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Höllenfeuer

von

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Kapitel 16

Kapitel 16
 

Marias Herz pochte so schnell, dass sie das gehetzte Schlagen in ihren Ohren widerhallen hörte. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, denn jemand hatte ihr eine Augenbinde übergezogen und auch ihr Mund war durch einen Knebel verbarrikadiert worden. Kalter Schweiß lag auf ihrer Stirn und mit jeder Minute, die verstrich, nahm ihre Panik weiter zu. Seitdem sie von Chino getrennt worden war, hatte sie sich viele Gedanken um ihren ehemaligen Beschützer gemacht. Irgendwie bereute sie es, niemals ein Wort mit diesem wunderbaren Mann gewechselt zu haben, doch gerade das war es gewesen, was sie an ihm so geliebt hatte. Dass er sie niemals zu etwas gedrängt oder ihre Hilflosigkeit ausgenutzt hatte. Im Gegensatz zu den vielen anderen Männern, denen Maria bislang begegnet war. Niemand hatte sie auf die düstere und raue Welt vorbereitet, nachdem Hildegard damals von zu Hause ausgezogen war. Maria hätte mit ihr kommen müssen, doch diese Erkenntnis kam definitiv zu spät. Wie häufig hatte sie ihre Schwester dafür verflucht, sie allein gelassen zu haben, dabei war sie selbst diejenige, die sie all die Jahre lang am stärksten hätte verfluchen müssen.

Das einzige, das Maria wusste, war, dass sie sich auf dem kalten Boden irgendeines Hauses befinden musste. Nachdem Blackcage sie von sich gestoßen und der fremde Mann sie aufgefangen hatte, war sie ohnmächtig geworden. Seitdem sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich gefesselt und geknebelt an demselben Ort befunden. Ihre Schultern lehnten gegen einen harten Gegenstand, wahrscheinlich aus Metall, der sie daran hinderte, umzufallen.

Plötzlich vernahm Maria ein dumpfes Geräusch, gefolgt von lautem Quietschen. Es hörte sich an, als ob eine große, lange nicht mehr geölte Tür geöffnet werden würde. Kurz darauf ertönten Schritte. Den Abständen und den unterschiedlichen Tönen der Schritte zufolge mussten gerade mehrere Personen eingetreten sein. Ein kühler Lufthauch wehte hinein und umspielte einige von Marias braunen Haaren. Es wurde ein Paar Hände unter ihre Achseln geschoben, die sie hochzogen. Kaum befand sie sich in einem einigermaßen stabilen Stand, griff ihr jemand in den Nacken und befreite sie von der Augenbinde. Zunächst musste Maria einige Male blinzeln, um sich an das Licht zu gewöhnen. Mit schmerzenden Augen schaute Maria sich um. Als sie ihre Schwester erblickte, fiel ihr ein Stein vom Herzen, doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Neben Hildegard stand Blackcage, der sie mit einem triumphierenden und auch gierigen Grinsen ansah.

Hinter ihr befand sich der asiatische Mann, der sie auf ein Kommando von Blackcage hin losließ. Er verließ den Raum allerdings nicht, sondern positionierte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben Blackcage.

Über den Dreien befand sich ein riesiger Kronleuchter, der jede noch so kleine Ecke des Raumes auszuleuchten schien. Der Boden bestand aus feinstem Marmor, dessen Musterung aus weißen und schwarzen Steinen an einen riesigen Kompass erinnerte. Einige Sockel mit grünen Pflanzen verschönerten den ansonsten kargen Raum. Aus dem Augenwinkel konnte Maria ein rotes Sofa und ein riesiges Bücherregal erkennen. Vermutlich hatte sie die gesamte Zeit über an dem Gestellt des Sofas gelehnt.

„Entschuldige, dass wir dich so lange haben warten lassen, liebste Maria“, begann Blackcage mit einem schleimigen Unterton in der rauen Stimme. „Von nun an werden wir uns anständig um dich kümmern. Was immer du brauchst, zögere nicht, es einem meiner Diener mitzuteilen. Sie werden sich sofort um dein Wohl kümmern.“

Hildegard verschränkte die Arme vor der Brust und gab sich alle Mühe, ein gespieltes Lachen zu unterdrücken. „Seit wann bist du so großzügig?“, fragte sie mit spitzer Zunge und machte einen Schritt auf ihre Schwester zu, damit sie Maria von den Fesseln befreien konnte. Sofort rieb sich Maria über die geschundenen Handgelenke, danach rollte sie vorsichtig die schmerzende Schulter in kleinen Kreisen nach vorne.

„Glaube mir, wenn es um Maria geht, kann ich noch viel großzügiger sein.“

Um ihrer Schwester keine unnötigen Ängste einzujagen, behielt sie Blackcages letzte Äußerung vor Esrada, dass er sie notfalls töten würde, für sich. Ohnehin sollte Hildegard sich nun stark am Riemen reißen, das Ziel, auf das sie mit Brooklyn zusammen hingearbeitet hatte, schien zum Greifen nahe. Wenn sie sich jetzt einen Fehler erlaubte, wären alle ihre Mühen möglicherweise umsonst gewesen.

