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Mit gebrochenen Flügeln

von

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Kapitel 6

Was ist Schicksal?
 

Xander
 


 

Er ist so unbeschreiblich müde. So müde, dass er nichts Anderes will, als zu schlafen. Nicht, dass er es nicht auch versuchen würde, aber es gelingt ihm nicht. Seine Augen sind geschlossen und er liegt zusammengerollt auf Angels Couch. Der Schwarzhaarige hört sie in der Küche werkeln, Töpfe klappern, Gläser scheppern, doch im Grunde genommen ist es ihm ganz egal, was sie dort treibt. Xander drückt seinen Kopf noch fester in das angenehm weiche Couchkissen. Er will doch gar nicht mehr, als in einen erholsamen Schlaf gleiten. In seinem Kopf pocht und hämmert es, als würde ein Hubschrauber darin umherschwirren. Ansetzend zur Landung, immer und immer wieder. Plötzlich ist es still in der Küche, er braucht eine Sekunde um das zu registrieren, dann beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Gleich darauf vernimmt der Junge ihre schlurfenden Schritte über dem Teppichboden. Sie kommt näher und es wäre überflüssig seine Augen zu öffnen um festzustellen, dass sie unmittelbar vor der Couch zum Stehen gekommen ist. Jetzt wird’s ernst.
 

„Xander?“, ihre Stimme ist sanft und glockenhell. Unter anderen Umständen wäre sie sicher sehr beruhigend, doch im Moment will er nicht mehr und nicht weniger als seine Ruhe. Das ist vermutlich egoistisch, aber im Augenblick ist ihm das ziemlich egal.

„Komm schon, ich weiß, dass du nich’ wirklich schläfst.“ Mist. Er ist einfach kein Schauspieler. Seelenruhig setzt sie sich auf die Sofakante und legt eine Hand auf seine Schulter. Keine Sekunde später sitzt er stocksteif und aufrecht auf der Couch. Wie ein Blitz war ein kalter Schauer über seine Haut gefahren und an der Stelle die Angel berührte, breitete sich eine Hitze aus. Keine angenehme, sondern eine, die verbrennt. Sofort zieht sie ihre Hand zurück. Augenblicklich ist das Gefühl fort. Die aufkeimende Erinnerung verschwunden.
 

„Sorry, ich hab’ vergessen, dass du das nicht magst“ Sie sieht ihn zerknirscht an und ihm schwant Übles. Hier geht es nicht nur um die überflüssige Berührung, auch wenn sie leicht untertrieben hat, was seine Abneigung Berührungen gegenüber angeht. Genau genommen ist es ihm ziemlich zuwider, wenn ihn jemand anfasst. Eine der Sachen, die er am Heroin nicht versteht. Nie verstehen wird. Wie können einem Dinge, die einen sonst die Wände hochgehen lassen würden, plötzlich so egal sein? Einfach gleichgültig? Und ist das nun gut oder schlecht?
 

„Hey Xander? Hörst du mir überhaupt zu?“, Angels Stimme klingt leicht angefressen.

„Sorry, was hast du gesagt? Ich war … irgendwie abgelenkt.“

Sie verdreht genervt die blauen Augen und eine Strähne ihres blondierten Haares fällt ihr ins Gesicht als sie antwortet:

„Ich sagte, der Kerl von der Fürsorge kommt in zwei Stunden. Bis dahin musst du wohl oder übel weg sein, sonst knallt’s.“

Sie stößt einen unüberhörbaren Seufzer aus. Xander weiß ja, dass sie’s nicht böse meint, wenn sie ihn raus schmeißt. Sie will nur keinen Stress. Schon klar. Zwei Stunden. Unwillkürlich sieht er aus dem Fenster. Das Wetter ist mit dem Wort mies eigentlich nur unzureichend beschrieben. Der graue Himmel ist wolkenverhangen, es regnet seit einer halben Ewigkeit. Es ist jetzt schon richtig kalt und er weiß genau, dass es gen Abend noch kälter wird. Fuck. Aber vom aus dem Fenster starren wird das Wetter auch nicht besser, also versucht er sich auf das zu besinnen, was jetzt gerade wichtig ist. Der Schwarzhaarige atmet einmal tief durch, in der Hoffnung, seine nächste Frage wäre ihm so weniger unangenehm. Fehlanzeige.
 

„Klar, kein Ding. Ehm … kann ich …vielleicht … noch eben deine Dusche benutzen?“

Sie lacht. Er hasst es.

„Na, wenn’s weiter nichts ist? Als du mich gerade so erwartungsvoll angesehen hast(,) dachte ich ‚Was kommt jetzt’?“

Irgendwie ist er erleichtert und dennoch hält er die Luft an, als sie von Neuem ansetzt: „Und wenn du schon dabei bist, kannst du deine Kleidung vor die Badtür legen. Ich schmeiße sie dann zusammen mit meinen Sachen im Keller in die Waschmaschine …und natürlich in den Trockner. Außerdem findet sich hier sicher noch ’n Shirt von meinem Ex.“
 

Er weiß, Schamgefühl ist hier jetzt echt nicht angebracht und er hat sicher schon ganz andere Sachen gemacht, für die er sich wirklich schämen sollte, aber trotzdem spürt er, wie sein Gesicht heiß wird. Verdammt peinlich und er ist nicht mehr high genug, um das zu ignorieren. Seine Hände und Beine, sein ganzer Körper fängt an zu kribbeln – nicht die angenehme Sorte, eher so wie wenn tausende von Krabbelviechern über dich herfallen – so wie jedes Mal, wenn er nur an den Stoff denkt. Dabei sollte er vom letzten Mal, das kaum zwei Stunden her sein dürfte, noch gut bedient sein. Angels Vorrat ist bereits weg, aber heute Nacht beschafft Xander Neues.
 

Er steht von der Couch auf, Angel bleibt sitzen. Als er bereits beim Türrahmen angelangt ist, dreht er sich noch einmal um. Immer noch sitzt sie unbewegt da.

„Danke“, murmelt Xander, dann macht er sich so schnell wie möglich auf ins Bad.

