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Höllenfeuer

von

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Kapitel 05

Kapitel 05
 

Den Kopf gesenkt und schnaufend aufgrund der Hitze, trottete Artemis' Pferd gemächlich neben dem von Ethos her. Auch die Fuchsstute Bellazza schritt gemütlich und geradezu desinteressiert voran, ungeachtet der vielen Menschen um sie herum. Ethos und Artemis waren nun bereits mehrere Tage unterwegs und in Rom angekommen, so dass sie bald den Vatikan erreichen würden. Manchmal blieb der eine oder andere Passant erschrocken stehen und zeigte auf die beiden Priester. Kein Wunder, denn an Ethos' Kleidung klebte getrocknetes Blut. Sehr zum Bedauern der Dämonen des französischen Polizeidirektoriums nicht sein eigenes, aber das konnten die Passanten so nicht wahrnehmen. Es hatte sich herausgestellt, dass nicht alle Polizisten des Präsidiums von Dämonen besessen gewesen waren. Zwar war die Anzahl durchaus beachtlich, doch hatten sie sich gut vor ihren menschlichen Kollegen verstecken können. Diejenigen, die mit Ethos zusammen in den Wald geritten waren, hatten überhaupt keine Ahnung, was die wahre Natur einiger ihrer Kollegen anging. Das wiederum hatten sich die Dämonen zunutze gemacht, um Ethos glaubhaft zu machen, sich unter Menschen zu befinden. Einmal mehr verfluchte Ethos die Schmach, die er und Artemis aufgrund fehlender Aufmerksamkeit hatten erdulden müssen. Das durfte ihnen niemals wieder passieren. Artemis hatte seine Kleidung gewechselt und trug nun ein schwarzes Hemd und eine dazu passende Hose, da es sich in einem Talar schlecht reiten ließ. Zudem war die Entsorgung der vielen Leichen ebenfalls eine blutige Angelegenheit gewesen und Artemis war sich sicher, das angetrocknete Blut ohnehin niemals wieder aus den Sachen heraus zu bekommen. Ein wesentlich größeres Problem würde jedoch noch dem Vatikan selbst bevorstehen. Wie das plötzliche Verschwinden der Polizisten erklärt werden würde, lag glücklicherweise nicht in den Händen von Ethos oder Artemis. Die Abteilung besaß eigens dafür ausgebildete Angestellte, die die Kunst beherrschten, jede noch so unlogisch erscheinende Gegebenheit in das richtige Licht zu rücken. Ohne die sogenannten Geschichtenerzähler, wie sie scherzhaft genannt wurden, wäre der Großteil der Missionen unmöglich. Aus diesem Grund genossen sie eine besondere Form des Respektes, obwohl die meisten unter ihnen noch nie an einem Einsatz außerhalb der schützenden Mauern des Vatikans teilgenommen hatten.

Für Ethos und Artemis war die Situation, von den Passanten angestarrt zu werden, nichts Ungewöhnliches mehr, hatten sie diese doch bereits mehrere Male erlebt. So kam es, dass sie sich weiter unterhielten, ohne den auf sie gerichteten Fingern noch irgendeine Art von Beachtung zu schenken.

„Dein Auge hat sich erst bemerkbar gemacht, als der Dämon hinaus getreten ist?“

„Allerdings. Vorher habe ich nichts gespürt. Erst, nachdem er sich auf dem Flur materialisiert hatte. Aber nicht nur das empfinde ich als außergewöhnlich. Leonce war eine echte Enttäuschung, zumindest kann ich von mir behaupten, schon gegen wesentlich stärkere Dämonen gekämpft zu haben. Demnach war er wahrscheinlich nur eine Farce.“

„Außerdem hätte der andere Dämon dich bemerken müssen. Er stand doch genau neben dir oder etwa nicht?“

„Doch, er war nur wenige Meter von mir entfernt. Normalerweise hätte er wissen müssen, dass ich dort stehe.“

„Und trotzdem hat er nicht reagiert.“

„Nein.“

„Mir kommt das Ganze genauso unsinnig vor wie dir. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Dämon einen von uns hätte absichtlich verschonen wollen. Es steht fest, dass der Dämon gerade uns beide tot sehen wollte. Er kennt unsere Namen, sammelt alles Mögliche über uns, erkennt wohl auch, dass wir eine Gefahr für ihn darstellen und schickt einen solchen Stümper, um uns zu erledigen. Von dem er auch noch vermutet, dass er nicht in der Lage sein würde, uns ohne Hilfe zu töten.“

„Vielleicht gibt einer der Namen, welche du aufgeschnappt hast, einen Hinweis darauf. Mir sagt Esrada nichts, genauso wenig wie Blackcage, aber möglicherweise weiß Prälat Nikolas etwas damit anzufangen. Wenn jemand etwas darüber wissen könnte, dann er.“

Tief in seine eigenen Gedanken versunken nickte Ethos zustimmend. Er konnte sich nicht helfen, er hatte den Namen Esrada bereits irgendwo schon einmal gehört. Das einzige, das er mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass es nicht im Zusammenhang mit seiner Arbeit für den Vatikan gewesen ist. Doch woher kannte er ihn dann?