Hildegard hatte gerade die Seile, die Maria leicht in das Fleisch ihrer Handgelenke geschnitten und rote Abdrücke hinterlassen hatte, abgenommen, als die großen Flügeltüren ein weiteres Mal aufschwangen. Alle anwesenden Personen stellten sich kerzengerade auf, als hätten sie vor, jeden Augenblick vor dem eintretenden Mann zu salutieren.

„Das ist also deine Schwester?“, fragte der Mann an Hildegard gerichtet.

Als diese stumm nickte und der Mann seine eisblauen Augen auf Maria richtete, war ihr, als gefriere ihr das Blut in den Adern. Alles an dem Mann schien Tod und Kälte auszustrahlen, seine Haltung, sein Blick, seine Gestik. Selbst die Art, wie er sich bewegte, vermittelte ein Gefühl selbstsicherer Überlegenheit. Vor Maria angekommen, blieb der Mann stehen und hielt inne.

„Wir konnten sie Chino geradezu aus den Händen reißen, Meister Esrada“, legte Blackcage los, als er meinte, einen geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, Esrada von seinem neusten Triumpf zu berichten. „Ich sagte Ihnen doch, dass Sie sich auf mich verlassen können.“

Anstatt das Lob auszusprechen, nach dem sich Blackcage so sehr sehnte, schwieg Esrada und betrachtete weiterhin seine Gefangene. Für Hildegard war dieses Schweigen kaum zu ertragen. Sie hatte ihre geliebte Schwester nach so vielen Jahren endlich wieder und trotzdem war es ihr nicht vergönnt, diesen Augenblick angemessen zu genießen. Esrada drehte sich in ihre Richtung, seine schmalen Pupillen sprangen zwischen Blackcage und Hildegard hin und her.

„Nathan“, sprach Esrada schließlich im gedämpften Tremolo seiner Stimme. „Du wirst dich um unseren neuen Gast kümmern, bis wir einen geeigneten Plan entworfen haben. Bis dahin…“ Er legte eine dramatische Pause ein, in welcher er kurz zu Hildegard hinüber schielte. Ein kaum zu erkennendes Grinsen zuckte in seinen Mundwinkeln. „Mach mit dem Mädchen, was immer du willst. Aber töte sie nicht, dafür ist sie zu wertvoll.“

Während der Ausdruck in Hildegards Gesicht nicht schockierter hätte sein können, lachte Blackcage sichtlich in sich hinein.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein!“, platzte es aus Hildegard heraus.

Sofort wand sich Esrada Hildegard zu und knurrte sie gereizt an. Dazu hob er eine Hand, die er an den Hals der Dämonin zu legen drohte. Er hatte sich aufgebäumt und wirkte wie ein wild gewordenes Tier, das sich darauf vorbereitete, seine wehrlose Beute zu erlegen. Hildegard wich erschrocken zurück, bis sie mit dem Rücken an einer der Wände stand.

„Willst du mir widersprechen?“

„Nein, Meister.“ Hildegard merkte, wie sie die Kontrolle über ihre Stimme verlor. Sie selbst nahm sie nur noch als hohes Piepsen wahr. Ihre Unterwürfigkeit zeigte den gewünschten Erfolg, denn Esrada ließ wieder von ihr ab und widmete sich stattdessen Blackcage.

„Ich hoffe, mich bezüglich des Nutzens des Mädchens klar ausgedrückt zu haben.“

„Natürlich, Herr.“ Blackcage deutete eine Verbeugung an, als Esrada an ihm vorbei zur Tür ging. An dieser blieb der Meister der Dämonen noch einmal kurz stehen und wand sich um. „Kyro, ich will, dass du mit mir kommst.“

„Jawohl, Meister“, antwortete der Asiate knapp und trat neben Esrada.

Nachdem Esrada und Kyro verschwunden waren, stürmte Hildegard auf Maria zu und drückte den schmächtigen Körper ihrer Schwester an ihren eigenen.

„Du hast gehört, was der Meister gesagt hat“, sagte Blackcage und näherte sich den Schwestern, bis er nur noch eine Armlänge von den beiden entfernt war. „Ich warne dich, Hildegard.“

„Wovor? Dass du zurück in Esradas Arsch kriechst wie der geprügelte Hund, der du bist?“

Sollte diese Beleidigung Blackcage in irgendeiner Form getroffen haben, zeigte er dies nicht. Seine Augen ruhten weiterhin auf Maria, die erschrocken zu ihm hinauf schaute. Ihre Brust hob und senkte sich sichtbar aufgrund ihrer Panik, ihre Haare waren zerzaust und verklettet, ihre Haut glänzte durch den Schweiß. An einigen Stellen ihres cremefarbenen Pullovers trat die körpereigene Feuchtigkeit in Form von Flecken hinaus. Doch das alles störte Blackcage nicht. Im Gegenteil, er spürte, wie sein Verlangen nach der jungen Frau noch größer wurde.

Diese drehte sich nur von Blackcage weg und warf sich ihrer Schwester in die Arme. Beruhigend streichelte Hildegard Maria über den Kopf, als sie hörte, wie diese zu schluchzen begann.

