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Monster, Monster

von

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Vögelchen, Vögelchen im Käfig

 

 

 

Die Schritte um sie herum folgten dem Takt des mehrstimmigen Gesangs; langsam und zäh fließend wie kristallisierter Honig gingen sie im Kreis um sie herum, dessen Umfang mal ab und wieder mal zuzunehmen schien. Mit jeder Zeile, die sie sangen, wusste May, dass das Lied gleich endete und man ihr dann die Frage stellen würde, vor der sie sich so sehr fürchtete.

Das Gras raschelte verhalten unter ihren Schuhen und manchmal spürte May, wie eines von ihnen sie berührte. Etwas streifte ihre linke Schulter und nur knapp konnte May dem Drang widerstehen, sich mit der Hand über das Stück Haut zu wischen, wo es sie berührt hatte. Beim letzten Mal, als sie sich vor Ende des Gesangs bewegt hatte, um sicherzugehen, dass sich dort, wo der fremde Fuß sie angestoßen hatte, tatsächlich nichts verändert hatte, hatte man sie ausgelacht und wieder von vorne begonnen.

Die Sonne schien mittlerweile erbarmungslos auf sie hinab und May seufzte kaum hörbar. Sie Mochte nicht mehr länger im Gras knien. Sie hatte Durst und musste aufs Klo.

Vorsichtig hob May eine Hand und tastete nach dem Tuch, das ihre Augen verband und ihr sämtliche Sicht nahm. Mit Daumen und Zeigefinger lüftete sie den Stoff, der nach dem blumigen Parfum ihrer Mutter roch, und blinzelte schnell die plötzliche grelle Helligkeit weg, die ihr Auge traf.

"Nicht schummeln!", zischte auch schon jemand neben ihr und eine Hand schlug ihr unwirsch auf den Arm.

Mays Protest verlor sich in dem Gesang, der in diesem Augenblick abrupt endete. Mit angehaltenem Atem und bis zum Hals hinauf klopfendem Herzen wartete May auf die Frage, die ihr gleich jemand stellen würde. Sie durfte sie nicht falsch beantworten. Sie durfte nicht. Sonst passierte das, was Josy ihr zu Anfang erklärt hatte.

Bitte, bitte, lass mich alles richtig machen.

Lass sie nicht recht haben.

Ich will kein-

"Wer steht hinter dir?"

 

Mays Mund war augenblicklich wie ausgetrocknet. Ihr Atem stach in ihrem Brustkorb fest und ihr Blut rauschte im Takt ihres fast schon schmerzhaft fest klopfenden Herzens.

Bitte lass die Antwort richtig sein.

Sonst bin ich – bleibe ich ein-

"Wer steht hinter dir?", fragte man sie noch einmal etwas ungeduldiger. Leider kam die Stimme von vorne, sonst hätte sie die Antwort sofort gewusst. May gab sich Mühe, die kichernden Kinderstimmen zu unterscheiden, aber es waren so viele von ihnen. Ihr Kopf schwirrte.

"Na los, du Baby!" Ein Fuß stieß gegen ihr Knie.

Wütend schlug May blind nach dem Fuß und verfehlte ihn, was prompt mit einem hämischen Lachen quittiert wurde.

"Josy!", schrie May und noch ehe sie das 'du dumme Kuh' hinzufügen konnte, lachte ihre Schwester sie auch schon schallend aus.

"Falsche Antwort, falsche Antwort!" Josys Stimme überschlug sich fast vor Freude darüber, dass ihre jüngere Schwester schon wieder daneben gelegen hatte.

May war aufgesprungen und hatte sich das Tuch von den Augen gerissen. Der zarte Stoff riss der Länge nach ein, was das Mädchen aber kaum wahrnahm. May schäumte vor Wut.

"Das war aber noch nicht die Antwort!", brüllte May ihre Schwester an, die rechts neben ihr stand und den Mund zu einem fürchterlichen Grinsen verzogen hatte. Ihre Augen, die sich in den letzten Minuten an die nahezu absolute Dunkelheit angepasst hatten, füllten sich mit Tränen. "Das war nicht meine Antwort!"

"Doch war es!" Josy streckte May die Zunge heraus.

"Ich wollte aber etwas anderes sagen!"

Josys Grinsen kehrte zurück. "Pech für dich."

