Viktor - Vergangenheit I [erweiterte Fassung]
"Das muss er selbst entscheiden."
Niemals hätte Viktor gedacht, dass er seine Worte, die er während der Grand Prix Finales an Yurio gerichtet hatte, vier Monate später wiederholen würde. Doch dieses Mal liefen Tränen über sein Gesicht.
War nun doch alles aus? Hatte er ganz umsonst seine Zeit, sein Leben und seine Leidenschaft investiert, nur um jetzt mit leeren in den Händen dazustehen?
Viktor schloss die Augen, strich sich die Haare aus dem Gesicht und atmete tief durch. Wie hatte es nur soweit kommen können?
Nach dem Grand Prix Finale war die Welt ein einziger absurd rosaroter Traum gewesen. Yūris Familie zeigte sich überglücklich über den Erfolg des Sohnes und sie nahmen Viktor bei sich auf als gehöre er genauso zu ihnen wie Yūri. In Hasetsu hatte er ein wunderbares Weihnachtsfest verbracht und nebenbei entdeckt, dass dieser Feiertag eher von Paaren und weniger von der Familie gefeiert wurde. Ein Dinner mit Yūri an seinem Geburtstag war seine neueste, wundervolle Erinnerung. In einem kleinen englisch angehauchten Restaurant hatten sie gemeinsam grauenhaft fettiges Essen gegessen, gelacht, getrunken und als sie gehen wollten, hatte er Yūri unter dem Mistelzweig an der Tür geküsst.
So wollte es die Tradition, oder etwa nicht?
Sein Herz schlug noch immer laut, wenn er an Yūris Lächeln in diesem Augenblick dachte und daran wie der warme Kerzenschein das Rot seiner Wangen und das Funkeln in seinen Augen unterstrichen hatte.
Welch süße Zeit...
Mit Yūri hatte er etwas ganz Seltenes gefunden. Nicht nur, dass Yūri ihn immer wieder auf dem Eis verblüffte und über sich hinauswuchs, wenn Viktor schon befürchtete, er habe seine Leistungsgrenze erreicht, nein, er hatte sich doch mit seinen nun 24 Jahren ein geradezu süße Unschuld bewahrt, mit der er Viktor verehrte und doch stets versuchte ihn zu übertreffen. Es war etwas, das Viktor all die Jahre versucht hatte zu finden. Zahlreiche Bewunderer hatten ihm zu Füßen gelegen und endlose Gegner hatten versucht seine Leistungen zu überbieten, doch Yūri vereinte beides in sich und meisterte die Kunst dabei sanft und nie zu kämpferisch gegenüber Viktor zu wirken. Vermutlich war das der Grund, warum es Viktor so ziemlich gleich war, wo er sich befand, solange Yūri an seiner Seite war.
Daher stimmte er ohne einen weiteren Gedanken zu, als Yūri ihm vorschlug Silvester in Russland zu verbringen. Als Kontrast zum verschlafenen Hasetsu bebte Sankt Petersburg mit Leben. Die russischen Eisläufer hatten ein imposantes Fest organisiert komplett mit gigantischem Buffet, umfangreich ausgestatteter Bar und einem farbenfrohen Feuerwerk um Mitternacht. Wodka floss in Strömen und jeder schien die weltbekannte Trinkfestigkeit der Russen beweisen zu wollen. Leider nahm auch Yūri an diesem inoffiziellen Wettkampf teil, den er sehr bald verlor. Ein Tanzkontest blieb dieses Mal aus und zu Viktors schlechtesten Erinnerungen gehörte nun, dass Yūri ihm auf die Schuhe kotzte. Viktor hatte ihn fast zurück in sein Zimmer tagen müssen, wo er mit dem Gesicht in den Kissen liegen blieb und bis zum späten Nachmittag des neuen Jahres seinen Rausch ausschlief.
Die Zeit war rasend schnell vergangen und in den ersten Januartagen, kurz nachdem Viktor noch einmal in den Genuss kam mit Yūri Weihnachten feiern zu können und zwar dieses Mal auf original russische Art, entschied Viktor, dass es leichter war Yūri in Russland zu trainieren, wo er sich jederzeit Rat bei Yakov holen konnte und andere Eisläufer Yūri wichtige Tipps geben konnten statt in Hasetsu, wo nur eine leere Eishalle auf sie wartete. Yūri schien zu Anfang etwas nervös zu sein, aber Viktor schob das auf den Umstand, dass sie sich ab sofort eine Wohnung teilen würden. Viktors Wohnung.
Es war nicht leicht gewesen. Offiziell wohnten sie als Trainer und Sportler zusammen, schon aus praktischen Gründen und weil es einem Lottogewinn gleich kam in Sankt Petersburg eine vernünftige Wohnung zu finden.
Inoffiziell haderte Viktor mit seinen Gefühlen, die er für Yūri hegte. Es ließ sich nicht abstreiten, dass der junge Mann mit den warmen braunen Augen, dem Glasherz und dem Mut eines Löwen ihn in den Bann geschlagen hatte just in dem Augenblick, als Viktor das Video der Kür sah, die einst seine eigene gewesen war. Warum sonst hatte er sich Hals über Kopf dazu entschieden Yūris Wunsch nachzukommen und wirklich sein Trainer zu werden? Aus anfänglicher Faszination war über die Monate hinweg immer mehr geworden bis Viktor sich schließlich eingestehen musste, dass er für Yūri mehr empfand als nur Freundschaft...
Doch beruhte es auch auf Gegenseitigkeit?
Angst und Sorge nagten immer wieder an ihm, verleiteten ihn dazu die goldenen Ringe, die sie trugen wirklich nur als Glücksbringer zu sehen, die Küsse als normales Ergebnis ihrer jeweiligen Situation. Er wollte mehr über Yūri herausfinden, der ihm nicht mehr und nicht weniger Signale sendete als zu Beginn ihrer Bekanntschaft.
Komplett mit seinem Latein am Ende legte Viktor einen persönlichen Schwur ab: bis zur Weltmeisterschaft würde er sich zurückhalten und Yūri nicht mit einem Liebesgeständnis aus der Bahn werfen. Als stetige Erinnerung an seinen Schwur beschloss er sein Haar bis zu Weltmeisterschaft nicht mehr zu schneiden. Er hatte mal irgendwo belesen, dass in Japan das Schneiden und auch das Wachsen lassen des Haars große Bedeutung hatte, wenn man ein ehrliches Versprechen ablegte. Warum also nicht?
Ganze vier Monate würde er für Yūri das sein, was dieser an seiner Seite wollte:
Viktor Nikiforov. Eisläufer. Fünfmaliger Weltmeister. Yūris Trainer. Yūris Idol.