Noch bevor Ethos sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, waren sie bereits vor den Toren des Vatikans angekommen. Sie ritten bis vor den Giardini Vaticani und übergaben dort ihre Pferde an einen anderen Priester, der die Tiere ab satteln und in die Stallungen bringen würde. Ethos und Artemis wollten daraufhin zu ihrem Quartier gehen, dem Domus Sanctae Marthae, um sich zu waschen. Auf halben Wege kam ihnen ein alter Mann entgegen, der sich beim Gehen auf einen Stock stützte. Seine Haare waren bereits ergraut und an vielen Stellen ausgefallen, lediglich an den Seiten waren noch einige Büschel zu erkennen. Auf seinem Kopf befand sich ein schwarzes Birett, seine Kleidung schmückten violette Knöpfe und ein violettes Zingulum. Die alten grauen Augen strahlten eine Ruhe aus, wie sie selten in der gegenwärtigen Welt zu sehen waren. Die vielen Falten in dem Gesicht des in einen schwarzen Talar gekleideten Mannes machten es schwer, seine Gesichtszüge zu deuten. Als er jedoch Ethos und Artemis erblickte, hellten sie sich merklich auf.

„Pater Ethos, Pater Artemis. Willkommen zurück“, rief der alte Mann freudig und steuerte direkt auf die beiden Priester zu.

„Hochwürdigster Herr Prälat“, antworteten Ethos und Artemis gleichzeitig.

Als der alte Mann vor den beiden angekommen war, deuteten sie eine leichte Verbeugung an, die dem Angesprochenen ein kehliges Lachen entlockte.

„Nicht doch, Sie wissen, dass ich außerhalb der Messe keinen besonderen Wert auf Etikette lege.“ Auch Artemis und Ethos lachten nun, wenn auch wesentlich zurück haltender als ihr Gegenüber. „Wie auch immer, ich bin gespannt, was Sie mir von Ihrem Auftrag zu berichten haben. Die letzte Nachricht, die ich aus Frankreich erhalten habe, ist nicht nur mehrere Tage alt, sondern verwirrt mich, muss ich gestehen.“ Um seine Aussage zu unterstreichen, kratzte sich der alte Mann an der Stirn. „Aber kommen Sie doch erst einmal mit, ich werde einen Tee aufsetzen lassen, dann können wir alles ganz in Ruhe besprechen.“

Mit einer ausladenden Bewegung drehte sich der Alte um und bedeutete Ethos und Artemis, dass die beiden ihm folgen sollten. Obwohl er sich beim Laufen auf seinen Stock stützen musste, besaßen die humpelnden Bewegungen des Alten eine erstaunliche Schnelligkeit. Die Via del Seminario Etiopico war bereits bis zur Hälfte geschafft, als Artemis und Ethos langsam aufgeholt hatten.

„Wenn Sie weiterhin so rennen, dann werden wir kaum noch Gelegenheit dazu haben, Ihnen von unserem kleinen Ausflug zu erzählen, Monsignore Nikolas.“

„Ach, warum denn das nicht?“

„Weil Sie entweder noch mal stolpern und sich das zweite Mal Ihre Hüfte brechen oder aber an einem Herzinfarkt sterben“, antwortete Artemis grinsend.

Nikolas tat, als habe er den Kommentar des braunhaarigen Priesters überhört, wie er dies bereits hunderte von Malen getan hatte. Ethos dagegen strafte seinen Kollegen lediglich mit einem missbilligenden Blick, auch er hatte es aufgegeben, Artemis den nötigen Respekt beizubringen. Dass es sich bei Artemis um einen der wenigen Priester im Vatikan handelte, der es sogar fertig brachte, dem Papst einen dämlichen Spruch an den Kopf zu werfen, wurde komischerweise von allen mehr oder weniger akzeptiert.