Eine Weile später sitzen sie am Tisch in Angels Küche. Es duftet nach Tomatensoße. Sie hat gekocht und lächelt ihn an, als sie ihm einen Teller mit Nudeln und Soße rüber schiebt und wieder einmal merkt er, wie hübsch sie eigentlich ist. Die zwei Monate, die sie clean war – auch wenn man’s kaum glauben mag – haben ihr echt gut getan. Doch es wird nicht mehr lange dauern, da wird sie wieder aussehen wie früher. Nein, vermutlich schlimmer. Sie ist ja jetzt schon wieder voll drauf, auch wenn es der Sozialheini noch nicht gecheckt hat. Dann wird ihre Haut total kaputt aussehen und überhaupt wird sie abgewrackt wirken. Aber der Junge braucht sich nichts vorzumachen, er ist selber nicht besser. Fast elf Monate, solange nimmt er den Scheiß schon. Elf Monate und mittlerweile verliert er oft das Zeitgefühl. Oder beim Zähneputzen. Nicht, dass er es damit so eng nehmen würde. Kann er ja auch gar nicht, außer wenn er bei Angel ist. Aber früher hatte er nie Karies. Jetzt schon. Er glaubt das kommt auch von dem Zeug. Aber sicher ist er sich nicht. Was Xander weiß ist, dass die komischen, roten Hautstellen davon kommen. An seiner Armbeuge, wo er die Spritze ansetzt, an seinem linken Handgelenk und am Hals. Rot und juckend. Ständig kratzt er sie auf, er erwischt sich dabei und hasst sich dafür. Genervt schließt er seine Augen. Was zur Hölle ist los mit ihm? Er will diese Gedanken nicht, er braucht sie nicht.
 

Langsam fängt er an zu essen, Angel ist schon halb fertig. Richtigen Appetit hat er plötzlich aber nicht mehr. Stattdessen denkt er daran zurück, wie er nach New York kam. Das war Anfang Dezember, letzten Jahres. Er kannte niemanden. Dann lernte er Angel kennen. Angel war immer da. Ist immer da. Sie ist die Einzige. Wenn ihre Eltern weg waren, konnte er manchmal bei ihr pennen und irgendwann schleppte sie dann Gras an. Aus Gras wurde Heroin, das sie zuvor schon regelmäßig genommen hat. Am Anfang hat er sich nicht dran getraut. Doch Angel brachte irgendwann nur noch Heroin mit. „Es ist super“, war ihre Aussage. Er macht ihr keinen Vorwurf, natürlich nicht. Niemand hat ihn gezwungen. Angel ist zuhause weg. Dann vor ein paar Monaten kam sie auf die Idee zu entziehen. Ihre Eltern hatten sie gesucht, gefunden und bequatscht. Keine richtige Therapie. Zuhause. Sollte ja keiner mitkriegen, was los ist. Dann kam irgendwann der Sozialheini und mit ihm bekam Angel ’ne eigene Wohnung. Jetzt ist sie wieder drauf. Dabei hat er sich sogar daran gehalten, ihr kein Zeug zu besorgen. Irgendwo anders hat sie’s dann hergenommen. So ist das immer. Du kannst in New York an alles kommen, wenn du nur willst. Xander weiß das schon lange.
 

Er sieht auf. Angel ist fertig mit essen und beobachtet ihn. Sie schweigt. Er auch. Dann isst Xander auf, mittlerweile ist die Mahlzeit kalt. Ihre Blicke gehen gleichzeitig zur Uhr. Er steht auf, sie ebenso. Nur ein Nicken, keine große Verabschiedung und er verlässt die Wohnung. Die beiden haben nichts Genaueres abgesprochen, aber sie werden sich schon wieder treffen.
 

Der Regen ist einfach widerlich. Seine Laune ist so richtig schön im Keller. Es könnte aber schlimmer sein, richtig? Okay, wem macht er was vor? Das ist echt ein erneuter Tiefpunkt. Verdammte scheiße, mitten im Gehen hält er inne. Seit wann versinkt er so im Selbstmitleid? Gott, wie erbärmlich. Schluss damit. Aus, Ende. Selber schuld. Xander bemüht sich an etwas anderes zu denken. Diesen dämlichen Regen zum Beispiel.
 

Es ist richtiger Platzregen, die Sorte bei der man lieber kuschelig im Bett liegt. Nichts wie weg hier. Aber wohin? Er stellt sich eng an eine Hauswand gepresst, aber wirklich trocken ist es hier nicht. Normalerweise würde er zum Bahnhof gehen, nur ist es dafür viel zu früh und außerdem hat er auch keinen Bedarf. Noch nicht. Noch dazu ist der Weg viel zu weit. Option zwei ist in der Regel einfach umher laufen. Es soll bloß keiner merken, dass man kein Ziel hat. Auch das fällt eher flach. Zum einen, weil er nicht scharf darauf ist, wie ein Putzlappen durchweicht zu werden, zum anderen, weil es nicht geht. Seit er sich vor zwei Wochen dumm den Fuß verdreht hat, rebelliert dieser ständig. Den ganzen Tag herumlaufen ist einfach noch nicht wieder drin. Am ersten Abend des ‚Unfalls’ tat sein Fuß nur höllisch weh, am nächsten Morgen war er bereits dick und blau angeschwollen und er musste wohl oder übel feststellen, dass er sich geirrt hatte. Hatte er noch am Abend zuvor geglaubt die Schmerzen könnten nicht schlimmer sein, so wurde der Junge am nächsten Morgen eines Besseren belehrt. Tage lang konnte Xander so gut wie gar nicht auftreten. Das schlimmste war aber eigentlich das Gefühl dabei. Auf New Yorks Straßen ist es nie sonderlich kuschelig und nachts schon dreimal nicht, aber wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat sich aus dem Staub zu machen, wenn’s darauf ankommt. Dann ist man, na ja, ziemlich am Allerwertesten. Da kann sich einem echt der Magen umdrehen, im wahrsten Sinne des Wortes. Mittlerweile geht es Gott sei Dank wieder, nur eben keine langen Strecken. Aber für den Notfall reicht’s. Muss man eben ’ne Weile die Finger von fremden Portmonees lassen. Ihm kommt der Gedanke zur U-Bahn-Station zu gehen, da ist es zumindest trocken. Man muss nur höllisch auf die Polizei aufpassen. Besonders in Zivil rennen die da gerne rum. Unwillkürlich hat er ein flaues Gefühl im Magen. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Wer hat sich den Spruch eigentlich ausgedacht? Ist jedenfalls ziemlicher Unfug. Er muss an seinen Vater und dessen nicht weniger trunkenen Kollegen und besten Freund denken, wenigstens für eine Sekunde und das reicht auch um seine Knie weich werden zulassen. Er schließt die Augen, nur kurz, lehnt sich langsam gegen kalten Stein.
 