Es tut mir leid, Maria.

Vorsichtig schob Hildegard Maria ein Stück von sich weg und ging in die Knie. Sie schaute ihrer Schwester direkt in die Augen und wartete kurz, bis sie sich etwas beruhigt hatte. „Du musst mir jetzt vertrauen“, flüsterte Hildegard Maria zu, ohne dass Blackcage sie hören konnte. „Nur noch dieses eine Mal.“

Fragend schaute Maria zu Hildegard hinüber. Die letzten Tränen, die sie vergossen hatten, bahnten sich den Weg über ihre erröteten Wangen. Noch bevor Maria die Frage, die sich auf ihre bebenden Lippen gelegt hatte, stellen konnte, spürte sie, wie sie nach hinten gezogen wurde. Zwar breitete sie ihre Hände aus, doch als sie sah, dass Hildegard sie nicht ergriff, fühlte Maria, wie etwas in ihr zerbrach. Zum ersten Mal war sie sich vollkommen sicher, all die Jahre lang die richtige Person verflucht zu haben.
 

„Ich soll bitte was?“, fragte Artemis in aufgebrachtem Ton. „Vergiss es, das werde ich nicht tun!“

„Es ist die einzige Möglichkeit, mit Lydia allein zu reden. Meiner Meinung nach ist dieser Auftrag das Beste, was dir passieren konnte“, sagte Ethos und nippte an seinem Wein.

Artemis war nun schon einige Tage lang krankgeschrieben, doch seine Wunden waren gut verheilt, wenn auch noch immer nicht genug, um als genesen zu gelten. Aus diesem Grund hatte sich Ethos mit seinem Kollegen in ein öffentliches Café in Rom zurückgezogen, um den anstehenden Auftrag zu besprechen. Die beiden saßen, jeder in legere Kleidung gehüllt, bestehend aus Jeans und einem einfachen Hemd, an einem der äußersten Tische des kleinen Cafés, wo sie einen Wein trinken konnten, ohne angestarrt oder gar belauscht zu werden. Was Artemis mit seinem lauten Prostest beinahe revidiert hätte.

„Ich wusste gar nicht, dass du so viel Angst vor deiner ehemaligen Gemahlin hast“, meinte Ethos und zeigte ein seltenes Lächeln. „Eigentlich hatte ich immer angenommen, dass du sie wieder von dir überzeugen möchtest.“

„Aber ganz sicher nicht bei einem Auftrag.“

„Sieh es doch von der positiven Seite. Möglicherweise ist das eine Gelegenheit, dass ihr euch wieder vertragt.“

„Das wird niemals passieren“, sagte Artemis und stürzte den Rest seines Weines hinunter. Wenige Minuten später stand ein neues Glas vor ihm. „Wenn Lydia sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ändert sie ihre Meinung kaum. Wusstest du schon, dass sie Marylin angekeift hat, weil sie dachte, ich hätte die kleine Polizistin gebumst?“

Zwar merkte Ethos, dass Artemis von der Thematik abzuweichen ersuchte, er ließ dies dem Priester vorerst allerdings durchgehen. Irgendetwas schien ihm Unbehagen zu bereiten. Noch vor einer Minute hätte Ethos sein gesamtes Vermögen darauf verwettet, dass Artemis den Auftrag mit Freuden entgegen genommen hätte.

„Hat sie das?“, fragte Ethos mit geheucheltem Interesse.

Mit überschlagenen Beinen und dem Weinglas in der Hand lehnte er sich entspannt zurück und genoss die nachmittäglichen Sonnenstrahlen, die seine Haut wärmten. Einige Vögel zwitscherten in den Ästen über ihnen. Die Terrasse, auf der sie saßen, war kaum frequentiert zu dieser Uhrzeit. Trotzdem gestatte sie einen herrlichen Blick auf eine der größeren Hauptstraßen Roms, wo Ethos die vorbeihuschenden Passanten durch eine dünne Glaswand beobachten konnte. Einige Meter weit entfernt befand sich eine kleine Gasse, in der Händler ihre Trödelwaren und vor allem Antiquitäten verkauften. Diese Märkte waren besonders unter Sammlern sehr beliebt und zogen Fälscher wie Touristen gleichermaßen an.

„Ja, hat sie. Erst nachdem Marylin ihr versichern konnte, dass ich nicht mit ihr im Bett gewesen bin, war Lydia freundlicher zu ihr.“

„Das bedeutet, dass sie noch immer emotional reagiert, wenn es um dich geht“, sagte Ethos und drehte sich wieder zu Artemis hinüber. „Wenn das kein gutes Zeichen ist, dann weiß ich auch nicht.“

„Du willst mir diese lahme Mission unbedingt schmackhaft machen, was?“ Artemis legte ein schiefes Grinsen auf und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte schon lange nicht mehr geraucht. „Hast dir selbst ja auch wieder die Lorbeeren heraus gepickt.“

„An deiner Stelle würde ich nicht so vorschnell urteilen. Außerdem haben wir beide etwas davon. Bis du wieder gesund bist, könntest du dich im Vatikan etwas umhören.“

„Bezüglich deiner Theorie eines Verräters?“ Genüsslich inhalierte Artemis den Geschmack der Zigarette. Als er fühlte, wie der heiße Rauch seinen Hals hinunter wanderte und seine Lunge füllte, fühlte er sich besser.