May biss sich auf die Unterlippe. Tränen rannen ihre Wangen hinab und in ihre Mundwinkel hinein. Sie schmeckte das Salz und gleich darauf das Blut, das aus ihrer Lippe quoll, die unter dem Druck ihrer Zähne aufgeplatzt war.

Josy verließ den Kreis der Kinder, die sich noch immer alle an den Händen hielten, und auf dem gleichen Flecken standen, wo sie nach dem Ende des Liedes zum Stehen gekommen waren.

Die Arme in die Seiten gestemmt baute sich Josy, die einen halben Kopf größer war als May, vor dieser auf. Das dumme Grinsen war aus ihrem Gesicht verschwunden. Stattdessen starrte sie May reglos in die Augen, die schon die Fäuste geballt hatte, um ihrer Schwester auf die Nase zu boxen, wenn diese auch nur eine einzige falsche Bewegung machte.

Doch Josy blieb ruhig. Ihre Blicke schienen in Mays Augen einzutauchen.

May war wie festgefroren. Josys leerer Gesichtsausdruck machte ihr fast noch mehr Angst, als die Stille um sie beide herum. Gebannt sahen alle auf die beiden Mädchen im Inneren des Kreises.

"Du bleibst das Monster. Für immer und ewig", sagte Josy endlich. Ihre Stimme war leise und ihr eiskalter Atem streifte May, die kurz erschauerte.

Die übrigen Kinder lösten lachend den Kreis auf. Alle stoben in unterschiedliche Richtung davon wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm. Nur May und Josy verharrten an ihren Plätzen.

May fühlte, wie ihre Tränen prickelnd auf ihren Wangen trockneten. Ihre Lippe hatte zu bluten aufgehört.

"Ich-ich-ich will aber kein-", stotterte May mit zittriger Stimme. Ihre Augen liefen über mit Tränen, die sie sich hastig mit dem Handrücken aus dem Gesicht wischte. Doch Josy blieb erbarmungslos. Sie schien den Augenblick zu genießen.

"Monster", hauchte Josy noch einmal, dann stolzierte sie an ihrer Schwester vorüber.

Die Wunde auf ihrer Lippe blutete erneut. May leckte es weg. Sie hörte Josys Schritte, wie sie sich von ihr entfernte und den anderen Kindern etwas fröhlich zurief.

"Kommt Kuchen essen", hörte May ihre Mutter von der Terrasse her rufen.

Johlend lief die Kindermeute zu dem gedeckten Tisch hin und alle begannen, sich einen Platz auszusuchen.

 

May wandte sich langsam um. Sie nahm kaum wahr, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatte. Erst als sie an der Terrasse angekommen war, klärte sich ihr Bewusstsein wieder. Sie starrte auf Josys Rücken, die sich laut lachend über den Tisch beugte, um die große Kanne Eistee zu erreichen, die dort stand.

"Josy, setz dich hin und warte, bis May die Kerzen ausgepustet hat."

Aus den Augenwinkeln sah May, dass ihre Mutter sie zu sich hinüber winkte. Vor ihr stand die Geburtstagstorte mit den bunten Kerzen, die schon alle brannten.

"Mays erster Monstergeburtstag", kicherte Josy.

"May", sagte ihre Mutter und lächelte sie an. "Komm schon, puste die Kerzen aus und wünsch' dir was."

"Wünsch dir doch, wieder ein Mensch zu sein", zog Josy ihre Schwester auf und erntete dafür ein paar Lacher der anderen Kinder.

"Na los, May, sonst ist der Kuchen gleich voller Wachs."

Die Hand ihrer Mutter legte sich auf Mays Arm. Sachte drängte sie sie zu der Torte hin, auf der die neun Kerzen bereits zur Hälfte abgebrannt waren.

May machte einen Schritt nach vorne. Ihr Körper, der sich seltsam schwer anfühlte, wollte ihr nicht mehr gehorchen. Sie stolperte, was Josy natürlich sofort zum Anlass nahm, wieder einen Witz auf Mays Kosten zu machen. Doch Josy blieb das Lachen förmlich im Hals stecken, als sich May ohne Warnung auf sie stürzte und sie zu Boden riss. Die Kinder, die direkt in ihrer Nähe gesessen hatten, sprangen erschrocken auf.