„Er sucht nicht nach mir …“, murmelt er. Bestimmt nicht. Oder nicht mehr. Selbst wenn, woher sollte er wissen, wo er ist? Er schiebt zu viel Panik und dennoch ist ihm die Polizei ein Dorn im Auge. Alles miese Heuchler. Oder sollte es ihn belustigen, dass die Beamten, die ihm tagsüber davon jagen, weil er ja ‚hausiert’, ihm nachts als Freier wieder begegnen? Na zumindest hat das Xander schon mal den Kragen gerettet. Die wollen ja auch nicht, dass er das herum posaunt. Ein Beispiel von vielen. Die Welt ist nie so, wie sie scheint. Das hat er längst gelernt. Alle lügen lieber für den schönen Schein. Reden ist Silber und Schweigen ist Gold, nicht? Da schweigt am besten gleich ein ganzes Volk. Zum Kotzen.
 

Er zieht die Kapuze des alten Hoodies, den Angel ihm von ihrem Ex gegeben hat, enger. Gott, er ist so froh den zu haben. Es ist so saukalt und sein altes Bandshirt löst sich in alle Fasern auf. Der Green Day Aufdruck ist kaum noch zu erkennen. Obwohl seine Jeans auch nicht viel besser ist, die Sicherheitsnadeln halten sie wohl eher zusammen als die Nähte, aber sie tut ihren Zweck. Während er sich so seine – unnützen – Gedanken macht, marschiert er Richtung U-Bahn. Schon bald ist er bis auf die Haut nass, aber der Eingang zur U-Bahn-Station kommt ebenso bald in Sicht und kaum, dass er den Schacht betritt, kommt ihm eine Mischung aus überhitzter Luft, Schweiß und sonstigen Ausdünsten entgegen. Ein alt bekannter Duft. Augenblicklich wird dem Siebzehnjährigen schlecht. Zufall, Pech, ein Wink mit dem Zaunpfahl? Keine Ahnung, jedenfalls kommt ihm sofort ein Uniformierter entgegen. Xander hält den Atem an, beschleunigt seine Schritte aber nicht. Ganz unauffällig bleiben. Dann ist er vorbei und sein Körper entspannt sich merklich. Er schlendert bis zum anderen Ende des Bahnsteiges und lässt sich mit schmerzendem Fuß in einer akzeptabel aussehenden Ecke nieder. Kein schlechter Platz und trocken. Mal sehen, wie lange er bleiben kann.
 

Kurz darauf fährt eine Bahn in die Station ein. Der andere fällt ihm sofort auf, als er den Zug verlässt und auf den Bahnsteig tritt. Man könnte meinen, es liegt an der auffälligen Frisur. Kurz geschorene Seiten, ein aufgestellter, roter Iro, starker Kontrast zu dem sonst schwarzen Haar. Aber das ist es nicht. Viel mehr sind es die grünen Augen, die seine Aufmerksamkeit wecken, weil sie gewissen anderen grünen Augen stark ähneln. Verdammt. Schnell schaut er in eine andere Richtung, obgleich ihm der Gedanke kommt, dass das nicht weniger unauffällig ist. Einen Augenblick lässt er verstreichen, dann schaue er wieder rüber. Überrascht stellt der Schwarzhaarige fest, dass er kaum einen Meter entfernt von ihm steht. Direkt vor dem U-Bahn Linienplan. Er sieht ziemlich perplex aus und er scheint nervös. Hibbelig tritt er ständig von einem Fuß auf den anderen, als müsste er dringend mal eine Toilette aufsuchen. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als er mit dem Finger einer Linie folgt. Er seufzt theatralisch auf und Xander kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
 

„Hör auf mich auszulachen!“

Der andere hat die ganze Zeit bemerkt, dass er ihn beobachtet, das sollte ihm eigentlich peinlich sein. Ist es aber nicht.

„Streng genommen habe ich keinen Laut von mir gegeben, also habe ich dich nicht ausgelacht.“

„… ist trotzdem nicht witzig, klar?“

„Ich würde sagen, das liegt im Auge des Betrachters.“

Der Rothaarige zieht eine Augenbraue hoch.

„Muss ich echt noch offensichtlicher sagen, dass du mir helfen sollst?“
 

Tatsächlich bequemt er sich dazu aufzustehen. Er weiß nicht genau, was ihn sympathisch macht. Ob es sein Auftreten oder doch eher sein komischer Akzent ist. Er könnte Brite oder so was sein, der Wortwahl und dem Akzent nach zu urteilen jedenfalls. Aber Xander steht bestimmt nicht für jeden auf.
 

„Streng genommen, ist es ja nicht mein Problem, wenn du völlig unvorbereitet ohne Stadtplan hier auftauchst“, einen Kommentar kann er sich dennoch nicht verkneifen.

Erneut seufzt der andere theatralisch, bevor er meint:

„Ich hab’ es zu deinem Problem gemacht, als ich dich angesprochen habe, okay? Oder nein, viel eher hast du es selbst zu deinem Problem gemacht, als du mich angestarrt hast“
 

Das ist, zugegeben, ein gutes Argument und außerdem hat er ja sowieso schon beschlossen ihm zu helfen. Er ist sich nur nicht sicher, ob er es gut oder schlecht finden sollte, dass er ihn irgendwie mag. Unter anderen Umständen hätten sie vielleicht Freunde werden können, aber im Prinzip ist das auch egal. Sie werden sich sowieso nie wieder sehen, von daher. Er tritt hinter ihn und möchte eigentlich über seine Schulter auf den Plan sehen, doch er hat sich verschätzt. Er ist zu klein und so sieht er nichts. Also stellt er sich doch neben ihn und sofort registriere er den musternden Blick der sogleich auf ihm liegt. Er ignoriert es. Darin hat Xander inzwischen Übung. Einen Moment lang sieht er still den Fahrplan an. Nichts.
 

„Ehm, es wäre schon von Vorteil, wenn du mir sagst, wo du eigentlich hin willst. Deine Gedanken kann ich nämlich nicht lesen …“

Der andere Junge hustet. Ganz unauffällig. Man könnte sich glatt fremdschämen, aber irgendwie ist’s auch witzig.

„Tellmans Square No. 41“

Er muss ein ziemlich dämliches Gesicht machen, doch er kann nicht anders, als ihn verblüfft anzusehen. Wenn er sich nicht irrt – und er glaube nicht, dass er sich irrt – befindet sich dort eine Jugendwohngruppe. Gott, keine zehn Pferde bekämen den Siebzehnjährigen dort rein. Nicht, dass er schon mal dort gewesen wäre, aber ein Bekannter war es und es muss dort wie Knast sein.

