Veränderung
„Ist nicht dein Ernst?“
Entgeistert starrte Bakura seinen Bruder an. Ryou sass zusammengekauert auf der schwarzen Ledercouch und wagte es nicht, dem anderen in die Augen zu sehen. Verzweifelt-nervös biss der Kleinere auf seine Unterlippe.
Gestern Nacht – ach nein, heute früh morgens – hatte irgend ein Irrer Bakura aus seinem Bett geklingelt. Bereit, dem Störenfried gehörig die Leviten zu lesen, hatte er sich mit einer schweren Taschenlampe und einem Küchenmesser bewaffnet und dann die Tür aufgerissen.
Vor ihm hatte sein Bruder gestanden, frierend, verheult und am Ende seiner Nerven.
Weiter nachgefragt hatte Bakura nicht. Er hatte dem Kleineren das Sofa und eine Decke zur Verfügung gestellt, dann war er wieder schlafen gegangen. Wenige Stunden später hatte er sich durchs Wohnzimmer an ihm vorbei geschlichen und war zur Arbeit gefahren.
Halb hatte er damit gerechnet, dass seine Wohnung leer sein würde, wenn er Abends zurückkam, doch Ryou sass noch da im Wohnzimmer und so hatte er ihn zur Rede gestellt, was denn eigentlich los war.
Noch immer starrte er in das bleiche Gesicht seines Gegenübers und als zwei tränengefüllte Augen zu ihm aufsahen, wiederholte er ungläubig: „Du bist von zu Hause abgehauen?“
Eine einzelne Träne löste sich und rann über die Wange zum Kinn. Ein zögerliches Nicken folgte.
„Und warum?“ Er konnte seine Neugier nicht verbergen.
Auch, wenn er vor Jahren mit seinen Eltern gebrochen hatte und sein Leben durchaus mochte, so war da immer noch dieser Teil in ihm, der neidisch auf Ryou war und sich selbst verdammte. Sein Bruder war schliesslich immer gelobt worden, war brav und fleissig und Bakura war im Glauben aufgewachsen, dass irgendetwas falsch sein musste an ihm selbst.
Und trotzdem sass sein kleiner Bruder nun in seinem Wohnzimmer und weinte, weil irgendwas schief gelaufen war. Ein tiefes Gefühl von Befriedigung machte sich im Ältern breit und ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, bevor die Sorge um seinen Bruder wieder überwog.
Irgendetwas Grosses musste passiert sein.
Warum jetzt?
Bakura wusste, dass er der absolute Notnagel sein musste.
Ryou war immer ein sehr umgänglicher Mensch mit vielen Freunden gewesen. Es musste einen Grund geben, warum er jetzt bei ihm aufgetaucht war, nach über einem Jahr Funkstille. Er wusste ja nicht mal, ob sein Bruder schon mit studieren angefangen hatte oder noch zur Schule ging.
„Weil...“, setzte Ryou an, brach dann aber ab und schwieg.
„Ich werde dich schon nicht auffressen, egal, was ist.“
Erneut ein Nicken, doch noch immer keine Antwort.
Bakura atmete tief ein und zwang sich, geduldig zu sein. Es würde nichts nützen, seinen kleinen Bruder zu bedrängen. Andererseits war Warten nun mal so gar nicht sein Ding. Er schätze Ehrlichkeit sehr, war selbst aber oft so ehrlich, dass er andere damit verletzte.
Ryou war das genaue Gegenteil. Er frass alles in sich hinein.
Hatte vielleicht irgendwas das Fass nun doch zum überlaufen gebracht? War er ausgetickt?
Aber irgendwie konnte der Ältere sich das nur schwer vorstellen. Gut, er hatte die letzten vier Jahre kaum Kontakt zu seinem Bruder gehabt und somit war es gut möglich, dass er dessen Veränderungen nicht mitbekommen hatte, aber trotzdem...
Bakura seufzte schwer und meinte ungeduldig: „Nun sag schon!“
Ryou schüttelte nur seinen Kopf, Tränen rannen wieder über sein Gesicht und er umklammerte fest sein linkes Handgelenk.
Wenn der Grössere etwas noch mehr hasste als Menschen, die immer auf ihrem Mund sassen und ihre Meinung nie kund taten, so waren es Menschen, die weinten.
Einerseits sah er es als grosse Schwäche, andererseits aber – und das ausschliesslich bei Menschen, die er mochte – als Zeichen, dass er als Freund versagt hatte.
Er nahm ein Taschentuch und trat nah an seinen Bruder heran, hob dessen Gesicht und tupfte dann sanft die Tränen weg.
Belohnt wurde er mit einem Lächeln, auch wenn die Tränen weiter flossen.