"Nicht schon wieder", kommentierte ihre Mutter das Geschehen genervt.

 

Josys Hinterkopf schlug hart auf den rissigen Holzboden der Terrasse. Mays Gewicht, die mit ihr zu Boden gestürzt war, presste ihr die letzte Luft aus den Lungen. Unerbittlich gruben sich die eiskalten Finger ihrer kleinen Schwester in Josys Hals. Sie drückte so fest zu, dass Josy kein einziges Wort mehr herausbrachte.

Josy versuchte, sich mit aller Kraft gegen May zu wehren. Ihre Hände zerrten an Mays Armen. Sie strampelte und stieß dabei gegen den Tisch. Etwas fiel klirrend um und ihre Mutter fluchte.

Verzweifelt schnappte Josy nach Luft, doch die Finger ihrer Schwester gaben keinen Millimeter nach. Sie presste ihre Hände nur noch enger um den Hals ihrer älteren Schwester, deren Gesicht nun rot anzulaufen begann.

Warum sah ihre Mutter nicht, was gerade geschah? Wieso musste sie den verfluchten Saft aufwischen, der sich über den Tisch verteilte?

Josy wurde schwindelig. Ihr Kopf fühlte sich schwer und heiß an und hinter ihren Schläfen pochte ihr Puls so fest, als schlüge jemand mit einem Hammer dagegen. Ihre Hände, die noch immer verzweifelt versuchten, ihre Schwester auf Abstand zu halten, verloren an Kraft und sanken gleich darauf an ihrer Seite hinab.

"Sagt mal, spinnt ihr?"

Der Druck von Mays Händen an ihrem Hals ließ endlich nach und röchelnd sog Josy halb bewusstlos den ersten Luftzug seit einer gefühlten Ewigkeit ein.

Ihre Mutter hatte May auf die Beine gerissen und hielt sie mit wütend verzerrtem Gesicht am Arm fest. "Der Geburtstag ist dann wohl gelaufen", fuhr sie May an, die ihr keine Beachtung schenkte und stattdessen reglos ihre noch immer auf dem Boden liegende Schwester beobachtete, deren Gesichtsfarbe sich langsam wieder zu normalisieren begann.

Josy zitterte am ganzen Leib. Ihre Kehle schmerzte mit jedem Luftzug, den sie keuchend nahm. Mit eiskalten Fingern strich sie sich die Tränen aus den Augen und wagte einen ersten zaghaften Blick zu ihrer Schwester hinauf, die vor ihr stand und ausdruckslos die Schimpftirade ihrer Mutter über sich ergehen ließ. Noch immer lief ihr Blut aus dem Mund und rann an ihrem Kinn hinab.

 

 

Ihre Augen waren mit kleinen blutroten Punkten durchzogen. Auch auf ihren Wangen fanden sich welche davon. Sie waren winzig wie Stecknadelköpfe und gingen fast vollständig in ihren unzähligen Sommersprossen unter, wenn man nicht wusste, dass sie da waren.

Josys Spiegelbild blickte ihr bleich entgegen. Noch immer lag die Angst, die sie während Mays Attacke ergriffen hatte, wie ein Schatten auf ihr. Es war ihr absolut ernst gewesen. Sie hatte Josy erwürgen wollen. Und alles nur, wegen dieses blöden Spiels.

Josy schloss den Deckel der Spieluhr, in deren Spiegel sie sich betrachtet hatte. Der Kranich, der in der Mitte stand und sich zur Melodie im Kreis zu drehen begann, wenn man die Spieluhr aufzog, legte sich zu Seite als wäre er müde und wolle schlafen.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ Josy auffahren. Als sie ihre Mutter im Türrahmen erkannte, beruhigte sich ihr rasender Puls auf der Stelle wieder und sie atmete erleichtert durch.

"Na Schatz, geht’s wieder?" Ihre Mutter, die sich neben ihr auf dem Bett nieder ließ, strich ihr die wirren Haare aus der Stirn. Ihre Augen suchten Josys Mimik nach irgendeinem Hinweis ab, der ihre vorangegangene Frage beantworten würde. Josy wich ihren Blicken aus und lehnte ihren Kopf gegen die Brust ihrer Mutter.