„Du siehst mich an, als hätte ich dich nach dem Eingang zur Hölle gefragt.“

„Vielleicht hast du das ja auch.“
 

Der Größere schüttelt den Kopf, grinst dabei aber gleichzeitig. Kann ihm ja auch egal sein, was er macht und was nicht. Der Grünäugige sieht nur nicht wie jemand aus, der sich gerne an Regeln hält. Sein Problem. Also sucht er auf dem Plan nach dem kürzesten Weg zum Ziel. Gefunden. Er zeigt mit seinem Finger auf eine gelbe U-Bahn Linie, bemerkt dabei, wie zufällig, dass der völlig durchnässte Pulloverärmel tropft und versucht es dem Rothaarigen so einfach wie möglich zu erklären:

„Du nimmst einfach die Linie 312, fährst bis zur 62. und steigst dann in die 329 um. Fährst bis Ecke 28. und schon bist du da …“

Der andere nickt, aber sein Blick verrät ihm, dass er keinen Schimmer hat, wovon er redet. Das teilt er ihm auch mit: „Du hast keinen Plan, wovon ich rede, oder?“

„Nicht wirklich“, gesteht der.

„Aus welchem Hinterwäldlerland stammst du denn, dass du nicht mit ’nem U-Bahn Plan zurechtkommst?“

Für einen Moment blitzt es in den grünen Augen auf und er vermag es zwar nicht zu sagen, aber der Blick wirkt kurz beinahe so, als hätte der Junge Heimweh. Komisch.

„Hey, Schottland ist eine Wirtschaftsnation und kein Hinterwäldlerland, klar? …“, der Größere wirkt echt angepisst, doch gleich darauf ist er ruhiger, fast kleinlaut. „Und außerdem fahre ich nun mal weder gerne noch oft U-Bahn.“
 

Schottland. Verdammt, das ist wirklich weit weg. Das ist ein verfluchter, ganzer Kontinent. Wie ist er bitte dazu gekommen? Xander kann sich kaum vorstellen, welchen Grund es dafür geben kann, einen ganzen Ozean zwischen sich und seine Heimat zu bringen, andererseits ist er auch nicht viel besser und vielleicht hätte er es getan, wenn er die Mittel dazu gehabt hätte.

„Es hilft vermutlich auch nicht, wenn ich dir den Weg noch mal erkläre?“, fragt er mit wenig Hoffnung. Zerknirscht verneint der Andere. Na schön, wenn’s nicht anders geht. Nun ist es an ihm theatralisch aufzuseufzen.

„Okay, ich bring dich hin …“

„Echt jetzt?“

„Nein, ich lock’ dich in ’ne dunkle Gasse und leg dich um“, er verdreht genervt die Augen. Sah er aus als würde er scherzen?

Sie müssen eine gute Viertelstunde warten, bevor die Bahn mit der Nr. 312 in den Schacht einfährt. Sie ist völlig überfüllt, aber was soll’s? Irgendwie quetschen sie sich noch rein und dann nimmt die Bahn auch schon an Fahrt auf. Er ertappt den Kerl tatsächlich dabei, wie er nach einem Fahrkartenautomaten Ausschau hält, vermutlich ist ihm jetzt erst aufgefallen, dass sie draußen keine gezogen haben. Der Größere entdeckt den Automaten und will sich schon durch die Massen drängeln, als er ihn am Arm zurückzieht. Der Andere schaut ihn völlig perplex an und fragt dann, ob er ernstlich planen würde, schwarz zu fahren. Himmel, ist der Kerl echt so weltfremd oder tut der nur so? Xander kann es kaum glauben.

Er stellt ihm als Gegenfrage, ob er ernstlich plane, sich ein Ticket zu lösen und klärt ihn dann auf, wie unwahrscheinlich es ist, dass hier und jetzt ein Kontrolleur auftaucht und selbst wenn, wären sie schneller draußen, als der schauen könnte.
 

Bei der 62. steigen sie aus und in die 329 um. Die ist weniger voll und sie setzen sich nahe der Türen. Zwei Stationen und etwa zehn Minuten Fahrt weiter, ist das Glück, zugegeben, nicht wirklich auf ihrer Seite. Er erahnt den Kontrolleur schon, noch ehe er ihn durch die Glasfront der Abteiltür sehen kann. Bis zu ihrer Zielstation ist der Weg noch ein ganzes Stück, aber das spielt jetzt keine Rolle. Er packt seine Begleitung unsanft am Arm und im letzten Moment, bevor sich die Türen wieder schließen, stehen sie am Bahnsteig in der 27. Er erwarte eigentlich, dass der Rothaarige jetzt eine Szene veranstaltet. Nichts dergleichen geschieht, er bleibt ganz ruhig. Er macht erst Anstalten, etwas zu sagen, als sie vom U-Bahn-Schacht ins Freie treten. Der Regen ist seinem Gefühl nach noch schlimmer geworden, der Wind zerrt an seinen Kleidern und dann durchbricht eine raue Stimme die Stille zwischen ihnen.

„Ist dir gar nicht kalt?“

„Hmm …geht schon.“ Er sieht den größeren Jungen an. Er hat den Reißverschluss seiner armygrünen Jacke jetzt geschlossen. Xander hat die Kapuze seines Sweatshirts, die er in der Bahn abgenommen hat, wieder aufgesetzt. „Geht schon“ ist leicht untertrieben. Er hat das Gefühl zu erfrieren, aber er weiß genau, dass er’s nicht wird. Wieder ist es eine Weile lang still, mal geht der Junge, dessen Namen er noch immer nicht kennt, ein kurzes Stück vor ihm, mal neben ihm, mal trottet er auch hinter ihm her. Während der Typ so vor ihm läuft, kann er deutlich sein Portmonee im Seitenfach seines überdimensionalen Rucksacks sehen. Er spielt mit dem Gedanken, es sich zu nehmen. Der Andere würde es vermutlich gar nicht bemerken und es wäre ja nur so eine Art Lohn dafür, dass er ihn durch die halbe Stadt bringt. Außerdem sagt ihm sein Bauchgefühl, dass der Typ vor ihm Kohle hat. Aber er kann’s nicht. Verdammt, er kann’s nicht. Wieso auch immer. Vielleicht ist’s der dämliche Akzent, die noch viel dämlicheren grünen Augen oder die Tatsache, dass er so verdammt weltfremd ist, aber Xander kann’s einfach nicht.