„Richtig. Wenn es wirklich jemand aus dem Vatikan sein sollte, wird derjenige früher oder später einen Fehler machen.“

„Anscheinend ist die betroffene Person nicht dumm, ansonsten wäre sie schon längst aufgeflogen. Es ist demnach fraglich, ob sich etwas Verdächtiges in gerade dem Zeitraum ergibt, an dem ich anwesend bin. Immerhin bin ich mir sicher, dass inzwischen jeder, auch außerhalb des Rates, von deiner Theorie weiß. Und daraus sollte sich ergeben, dass die verdächtige Person sich noch vorsichtiger verhält.“

„Genau dann passieren die meisten Fehler.“

„Selbst wenn du Recht haben solltest“, gab Artemis zu bedenken und lehnte sich über den kleinen Bistrotisch. „Was mache ich dann, wenn ich den Mann enttarnt habe?“

„Wie kommst du darauf, dass es sich zwingend um einen Mann handelt.“

„Denke ich mir einfach. Es passt zu einem Mann. Wir haben so wenige Frauen auf dem Gelände des Vatikans und mit Ausnahme der Oberschwester ist kaum einer in interne Machenschaften von uns verstrickt. Ich finde es einfach unwahrscheinlich.“

„Du solltest es aber nicht ausschließen.“

„Schon gut, ich habe es verstanden.“

„Abgesehen davon wirst du deine Reaktion davon abhängig machen müssen, wie sich der Verräter verhält.“

„Wirklich, sehr gut durchdacht, Ethos“, murmelte Artemis in sein Glas, gleichzeitig drückte er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus. „Ich schätze, dass ich ohnehin keine Wahl haben werde. Egal, ob ich den Auftrag will oder nicht, ich werde ihn wohl oder übel ausführen müssen. Wie soll das mit dem Museum funktionieren? Ihr wollt den Dämonen tatsächlich eine Finte stellen?“

Zu Beginn ihres Treffens hatte Ethos Artemis mitgeteilt, dass er, zusammen mit Chino, Roth und Nikolas, an einem Plan gearbeitet hatte, wie sie den Dämonen vielleicht eine Falle stellen könnten. Dabei vertraute Ethos darauf, dass die Dämonen nicht nur hinter den Geweihten, sondern auch hinter den Fängern her sein würden. Demnach war der Plan so einfach wie hoffentlich erfolgreich.

„Einen unserer letzten Fänger, den wir hier im Vatikan aufbewahren, werden wir nach Sizilien bringen. In einem Museum in Palermo werden wir ihn groß anpreisen und hoffentlich einige der Dämonen anlocken.“

„Und du bist dir sicher, dass drei Personen ausreichen, um dein Unterfangen erfolgreich zu beenden?“

„Du kannst es noch so oft versuchen, du wirst dich zusammen mit Lydia auf den Weg machen, um die Geweihten nach Italien zu holen.“ Seufzend schob sich Artemis eine weitere Zigarette in den Mund.

„Dafür geht der Nachmittag auf mich.“ Eine freundlichere Geste, als das kurze Zucken seiner Mundwinkel, brachte Artemis nicht zustande.

„Was machst du, wenn dein Plan fehlschlagen sollte? In unserem letzten Duell waren wir den Dämonen beängstigend auffallend unterlegen.“

„Diesmal werden wir uns besser vorbereiten und im Vorteil sein. Immerhin sind nicht wir diejenigen, die überraschend angegriffen werden, sondern unsere Feinde. Zugegeben“, begann Ethos etwas kleinlaut. „Es ist nicht der beste Plan, aber hast du eine bessere Idee?“

Indem er die Arme vor der Brust verschränkte und in den Himmel hinauf schaute, überlegte Artemis, bis er seine Zigarette aufgeraucht hatte. Mit einer übertrieben brutalen Geste drückte er sie im Aschenbecher aus, bevor er sich erneut Ethos zuwandte.

„Natürlich habe ich auch keine bessere Idee. Mit der Ausnahme vielleicht, dass ihr mich mitnehmt, aber das wird nicht möglich sein. Ich kann nur hoffen, dass dein Plan tatsächlich aufgehen wird. Im schlimmsten Fall verlieren wir nicht nur einen Fänger, sondern auch einen weiteren Geweihten, den besten Gardisten des Vatikans und einen erstklassigen Kontaktmann. Hoffentlich hast du dir das gut überlegt.“ Es kam selten vor, dass Artemis an Ethos zweifelte. Zu allem Überfluss schien dieser das auch zu merken. Ethos‘ Miene verdüsterte sich, als Artemis ihn mit auffordernden Blick ansah. Es kam ihm vor, als warte Artemis nur darauf, endlich die Bestätigung von Ethos zu erhalten, dass nichts schief gehen könnte. Diese Gewissheit konnte Ethos allerdings nicht geben. Nicht zum derzeitigen Zeitpunkt. Auch Ethos hatte sich einige Male den Kopf darüber zerbrochen, wie er den Dämonen am effektivsten beikommen konnte. Das Erschreckende war, dass er selbst es nicht zu hundert Prozent wusste.