Inzwischen war das ungleiche Trio am Palast des Domkapitels angekommen, der dem Vatikan als Schatzkammer diente. Hier zog sich Nikolas gerne zu Besprechungen zurück, die nicht für jedermann Ohren bestimmt waren. Für gewöhnlich hielt sich hier selten eine Menschenseele auf, zudem hatten nur sehr wenige Personen überhaupt Zutritt zu diesem Gebäude.

Während Nikolas in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel nestelte, kam ein junger Bursche angerannt. Seine kurzen roten Haare standen ihm in nahezu alle Richtungen ab, seine blasse Haut war im Gesicht nahezu übersät von Sommersprossen. Fast wäre er über seinen eigenen Talar gestolpert, sogar Artemis musste zugeben, dass Prälat Nikolas die bessere Agilität besaß. Kaum war der Junge an der Tür angekommen, blieb er erst einmal stehen, um zu verschnaufen. Nach wenigen Sekunden straffte er sich, richtete sich wieder auf und fixierte Nikolas mit seinen schmalen grünen Augen.

„Hochwürdigster Herr Prälat, bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, aber ich...“

„Lieber Steve, würdest du uns bitte eine Kanne Kamillentee und drei Tassen bringen?“, unterbrach Nikolas den Jungen.

„Aber sicher, Hochwürdigster Herr Prälat. Ich eile“, sagte Steve kleinlaut und war kurz darauf wieder verschwunden. Dabei behielt er das gleiche Tempo bei, in dem er angekommen war. Einen letzten Blick auf den in Weiß gekleideten Priester konnte er jedoch nicht vermeiden. Als er das Blut entdeckte, richtete Steve seinen Kopf jedoch schnellstmöglich geradeaus und tat, als habe er nichts bemerkt. Bei Steve handelte es sich um einen der wenigen jüngeren Menschen im Vatikan.

„Wer ist denn das?“, fragte Artemis beiläufig, als er nach Ethos in den kleinen Besprechungssaal eingetreten war, der sich in einem kleinen geheimen Zimmer des Gebäudes befand.

„Das war Steve. Einer unserer Neuzugänge. Hat in Irland auf einem Bauernhof gelebt, bevor er sich dazu entschlossen hat, Priester zu werden.“ Nikolas setzte sich an den runden Tisch aus massiven Eichenholz, der die gesamte Mitte des Raumes ausfüllte. Seinen Gehstock lehnte er an die Tischkante und wartete, bis die beiden anderen Priester sich ebenfalls gesetzt hatten. „Wie ihr wisst, existiert unsere Abteilung offiziell nicht. Demnach müssen wir uns selbst darum kümmern, früh genug mit der Ausbildung unseres Nachwuchses zu beginnen.“ Noch im gleichen Moment, als Nikolas diesen Satz ausgesprochen hatte, ärgerte er sich auch schon darüber, ihn nicht wieder zurück nehmen zu können.

„Ist dieser Punkt bei Ihnen nicht bereits um einige Jahre überschritten?“

„Pater Artemis, wenn Sie nichts Konstruktives vorzubringen haben, würde ich Sie bitten, uns mit Schweigen zu beglücken.“

„Ich hätte diesbezüglich eine ernst gemeinte Frage, Monsignore“, mischte sich nun auch Ethos ein. „Heißt das, dass Sie diesen Jungen auserwählt haben, Ihre Nachfolge anzutreten?“

„Genau das habe ich mir dabei gedacht, Ethos. Steves Hintergrund wurde ausreichend durchleuchtet, um sicherzugehen, dass ihm vertraut werden kann. Da er niemals etwas anderes als den Bauernhof seines Vaters, die Dorfschule und die nahe gelegene Kirche kennen gelernt hat, sollte in seiner Vita auch kaum mehr als Trivia zu erwarten sein."

„Was bewegt einen so jungen Mann dazu, der Kirche beizutreten?“

„Was hat Sie damals dazu bewegt?“, fragte Nikolas und sah, dass sich in Ethos' Gesicht etwas bei der Frage zu regen schien. Sie nahm ihm kurz die Fassung, doch es dauerte nicht lange, bis Ethos seinen Gesprächspartner wieder mit der altbekannten Schärfe ansah, die ihm zu eigen war. „Nun, der Vater des Jungen fiel im Großen Krieg auf französischem Gebiet. Seine Leiche wurde, wie viele andere, niemals gefunden. Seine Mutter dagegen starb an einer Infektion und seine Schwester an einer schweren Lungenentzündung. Der einzige, der ihm wirklich Trost spenden konnte, war der örtliche Priester. Trotz der ganzen Vorfälle, die seine Familie dahin gerafft haben, besitzt der Junge einen unglaublich starken Glauben an Gott. Das und die Tatsache, dass er bisher kaum Einflüssen unterlegen war, die ihn hätten formen können, machte ihn in meinen Augen zu einem geeigneten Kandidaten für den Posten.“

Ethos genügte diese Antwort fürs Erste.