Irgendwann, kurz bevor sie am Ziel angelangt sind, versucht der Grünäugige wieder ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Er fragt ihn wieder, ob ihm sicher nicht kalt sei. Der Größere sieht ihn an und meint darauf hin, ihm selbst sei saumäßig kalt und er könne sich nicht vorstellen, dass irgendjemand bei diesem Wetter nicht friere. Xander erwidert, er sei der lebende Beweis. Er sagt ihm nicht, dass er genauso friert und er sagt ihm auch nicht, wie elend er vermutlich heute Nacht frieren wird. Das ist sein Problem, nicht das des Anderen.

Er bringt ihn fast direkt vor die Haustür und ist schon wieder im Gehen, als die mittlerweile allzu bekannte, raue Stimme ruft: „Warte!“

Er dreht sich nicht um, hält aber an und schaut über die Schulter.

Er sieht, dass der andere sein Portmonee in der Hand hält und fühle sich richtig mies, weil er tatsächlich darüber nachgedacht hat, ihn zu beklauen. Wann ist er eigentlich so tief gesunken? Er kann jetzt kein Geld von ihm annehmen, dafür ist er zu stolz, egal wie blöd das sein mag. Er kann Angel förmlich lachen hören.
 

„Lass stecken.“

Der Rothaarige schnaubt, aber er begreift sofort, dass es keinen Sinn hätte, auf ihn einzureden.

Er geht bereits wieder, als er die raue Stimme sagen hört:

„Ich bin Nile …“

Er schaut nicht mehr zurück, aber er antwortet. Wieso zum Teufel antwortet er?

„Alexander.“
 

Es ist Nacht. Ganz streng genommen ist es früher Morgen. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Aber es ist schneidend kalt und er kann förmlich spüren, wie seine nasse Kleidung Frost angesetzt hat. Den Pullover hat er sich locker um die Hüfte gebunden, weil unnötige Kleidung bei der Arbeit nur stört. Das bittere Gefühl von Hilflosigkeit und Abscheu steigt in ihm empor, als er daran denkt, noch lange nicht genug Geld für die doppelte Menge Stoff zusammen zu haben, obwohl das nicht ganz stimmt, denn Angel braucht etwas mehr Stoff als er. Sie zählt aber auf ihn und er wäre unfair, wenn er’s nicht täte, sie hat schließlich auch mit ihm geteilt. Dabei hat er die ganze verdammte Prozedur auch schon zweimal hinter sich. Bei Angel geht’s schneller mit der Kohle, liegt daran, dass sie keine Hemmungen hat. Aber er kann das einfach nicht, er hat versucht sich einzureden, dass es ihm egal ist, ist es aber nicht. Vielleicht, wenn er so richtig unten angekommen ist. Letztens war er fast soweit. Er war richtig runter, brauchte dringend das Heroin und hatte schon Magenkrämpfe und den ganzen Dreck. Einen Moment lang dachte er wirklich, er würde verrecken. Albern. Schon klar. Aber es war die Hölle und da wäre er soweit gewesen, zu diesem Zeitpunkt dachte er sich, bevor’s das nächste Mal soweit ist, scheißt er auf seinen Körper. Dann muss es ihm egal sein, was sie damit machen. Kaum hatte er den Stoff, war er wieder klar genug, um sich vor diesen Gedanken zu ekeln. Richtig zu ekeln. Er hatte sich geschworen, dass niemals wieder über sich ergehen zu lassen. Xander atmet so tief ein wie irgend möglich und seine Lungen füllen sich mit beißend kalter Nachtluft. Das Gefühl ist okay. Das Gefühl ist gut. Es zeigt ihm, dass er noch am Leben ist, noch da ist.
 

Er hätte, nachdem er das Auto des alten Sacks verlassen hat, nicht noch eine Viertelstunde in der Seitengasse vertrödeln sollen, dann käme er sicher besser voran, aber so geht’s ihm nach jedem Job. Er braucht den Abstand und außerdem ist das Viertel hier das elendste Loch. Hier sind gefühlt immer Freier, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Er trottet also wenig motiviert zurück zu seinem Platz nahe des U-Bahn-Schachtes. Gott sei Dank ist er Nile nicht hier begegnet. Er würde mit ziemlicher Sicherheit darauf wetten, dass der noch nie in so einer Gegend war. Dann schüttelt er den Kopf, wieso denkt er jetzt an sowas? Er unterdrückt ein entnervtes Aufstöhnen. In seinem Kopf ist kein Platz für irgendwas anderes als sich selbst und das Heroin. Er will sich auf potenzielle Kunden konzentrieren und genau das ist der Augenblick, in dem er ihn sieht. Der Schwarzhaarige erkennt ihn sofort, als er die Straße herunter gelaufen kommt, oder viel mehr getorkelt. Es ist ein wankender Gang, wie er ihn von seinem Vater kennt, wenn der einmal wieder im Suff war – was, streng genommen, nicht selten der Fall war. Jedenfalls ärgert er sich furchtbar darüber den jungen Mann zu erkennen. Ihn überhaupt zu sehen. Ihn in alles und jedem zu sehen, das ihm irgendwie über den Weg läuft. Alles seit dieser dämlichen Szene in Kings Laden. Mit Angel hat er gar nicht erst darüber gesprochen, wieso auch? Der Unterschied zu den letzten Malen ist nur, dass der Kerl es dieses Mal wirklich ist. Sofort dreht Xander seinen Kopf weg und geht ein Stück rückwärts. Gott, denkt er. Ist das albern. Vermutlich bemerkt der ihn nicht einmal. Im Gegensatz zu ihm, hält er ja nicht regelrecht Ausschau. Moment mal? Seit wann hält er Ausschau? Seit Beginn an, flüstert eine leise hämische Stimme in seinem Kopf und er möchte sie am liebsten erdolchen.
 