Für den Kampf gegen Hildegard hatte er zwar eine Strategie, die vor allem beinhaltete, die Dämonin möglichst auf Abstand zu halten, aber wie er das genau anstellen sollte, musste Ethos den spontanen Gegebenheiten überlassen. Sollte Blackcage auftauchen, würde Chino sich um diesen kümmern. Er hatte genügend Wut in sich, um es alleine mit dem schwarzhaarigen Dämonen aufzunehmen. Brooklyn und den weißen Löwen schätzte Ethos noch am einfachsten ein. Artemis‘ Kampf in London hatte bewiesen, dass er nicht zu den mächtigsten seiner Art gehörte, ansonsten hätte er mehr gegen Artemis‘ dämonisches Auge ausrichten können. Zu dritt würden sie es schon schaffen.

„Wir werden auf jeden Fall ein paar Tage früher nach Sizilien fliegen, damit wir uns mit dem Museum vertraut machen können. Außerdem überlegt Roth noch, ob er einige seiner Männer mitnimmt. Wir wären demnach nicht nur drei Leute, sondern den Dämonen, mit denen wir bisher Bekanntschaft gemacht haben, von den Zahlen her überlegen“, meinte Ethos selbstsicher, als löse dieser Umstand all die anderen Komplikationen in Luft auf. Dass ihnen die reine Überlegenheit der Menge beim letzten Mal nicht genützt hatte, ließ er in seiner Erklärung aus. „Du darfst auch nicht vergessen, dass sowohl Roth, als auch Chino und ich erfahrene Kämpfer sind. Und dass die Dämonen allem Anschein nach zwar zu den mächtigeren zählen, aber keinesfalls den Großen Dämonen angehören. Mit den richtigen Waffen, Männern und einem gut geplanten Hinterhalt werden wir sie schon in ihre Schranken weisen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Artemis und winkte den Kellner heran.

Nachdem der Kellner sein Geld entgegen genommen hatte, standen die beiden Priester auf und verließen das Café. Für einen kurzen Augenblick war Ethos versucht, Artemis noch einmal von den persönlichen Vorteilen seines anstehenden Auftrages zu überzeugen. Als er den anderen Priester mit in den Hosentaschen versunkenen Händen und abwesenden glasigem Blick anteilnahmslos neben sich her gehen sah, gab er dieses Vorhaben jedoch wieder auf. Er würde sich damit zufrieden geben müssen, dass Artemis sich hinsichtlich Lydia wie ein Fähnchen im Wind drehte.

Was für Ethos keine neuartige Beobachtung an Artemis darstellte. Schon in der Vergangenheit hatte Artemis betont, wie wichtig es ihm war, Lydia zurück zu erobern. Jedes Mal, wenn sich die Möglichkeit dazu bot, ruderte der Priester dann jedoch zurück. Besonders stark war dies zu beobachten, wenn Lydia wieder einmal davon anfing, sich von Artemis rechtskräftig scheiden lassen zu wollen. Das war etwas, das Ethos noch verstehen konnte.

Allem Anschein nach war Lydia nicht mehr an Artemis interessiert und wollte ihn so schnell loswerden, wie es eben in ihrer Macht stand. Andererseits hatte es Situationen gegeben, in denen Lydia nicht zu hundert Prozent von eben jenem Unterfangen überzeugt zu sein schien. Es konnte aber auch gut sein, dass Ethos mehr in Lydias Verhaltensweise hinein interpretierte, als diese wirklich damit ausstrahlte. Immerhin kannte er sie nicht einmal halb so gut wie Artemis und alles, was er über die Nonne wusste, hatte er von seinem Kollegen oder Nikolas erfahren.

Im Sinne von Artemis‘ Psyche wäre es jedoch angebracht, das Problem ein für alle Mal zu lösen. Ob Artemis mit dieser Lösung zufrieden sein würde oder nicht, war zweitrangig. Hauptsache, es kam zu einer Entscheidung. Sollte diese beinhalten, dass Lydia die Scheidung erreichte, wäre Artemis in der ersten Zeit zwar völlig überlastet, doch das würde sich geben. Er würde dann damit leben müssen, dass es endgültig vorbei sein würde, aber zumindest hätte er dann einen klaren Standpunkt.

Ethos hatte sich so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er kaum bemerkte, dass ihn und Artemis nur noch wenige Schritte von dem Eingangstor des Vatikans trennten. Seine Aufmerksamkeit erlangte das Tor allerdings vor allem, weil eine Person dagegen lehnte und sich leicht vorbeugte, als sie die beiden Priester erblickte.

Sofort stieß sich die junge Frau in dem weißen Sommerkleid und mit den kurzen blonden Haaren mit dem Fuß von einer der vergoldeten Stangen ab, an der sie sich zuvor noch abgestützt hatte. Mit verschränkten Armen kam sie auf Ethos zu, bis sie kurz vor diesem zum Stehen kam.