Im Nachhinein hatte der Streit ganz und gar nichts mehr von den üblichen vorangegangenen Zankereien unter Geschwistern an sich gehabt, wie sie es sonst gewohnt war. Nicht einmal das Gespräch, das sie danach mit ihrer Jüngsten geführt hatte, war normal gewesen. Sie hatte den Eindruck gehabt, ein völlig anderes Kind vor sich zu haben. May hatte alles stumm über sich ergehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur durch die Befragung der anderen Kinder, die nicht minder schockiert den Geburtstag verlassen hatte, wusste sie, was im Garten geschehen war, bevor May versucht hatte, ihre Schwester zu-

Charlotte schloss kurz die Augen. Der Gedanke war einfach zu furchtbar.

"Morgen wird es besser", sagte sie in die Stille hinein und wusste nicht, ob sie sich selbst davon zu überzeugen versuchte, oder ihre älteste Tochter, die heute den Schrecken ihres Lebens bekommen hatte. Sie gab Josy einen Kuss auf das hellrote Haar und erhob sich. "Schlaf schön, meine Große."

Charlotte verließ das Kinderzimmer ihrer Ältesten, drehte sich aber noch einmal zu ihr um, ehe sie den Raum ganz verließ. "Ich lasse die Tür offen, gut?"

Josy, die sich die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen hatte, nickte lächelnd. Als die Lampe an der Decke erlosch und nur noch das Licht aus dem Flur einen beruhigenden, hellen Kegel auf ihren Zimmerboden warf, schloss Josy die Augen.

 

Den Atem auf nur wenige Züge reduziert, starrte May im Dunkeln die Unterseite des Bettes ihrer Schwester an. Niemand hatte sie bemerkt. Niemand von ihrer Familie. Sie war tatsächlich ein Monster. Vielleicht auch ein Geist. Oder beides.

May wandte den Kopf nach links zu den beiden mandelförmigen leuchtenden Punkten hin. Ein leises, heiseres Kichern erklang, das May ebenso leise erwiderte.

 

"Schläft das Monster?" Seufzend ließ sich Charlotte neben ihrem Mann auf dem Sofa nieder. Ihr war nicht nach scherzen zumute, aber so musste sie wenigstens nicht ununterbrochen daran denken, was da vor ihren Augen geschehen war.

"Sie war noch im Bad." Greg hob den Blick von der Fernsehzeitschrift. "Meinst du, wir müssen ihr jetzt den Keller zur Gruft umbauen?" Gekonnt übersah er die strafenden Blicke seiner Frau und grinste vor sich hin. "So mit rasselnden Ketten und unheimlich vielen Spinnweben?"

"Spinnweben haben wir genug", entgegnete Charlotte trocken. Nachdenklich schweigend sah sie an ihrem Mann vorüber zur Terrassentür, die weit offen stand. Lauer Wind bauschte die Vorhänge wie Segel auf und ließ sie gleich darauf wieder zusammenfallen. Das Haus atmete ein und atmete aus. Ein und aus. Charlotte rieb sich die Arme, die mit Gänsehaut überzogen waren.

"Ach komm schon, die Kinder haben sie erschreckt und May hat sich dafür gerächt." Greg zappte durch die Programme, ohne viel davon mitzubekommen. "Ich hätte es nicht anders gemacht und du auch nicht. Vielleicht war es Josy eine Lehre."

 

 

"Guten Morgen, hast du Hunger?" Es duftete nach gebratenem Speck und Eiern. Ihre Mutter stand am Herd und rührte in einer Pfanne. "Gut geschlafen?"

Völlig übermüdet setzte sich Josy an den Küchentisch und stützte den Kopf auf den Armen ab. Sie hatte ganz und gar nicht gut geschlafen. Alle halbe Stunde war sie wachgeworden, weil sie gemeint hatte, ein Lachen in ihrem Zimmer zu hören. Dann hatte es wieder gedauert, bis sie wieder hatte einschlafen können, nur um dann erneut von den komischen Geräuschen in ihrem Zimmer geweckt zu werden.

"Ist May schon fertig?"

Ein Teller mit Rührei und Speck wurde vor Josy auf den Tisch gestellt. Ihre Mutter goss ihr ein Glas Milch ein, legte ihr Besteck hin und ging dann wieder zurück zum Herd.

