleine Wäldchen, das hinter unserem Grundstück stand.

Früher hatten mein Bruder und ich dort oft gespielt. Wir waren auf Bäume geklettert und hatten uns als Indianer verkleidet auf Jagd oder den Kriegspfad begeben. Unser Baumhaus, das wir an einem Nachmittag in die weit ausladenden Äste einer Eiche gebaut hatten, war leider nicht besonders stabil gewesen und bei dem ersten Sturm auf den belaubten Waldboden gekracht.

Ich seufzte und lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen, als eine warme, nach Heu duftende Abendbrise mein Gesicht streichelte. Greg fehlte mir jetzt schon so sehr, dass ich das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen – dabei war er gerade mal vier Tage fort. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es noch werden würde, wenn er nie wieder kam. Ich brauchte meinen Bruder einfach, er war ein Teil von mir.

Wo mochte er jetzt wohl sein? Hatte Finchen doch Recht und er hatte irgendwo eine geheime Freundin oder einen versteckten Freund, zu dem er sich nun geflüchtet hatte? Oder erklärte die Tatsache, dass er herausgefunden hatte, dass er nur adoptiert war, sein merkwürdiges Verhalten der letzten Wochen hinreichend?

Wenn man davon ausging, dass er eine Ahnung schon länger mit sich herum geschleppt hatte, machte es durchaus Sinn. Vielleicht hatte er einen Tipp von irgendjemandem bekommen oder irgendetwas gefunden, dass ihn auf die Idee gebracht hatte, adoptiert zu sein.

Ich versuchte, mir das Ganze vorzustellen, mich in Greg hineinzuversetzen. Ich stellte mir vor, wie er etwas fand, das in ihm den Verdacht regte, adoptiert zu sein – ein Bild von seiner leiblichen Mutter vielleicht. Wie hätte ich darauf reagiert? Während ich einem Flugzeug hinterher sah, das leise rauschend über unseren kleinen Vorort hinweg flog, gestand ich mir ein, dass ich vermutlich ähnlich reagiert hätte wie Greg. Ich hätte mich ebenfalls in mich selbst zurückgezogen, wäre still und schweigsam geworden und hätte versucht, das Problem für mich selbst zu lösen.

Ich hätte mich immer und immer wieder gefragt, ob meine Befürchtungen der Wahrheit entsprechen könnten und was es für mich bedeuten würde, wenn dem so wäre. Hatte Greg sich dieselben Fragen gestellt?

Mit einem Stich im Herzen dachte ich an einen möglichen Grund, für seine Distanziertheit mir gegenüber. Hasste er mich dafür, dass ich das leibliche Kind unserer Eltern war? Nein, das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Dafür hatte er mich beim Abschied viel zu liebevoll angesehen. Wahrscheinlicher erschien mir, dass er einfach nur verwirrt und vielleicht ein wenig neidisch auf mich war.

In meiner Vorstellung sprang ich zeitlich hin und her. Nachdem ich jetzt für mich die Frage, ob die Sache mit der Adoption der einzige Grund für Gregs Zurückgezogenheit sein konnte, mit einem Ja beantwortet hatte, ließ ich meine Gedanken zu seinen letzten Tagen zu Hause schweifen.

Die letzten zwei Tage, bevor er gegangen war, hatte er sich extrem merkwürdig verhalten. Er war stundenlang weg geblieben, ohne jemandem zu sagen, wo er hin ging, nur um dann verweint und völlig apathisch wieder nach Hause zu kommen. Ich war mir sicher, dass er zu diesem Zeitpunkt die Adoptionsurkunde bereits gefunden und mit der unumstößlichen Gewissheit gekämpft hatte. Vermutlich hatte er sich irgendwo verkrochen und Kraft und Mut gesammelt, um unsere Eltern damit zu konfrontieren.