Vorsichtig schaut er auf. Er möchte ja nur wissen, ob er schon fort ist. Da sieht er ihn in einigen Metern Entfernung stehen. Ganz still. Der junge Mann mit den rot blonden Haaren schaut nicht in seine Richtung. Nein, sein Blick ist in die Ferne gerichtet, so als schaue er jemanden hinterher. Warte. War er nicht eben noch in Begleitung? Oder hat Xander sich das nur eingebildet. Er weiß es nicht mit Sicherheit, jetzt ist der Andere jedenfalls alleine. Keine Ahnung, ob der wohl gemerkt hat, dass er ihn anstarrt, jedenfalls dreht er just in diesem Moment seinen Kopf und sieht ihn direkt an. Fast wäre er wieder ein Stück zurück getaumelt, so sehr erschreckt er sich. Was macht er hier eigentlich? Verdammt, ist ihm das plötzlich peinlich. Er geht tatsächlich einen Schritt zurück und schaut stur gen Boden. Doch er spürt genau, dass der ihn weiterhin ansieht und plötzlich wird er sauer. Was ist denn falsch mit dem Kerl? Wieso starrt der ihn so blöd an? Ihm egal, ob es trotzig ist, er blickt auf und starrt ihm stumm ins Gesicht. Er wird sich hüten, ihn merken zu lassen, wie peinlich ihm das Ganze ist. Dann kommt der junge Mann auf ihn zu und sein Herz rutscht ihm in die Hose. Oha, was jetzt?
 

Ihm ist mit einem mal ziemlich mulmig zumute, aber er weicht nicht noch weiter zurück. Dann steht er direkt vor ihm. Nochmals wird er von dem Anderen gemustert. Er wird doch nicht …?
 

„Was zur Hölle willst du?“ Er versucht so aggressiv wie irgend möglich zu klingen.

Die ganze Sache hier behagt ihm einfach nicht.

„Mit dir reden …“, es kommt ganz leicht über seine Lippen, ganz ohne auf Xanders Tonfall einzugehen und das macht diesem irgendwie Angst.

Er glaubt nicht, dass es hier ums ‚geschäftliche’ geht, trotzdem muss er einen Kloß in seinem Hals hinunter schlucken, ehe er betont ruhig antwortet:

„Worüber?“

Der Rotblonde sieht ihn ungerührt an und Xander kann keine Gesichtsregung erkennen. Der Größere wirkt nüchterner, als er zunächst dachte.

„Glaubst du an Schicksal?“
 

Das bringt ihn einfach völlig aus dem Konzept. Was ist das denn für eine dämliche Frage? So was fragt man doch keinen. Er weiß gar nicht, ob man auf so was überhaupt antwortet und wenn ja wie, da bemerkt er die Blicke der anderen. Die, die um sie herum stehen und ihm wird klar, dass das hier nicht der richtige Ort für ein Gespräch dieser Sorte ist. Kein Ort für irgendein Gespräch. Er kann sich eigentlich gar nicht richtig erklären, warum er es tut, aber er packt ihn am Handgelenk und zerrt ihn mit sich fort. Dabei bemerke er, wie betrunken, der eigentlich ist, denn er ist um einiges kräftiger als Xander und dennoch schafft er es nicht sich loszureißen. Ganz davon zu schweigen, dass seine Versuche eher halbherzig sind. Einige Gassen weiter kommen sie zum Stillstand. Er lässt ihn los und bringt – seines Ermessens nach – gerade so einen annehmbaren Abstand zwischen sie.

„Fass dich gefälligst kurz …“, sagt er, „ich hab’ noch zu arbeiten“

Kurz bleibt es noch still zwischen ihnen, der Andere scheint seine Gedanken zu sortieren, dann setzt er an: „Du schuldest mir noch eine Antwort“ Er lallt, wenn auch nur ganz leicht.

„Ich schulde dir gar nichts, klar?“

„Komisch. Das sehe ich irgendwie anders. Ich kann mich da an einen gewissen Einbruch erinnern …“

„So betrunken wie du bist, kannst du sich morgen jedenfalls an rein gar nichts erinnern“, fällt er ihm patzig ins Wort. Der kann ihm doch sowieso nichts nachweisen. Oder? Könnten Angel und er ’ne Kamera übersehen haben? Irgendwas das sie jetzt in Schwierigkeiten bringen könnte? Mit den Bullen will er ganz sicher kein Gespräch führen. Also setzt er nochmal nach:

„Außerdem solltest du mir lieber dankbar sein. In deinem Zustand warst du am Schacht mehr als nur leichte Beute, wenn du da wie angewurzelt stehen bleibst und durch die Gegend starrst …“
 

Er nuschelt irgendwas Unverständliches und meint dann, Xander habe seine Frage noch immer nicht beantwortet. Der Kerl lässt aber auch echt nicht locker. Diese Szene wirkt so grotesk, dass sie einfach nicht real sein kann und er weiß beim besten Willen nicht, was er erwidern soll. Er hat sich eine solche Frage noch nie gestellt. Glaubt er an Schicksal? Was ist denn überhaupt Schicksal? Der Glaube daran, dass alles im Detail hervor bestimmt und unabänderlich ist? Oder nur der Glaube daran, dass alles einen Sinn hat? Er weiß es nicht und eigentlich sollte er auf den Absatz kehrt machen, doch nun hat die Frage sein persönliches Interesse geweckt und als Denksportaufgabe taugt sie wohl ebenso viel wie jede andere, um von seiner bescheidenen Situation abzulenken. Er kommt nur nicht weiter. Wenn er nicht genau weiß, was Schicksal eigentlich ist, dann kann er auch nicht beantworten, ob er daran glaubt oder nicht. Deshalb spricht er seinen Gedanken einfach laut aus:

„Was ist eigentlich Schicksal?“
 

Der junge Mann mit der Brille schaut ihn überrascht an – nur für einen Moment – und dann lächelt er. Ein ganz natürliches Lächeln. Ruhig und beständig, als hätte er ihm damit seine Frage längst beantwortet. Auf eine skurrile Art und Weise ist es angenehm, so angesehen zu werden und das lässt ihn unwillkürlich erschaudern. Was ist bloß los mit ihm? Worauf lässt er sich da gerade ein? Erneut will er Abstand zwischen ihnen bringen, doch als er es versucht, ist der Grünäugige derjenige der einige Schritte vortritt und ihm am Handgelenk fasst. Mit einem Ruck zieht der Rotblonde ihn wieder näher zu sich und all seine Nackenhaare stellen sich auf. Was soll das? Intuitiv versucht er sich loszureißen. Aber der Andere hat viel mehr Kraft, als man vermuten mag und es gelingt ihm nicht. Nun wirkt er vollends nüchtern, nicht mehr so, als sei er nicht Herr seiner Sinne.
 

„Ich hab’ nicht vor, dir irgendetwas anzutun. Ich will einfach nur mit dir reden, okay? Also lauf nicht weg …“

Na da Kerl hat ja Nerven!