"Hab sie nicht gesehen", murmelte Josy. Am liebsten wollte sie das Thema May überhaupt nicht anschneiden.

"Wenn sie sich nicht beeilt, hat sie keine Zeit mehr fürs Frühstück." Charlotte stellte den Herd aus und nahm die Pfanne von der heißen Kochstelle. "Ich schau mal nach ihr. Und du isst endlich", ermahnte sie Josy und verließ die Küche.

 

"May? May, dein Frühstück steht unten und wird kalt. May?"

Charlotte öffnete die Tür zum Kinderzimmer ihrer Jüngsten und atmete erleichtert aus. May saß am Fußende ihres Bettes und hielt ihre Haarbürste in den Händen.

"Warum antwortest du denn nicht, wenn ich dich rufe? Komm bitte runter und iss etwas. Ihr müsst gleich zur Schule."

May sah ihre Mutter an und nickte stumm. Als sich die Tür wieder hinter ihr schloss, hielt May der aschfahlen Frau, die neben ihr auf dem Bett saß, ihre Bürste hin. Dürre kalte Finger nahmen dem Kind die Bürste aus der Hand. Mit vorsichtigen Strichen ließ sie sie durch das goldschimmernde Haar des Kindes gleiten. Ihr ausgemergelter Körper, dessen untere Hälfte dem Hinterleib einer Spinne glich, knackte mit jeder Bewegung, die sie machte.

"Schönes Haar", die Stimme der Alten klang wie eine Büchse mit rostigen Nägel, die man schüttelte. Nach jedem Bürstenstrich kontrollierte sie die Haare, die in weichen Locken über die Schultern des Kindes fielen. Sie lächelte zufrieden und bürstete weiter. Mit jedem Strich wurde das helle Haar um noch einen Ton heller und ihr eigenes, eingefallenes Gesicht mit der gräulichen Haut wieder etwas rosiger. "Schönes Haar", bemerkte sie mit nun sanfterer Stimme.

 

Josy hielt den ganzen Tag gebührenden Abstand zu ihrer jüngeren Schwester, obwohl diese keinerlei Anstalten machte, wieder etwas mit Josy zu tun haben zu wollen. May schien das Spiel noch immer ernst zu nehmen. Sie würdigte ihre große Schwester keines Blickes mehr und spielte stumm für sich in einer Ecke des Gartens.

Am liebsten wäre Josy zu ihr gegangen und hätte sich entschuldigt, aber May schien nicht so als erwarte sie es von ihr. Sie wirkte genauso glücklich wie sonst, nur eben ohne Josy.

Als es Zeit fürs Abendessen wurde, rannte May als erste ins Haus. Mit wehendem Haar hüpfte sie die Stufen zur Terrasse hinauf. Oben begrüßte sie ihre Mutter.

"Bleib nicht so lange in der Sonne, Hase, dein Haar wird immer heller."

Kommentarlos hüpfte May über den aufgewärmten Holzboden, wo sie gestern erst ihre Schwester fast erwürgt hatte, und schlenkerte dabei fröhlich ihre Sandalen in der Hand.

In genügend Abstand war Josy May gefolgt. Bei ihrer Mutter blieb sie stehen und sah ihrer Schwester von dort aus zu, wie diese sich ein Glas Wasser eingoss und es mit nach oben nahm.

"Ich wollte das nicht."

Sie musste genau hinhören, so leise hatte Josy gesprochen. Charlotte drückte ihre Älteste schnell an sich und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. "Die kriegt sich schon wieder ein, keine Sorge", wiederholte sie die Worte, die Greg ihr heute morgen gesagt hatte, ehe er sich für den Rest des Tages verabschiedet hatte. Der hatte gut reden. Hätte er doch nur die Augen ihrer Jüngsten gesehen, als sie sie von Josy weggerissen hatte. Ihre Pupillen waren so geweitet gewesen, dass das seelenlose Schwarz darin das warme Grau der Iris fast völlig verdrängt hatte. May hatte wie entrückt ihre Mutter angestarrt, als könne sie sie gar nicht richtig wahrnehmen. Es hatte eigentlich nur noch gefehlt, dass sie ihren Kopf um 360° drehen und dabei wirres Zeug vor sich hinstammeln würde.

"Lass ihr noch ein bisschen Zeit, Josy."

 

"Willst du auch was essen?"