Marylins‘ Nasenflügel bebten vor Zorn. Ihr Gesicht hatte eine rötliche Farbe erhalten und ihre Oberlippe zitterte leicht. Bevor sie den Mund öffnete, schluckte sie noch schnell einen imaginären Kloß herunter.

„Sie haben mich hintergangen!“ Es schien, als entlud sich die gesamte Wut von Marylin in diesem einzigen Satz. „Warum haben Sie nichts davon gesagt, dass Sie Blackcage jagen wollen?!“

„Bitte beruhigen Sie sich“, versuchte Ethos die Polizistin zu besänftigen, doch es wirkte nicht.

„Sie wissen, dass er meinen Partner auf dem Gewissen hat und befinden es noch nicht einmal für nötig, mich darüber zu informieren, dass Sie ihm eine Falle stellen wollen? Ich habe Ihnen ebenfalls geholfen, indem ich mich habe hierher bringen und ausquetschen lassen. Und noch nicht einmal das können Sie für mich tun?“

Ethos wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Im Grunde genommen hatte Marylin Recht. Glücklicherweise kam Artemis ihm zur Hilfe.

„Es tut mir leid, aber wir können nicht mit jedem sofort über unsere Missionen reden“, mischte Artemis sich ein und legte Marylin eine Hand auf die Schulter. „Falls es dich tröstet, ich darf auch nicht mit auf die Mission, obwohl es mich in den Fingern juckt, mir den einen oder anderen Dämonen zur Brust zu nehmen. Woher weißt du überhaupt von dem Auftrag? Normalerweise dürfen Außenstehende nicht in unsere Vorhaben eingeweiht werden.“ Diesmal war Marylin diejenige, die das Schweigen vorzog. Mit zusammengepressten Lippen zog sie sich zurück, um sich Artemis‘ Berührung zu entziehen. Ihre Wangen wirkten noch einen Ton röter. „Du hast jemanden belauscht oder?“

Allem Anschein nach lag Artemis mit seiner Vermutung nicht weit von der Wahrheit entfernt. Als hätte er sie auf frischer Tat ertappt, wich Marylin noch einen Schritt weiter nach hinten und drückte schützend ihre Arme an den Oberkörper.

„Für eine Polizistin kannst du verdammt schlecht lügen“, witzelte Artemis.

Sein Kollege hingegen sah die Situation nicht so locker.

„Wenn Sie tatsächlich jemanden belauscht haben sollten, kann das sehr unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen.“ In Ethos Stimme lag etwas so Bedrohliches, dass Marylin zusammen zuckte. Ihre grünen Augen schauten voller Unbehagen zu Ethos hinüber. „Im Anbetracht der Umstände ist ein Verstoß gegen die Geheimhaltung der Angelegenheiten des Vatikans ein besonders heikles Vergehen.“

Für einen kurzen Augenblick mochte die Drohung, die Ethos indirekt ausgesprochen hatte, wirken. Marylin war noch jung und leicht zu beeinflussen, trotz ihres Berufes. Doch es dauerte nur wenige Sekunden, bis Marylin ihren Mut wiedergefunden hatte und genügend davon gesammelt hatte, um Ethos zu widersprechen.

„Dass ich jemanden belauscht habe, müssen Sie mir erst einmal nachweisen. Und außerdem möchte ich, dass Sie mich mitnehmen!“

„Ausgeschlossen.“ Für Ethos war die Diskussion damit beendet. Er setzte sich in Bewegung, mit dem Ziel, die junge Frau zu ignorieren, doch diese ließ sich so leicht nicht abschütteln.

„Sie haben nicht das Recht, mich wie ein Kind zu behandeln!“

„Ich behandle Sie nicht wie ein Kind“, meinte Ethos und blieb stehen, um sich umzudrehen. „Aber es ist zu gefährlich für Sie. Sie haben Glück, dass Sie die erste Begegnung mit Blackcage überlebt haben. Setzen Sie dies nicht allzu leichtfertig aufs Spiel.“

„Das tue ich auch gar nicht“, protestierte Marylin mit zu Fäusten geballten Händen. „Aber der Kerl hat meinen Partner auf dem Gewissen. Ich will mich an ihm rächen.“

„Und wie willst du das konkret anstellen?“ Die Frage kam diesmal von Artemis. Er schaute Marylin mit einer mitleidigen Miene an, die der jungen Polizistin besonders sauer aufstieß. Warum behandelte sie nur jeder hier wie in kleines Mädchen?

„Ich… ich werde…“

Anhand ihres eigenen Gestotters merkte Marylin, wie plump ihre Argumente waren. Was sollte sie schon großartig sagen. Dass sie den Dämon töten würde? Das wollte sie gerne, aber wie sie das anstellen sollte, stand in den Sternen. Bisher war Marylin von ihrer Wut getrieben worden, doch je länger die Begegnung mit Blackcage zurück lag, desto mehr verlor sich ihr Antrieb im Nichts.