Doch was war mit seiner Flucht aus der Aula? Wie passte das ins Bild? Ich richtete meinen Blick wieder auf die rauschenden Baumkronen des kleinen Wäldchens. Wie wäre ich an seiner Stelle mit so einer Situation umgegangen? Ich vermutete, dass Greg auch an diesem Abend bereits in Besitz der Adoptionsurkunde gewesen war. Vermutlich hatte er mir zu Liebe versucht, sich zusammenzureißen, doch irgendwann war sein Schmerz angesichts der familiären Situation so groß geworden, dass er hatte fliehen müssen. Hatte er sich womöglich sogar gefragt, ob unsere Eltern nur deswegen so stolz auf mich gewesen waren, weil ich ihre leibliche Tochter war? Hatte er sich etwa als Kind zweiter Klasse gefühlt?

Ich atmete erleichtert auf, als ich feststellte, dass sein sonderbares Verhalten der letzten Wochen endlich einen Sinn ergab. Es bedeutete mir viel, dass ich meinen Bruder endlich wieder verstand. Dadurch fühlte ich mich ihm wieder ein kleines bisschen näher, obwohl er noch immer weg war.
 

In diesem Moment klingelte irgendwo unten das Telefon. Ich ließ mein linkes Bein an der Fensterbank hinab ins Zimmer baumeln und ignorierte das Läuten einfach. Hier am Fenster, in Gregs Zimmer, mit dem kleinen idyllischen Wäldchen am Horizont war es so friedlich, dass ich gar keine Lust hatte, aufzustehen. Außerdem war Mama ja auch noch da.

Eine kleiner, schwarzweißer Vogel flog in einer eleganten Schleife am Fenster vorbei. Vermutlich war es eine Schwalbe, die sich einige Mücken und Fliegen zum Abendbrot fing. Das Telefon bimmelte noch immer unablässig. Langsam nervte es.

Gerade als ich überlegte, warum Mama nicht abhob, erschien sie in der offenstehenden Tür – vollbepackt mit einem riesigen Berg Wäsche. „Würdest du bitte endlich ans Telefon gehen, Mel?“ Ihre Stimme klang so genervt und gereizt, dass ich ohne zu murren aufsprang und nach unten hastete. Seit Greg uns verlassen hatte, war Mama öfter mal übellaunig und barsch. Wahrscheinlich vermisste sie ihn trotz der Spannungen zwischen ihnen genau so sehr wie ich.

In meiner Eile sprang ich vom untersten Treppenabsatz und rutschte mitsamt dem Flurteppich ziemlich unsanft gegen die Wand. Sofort fuhr mir ein stechender Schmerz ins Knie, doch ich humpelte so schnell ich konnte weiter aufs Telefon zu. Langsam war ich neugierig, wer so viel Ausdauer hatte und was so extrem wichtig war, dass der Anrufer es jetzt schon seit fast fünf Minuten klingeln ließ.

Als ich endlich den Hörer abhob, war ich völlig außer Atem und schaffte es nur, ein schwaches „Ja?“ zu keuchen. Auf der anderen Seite der Leitung blieb es gespenstisch still. Ich fragte mich, ob ich zu spät gekommen und der Anrufer es doch noch aufgegeben hatte, da hörte ich die Atemgeräusche.

Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab. War das einer von diesen perversen Anrufen, bei denen Männer sich einen Kick holten, indem sie Frauen Furcht einflößten, weil sie am Telefon einfach nur atmeten oder stöhnten? Ängstlich hielt ich den Atem an und lauschte. Der Anrufer schien mehrfach tief Luft zu holen und räusperte sich dann. Und dann sagte er endlich etwas: „Hey, Schwesterherz. Wie geht’s dir?“

„Greg!“ Vor Überraschung ließ ich beinah den Hörer fallen. Meine Hände waren plötzlich schweißnass und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich war so unendlich froh, endlich etwas von ihm zu hören.

„Greg! Wo... Wo bist du?“ Wieder hörte ich unendlich lange nur seine gleichmäßigen Atemzüge, doch dieses Mal jagte es mir keine Angst mehr ein. Jetzt, wo ich wusste, dass mein Bruder am anderen Ende der Leitung war, hätte ich ihm stundenlang beim atmen zuhören können, einfach nur, um ihm nah zu sein.