Die Kreatur vor May blickte sie aus wässrigen Augen an, die wie zwei schlammig braune Teiche schimmerten. Ihre schleimigen Hände, von denen ein atemraubender ätzender Gestank ausging, hielten das Glas, das May ihr gegeben hatte, dicht vor das fratzengleiche Gesicht. Der breite Mund öffnete sich und das Wesen gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Mit seiner langen Zunge säuberte es das Glas bis auf den letzten Wassertropfen und gab es dann an das Mädchen zurück.

"Bin gleich wieder da."

 

"May, das ist ja ekelhaft!" Mit spitzen Fingern hielt Charlotte das Glas fest, das ihre Jüngste gerade in die Spüle gestellt hatte. Das Glas sah aus, als wäre es einmal im Morast gewälzt worden. Sumpfiger grüner Schleim hing daran und ein Gestank ging davon aus, dass Charlotte das Glas auf direktem Weg im Mülleimer entsorgte.

"Nimm unser Geschirr bitte nicht zum Spielen mit nach draußen", ermahnte sie ihre Tochter, die vor dem Kühlschrank stand und sich die Auswahl darin betrachtete. "Und iss doch bitte etwas anständiges."

May hielt das Stück Käse fest, das ihre Mutter ihr gerade im Begriff war, aus den Händen zu nehmen.

"Seit wann magst du denn den Käse?" Die Hände in die Hüften gestützt sah Charlotte auf ihre störrische, neuerdings verstummte Tochter hinab, die den Käse fest an sich drückte, als wäre es ihr größter Schatz. "Sonst durften wir ihn auch erst essen, wenn du nicht dabei warst, und jetzt stört dich dieser himmelschreiende Gestank auf einmal nicht mehr?" Charlotte grinste.

May wich noch immer ihren Blicken aus. Die Lippen fest aufeinandergepresst starrte sie auf ihre Füße hinab.

"Na schön", seufzte Charlotte schließlich ergeben. "Du hast gewonnen. Nimm den Käse und werde glücklich damit."

Ohne sich zu bedanken oder etwas anderes zu sagen, rannte May wieder davon.

"Was für ein vielbeschäftigtes Kind..." Charlotte schüttelte den Kopf und sah mit angewiderten Blicken auf den Mülleimer hinab, aus dem der Gestank des Glases entwich. Den Atem anhaltend band sie die Tüte zu und ging mit ihr mit ausgestrecktem Arm zur Mülltonne neben dem Haus.

 

Josy hatte May beobachtet, ohne dass diese es mitbekommen hatte. Sie hatte gesehen, wie ihre kleine Schwester zuerst mit dem Glas Wasser in ihrem Zimmer verschwunden war und dann mit dem ekelhaften Käse, der normalerweise in einer extra dichten Dose im Kühlschrank aufbewahrt wurde, damit der Rest der Lebensmittel nicht damit in Berührung kam. May schmeckte nämlich den winzigsten Hauch solcher Dinge wie Knoblauch oder eben dieses Stück Käse aus allem anderen sofort heraus.

Mit gespitzten Ohren horchte Josy aus ihrer geöffneten Zimmertür nach draußen in den Flur. Sie hört May leise sprechen. Dann schwieg sie kurz und schien zu lauschen, nur um dann eine Antwort zu geben. Josy konnte kein Wort verstehen, was May da sagte, aber für sie schien es einen Sinn zu haben.

Die Tür zu Mays Zimmer wurde aufgerissen und im gleichen Augenblick schloss Josy ihre eigene Zimmertür. Fröhliche Schritte hopsten beschwingt die Treppe hinab und nachdem sie nicht mehr zu hören waren, öffnete Josy ihre Tür und schlüpfte hinaus.

Sie musste nachsehen, was May in ihrem Zimmer hatte. Oder: wen. Und wenn es etwas war, das ihre Eltern wissen mussten, dann musste sie ihnen davon erzählen, denn May machte nicht den Anschein, überhaupt noch etwas mit ihrer Familie zu tun haben zu wollen.

 

Ein bisschen hatte Josy schon Angst, als sie im dunklen Zimmer ihrer Schwester stand. Die Jalousien vor den Fenstern waren herabgelassen, so dass das Licht, das schwach durch die Schlitze an den Seiten in das Zimmer schien, den Raum in einen bläulichen Schein tauchte.