Als sie die beiden hohen Geistlichen vor einigen Stunden über den Auftrag hatte reden hören, im Schatten einer zufällig von ihr entdeckten Nische, war diese Wut erneut aufgeflammt. Jetzt, wenige Stunden später, war sie bereits wieder verpufft.

„Wenn Sie ein wenig Ablenkung suchen, gehen Sie doch auf den Basar einige Straßen weiter. Aufgrund der guten Zusammenarbeit mit Ihnen bisher werde ich über Ihr Vergehen hinweg sehen. Mehr kann ich im Moment leider nicht für Sie tun“, sagte Ethos und machte sich auf den Weg in das Innere des Vatikans.

Kaum war er verschwunden, richtete sich Artemis noch einmal an Marylin.

„Ich weiß, er kann anstrengend sein“, meinte Artemis lächelnd. „Aber wenn es darum geht, einen Dämon wie Blackcage in die Hölle zurück zu schicken, ist er der beste Priester, den wir haben. Vertrau uns einfach. Und vor allem vertraue Ethos. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber haben wir dich enttäuscht, seitdem wir dich aus der Psychiatrie geholt haben?“ Geschlagen schüttelte Marylin den Kopf. „Überlassen Sie Blackcage uns. Sollte noch jemand ums Leben kommen, wäre das eine große Tragödie. Besonders für Ethos. Woher haben Sie eigentlich davon gewusst, dass wir eine Falle stellen wollen?“

Marylin dachte darüber nach, ob sie Artemis ihr Geheimnis anvertrauen sollte. Aus einem Anflug von Trotz wollte sie es am liebsten für sich behalten, doch genau genommen zog sie auch keinen Vorteil daraus, es nicht weiterzutragen.

„Gegenüber des Büros des Prälaten. Dort gibt es eine kleine Nische. Als ich an dem Büro vorbei kam und die Tür einen Spalt offen stehen sah, habe ich diese Nische zufällig entdeckt. Unterhalb der steinernen Treppe gegenüber der Tür ist ein Hohlraum, in welchem sich jemand verstecken kann, der klein und schmal ist. Herauskommende oder vorbei gehende Personen können einen nicht sehen, denn es gelangt nicht ein bisschen Licht an diesen Ort. Von außen sieht es so aus, als schließe das Ende der Treppe direkt mit dem Boden ab. Trägt man dazu noch dunkle Klamotten, ich hatte mich umgezogen, bevor ich auf euch gewartet habe, ist es nahezu unmöglich, jemanden darunter zu erkennen. Hören kann man von dieser Position aus allerdings sehr gut.“

„Hm, äußerst interessant. Das könnte einiges erklären.“

Noch bevor Marylin fragen konnte, was Artemis mit dem letzten Satz meinte, hatte sich der Priester bereits von ihr abgewandt und schlug den gleichen Weg ein, den Ethos kurz zuvor genommen hatte. Marylin überlegte kurz, dann setzte sie sich in Bewegung und schlenderte die Straße hinunter. Sie brauchte etwas, mit dem sie sich ablenken konnte. Nicht nur, dass sie nicht ernst genommen wurde, die beiden Priester hatten irgendwie auch die besseren Argumente. Das musste selbst Marylin einsehen, obwohl sie sich ihrer Rachepläne kurz zuvor noch so sicher gewesen war. Sie war eine Gefangene ihrer eigenen Gefühle. Mal fühlte sich Marylin dazu imstande, jeden umzubringen, der auch nur im Entferntesten mit dem Mord an Dan zu tun hatte, wenig später übermannten sie Panik und Angst.

Nachdem sie bereits einige Straßen passiert hatte, fiel Marylins Blick auf eine bunte Girlande. Sie war zwischen zwei Hausmauern gegenüber eines Cafés gespannt worden und hüpfte auffordernd auf und ab, sobald sie von den leichten Windstößen getroffen wurde. Unterhalb der Girlande befanden sich einige Stände von Händlern, die lautstark ihre Antiquitäten anpriesen. Wahrscheinlich war das der Basar, von dem Ethos wenige Minuten zuvor gesprochen hatte.

Langsam näherte sich Marylin der Gasse. Kaum war sie unter der ersten Girlande hindurch gegangen, fühlte sie eine angenehme Kühle. Die hohen Wände spendeten einen erfrischenden Schatten. Die meisten Stände waren, ähnlich einem Flohmarkt, aneinander angereiht aufgebaut worden. Auf den Tischen, meist mit einem Laken bedeckt, waren die unterschiedlichsten Waren ausgebreitet. Von silbernen Kerzenständern bis hin zu hölzernen Behältern, denen ihr fortgeschrittenes Alter deutlich anzusehen war, konnte geradezu alles erworben werden. An manchen Stellen fiel es Marylin schwer, sich einen Überblick zu verschaffen, da immer mehr Touristen in die Gasse zu strömen schienen.

Teilweise musste sie sich den Weg mit den Ellenbogen freischaufeln, um voran zu kommen. Die wenigsten Stände erlangten das ehrliche Interesse der jungen Frau. Meistens verharrte Marylin nur länger, da sie nicht mehr weiter kam aufgrund der Menschenmassen.

Plötzlich hielt die junge Polizistin inne.