Gerade in diesem Augenblick kam Steve zurück mit dem Tee, stellte diesen und die Tassen an ihren Platz, nur um sich kurz darauf zu verbeugen und mit gesenktem Haupt wieder zu verschwinden.

„Mit den Jahren wird er mutiger werden. Immerhin ist sein Benehmen jetzt schon um einiges besser, als das von Pater Artemis“, stellte Nikolas fest, als er sah, dass Artemis bereits dabei war, sich selbst einen Tee einzugießen ohne zu fragen, ob jemand anderes auch etwas trinken wolle.

Doch anstatt seinen tadelnden Ton beizubehalten, musste Nikolas anfangen zu lachen und es war ein fröhliches Lachen. Wann immer er den Priester mit der Augenklappe tadelte oder durch einen Kommentar zurecht weisen wollte, wussten beide, dass dies hauptsächlich gespielt war. Niemand konnte Artemis lange sauer sein. Zumindest inoffiziell nicht. Niemand, außer zwei Menschen, die sich regelmäßig im Vatikan aufhielten. Nur einer von diesen beiden konnte Artemis irgendwann wirklich gefährlich werden, doch im Moment ging für ihn - in seinen Augen - keine große Gefahr von dieser Person aus.

„Nun denn“, begann Nikolas und nippte an seinem Tee und lehnte sich in dem Stuhl zurück. „Berichten Sie mir.“

Ethos war derjenige, der zuerst das Wort ergriff. „Sie haben sicherlich die Nachricht von Leonce erhalten, dass ich Verstärkung benötigen würde, welche Sie mir in Form von Pater Artemis geschickt haben.“ Nikolas nickte wissend. „Gut, dann erkläre ich Ihnen, was sich zwischen dieser und meiner letzten Nachricht ereignet hat.“
 

Nachdem Ethos alles, was er und Artemis erlebt hatten, geschildert hatte, war nicht nur einiges an Zeit vergangen, sein Tee war auch bereits seit über einer halben Stunde erkaltet.

„Esrada...“ Nikolas' Gemurmel war kaum zu hören, da er den Kopf nachdenklich nach unten gesenkt hatte. „Nein, der Name sagt mir nichts. Genauso wenig wie Blackcage. Aufgrund der Besonderheit des ersten Namens, der eher wie ein Vorname und älter klingt, und dem, was Sie mir geschildert haben Ethos, würde ich fast behaupten, dass Esrada den anderen beiden Dämonen überlegen ist.“

„Das denken wir auch.“

„Der einzige Anhaltspunkt, den wir im Grunde genommen haben, ist, dass dieser Blackcage irgendetwas in England vorhat“, schaltete sich Artemis hinzu.

„Bisher haben wir keine beunruhigende Korrespondenz von unseren Kollegen in England erhalten.“

„Wie stehen wir mit denen in Verbindung?“, wollte Artemis wissen. „Hat sich seine Heiligkeit bereits durchringen können, uns eine vernünftige und schnelle Art der Kommunikation zur Verfügung zu stellen oder müssen wir erst auf eine Taube warten, wenn es vermutlich eh schon zu spät ist?“ Dieser Kommentar war ausnahmsweise keine von Artemis' zynischen Äußerungen, sondern durchaus eine berechtigte Frage. Viele der Berater des Papstes, der immer das letzte Wort hatte, wenn es um die Modernisierung oder Neuanschaffungen der Spezialabteilung ging, waren absolute Technikgegner. Sie taten, was sie konnten, um den Papst davon abzuhalten, seinen Mitarbeitern modernes Gerät an die Hand zu geben. Oftmals war es der Überredungskunst von Nikolas zu verdanken, dass Ethos und Artemis überhaupt etwas an Technik besaßen, das sie im Kampf gegen die Dämonen einsetzen konnten. Zuletzt genannte scheuten sich nämlich mitunter nicht dagegen, von Menschenhand gefertigte Gewehre oder sogar Sprengstoffe einzusetzen.

„In diesem Fall kann ich Sie beruhigen. Seit einigen Tagen besitzen wir endlich eine Telefonverbindung nach England. Weitere Verbindungen werden folgen, ich bin mit Nachdruck an der Sache dran.“

Erleichtert nickend spielte Artemis an dem Henkel seiner schneeweißen Porzellantasse.