Er erwiderte und eine Weile sahen sie sich an, der eine sitzend, der andere stehend und beide erinnerten sich an Zeiten, als sie Kinder gewesen waren, weit sorgloser, als sie je wieder sein konnten.
„Ich bin schwul“, hauchte da Ryou plötzlich und konnte dem Blickkontakt nicht mehr länger standhalten.
Bakura liess das Taschentuch sinken und blinzelte zweimal, bis die Worte sein Gehirn erreicht hatten.
„Und deswegen machst du so einen Terz?“ Überrascht stiess er die unbewusst angehaltene Luft durch den Mund aus.
Natürlich, für ihre konservativen Eltern musste es einer Katastrophe gleichkommen. Ebenso gut möglich, dass Ryous gesamtes Umfeld ein Problem damit hatte. Aber Bakura hatte nicht das mit seiner Frage gemeint. Er war ehrlich erstaunt, dass sein Bruder solche Probleme gehabt hatte, es ihm gegenüber auszusprechen.
Und genau so verstand auch Ryou die Frage.
„Du... ich... also, darf ich bleiben?“
Bakura umarmte ihn einfach.
Und Ryou weinte.
Nach einigen stillen Minuten, in denen beide ihre Gedanken ordnen konnten, löste sich der Grössere wieder, setze sich und forderte: „Na, dann erzähl mal. Was ist passiert, dass unsere Eltern es spitzgekriegt haben?“
„Na...“, er zog das A lange, um ein bisschen Bedenkzeit zu bekommen, „ich hatte Knutschflecken am Hals... hinten, wo ich sie nicht sehen konnte und dann hat Mutter sie gesehen und du weisst doch, wie schlecht ich im lügen bin.“
„Und dann haben sie dich einfach rausgeschmissen?“
„Nicht wirklich. Sie haben angefangen, absolut alles zu kontrollieren. Ich musste mein Handy abgeben, ich durfte nur noch für Schularbeiten ins Internet und wurde ständig überwacht. Mutter hat andauernd geweint und mir gesagt, wie sehr ich sie enttäuscht habe.“
„Wie lange ging das so?“
„Etwa zwei Monate... und jetzt...“, er wurde von einem Schluchzen unterbrochen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte hemmungslos.
Bakura konnte förmlich sehen, wie die Welle aus Stress, Angst und Verzweiflung über seinem Bruder zusammenbrach.
Wieder nahm er ihn in den Arm.
Hatte er sich nicht irgendwann geschworen, seinen kleinen Bruder vor allem Leid zu beschützen? Wann hatte er mit diesem Schwur gebrochen? Wann hatte er begonnen, die Illusion der Perfektion, die Ryou um sich aufgebaut hatte, als Wahrheit zu empfinden?
Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt – entsprechend dunkel war es im Wohnzimmer, denn keiner machte sich die Mühe, das Licht anzuknipsen.
„Warum bist du nicht früher zu mir gekommen?“ Es nagte an ihm, dass er offensichtlich nicht da gewesen war, als er gebraucht wurde.
„Ich hatte Angst, dass du mich auch abartig findest.“
Da lachte Bakura.
Nicht, weil es lustig war. Sondern weil die Anspannung von ihm abfiel, er fühlte sich plötzlich so unglaublich leicht.
„Wirklich? Du kannst dich aber schon erinnern, dass ich mal was mit nem Jungen hatte?“
Ein zögerliches, schüchternes Nicken.
„Aber das war doch nur... damals... ich meine... jetzt hast du doch eine Freundin, oder?“
„Ja, und?“
„Du bist wieder normal geworden.“
Mental verpasste Bakura seinem Bruder eine Kopfnuss. Er verdrehte die Augen, seufzte dann: „Ryou, schwul sein ist nicht abartig. Es ist völlig okay. Ich bin nicht mit meiner Freundin zusammen, weil ich geheilt wurde oder so. Und ehrlich, hetero bin ich nun wirklich nicht.“
„Nicht?“
„Nicht. Dafür lutsche ich viel zu gerne Schwänze.“
Ryou wurde rot. Diesbezüglich hatte er sich wohl nicht verändert. Der Kerl, der seinem Bruder die Knutschflecken verpasst hatte, musste ein wahres Genie sein, ansonsten hätte er ihn nie rumgekriegt.
„Ist irgendwie nicht so meins“, hauchte Ryou.
Irritiert blinzelte Bakura, setzte in seinem Kopf den Satz in den Kontext, überprüfte gedanklich nochmals, ob er sich nicht geirrt hatte und sagte dann erstaunt: „Du hast... Also, im Ernst jetzt?“
Er bekam keine Antwort, doch das Schweigen war ihm genug. Sein kleiner Bruder hatte nicht einfach nur ein bisschen rumgeknutscht... der Typ musste wirklich ein Genie sein.