Sie wartete gerade darauf, dass sich eine Gelegenheit ergeben würde, sich an den Touristen vorbei zu quetschen, als sie bemerkte, dass sie genau vor einem Bücherhändler stand. Sie hatte ihren Blick ziellos über das Angebot schweifen lassen, doch je länger sie die Buchdeckel ansah, desto stärker bahnten sich die Gedanken zurück in ihren Kopf. Zunächst wirkten die Titel der Bücher wild durcheinander gemischt, doch als Marylin ein englischsprachiges Buch sah, wurde sie das erste Mal stutzig. Sie nahm eines der Bücher mit dem Titel Demons and Symbols in die Hand und drehte es, um sich den Rücken durchlesen zu können.

„Wie ich sehe interessieren Sie sich für Dämonen?“ Die Stimme schreckte Marylin auf. Fast hätte sie das Buch fallen lassen. „Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte eine schallend lachende Frauenstimme.

„Sie brauchen sich nicht entschuldigen“, entgegnete Marylin, ebenfalls lachend und legte das Buch zurück auf seinen ursprünglichen Platz. „Aber ich bin erstaunt, ausgerechnet hier jemandem zu begegnen, der Englisch spricht.“

Die Händlerin, die hinter dem Tisch stand, besaß eine gebräunte Haut, große braune Augen und langes schwarzes lockiges Haar, das sie zum Teil unter einem Kopftusch zu verbergen versuchte. Mit ihren hohen Wangenknochen und den großen Ohrringen, sowie den bunten Gewändern wirkte sie auf Marylin wie eine Südländerin. Die zigeunerhaften Züge, die der Frau zu Eigen waren, verstärkten diesen Eindruck. Aus diesem Grund hatte Marylin niemals damit gerechnet, auf Englisch angesprochen zu werden. Zwar besaß sie einen schweren Akzent, doch ihre Ausdrucksweise war gut und verständlich.

„Ich bin bereits an vielen Orten gewesen, um meine Waren zu kaufen und zu verkaufen. Daher kann ich einige Sätze in Ihrer Sprache.“

„Anscheinend sogar sehr gut.“

Wieder lächelte Marylin die fremde Frau an. Sie kam ihr unheimlich hübsch vor mit ihrem handgemachten Schmuck und den gewickelten Gewändern. Alles an ihr stimmte überein, die Proportionen ihres Körpers, die etwas dunklere Hautfarbe, die unergründlichen Augen, die schlanke Taille, die exotische Ausstrahlung. Dagegen kam sich Marylin in ihrem weißen Kleidchen, das von dünnen Trägern gehalten wurde und ihr bis knapp über die Knie reichte, zusammen mit ihren flachen weißen Turnschuhen, wie eine langweilige Touristin vor.

„Ich danke Ihnen für Ihr Kompliment“, sagte die Frau und deutete eine Verbeugung an. „Interessieren Sie sich für das Buch, das Sie eben in der Hand gehalten haben?“

„Ja. Haben Sie noch mehr Bücher über Dämonen?“

Marylin fiel wieder ein, was Lydia zu ihr gesagt hatte. Wenn sie schon nicht dabei helfen konnte, einen Mörder zu fassen, wollte sie wenigstens anderweitig eine Stütze sein und ihren Teil dazu beitragen, den Dämonen das Handwerk zu legen. Vielleicht war diese Buchhändlerin ein Anfang. Wenn sie Schriften über Dämonen sammelte, konnte das eine oder andere brauchbare Exemplar darunter sein. Und falls Marylin mit ihrer Intuition nicht daneben lag, konnte ihr der Kontakt zu der Frau noch aus einem ganz anderen Grund zugutekommen.

„Natürlich. Viele. Sehr viele sogar. Möchten Sie sich noch mehr ansehen?“ Die Frau machte einen Schritt zur Seite und deutete auf eine Kiste hinter dem Tisch. „Möchten Sie vielleicht einen Tee trinken?“ Noch bevor Marylin hätte ablehnen können, hatte die Frau bereits einen hellen Tee in zwei Gläser gefüllt, beides hatte sie hinter sich auf den asymmetrischen Stufen eines Hauseinganges stehen gehabt. Sie reichte Marylin eine der beiden Tassen. Der Tee verströmte einen angenehmen Duft und erfüllte die Luft mit Zitrone und Minze.

„Danke. Ich bin übrigens Marylin“, sagte die Polizistin und streckte eine Hand zum Gruß aus.

„Mein Name ist Gemini“, erwiderte die Frau und ergriff hastig Marylins Hand.

Während Marylin den heißen Tee an ihre Lippen führte, schaute sie Gemini direkt in die Augen. In den schwarzen Kristallen schien ein leidenschaftliches Feuer zu brennen, das Marylins Interesse erwiderte. Sie hatte nach Abwechslung und Ablenkung gesucht. Die Chance, beides in dieser Frau gefunden zu haben, erschien ihr in diesem Augenblick ungeheuer groß. Nun musste Marylin nicht mehr viel tun, als sich geschickt genug anzustellen, um das zu bekommen, was ihr vorschwebte.



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