„Wenn sich bisher noch niemand aus England gemeldet hat, beruhigt mich das ungemein. Nachdem wir die Dämonen in dem Revier ausgeschaltet haben und in den Keller des Gerichtsmediziners gegangen waren, haben wir dort überall Spuren von anderen Dämonen gefunden. Kratzspuren an den Wänden und an weiterem Material und einen Haufen langer Zähne. Es haben sich also eine Menge "Vampire" zusammen getan, um gegen uns vorzugehen. Wahrscheinlich stellte das Revier einen ganzen Clan schwacher Dämonen dar, die sich irgendwann einmal gefunden haben.“

„Und ihre eigenen Leute töten, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe.“

„Richtig. Neben den organischen Funden habe ich noch einen Bericht entdeckt, der beschreibt, weshalb Christopher Gargon sterben musste. Durch sein zügelloses Vorgehen war er zu auffällig geworden. Zwar wollte Leonce uns anlocken, das steht außer Frage, aber so eine große Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte er dann doch nicht. Gleiches trifft auf weitere Dämonen zu, die aus dem Weg geräumt werden mussten. Allerdings ist es merkwürdig, dass den meisten von ihnen Zähne gezogen und diese dazu auch noch aufbewahrt wurden.“

„Im Erstellen von Dokumenten scheinen die ja ohnehin große Klasse zu sein“, warf Artemis ein. „Wie kann es sein, dass jemand so sensible Informationen über uns außerhalb des Vatikans zusammenstellen kann?“

„Darauf habe ich leider keine Antwort.“

Drückende Stille legte sich auf die drei Priester.

Keiner von ihnen traute sich auszusprechen, was offensichtlich war, bis Artemis erneut das Wort erhob. „Wir müssen also davon ausgehen, dass der Informant aus dem Vatikan kommt?“

„Ich befürchte, dass wir diese Option durchaus in Betracht ziehen müssen. Solange wir nichts Genaues wissen, werden wir vorsichtiger sein müssen. Ab jetzt werde ich alle unsere Unternehmen nur noch selbst erstellen, unterzeichnen und dem Papst zur Unterschrift vorlegen.“

„Geht das denn ohne den Geheimen Rat?“

„In einem Notfall wie diesem sicher. Es sei denn, der Papst stimmt dem nicht zu.“

Normalerweise mussten alle Dokumente, die sich mit einem Belang der Spezialabteilung befassten, erst dem Geheimen Rat, bestehend aus fünf Mitgliedern, vorgelegt werden, bevor er überhaupt in die Nähe des Papstes gelangte. Diese fünf Mitglieder besaßen allesamt den gleichen Rang, damit sie theoretisch gleichberechtigt waren in der Abstimmung und konnten nur mit "Ja" oder "Nein" stimmen, um Pattsituationen zu verhindern. Eine der Notfallbestimmungen sah es jedoch vor, dass das Oberhaupt, das die Abteilung leitete, in besonderen Fällen über dem Rat stand, dessen übrige Mitglieder, um mehrere Sichtweisen zuzulassen, in der Regel aus anderen Bereichen stammten. Jedes Mitglied wurde vorher genauestens überprüft, bevor es eine Tätigkeit im Geheimen Rat annehmen durfte. Dass sich ausgerechnet unter ihnen ein Maulwurf befinden sollte, gab dem Prälat besonders zu denken.

„Können die Hintergründe der übrigen Ratsmitglieder nicht einfach noch mal überprüft werden?“

„Wenn es nur so einfach wäre, Ethos... Aber ich denke, dabei wird kaum etwas herum kommen. Zudem reicht ein reiner Verdacht, dass etwas mit einem der Ratsmitglieder nicht stimmen könnte, nicht aus, um eine Untersuchung einzuleiten. Wie Sie wissen, ist das Fundament unserer Kirche vor allem auf Vertrauen aufgebaut. Und solange es keinen handfesten Beweis gibt, wird nichts weiter geschehen. Den Rat aufgrund einer drohenden Gefahr zu verkleinern ist bereits ein Hindernis, aber gegen die Mitglieder zu ermitteln, das ist ein ganz anderes Kaliber.“

„Ich finde, dass diese Dokumente Beweis genug sind“, sagte Ethos und zeigte auf den Stapel Papier, den er auf dem Tisch aufgebaut hatte.