Josy sah sich um, doch nirgendwo war auch nur der Hauch einer Veränderung zu sehen. An der Seite stand Mays Puppenhaus, das zuvor einmal Josy gehört hatte und das diese der Jüngeren geschenkt hatte. Die winzigen Möbel standen ordentlich in den kleinen Zimmerchen verteilt und zwischendrin standen oder saßen die kleinen Puppen mit den wie echt wirkenden Haaren, als wären sie lebendig und gerade in diesem Moment in ihrer Handlung erstarrt.

Josy schloss kurz die Augen und öffnete sie dann blitzschnell wieder, doch nichts in dem Puppenhaus hatte sich verändert. Sie wandte sich ab und sah sich weiter um. Ihre Blicke fielen auf ein zerrissenes Stück Stoff, das vor Mays Bett auf dem Boden lag. Es war der Schal ihrer Mutter, den May vor Wut zerrissen hatte, als sie ihn sich nach dem Spiel im Garten von den Augen gezogen hatte.

Josy bückte sich und griff nach dem Schal. Ihre Hände schlossen sich um das filigrane Stoffteil und sie hob es auf. Je näher sie das Stück Stoff vor ihre Augen kam, desto weiter wurden diese. Es war kein Stoff, den sie da aufgehoben hatte. Kein normaler Stoff jedenfalls. Er fühlte sich kalt an und bestand aus langen Fäden, die sich klebrig um Josys Hände wickelten.

Josy versuchte, sich von dem rätselhaften Gewebe zu befreien, doch es klebte hartnäckig an ihr. Sie zupfte mit den Fingern einen Fetzen ab, nur um ihn dann an der anderen Hand hängen zu haben.

Panisch rannte Josy aus dem Zimmer, quer über den Flur ins Bad. Sie drehte den Wasserhahn voll auf und spülte das unheimliche Zeug von ihren Händen. Lange wirbelnde Schweife ziehend verschwand es endlich im Abfluss.

Schweratmend stellte Josy das Wasser ab und blieb reglos am Waschbecken stehen, bis sie Mays Schritte auf der Treppe vernahm.

 

 

"Du ziehst das durch bis zum Schluss, was?" Charlotte stieß den Atem hörbar aus. May saß vor ihr am Küchentisch vor einer unberührten Schüssel Cornflakes und betrachtete sich ihre Hände von allen Seiten. Warum auch immer. Sie konnte nichts erkennen, was seltsam gewesen wäre. Aber seltsam hatte seit nun mehr einer Woche schon eine völlig neue Bedeutung für May und den Rest der Familie bekommen. Charlotte drehte ihrer stummen Tochter den Rücken zu und lenkte sich von dem andauernden, eisigen Schweigen ab.

May wusste noch nichts davon, aber für heute Nachmittag hatten sie einen Termin bei einer Kinderpsychologin, die ihnen von Gregs Mutter empfohlen worden war. Vielleicht konnte die ja Licht ins Dunkel bringen, was es mit dem Verhalten ihrer jüngsten Tochter auf sich hatte, das langsam aber sicher die ganze Familie zu zermürben begann.

 

Die zarten Haarsträhnen kitzelten über Mays Wangen, als sie den Kopf weiter nach vorne beugte.

Heute morgen hatte sie es das erste Mal bemerkt. Kurz nachdem die Frau ihr die Haare gebürstet hatte, hatte May auf ihre Hände hinabgesehen. Zuerst hatte sie es für einen Schimmer gehalten, eine Art Nebel, der ihre Hände umgab, aber dann waren ihre Blicke auf den Boden gefallen, wo zwar der Schatten ihrer von der Bettkante baumelnden Füße auf dem Boden zu sehen war, nicht aber der Schatten ihrer ausgestreckten Arme.

Als sie sich ihre Hände dann noch einmal genauer betrachtet hatte, war ihr aufgefallen, dass sie durch die Fingerspitzen hindurch den Boden erkennen konnte. Nicht zwischen den einzelnen Fingern hindurch, sondern direkt durch den Finger, die Haut, das Fleisch und die Knochen hindurch. Sie wurde unsichtbar; zu einem Monster, einem Geist, genau so, wie Josy es ihr gesagt hatte.

 

 

 

~ E N D E ~



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