„Lass. Mich. Los!“, presst Xander mühsam zwischen seinen Zähnen hervor, darauf bedacht sich seine aufkeimende Panik nicht anmerken zu lassen. Doch der Griff des Älteren wird noch fester und ihm schieben sich längst verblasste Bilder aus ebenso längst vergangenen Tagen in den Sinn.
 

Eine alte Küche, kaum beleuchtet. Töpfe und schmutziges Geschirr stapeln sich. Schemenhafte Schatten an der grauen Wand. Ein zerbrochenes Bild am Boden. Eine ehemals glückliche Familie und dann, er. Die Arme, wie so häufig, drohend erhoben. Eine Hand ausholend zum Schlag …
 

Er braucht einen Augenblick um zu realisieren, was eigentlich los ist. Er sitzt auf den Boden. Sein Körper zittert wie Espenlaub und jeder Atemzug in seiner Lunge brennt wie Whiskey. Aber da ist noch etwas. Zwei Hände. Ein fester Druck auf seinen Schultern. Ihm ist schlecht. Ihm ist so unsagbar speiübel und im nächsten Moment beugt er sich einfach nur vor und übergibt sich. Der Druck an seinen Schultern ist verschwunden und irgendwo in seinem Hirn dringt die Nachricht durch, dass er nicht alleine ist. Dann die, dass er dem Anderen direkt vor die Füße kotzt. Seine Hände ballen sich zu Fäusten, versenken sich im Straßendreck. Immer und immer wieder krampft sein Magen zusammen, bis nur noch Galle hochkommt. Sein Magen zieht sich weiter zusammen, doch da ist nichts mehr was hochkommen könnte. Scheiße. So heftig reagiert er sonst nicht. Nicht, wenn er noch was intus hat. Dann ist es vorbei. Er atmet stoßweise ein und aus. Er dreht den Kopf zur Seite, weil ihm der bittere Geruch des Erbrochenen in die Nase steigt. Wenn jetzt nicht alles raus wäre, würde ihm glatt wieder übel werden.
 

„Hey, geht’s wieder?“

Der ist immer noch da. Verdammt, wenn du jemanden nicht einmal loswirst, wenn du ihm vor die Füße kotzt ist, die Sache ernst. Noch viel ernster wird die Sache, als er versucht, wieder auf die Beine zu kommen und der Andere direkt vor ihm in die Knie geht und ihn wieder an der Schulter festhalten will. Gott, alles bloß das jetzt nicht.

„Fass mich nicht an!“ Er stößt ihn so ruckartig weg, dass er selbst nach hinten prallt. Hilflos versucht er seinen Sturz mit den Händen abzufangen, bevor er ebenso wehrlos wie eine Schildkröte auf dem Rücken landet. Zwar gelingt es ihm sich abzufedern, aber noch in der gleichen Sekunde zuckt ein brennender Schmerz durch seine linke Hand. Entgeistert zieht er sie zu sich und starrt sie an. Einen Sekundenbruchteil lang kann er sich keinen Reim darauf machen, weshalb da Scherben in seiner Handinnenfläche stecken. Dann kommt er zu sich und beginnt sich über dieses verdammte, verdreckte Loch, das sich New York nennt, zu ärgern.
 

„Du läufst aus …“, die allmählich nicht mehr allzu fremde Stimme reißt ihn aus einer Art Trance. „Ach stell dir vor!“, will er giftig erwidern. Er sieht schließlich selbst, dass er blutet. Aber dann begreift er, dass der Größere das nicht meint. Nein, was er meint ist, dass Xander weint. Jetzt spürt er sie ganz deutlich, die Tränen die unaufhaltsam seine Wangen hinunterlaufen und er ist sich nicht ganz sicher, worin sie begründet liegen. Ob er vor lauter Panik oder vor Schmerz begonnen hat zu heulen. Jedenfalls ist es ihm unendlich peinlich und es gibt mit Sicherheit kaum etwas Unmännlicheres. Er zieht die Nase hoch und fährt sich mit der gesunden Hand durchs Gesicht. So eine Scheiße. Diese ganze Begegnung ist reine Scheiße. Mit einem Mal ist er völlig kraftlos. Er merkt zwar, dass die Tränen einfach weiter laufen, kann aber einfach nichts dagegen tun. Er bleibt schlichtweg auf dem Boden sitzen. Versucht erst gar nicht wieder aufzustehen. Schließt die Augen. Er hat keine Kontrolle mehr über sich. Was soll’s?
 

Er vernimmt ein Rascheln, irgendeine Bewegung und dann eine Stimme. Laut. Ohrenbetäuben laut. Klar und bestimmt.

„Mach die Augen auf!“

Automatisch tut er, was ihm gesagt wird.

„Gut … und jetzt atme durch. Schau nicht so, ich mein’s ernst. Atme ganz tief durch. Das hilft!“

Am Anfang gelingt es ihm nicht seine Atmung in den Griff zu bekommen. Irgendwann geht es aber doch und plötzlich ist es wieder ganz leicht, ruhig zu atmen. Mit seiner Ruhe ist es allerdings schlagartig vorbei, als der Größere wieder Anstalt macht, ihn anzufassen. Am liebsten würde er schon wieder aufspringen, als der beschwichtigend die Hände hebt.
 

„Ich wiederhole mich gern. Ich hab’ nicht vor dir irgendwas zu tun. Ich will mir nur deine Hand ansehen. Ja?“

Er schaut ihn misstrauisch an, sie blutet und es stecken Scherben drin. Sieht er selbst – und als er seine Hand ansieht, wird der Schmerz wieder real -, dafür braucht er niemand anderen. Der Rotblonde bemerkt sein Misstrauen und setzt nach:

„Okay, was kann ich sagen oder machen, dass du mir vertraust? … Ehm- … Ich bin fünfundzwanzig und studiere Medizin an der Medicine School of New York. Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich hoffentlich Assistenzarzt. Glaub’s oder glaub’s nicht. Frag an der Uni nach. Jeder kennt mich. Jesse King ist ein unglaublicher Besserwisser.“ Jesse atmet einmal tief durch, als hätte er einen schweren Marathon vollbracht. Dann lächelt er schief. Xander mag sein Lächeln. Es ist für ihn der Grund, ihm zu vertrauen. Unabhängig von dem, was er gesagt hat. Also bitte, Medizin? Laufen alle angehenden Mediziner durch die Gegend und untersuchen alle Wunden, die ihnen irgendwie unters Auge kommen? Wohl kaum. Aber sein Lächeln, das wirkt echt und deshalb wirkt auch alles, was er gesagt hat echt. Deshalb hält Xander ihm seine Hand hin und hofft, dass sie auch noch da ist, wenn er mit seiner ‚Begutachtung’ fertig ist.
 