„Und wem sollen diese Dokumente zugeschrieben werden? Es ist ja nicht so, dass jemand seinen Namen darunter gesetzt hätte.“

„Fragen Sie doch mal den ehrwürdigen Prälat Dominic“, zischte Artemis. Marcus Dominic war einer der Männer, die Artemis von Grund auf hassten. Zwar beruhte dieser Hass auf Gegenseitigkeit, jedoch war Artemis wesentlich subtiler, was die offene Abneigung gegenüber dem Prälat anbelangte, als dies andersherum der Fall gewesen wäre. Auch Marcus Dominic versuchte, die Spezialabteilung für sich zu gewinnen, was Nikolas zu verhindern suchte, doch galt Dominic als vielversprechender Kandidat. Die Ansage, dass eine der ersten Amtshandlungen seinerseits sein würde, Artemis vor die Pforten des Vatikan zu setzen, hatte seine Sympathie unterhalb der Abteilungsmitglieder zwar nicht sonderlich vorangetrieben, doch das war auch nicht nötig. Denjenigen, die darüber entscheiden würden, wer die Nachfolge von Nikolas antreten würde, war Artemis' Schicksal herzlich egal. Dies war einer der vielen Gründe, weshalb Nikolas damit begonnen hatte, einen eigenen möglichen Nachfolger auszubilden.

„Leider steht auch sein Name nirgendwo auf einem dieser Papiere“, seufzte Nikolas. „Ich kann Ihnen höchstens vorschlagen, dass Sie sich zurück auf Ihre Kammern begeben und ich werde in der Zwischenzeit in der Bibliothek nachsehen, ob ich dort nicht etwas über Esrada herausfinden kann. Blackcage wirkt auf mich nicht allzu vielversprechend. Wenn wir herausfinden können, um wen oder was es sich handelt, können wir daraus vielleicht Rückschlüsse schließen, woher die sensiblen Informationen über Sie stammen könnten. Wie Sie ja selbst wissen, haben Dämonen so viele verschiedene Fähigkeiten, dass es fast unmöglich ist, sie alle in einem Leben zu entdecken.“

Ethos trank noch schnell seinen kalt gewordenen Tee, dann erhob er sich, genau wie Artemis und Nikolas. Wenig später erschien auch Steve, der die Tassen und die leere Kanne abräumte. Er ging damit in die entgegen gesetzte Richtung wie Artemis und Ethos, die gleich nach rechts zum Domus Sanctae Marthae abbiegen wollten, als der Prälat sich noch einmal räusperte.

„Ach und Pater Ethos… Ich weiß, dass Sie auf Ihren eigenen Kleidungsstil bestehen, allerdings macht sich Blut darauf nicht besonders gut. Besonders, wenn Sie damit durch die Straßen unserer Heimat reiten.“

„Ich werde beim nächsten Mal daran denken. Entschuldigen Sie.“

Mit diesen Worten wand sich Ethos wieder seinem Kollegen zu und setzte sich wieder in Bewegung in Richtung Unterkunft. Dort angekommen gingen die Priester auf dem Flur ihrer eigenen Wege, denn sie besaßen Kammern in jeweils unterschiedlicher Lage.

Ethos konnte es kaum erwarten, sich heiß zu duschen, um den Gestank des Blutes abzuwaschen. Der einzige Gedanke, der ihn am heutigen Tage etwas Freude geschenkt hatte, war die Gewissheit, dass sein Anliegen bezüglich der klaffenden Lücke im Informationsnetz des Vatikans offensichtlich ernst genommen wurde. Müde schloss Ethos die kleine Tür, die zu seinen Räumlichkeiten führte, auf. Der mit Gold verzierte Bogen war das vermutlich Wertvollste an der gesamten Kammer.

Es handelte sich um einen einfachen quadratischen Raum von einer Größe von 9 m². Außer einem Bett, einem Schreibtisch und einem Schrank, die bereits vor Ethos' Einzug vorhanden gewesen waren, reichte der Platz gerade einmal für ein kleines Regal an der Fensterseite des Zimmers. In diesem Regal hatte Ethos einige seiner wenigen persönlichen Sachen untergebracht, voll war es allerdings noch lange nicht. Unter anderem befand sich ein kleines Schmuckkästchen darunter, das mit künstlichen Perlen und einigen Muscheln verziert war. Bevor er zu seinem Schrank ging, um sich neue Klamotten und ein Handtuch zu nehmen, blieb Ethos kurz stehen und schaute das Kästchen an. Es hatte seiner Mutter - seiner leiblichen Mutter - gehört, weshalb Ethos es wie seinen Augapfel hütete. Vorsichtig strich er über den Deckel und betrachtete es lange Zeit schweigend, bevor er noch einige Sachen zusammen suchte, damit er sich auf den Weg in das Badezimmer machen konnte.
 