„Warum magst du es denn nicht?“
„Hör auf, mich solche peinlichen Dinge zu fragen!“
„Es interessiert mich aber!“, feixte Bakura und streckte dem anderen seine Zunge raus.
„Es fühlt sich komisch an und irgendwie unangenehm und man kriegt kaum Luft und kotzt beinahe.“
Da hatte er sogar Recht. Die ersten paar Male waren nicht einfach gewesen. Er grinste. Zeit, seinen kleinen Bruder etwas zu piesaken.
Daher meinte er: „Hach, schlimmer als bei mir kann es nicht gewesen sein. Du hast meinen ersten Kerl doch auch ein paar mal gesehen. Warst ja auch der einzige, der was wusste. Mariku, hiess er, falls du dich an ihn erinnerst. Nun ja, er war wirklich ausserordentlich gut bestückt, wie ich inzwischen weiss. Wo ich genug Vergleichsmöglichkeiten habe und so. Und breit war sein Teil auch. Echt, das Ding ganz in den Mund zu kriegen, war ne Aufgabe für sich. Ich schätze aber, bei dir war es ein bisschen einfacher, so gut wie Mariku sind wenige bestückt. Oder was meinst du?“
Ryou schwieg.
„Wie viel hatte er denn? Wenns mehr als 21.7 cm waren, nehme ich zurück, was ich gesagt habe.“
Weiter Schweigen.
„Los, sag schon!“
Kopfschütteln.
„Weisst du die Länge nicht?“
Keine Reaktion. Bakura bekam das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war seltsam. Sein Bruder konnte doch ruhig zugeben, wenn er Penislängen nicht gut einschätzen konnte. War doch nichts dabei.
Er hob seine beiden Hände, hielt sie ausgestreckt vor sich, die Handflächen einander zugewandt – in einem Abstand von 21.7 cm.
„Mehr oder weniger?“
Ryou starrte den Zwischenraum an.
Schwieg weiterhin.
Als de Ältere seine Hände sinken lassen wollte, weil er nicht mehr mit einer Antwort rechnete, hauchte der Kleinere plötzlich: „Ziemlich genau... so.“
Dann wandte er das Gesicht ab und aus seiner ganzen Körperhaltung sprach Scham.
Und plötzlich fiel der Groschen.
„Sag nicht... du...“, Bakura stockte, „ du hast mit Mariku...“ Er liess den Satz offen, zu seltsam schien ihm die Option.
Ryou nickte.
„Ich glaube es nicht!“, rief der Ältere aus. „Das ist nicht wahr!?“
Doch im Grunde wusste er, dass es der Wahrheit entsprach. Der Kleinere war nicht die Art Mensch, die über so etwas Witze machen würde, schon gar nicht, da seine Körperhaltung noch immer Bände sprach.
Bakura zückte sein Handy, wählte die Nummer seines besten Kumpels und sobald dieser in der Leitung war, sagte er: „Riku, du kommst sofort her. Ryou ist bei mir.“
Das hatte genügt. Keine zehn Minuten später hatte der Ägypter vor der Wohnungstür gestanden und Bakura hatte ihn reingelassen. Wenn er sich nicht bereits zu diesem Zeitpunkt vollkommen sicher gewesen wäre, mit wem sein Bruder im Bett war, so war es spätestens offensichtlich, als sich die beiden sahen.
Bakura hatte Ryou aufgefordert, Mariku alles zu erzählen, und damit es kein Entkommen gab, hatte er die beiden in sein Arbeitszimmer bugsiert und von aussen abgeschlossen. Konfrontation war manchmal eben doch die beste Lösung.
Jetzt lehnte Bakura breit grinsend gegen die Küchenzeile und nippte an einem Glas Sprudel. Sein Bruder und sein bester Kumpel... das war schon was. Würde bestimmt eine turbulente Zeit werden mit den beiden. Vorausgesetzt, sie konnten sich auf irgendwas einigen. Sexbeziehung, Freundschaft, Nie-wieder, Hochzeit... Er lachte befreit ob dem Gedanken an Ryou, der versuchte, Mariku über die Schwelle zu ihrem trauten Heim zu tragen. Er war froh, dass mit seinem Bruder alles in Ordnung war. Er hatte sich wirklich Sorgen gemacht.
Langsam sollte er aufschliessen gehen, entschied er und stiess sich von der Kante ab. Er schlich zu seinem Arbeitszimmer und je näher er kam, umso sicherer war er sich, dass da zwei Menschen ziemlich ungehemmt stöhnten.
Mit einem breiten Lächeln entschloss er, die beiden allein zu lassen und verliess die Wohnung. Mariku konnte die Tür bestimmt auftreten, wenn sie raus wollten.
Ein kaputtes Schloss schien ihm gerade wie eine lächerlich kleine Lappalie.