„Ich bin bei Markus.“, kam mit etlichen Minuten Verzögerung die Antwort, wobei Gregs Stimme zögerlich, unwillig klang. Wieso wollte er mir nicht verraten, wo er war? Hatte er Angst, ich könnte es unseren Eltern verraten? Eigentlich hätte er wissen müssen, dass ich im Ernstfall immer zu ihm halten und niemals sein Versteck ausplaudern würde.

Unbewusst schob ich die Unterlippe vor und zog einen Schmollmund. Sein fehlendes Vertrauen enttäuschte mich und bohrte sich wie ein stumpfes, gezacktes Messer in mein Herz. Dennoch machte ich mir sofort wieder Gedanken um Greg.

Wieso zur Hölle war er bei Markus und nicht bei einem seiner Freunde? Sicher, auf der einen Seite konnte ich das durchaus nachvollziehen. Markus’ Eltern interessierten sich kein Stück für ihren Sprössling, weswegen er tun und lassen konnte, was er wollte – also auch Bekannte auf unbestimmte Zeit beherbergen. Damit hatte Greg ohne lästige Fragen und schmerzende Erklärungen ein Dach über dem Kopf. Aber trotzdem störte mich etwas daran.

Wollte er nicht mit jemandem darüber reden, was in ihm vorging? Brauchte er nicht eine Schulter, an die er sich anlehnen konnte oder wenigstens jemanden, der sich anhörte, was ihn belastete? Dafür war Markus sicherlich keine Wahl. Es war der ganzen Schule bekannt, dass Markus in seiner eigenen kleinen, verrauchten Welt lebte, in der vermutlich alles aus Marihuana bestand.

Doch ich schob diese Gedanken und die Trauer über Gregs Misstrauen einfach zur Seite. Ich wollte diese Gelegenheit mit ihm zu reden nicht damit verschwenden. Wer wusste schließlich, wann er das nächste Mal anrief?

„Wann kommst du wieder nach Hause?“ Wieder nur Atmen am anderen Ende der Leitung. Überlegte er nun, ob er es mir sagen wollte oder grübelte er darüber nach, wann er zurückkommen würde? Ich spürte bis in den kleinen Zeh, wie heftig mein Herz schlug. Ich war so gespannt auf seine Antwort, dass ich sogar mein eigenes Blut in den Ohren rauschen hörte.

Doch als Greg endlich antwortete, machte sich herbe Enttäuschung in mir breit. „Gibst du mir mal bitte Mutter. Ich muss da was mit ihr bereden.“ Es hätte weit weniger wehgetan, wenn er mir ins Gesicht geschlagen hätte. „Wann... Wann kommst du denn nun wieder?“, versuchte ich es noch einmal, doch das Ergebnis blieb gleich. „Holst du mir bitte Mutter ans Telefon?“

Wie so oft strömten mir die Tränen übers Gesicht. Hieß das jetzt etwa, dass er nie wieder nach Hause zurückkommen würde? Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich weinte, als ich antwortete, doch Greg hörte es, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. „Es tut mir leid, Mel. Ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme. Aber ich denk die ganze Zeit an dich.“

Irrsinnigerweise fühlte ich mich sogleich besser. Wenn er an mich dachte und ich an ihn, waren wir dann nicht trotzdem irgendwie einander nah? Irgendwo in einer transzendenten Gedankenwelt? Mit einem kleinen Lächeln legte ich den Hörer neben das Telefon. Vermutlich waren wir weit und breit die Einzigen, die noch kein schnurloses Exemplar hatten...

Irgendwie musste ich dabei jedoch versehentlich an den Knopf für den Lautsprecher gekommen sein. Jedenfalls schallte plötzlich Gregs leicht verzerrte Stimme durch den Raum, nachdem Mama den Hörer an sich genommen und ihn begrüßt hatte. Zwar versuchte Mama geradezu panisch die Freisprechfunktion wieder auszustellen, doch bis sie die richtige Taste gefunden hatte, hatte Greg bereits ausgesprochen: „Hallo Mutter. Mir geht’s gut. Ich wollte mich nur mal erkundigen, wie’s jetzt aussieht mit dem Internat.“



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