Als Ethos in einer alten abgetragenen Stoffhose und einem einfachen weißen Shirt zurück in seine Unterkunft trat, hörte er von draußen das Gepöbel eines Offiziers der Schweizergarde. Manchmal gingen einige der Gardisten abends noch joggen und wenn ihm seine Männer zu langsam waren, äußerte der zuständige Offizier seine Meinung darüber ziemlich lautstark und deutlich.

Um zu sehen, wer diesmal die Truppe durch den Vatikan scheuchen musste, damit die Fitness der Gardisten weiterhin bestmöglich gewahrt wurde, sah Ethos aus seinem Fenster. Allen voran lief ein großer stämmiger Mann mit einem breiten Kreuz, dessen Oberkörper sein Sportshirt vor Muskelmaße nahezu zu zerreißen schien. Auch seine Hose lag sehr eng an, was weniger an der Weite der Hose, als an dem Umfang der Beine des Offiziers lag. Mit seinem kurzen Haarschnitt und den tief liegenden braunen Augen wirkte der Offizier Matteo Nino Roth eher wie ein Elitesoldat, denn wie ein Gardist der Schweizergarde. Als Leutnant übernahm er oft die Ausbildung der neuen Rekruten, was ihm einen gefürchteten Ruf eingebracht hatte. Abseits seiner dienstlichen Pflichten war Roth allerdings ein sehr umgänglicher und freundlicher Mensch, jedenfalls hatte Ethos ihn als solchen kennen lernen dürfen. Roth trennte seine private und dienstliche Seite so konsequent voneinander, dass die wenigen, die ihn privat kannten, schon fast der Meinung waren, er wäre schizophren. Ethos schätzte genau das an dem Offizier.

Vor der ersten Riege von laufenden Rekruten, direkt hinter Roth, sah Ethos Artemis laufen. An einigen Tagen ging Artemis mit den Gardisten laufen, da er sich fit halten wollte, alleine konnte er sich dazu aber kaum aufraffen. Demnach kamen ihm die abendlichen Trainingseinheiten ganz recht.

Kaum hatte Ethos die kleine Gruppe entdeckt, war diese auch schon wieder aus seinem Sichtfeld verschwunden. Er selbst hatte es glücklicherweise nicht so sehr nötig, sich durch körperliche Aktivitäten gesund zu halten. Artemis zog ihn ab und an mit seiner dünnen und schmalen Statur auf, doch das kümmerte Ethos nicht sonderlich. Irgendwie schien die übernatürliche Fähigkeit, die er besaß, seinen Körper und Geist zu stärken. Zwar besaß Ethos keine besonders ausgeprägte Muskelmaße, doch ein Hungerhaken war er ebenfalls nicht.

Da er durch seine Überlegungen gerade daran erinnert wurde, nahm Ethos die kleine Schachtel seiner Mutter aus dem Regal und stellte sie vor sich auf den Tisch. Er öffnete sie und holte eine kleine perlenbesetzte Kette mit einem Holzkreuz heraus. Dann nahm er die Perlenkette, schloss die Augen und konzentrierte sich. Vor seinem inneren Auge sah er die kleinen Kugeln, die durch seine Finger wanderten, genau vor sich. Leise murmelte er das Vater Unser vor sich her, das er immer und immer wieder wiederholte. Während er die Worte vor sich hin zitierte, drängte Ethos mit seinen Gedanken tiefer in sein Innerstes vor.

Bald sah Ethos nur noch eine schwarze Fläche vor sich, von seinen eigenen Gedankengängen und den äußeren Umwelteinflüssen gereinigt. Er schritt auf diese Fläche zu, wurde nahezu in die Dunkelheit hinein gesaugt. Kaum hatte sich Ethos dieser Dunkelheit hingegeben, fiel ein Schatten von oben herab. Ethos schaffte es im letzten Augenblick, einen Schritt zurück zu machen, so dass der Schatten vor ihm auf dem Boden aufkam, wo er sich langsam aufrichtete. Wenige Sekunden später stand eine graue Masse vor ihm, aus der rote Augen Ethos anstarrten. Aus dem Rücken der Kreatur wuchsen riesige Schwingen heraus, die nur schemenhaft als diese zu erkennen waren. Der Schatten richtete sich so weit auf, dass er mindestens zwei Köpfe größer als Ethos maß.

Als er auf Ethos zukam, bildeten sich lange Klauen an seinen Händen, aus seinem Kopf schienen schwarze Hörner zu wachsen.

Erschrocken wich Ethos einige weitere Schritte zurück.