Jesse sieht sich still Xanders Hand an und wirkt dabei, zugegeben, irgendwie professionell, soweit man das in einer dunklen Seitengasse eben sein kann. Außerdem kann der Ältere wohl nicht sonderlich gut schweigen, denn er beginnt gleich wieder zu reden.

„Du bist mir gegenüber jetzt übrigens im Vorteil. Du kennst meinen Namen und ’ne Menge anderen Schrott, aber ich weiß rein gar nichts über dich.“

Is’ ja nicht sein Problem, wenn er so mitteilsam ist. Außerdem stimmt das ja nicht ganz: „Stimmt ja überhaupt nicht, du weißt wie alt ich bin.“

„Die Geschichte schon wieder. Du weißt genau, dass ich dir keine Sekunde geglaubt habe. Aber Danke für deine Ehrlichkeit.“

Er beißt sich auf die Lippe. Mann, der Kerl weiß, wie man anderen ein schlechtes Gewissen einredet und dadurch, dass er weiß, dass er gelogen hat, fühlt er sich irgendwie doppelt schlecht. Wie gesagt, ist er kein besonders guter Schauspieler. Aber dass es nicht mal dafür reicht, ist irgendwie auch erschreckend. Er versuche sich irgendwas einfallen zulassen, was er erwidern könnte, doch leider kommt nichts Gescheites dabei raus. Seine Überlegung währt allerdings auch nicht lang, da der brennende Schmerz, den Jesse verursacht, als er Scherbe um Scherbe aus seiner Hand zieht, ihn nicht mehr klar denken lässt. Reflexartig will er die Hand wegziehen, aber sein Griff ist überraschend fest. Ein unangenehmes Gefühl, doch der Griff selbst schmerzt nicht.

„Okay, ein sauberer Verband ist dringend nötig. Sonst hast du bald eine Entzündung und dann im dümmsten Fall eine Sepsis …“

Er muss äußerst dämlich gucken, bloß weiß er beim besten Willen nicht, was eine Sepsis ist. Sepsis. Trotzdem kommt ihm das Wort seltsam vertraut vor. Ihm fällt der Zusammenhang zwar nicht mehr ein, aber die Bedeutung ist plötzlich klar in seinem Kopf. Eine Sepsis ist eine Blutvergiftung.

„Das wird nicht wirklich eine Blutvergiftung, oder?“

King beginnt zu grinsen. Was gibt’s da zu grinsen?

„Hast du mir gerade zugehört, …“

Als der angehende Mediziner abrupt stoppt wird ihm klar, er wollte ihn gerade beim Namen nennen und weiß nicht weiter.

„Xander“, murmelt er.

Aus dem Grinsen wird ein Lächeln.

„Okay, Xander. Hast du mir gerade zugehört?“

„Du sagtest, ‚im dümmsten Fall‘. Da frage ich mich eben, was der dümmste Fall ist.“, er klingt trotzig wie ein Kind.

„Okay, ja. Gewonnen. Der dümmste Fall bedeutet, wenn es nicht versorgt wird.“

Er glaubt, Jesse will ernst klingen, doch er muss lachen. Gott, dieses Lachen. Es ist kristallklar. Er kannte bisher nur eine Person, die so ehrlich und klar lachen konnte. Nikki! Seine kleine Schwester. Der Augenblick, in dem er sich aufrichtet und den Dreck von seiner Hose klopft, ist der Augenblick in dem Xander begreift, wo er eigentlich ist.
 

Mit einem Ruck springt er auf und steht fest auf seinen Beinen. Grüne Augen sehen ihm erstaunt und vielleicht auch ein wenig erschrocken entgegen. Er schaut weg.

„Ich sollte jetzt gehen. Du solltest jetzt gehen!“

„Wovor hast du eigentlich Angst? Die Welt geht nicht unter, nur weil du mit mir sprichst …“

„Gegenfrage. Hast du kein Zuhause?“

„Doch sicher und wie steht’s mit dir?“

Er lacht freudlos auf und stellt noch eine weitere Frage.

„Kommt ganz darauf an, wie du Zuhause definierst.“

Ein perplexer Blick.

„Na, Zuhause ist, wo du willkommen bist. Wo deine Familie ist und wo du dich geborgen fühlst …“ Er lässt die Worte auf sich wirken. Geborgen. Was heißt das schon? Wer braucht das schon? Xander jedenfalls nicht.
 

„Du hast keine Ahnung“, ist alles was er schlussendlich erwidert. Dabei kehrt er ihm den Rücken zu und beschließt zu gehen. Dieses Gespräch macht einfach keinen Sinn. Außerdem vertrödelt er hier einfach immens viel Zeit.

Da hört er ihn sagen: „Wo willst du hin?“

„Als ob ich das jetzt schon wüsste …“, und das ist die Wahrheit. Er weiß noch nicht genau, wohin. Er will einfach nur fort von hier. Am besten soweit wie seine Füße ihn tragen.

„Also haust du ab …“. Der Ältere sagt das, als wäre es eine Feststellung. Eine simple Tatsache. Das macht Xander rasend und er will schon das Passende erwidern, als Jesse im nüchternen Tonfall fortfährt.

„Ich könnte mir vorstellen, dass du das immer so machst. Vor deinen Problemen davon laufen, meine ich. Ziemlich feige.“

Die Worte sind noch gar nicht richtig bei ihm angekommen, da wirbelt er bereits herum.

Was zur Hölle fällt diesem Kerl ein, über ihn zu urteilen? Was glaubt er eigentlich, wer er ist? Wutentbrannt möchte er ihm das an den Kopf werfen, doch als er ihn anblickt, wie er da ganz ruhig steht, da verfliegt auch seine Wut ebenso schnell, wie sie gekommen ist und plötzlich kommt ihm seine Reaktion einfach nur noch albern vor. Viel mehr macht sich das beklemmende Gefühl der Erkenntnis in ihm breit. Die Erkenntnis, dass der Andere mit allem, was er gesagt hat, recht hat. Ganz unvermittelt ist ihm echt scheiße zu Mute. Bisher ist er immer vor seinen Problemen davon gelaufen. Schlichtweg, weil es einfacher ist, als sich seinen Problemen zu stellen. Diese Erkenntnis fühlt sich an, wie ein Schlag in die Magengrube. Einer der besonders fiesen Sorte.



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