„Ethos“, rief die Stimme mit einem säuselnden Unterton, als habe die Kreatur vor, mit ihm zu spielen. „Ethos, ich habe dich so vermisst.“

Die Stimme, das wusste Ethos, war nicht die Stimme des Dämonen, der sich vor ihm aufgebaut hatte, sondern die seines Stiefvaters. Des Mannes, den er vor einer gefühlten Ewigkeit erschossen hatte. Der Mann, der ihn aus dem Waisenhaus adoptiert hatte und ihn mehr zu lieben glaubte, als es einem Sohn gut tat.

„Ethos, komm zu mir. Ich habe dich so sehr vermisst. Komm, wir gehen in mein Zimmer und dann spielen wir etwas zusammen.“

Anstatt etwas darauf zu erwidern, drehte Ethos sich um und ging weg. Er versuchte einen Weg zurück in das Licht zu finden, das er in seiner Trance ausgeblendet hatte. Zuerst ging Ethos nur langsam, doch als er bemerkte, dass der Schatten ihn verfolgte, wurde sein Gang immer schneller. Wenig später rannte er, ohne es richtig wahrzunehmen. Wie ein kalter Wind fühlte es sich an, als die Kreatur bereits so nahe war, dass Ethos dessen Atem im Nacken spüren konnte. Innerlich durchzog ihn ein Schauer.

Noch bevor er den Bereich mit dem Licht erreichen konnte, spürte Ethos eine kalte Umarmung. Der Dämon hatte seine Arme um seinen Oberkörper gelegt und presste den Priester nun an sich heran. Die Kraft, sich zu wehren, wich mit einem Mal aus Ethos' gesamten Körper. Es war, als nehme ihm die bloße Berührung sämtliche Kräfte. Erst, als er die Lippen des Dämons an seinem Ohr spüren konnte, riss es Ethos aus seiner Trance heraus.

Schweißgebadet sah der Priester sich um. Ethos saß nicht mehr an dem Tisch, sondern lag nun in seinem Bett. Mit hechelndem Atem stand Ethos auf und nahm sich sein Handtuch, mit dem er sich das Gesicht abtrocknete. Danach stützte er seine Stirn auf die Hände, atmete mehrfach tief ein und schaute seufzend zur Decke.

So hätte es eigentlich nicht laufen sollen. Normalerweise nutzte Ethos den tranceähnlichen Zustand, in den er sich durch die betende Meditation begab, um seine Fähigkeiten zu trainieren. Dann stellte er sich einen Dämonen vor, zwang diesen, mit der reinen Kraft seiner Gedanken und unter Zuhilfenahme des Rosenkreuzes, in einen vorgestellten Gegenstand, den er anschließend mit einer, ebenfalls imaginären, silbernen Nadel durchstach, um den Dämonen so gefangen zu halten. Die Erinnerung an die Konfrontation mit dem Dämon, nachdem er seinen Vater getötet hatte, schlummerte tief in seinem Inneren, kam allerdings nur selten an die Oberfläche zurück. Bisher war es Ethos immer sehr gut gelungen, durch die Säuberung seiner Gedanken die Erinnerung an seinen Stiefvater in den hintersten Teil seines Bewusstseins zu drängen und dort unter Verschluss zu halten. So intensiv wie heute hatte er die damit im Zusammenhang stehenden Bilder schon lange nicht mehr wahrgenommen.

Möglicherweise hatten die getöteten Menschen in Frankreich Ethos so aufgewühlt, dass er seine Gedanken nicht richtig unter Kontrolle bekam. Zwar glaubte Ethos nicht daran, dass es nur daran lag, das meinte er zu spüren, doch eine andere Erklärung hatte er dafür nicht.

Aufgrund seiner Übung darin, ungewollte Bilder schnellstmöglich wieder zu verdrängen, klärten sich Ethos' Gedanken schnell wieder auf. Statt ihrer fühlte Ethos nun eine leichte Wut darüber, dass er bei seinem letzten Auftrag so versagt hatte.

Er hatte sich gerade neue Sachen zum Anziehen heraus gesucht, als es an der Tür klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich der Junge, den Ethos heute als Steve kennen gelernt hatte, durch die Tür. Er war bereits wieder erblasst und mindestens genauso verschwitzt wie Ethos einige Minuten zuvor.

„Ent- Entschuldigen Sie, Pater Turino“, stammelte Steve verlegen. „Ich... ich soll Ihnen eine Nachricht vom Hochwürdigsten Herrn Prälat Nikolas überbringen.“

„Zu solch einer unchristlichen Uhrzeit?“

„E-Es tut ihm wirklich sehr leid, aber Sie sollen sich sofort in dem Büro von Prälat Nikolas einfinden. Wir haben eine Nachricht aus England erhalten.“



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